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Großmutters Tod
ОглавлениеSchon als sie zurück in ihr Bett fiel, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Reflexartig rollte sie sich zur Seite und fiel dabei auf den Boden. Keine Sekunde zu früh, denn dort, wo sie gerade eben noch gelegen hatte, fiel etwas Großes, Schwarzes herunter. Trotz der Dunkelheit im Raum erkannte sie, dass es ein Pachnoda war, eines jener hässlichen, riesigen, käferartigen Wesen. Dieses Exemplar war sehr groß: vom Kopf bis zum Körperende war er bestimmt zwei Meter lang. Ein schwarzglänzender Panzer schützte seinen Leib, an seinen dünnen Beinen hatte er lange Widerhaken, an seinem Maul bewegten sich gierig zwei starke Zangen.
Esmeralda Vielfalt wusste: bekäme er sie damit zu packen, hätte ihr letztes Stündlein geschlagen. Aber sie hatte nicht vor, zu sterben, trotzdem krampfte sich ihr altes Herz vor Angst zusammen. Noch nie war ihr ein Wesen aus der anderen Welt gefolgt, wahrscheinlich hatte sie ihn mitgezogen, als sie zurückgeglitten war. So schnell sie konnte, sprang sie auf die Beine und ergriff die Flucht. Ihre Hoffnung bestand darin, dass die Energielinien, die das Haus schützten, erwachten und angreifen würden, denn sie allein konnte den Pachnoda nicht töten. Als sie den Treppenabsatz, der nach unten führte, erreicht hatte, war er schon dicht hinter ihr - sie konnte ihn fauchen hören. In seiner plumpen Schnelligkeit krachte er seitlich von ihr an die Wand und verfehlte sie nur knapp. Bevor er sie packen konnte, kamen die ersten Energiewellen. Blaues Licht sprang förmlich aus dem Boden und hüllte für einen kurzen Moment den Pachnoda ein. Er schrie vor Schmerzen, und Esmeralda Vielfalt hörte es knistern und knacken. Dann verschwand das blaue Leuchten, und der Pachnoda kam wutentbrannt wieder auf seine acht Beine. Aus seinem Maul tropfte übelriechender Speichel, und er torkelte stark. Aus Erfahrung wusste sie, dass es bis zu zwei Minuten dauern konnte, bevor der nächste Angriff der Kraftlinien kommen würde. Es galt, Zeit zu gewinnen, und so schnell sie konnte, rannte sie die Treppen hinunter. Doch noch bevor sie die letzte Stufe erreicht hatte, war der Pachnoda von oben gesprungen. Er erwischte sie an der Schulter und riss sie mit zu Boden. Sein Gewicht lag schwer auf ihr und die Stacheln an seinen Beinen bohrten sich ihr schmerzhaft ins Fleisch. Widerstrebend legte sie, vor Schmerzen wimmernd, die Hände auf seinen Panzer, sammelte all ihre Kraft und murmelte einen Abwehrzauber. Für einen Augenblick hob sich der Pachnoda mit seinem Gewicht von ihr, doch dann verpuffte die Magie. Dieser kurze Moment hatte gereicht, um Zeit zu schinden - die Kraftlinien starteten ihren zweiten Angriff. Der hässliche Käfer wurde förmlich von ihr heruntergerissen, das blaue Licht umfloss seinen ganzen Körper, es zischte und brutzelte. Esmeralda Vielfalt kam wankend auf die Beine - sie musste nach oben auf den Speicher gelangen. Dort lag, sicher versteckt, das Schwert der Elfen: mit diesem würde sie den harten Panzer wie Butter durchdringen können. Sie schleppte sich die Treppe wieder nach oben, von unten hörte sie den Pachnoda brüllen. In ihrem Innersten hoffte sie, dass er diesen Angriff nicht überleben würde. Doch sie wusste es nicht genau, da ja noch nie ein Dämon in ihre Welt eingedrungen war. Ihre Hoffnung zerfiel, als sie ihn unten in der Küche wüten hörte - er lebte also immer noch. Der Pachnoda hatte nicht gesehen, dass sie die Treppe wieder hinauf geflüchtet war. Esmeralda hatte den Treppenabsatz zum Speicher schon erreicht, da hörte sie ihn kommen. Mehrere Treppenstufen auf einmal nehmend, kam er ihr nach. Sie sah, dass er schon sehr gelitten hatte. Aus mehreren Wunden tropfte eine grüne, glibberige Substanz, sein Panzer war an mehreren Stellen aufgerissen; das ganze Wesen stank fürchterlich. Sie hatte die Hand schon an der Klinke zur Speichertür, als der Pachnoda sie erneut ansprang, und für sie gab es keine Fluchtmöglichkeit