Читать книгу Kurz vor dem Paradies ... - Anneliese Hager - Страница 4

Prolog

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1209

Lo Bouie:

Quan serey morto, reboun me

Al pis founs de la cava,

Metme los pes a la pared,

Lo cap jous la canelo.

Tots los romieus qua passaran

Prendran aigo senhado ...”

Auszug aus “Lo Bouie” Gaston Phébus, Graf von Foix zugeschrieben. Das Lied – Text in occitanischer Sprache – erzählt vom Sterben der Joanna, dem Sterben der Katharer-Kirche.

Versprich mir, wenn ich gestorben bin,

mich in die tiefste Tiefe der Grotte zu tragen.

Lege mich, die Füße gegen den Felsen,

den Kopf unter einen Stalaktiten.

Alle Pilger die passieren,

sollen vom reinigenden Wasser nehmen …“

Béziers, 22. Juli 1209

Bringt sie alle um, Gott wird die Seinen erkennen.“ – Arnaud-Amaury

Das Languedoc war ein reiches Land, Béziers war eine blühende Stadt.

Am 22. Juli 1209 stürmt ein Kreuzzugsheer aus Nordfrankreich die Stadt Béziers nach kurzer Belagerung.

Eine amtliche Tafel an der Kirche besagt:

„Die Bekreuzten haben 1209 hier die Bewohner Béziers niedergemetzelt und die Kirche angezündet. Nach dem Sieg der Barone aus dem Norden flüchteten die Bewohner von Béziers in die Kirchen, wo die Bekreuzten ein Blutbad unter ihnen anrichteten. Der 22. Juli blieb als Tag des großen Gemetzels in der Erinnerung bewahrt."

Die Bewohner der Gegend, in der die katharische Häresie während des zwölften Jahrhunderts immer mehr an Einfluss gewann, waren einfache Bauern. Sie lauschten den Gebeten der Wanderprediger, der Katharer*, die so genannten „Reinen“, die kamen und mit den Bauern auf dem Feld arbeiteten, ihr Brot teilten und in ihren Predigten dazu aufriefen, einfach und demütig zu leben. Die Katharer predigten eine einfache Lebensweise, oft waren sie Vegetarier und Pazifisten, und ihr charismatisches, praktisches Christentum ähnelte jener frühkirchlichen Lebensweise, die im Neuen Testament in der Apostelgeschichte beschrieben wird. Sie glaubten im wörtlichen Sinn an die Evangelien, von denen jede katharische Familie eine Abschrift besaß. Ihr Glaube brauchte keine kultische Priesterschaft und keine Kirchengebäude voller Kunstschätze und Reliquien. Sie übten ihren Glauben zu Hause oder auf den Feldern aus. Bei den Katharern waren Männer und Frauen gleichberechtigt; Frauen hatten sogar das Recht, zu erben und Güter zu besitzen. Zudem durften auch die Frauen predigen.

Außergewöhnlich an den Katharern war, dass sie darauf bestanden, die Bibel in ihre Heimatsprache, den Dialekt des Languedoc, zu übersetzen und dass sie den Menschen lehrten, die Frohe Botschaft in ihrer Muttersprache zu lesen.

Zu diesem Zweck entstanden im ganzen Gebiet zahlreiche Papiermühlen, was das Wiederaufleben der Künste, des Denkens und des Briefeschreibens in der ganzen Provence und später in ganz Europa vorantrieb. Alle katharischen Kinder lernten lesen. Mädchen waren sogar besser ausgebildet als ihre männlichen Spielkameraden.

Die Provence war ein aufgeklärtes Reich.

Im Jahr 1209 begann der Vatikan mit einem Kreuzzug gegen das gesamte provenzalische Gebiet. Eine ganze Generation lang verheerten die Armeen des Papstes, im Bund mit dem König von Frankreich, das Land im Süden und ihr Sieg gipfelte im Massaker von Montségur, einem katharischen Priesterseminar. Dort wurde 1244 eine belagerte Enklave von Ketzern besiegt. Über zweihundert Menschen die sich weigerten, ihren Glauben zu widerrufen, wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

* Der Begriff Katharer (wörtlich „die Reinen“, von griechisch: katharós, ‚rein´) steht für die

Anhänger einer christlichen Glaubensbewegung vom 12. Jahrhundert bis zum 14. Jahrhundert vornehmlich im Süden Frankreichs, aber auch in Italien, Spanien und Deutschland. Verbreitet ist auch die Bezeichnung Albigenser nach der südfranzösischen Stadt Albi, einer ehemaligen Katharerhochburg. Die Anhänger der katharischen Lehre bildeten eine der größten religiösen Laienbewegungen des Mittelalters und galten als die Mitbegründer der Armutsbewegung.