mehr. »Verdammt. «, murmelte sie, denn ihr wurde klar, dass sie jetzt sterben würde. Sie hatte sich ihr Ableben immer anders vorgestellt. Wer würde Nic von nun an schützen? Wer würde ihr helfen und sie auf die Dinge vorbereiten, die kommen würden? Warum hatte sie dem Kind nicht schon längst die Wahrheit gesagt? Weiter kamen ihre Gedanken nicht mehr. Der Pachnoda hatte an seinem Hinterleib einen Stachel ausgefahren - spitz war er und sah aus wie die Borste eines Stachelschweines. Doch er war gefüllt mit einem todbringenden Gift. In einer fast eleganten Drehung stieß er ihn Esmeralda direkt ins Herz. Dann kam die dritte Angriffswelle der Kraftlinien, das Fleisch des Pachnodas wurde förmlich gekocht. Die Wucht dieses Angriffs schleuderte ihn gegen die Speichertür, die sich krachend öffnete. Sein Körper rutschte weiter, schob Kisten und alte Möbel zur Seite, bis er schließlich in einer dunklen Ecke liegenblieb. Der Pachnoda war tot, aber auch leider Esmeralda Vielfalt, und fast sofort zerfiel sein Körper zu Staub. Die hell- und dunkelblauen Flammen der Kraftlinien umzüngelten den leblosen Körper der alten Frau; die Wunden, die der Käfer ihr ins Fleisch geschlagen hatte, heilten ab. Aber was sie auch versuchten, sie konnten das Herz von Esmeralda nicht mehr zum Schlagen bringen. So blieben sie bei ihr, bis sich die Seele aus ihrem Körper löste. Liebevoll nahmen die blauen Flammen Esmeraldas Seele in sich auf. Hell und stark leuchtete das Licht, als es durch die Ritzen der Holzbretter zurück in den Boden verschwand. Am nächsten Tag fand sie ein Nachbar. Der herbeigerufene Notarzt konnte bei Esmeralda Vielfalts Leiche nur einen Herzinfarkt als Todesursache feststellen.
Nic hob den Kopf, sie saß noch immer am Klavier, doch der Nachmittag war verstrichen und hatte der Nacht Platz gemacht. Sie schleppte sich zur Scheune, holte das Pferd und die Kuh von der einen Weide und die Schweine und die Schafe von der anderen. Ohne daß sie viele Worte machen musste, folgten ihr die Tiere; als letztes kamen auch die Hühner freiwillig in den Stall. Nic verschloss die große Stalltür und ging erschöpft und müde auf ihr Zimmer. Angezogen wie sie war, fiel sie aufs Bett, das quietschend unter ihrem Gewicht nachgab. Zwei Atemzüge später war sie auch schon tief und fest eingeschlafen. Unerbittlich klingelte der Wecker um fünf Uhr am Morgen. Sie torkelte müde in das kleine Bad, duschte sich, kämmte sich das noch nasse Haar, und band es lieblos im Nacken zusammen. Einen Blick in den Spiegel vermied Nic, sie hasste ihr Äußeres. Als nächstes suchte sie die blaue Latzhose, die sie immer anhatte, wenn sie ihre Großmutter besuchte, um ihr im Stall und im Garten zu helfen. Ihre Laune sank ins Bodenlose, als sie in die Hose schlüpfte, denn sie wusste genau, vor ein paar Monaten hatte sie noch gepasst. Jetzt musste sie die Knöpfe an der Seite offenlassen. Frustriert registrierte sie, dass sie noch fetter geworden war. In der Küche aß sie einen Apfel zum Frühstück und trank dazu ein Glas Milch. Sie hatte nicht viel Zeit zum Trödeln, es wartete viel Arbeit auf sie. Als erstes molk sie die Kuh, schleppte die schweren Kannen in die Kühlkammer und schöpfte den Rahm ab. Aus ihm würde sie später am Tag Butter schlagen müssen. Dann ließ sie die Tiere auf die Weide - und als ob sie wussten, was geschehen war, folgten sie ihr und standen mit hängenden Köpfen ratlos auf der Wiese. Als nächstes mistete sie die Ställe aus. Um elf Uhr ging sie ins Haus und aß zwei Karotten, da ihr vor Hunger schon schlecht war. Als sie langsam die Karotten knabberte, überlegte sie, wie ihre Großmutter die ganze Arbeit nur hatte allein bewältigen können. Ihr schmerzte jetzt schon jeder Muskel. Sie beeilte sich, suchte die Eier der Hühner zusammen und brachte auch diese in die Kühlkammer. Danach ging sie auf die große Wiese; das Gras war vor einigen Tagen geschnitten worden. Um es richtig zu trocknen, musste sie es wenden, und ein Blick zum Himmel sagte ihr, dass es nicht regnen würde.
Gegen Nachmittag ging sie zum Brunnen und trank gierig zwei große Gläser des kühlen und erfrischenden Wassers. Der erste Besucher rief nach ihr, und sie verkaufte zwei Liter Milch. Da sie nun nah beim Haus bleiben musste, um Eier und Milch zu verkaufen, entschloss sie sich, das Unkraut im Gemüsegarten zu jäten und diesen auch gleich zu gießen. Zwischendurch lief sie hin und her, verkaufte Eier, Milch und Butter. Als sie aufblickte, sah sie, dass es schon früher Abend geworden war. Von der ungewohnten Arbeit wankte sie fast vor Erschöpfung, als sie die Tiere von der Weide holte. Ihr Körper schrie nach Ruhe, doch noch war der Tag nicht zu Ende. Als sie um neunzehn Uhr ins Haus stolperte, schaffte sie es gerade noch, sich zwei Scheiben Toastbrot zu machen und zu duschen. Sie fiel erschöpft auf ihr Bett und war sofort eingeschlafen.
Nach dem Klingeln des Weckers am nächsten Tag, blieb Nic bewegungslos im Bett liegen; sie war sich sicher, nicht aufstehen zu können. Ihr Rücken schmerzte, und wenn sie versuchte, sich zu bewegen, brannten ihre Muskeln wie Feuer. Sie schloss die Augen und wünschte sich fort, sie war sich sicher: das war nicht ihr Leben. Wenig später hörte sie den großen Hengst wiehern, und die Angst um die Kreaturen trieb sie aus dem Bett. Flugs war sie angezogen und eilte zum Stall, doch als sie das große Tor öffnete, sahen die Tiere sie nur erwartungsvoll an. Der gleiche Trott wie am Tage zuvor erwartete sie. Wie zum Teufel hatte Großmutter es noch fertiggebracht, Brot und Kuchen zu backen? Woher hatte sie die Kraft genommen, das Farmhaus noch zu reinigen und die Wäsche zu waschen? Dies waren Fragen, die Nic durch den ganzen Tag begleiteten. Sie war einfach nicht in der Lage, sich abends noch etwas Warmes zu essen zu bereiten. Sehr früh am Abend fiel sie ausgebrannt ins Bett. Als sie den achten Tag überstanden hatte, überlegte sie, dass es wohl besser wäre, die Farm zu verkaufen. Sie würde in die Stadt fahren müssen, um die Farm zum Verkauf in die Zeitung zu setzen. Noch hatte Nic eine Woche Urlaub, danach würde sie wieder zu ihrer ruhigen Büroarbeit zurückkehren können. Sie würde wieder einsame, langweilige Abende in ihrem kleinen Zimmerchen verbringen, das sie angemietet hatte.
Als sie am Abend schon auf dem Weg ins Schlafzimmer war, klingelte das alte Telefon. Ihre Freude war groß, als sie hörte, dass am anderen Ende der Leitung Onkel Luis war. »Wie geht es meiner Lieblingsnichte? «, fragte er liebevoll. Nic begann fast zu weinen; stockend erzählte sie ihm von ihren vollgestopften, anstrengenden Tagen auf der Farm. »Ich habe mich entschlossen, die Farm so schnell es geht zu verkaufen, « sagte sie mit zittriger Stimme. « »Du wirst die Farm nicht an irgendeinen dahergelaufenen Fremden verkaufen«, hörte sie die Stimme ihres Onkels. »Wenn du die Farm loswerden willst, dann gefälligst an mich«, sagte ihr Onkel mit schneidender Stimme. Nic war wie vom Donner gerührt, so hatte sie ihren Onkel noch nie sprechen gehört. Ihre Nackenhaare hatten sich gesträubt, etwas Gefährliches schwang in seiner Stimme. »Entschuldige«, sagte er, »ich wollte nicht so schroff sein. « Seine Stimme war wieder einschmeichelnd. »Mir sitzt auch der Tod deiner Großmutter noch im Herzen. Wie wäre es, wenn wir uns morgen nachmittag in der Stadt zu einem Kaffee treffen würden? «, fragte er versöhnlich.
»Morgen kann ich leider nicht«, antwortete Nic zögerlich, »ich muss dringend das Heu in die
Scheune bringen. «
»Ach, komm schon«, sagte er drängend, »es wird schon nicht regnen. « Doch Nic ließ sich nicht überreden - irgendetwas sagte ihr, dass es doch Regen geben würde.