23. Juli 1209

Joanna

Ein furchtbares Schreien weckte Joanna. Das Schreien der Männer, Frauen und Kinder, die vor den Soldaten durch die Straßen von Béziers um ihr Leben liefen, gellte in ihren Ohren. Sie schrie und wandte sich im Dämmerschlaf von dem Lärm ab. Um den schrecklichen Erinnerungen zu entfliehen, kämpfte sie darum, die Augen zu öffnen. Gleißendes Sonnenlicht drang durch ihre nur einen kleinen Spalt geöffneten Lider und mit zunehmendem Bewusstsein nahm sie den Schmerz in ihrer rechten Kopfseite wahr. Ein Stöhnen entfuhr ihr, doch es kam nicht von ihren körperlichen Beschwerden, es kam tief aus ihrer Seele. Ihre Gedanken wanderten zurück an die entsetzlichen Geschehnisse jener letzten Tage und verdichteten sich in einem einzigen, dumpfen, alles umfassenden Schmerz, der weitaus größer war, als der körperliche Schmerz, als das Schwert des Soldaten ihren Kopf traf.

Joanna glitt zurück in ihre Träume. Von ihrem Vater Bertrand wusste sie, dass das Ansehen, das die Katharer – insbesondere an den Höfen in Okzitanien – genossen, in den Augen der römisch-katholischen Kirche eine gefährliche und völlig neue Bedrohung darstellte. Das Ansehen gründete sich darauf, weil in diesem Landstrich außer kleineren Fürsten keine übergeordnete Autorität regierte und die katharische Kirche mit ihrer authentischen Sittlichkeit und materiellen Bescheidenheit positiven Einfluss ausübte. Überdies brauchte die Bevölkerung in den von den Katharern kontrollierten Gebieten keine Kirchensteuer entrichten. In den letzten Monaten hatte Bertrand mehrmals mit ihr über die drohende Gefahr gesprochen. Denn zu Beginn des Jahres war ein 30 000 Mann starkes Heer aus Nordfrankreich, gleich einem Sturm, im Languedoc eingefallen. In den folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen war die gesamte Region verwüstet, die Ernten vernichtet, Dörfer und Städte dem Erdboden gleichgemacht und ein Großteil der Bevölkerung umgebracht worden.

Schließlich fielen die Soldaten nach kurzer Belagerungszeit in Béziers ein und die Vernichtung allen Lebens nahm ein entsetzliches Ausmaß an.

„Bitte trink etwas Wasser“, drang eine männliche Stimme durch die Schichten des Schmerzes in Joannas Bewusstsein. Plötzlich war sie wieder in der Gegenwart und eine Wolke des Schmerzes und der Trauer hüllte sie ein. Sie wandte sich dem Mann zu, der sie anlächelte und ihr einen Wasserbeutel reichte. Zunächst zögerte sie und streckte langsam den Arm aus. Sie trank, ihre Lippen waren aufgesprungen und geschwollen, der dumpfe Schmerz in ihrem Kopf verstärkte sich.

„Danke, Fremder. Du bist sehr freundlich. Wo bin ich?“

„Wir sind auf dem Weg nach Les Baux. Im Schutz der Dunkelheit sind wir in Béziers aufgebrochen, als wir dich blutend am Straßenrand fanden. Wir haben die Blutung deiner Kopfwunde behandelt, dich auf den Karren gelegt und zugesehen, dass wir die Stadt schnell verlassen, bevor die Soldaten uns entdecken. Wir fliehen ins Tal von Les Baux. Dort habe ich Freunde, die uns aufnehmen. Dort sind wir sicher. Ich bin Gui D’Ussel, Troubadour und war an einigen provenzialischen Höfen, auch in Les Baux, wo mir großzügige Gastfreundschaft zuteil wurde. In den letzten Monaten wurden viele meiner Dichter-Freunde von päpstlichen Legaten verhört, einige in die Verbannung geschickt. Mir wurde empfohlen, das Dichten einzustellen. So brach ich mit meinem Freund Hugo nach Les Baux auf.“

Wieder entfuhr Joanna ein Stöhnen, doch als Gui sie ansah, hielt irgendetwas in ihrem Gesicht ihn vom Weitersprechen ab. Er wollte sich nicht aufdrängen. Sie schien ihm jenseits allen Trostes zu sein. Sie hatte eine Grenze der Qual überschritten, hinter der niemand sie erreichen konnte.

Nachdem sie einige Wochen lang unterwegs gewesen waren und die Schatten im Tal von Les Baux länger wurden, erreichten sie ihr Ziel.

Kurz vor dem Paradies ...

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