»Gib deinem Herzen einen Ruck«, lockte Onkel Luis sie, »du wirst doch mal eine Stunde für deinen
alten Onkel übrig haben. « Sie musste lächeln und meinte: »Also gut, wir treffen uns übermorgen um drei im Café in der Stadt. « »Das freut mich sehr. « Onkel Luis‘ Stimme klang hocherfreut. »Ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen. «
Kaum hatte sie aufgelegt, klingelte das Telefon erneut, sie glaubte, dass Onkel Luis etwas vergessen hatte. Doch als sie sich meldete, hörte sie am anderen Ende eine alte, männliche Stimme. »Hallo, spreche ich mit Nicoletta Vielfalt? Mein Name ist Alois Grisham, ich bin der Rechtsanwalt und Notar Ihrer verstorbenen Großmutter. Ich würde gerne mit Ihnen über das Testament Ihrer Großmutter sprechen. « »Großmutter hat ein Testament? «, fragte Nic überrascht. »Aber ja«, bestätigte Alois Grisham, »sie wollte, dass ich es ein paar Tage nach ihrem Ableben für Sie eröffne. « »Für mich? «, fragte Nic ungläubig. »Liebes Fräulein Nicoletta, Sie sind der alleinige Erbe ihrer Großmutter«, sagte der Notar. »Oh«, hauchte Nic in den Hörer; mehr fiel ihr dazu nicht ein.
»Wann hätten Sie denn Zeit? «, fragte Alois Grisham.
»Ich bin übermorgen in der Stadt, «, meinte Nic, »vielleicht können wir uns so um siebzehn Uhr
treffen? « »Nein«, meinte der Notar, »das geht bei mir leider gar nicht, aber am Freitag bin ich in Ihrer Nähe, da könnte ich bei Ihnen vorbeikommen. « Nic überlegte kurz. »Also gut, wenn Sie mir versprechen, dass es nicht so lange dauern wird«, meinte sie dann. »Ich verspreche Ihnen, dass die Formalitäten schnell erledigt sind«, sagte Alois Grisham. »Ich danke Ihnen«, sagte er noch und legte auf. Nic stand noch einige Minuten am Telefon, und ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie an ihre Großmutter dachte; ein Gefühl von Sehnsucht übermannte sie. Ganz plötzlich hatte sie Lust, einen Keks zu essen, das erste Mal seit Tagen brauchte sie etwas Süßes. Hatte Großmutter überhaupt noch welche? In der Küche wühlte sie sich durch die Schränke, und sie wollte schon aufgeben, da entdeckte sie in der hintersten Ecke des Schrankes eine weiße Dose. Erwartungsvoll öffnete sie diese schnell, aber außer einem dicken Briefumschlag war die Dose leer. Neugierig zog sie ihn heraus und war mehr als erstaunt, dass, in der Handschrift ihrer Großmutter, auf dem Umschlag ihr Name stand. Wieder überflutete sie eine Welle der Sehnsucht, und sie dachte, du weißt gar nicht, wie sehr ich dich vermisse, Großmutter. Nic ließ sich auf einen Stuhl gleiten und öffnete erwartungsvoll den Brief. Als sie ihn auseinanderfaltete, wunderte sie sich, dass nur ein Bogen beschrieben war. Die anderen drei Bögen waren jungfräulich weiß. Sie begann zu lesen.
Meine Liebste Nic,
wenn du diesen Brief findest, kann es nur eines bedeuten, ich, Esmeralda Vielfalt, bin verstorben.
Ich weiß, dass du hier im Haus wohnst und dich um alles kümmerst. Mit der Zeit wirst du feststellen, dass das Haus seinen eigenen Charakter hat. Ich möchte dich noch einmal daran erinnern, dass du mir das Versprechen gegeben hast, Onkel Luis nicht ins Haus zu lassen. Vor allem aber, egal was er dir schenkt, lass es draußen vor der Tür, bring es auf keinen Fall mit hinein! Du hast immer über meine Fähigkeiten gelächelt. Nun, meine Liebe, dies ist ein „selbstschreibender“ Brief. Immer, wenn du etwas nicht verstehst oder seltsame Dinge geschehen, werde ich diesen Brief für dich weitergeschrieben haben. Er soll dir helfen, zu verstehen. Also, schau bitte ab und zu mal nach, es könnte hilfreich sein.
Nic schüttelte den Kopf. Sie hatte den Brief sinken lassen, war denn Großmutter schon so verkalkt gewesen, dass sie das glaubte, was sie da schrieb? Eigentlich war der Brief ja schon zu Ende gewesen, doch als Nic noch einmal darauf schaute, sah sie, dass zwei Zeilen dazugekommen waren. Ungläubig las sie:
Nein, ich bin nicht verkalkt, mein Liebes, und ich flehe dich an, verkaufe die Farm nicht, hab ein wenig Geduld.
Eine Gänsehaut kroch Nic über den Körper - schnell stopfte sie den Brief zurück in die Dose, schob sie wieder in den Küchenschrank und flüchtete in ihr Bett. Die Lust auf Kekse war ihr nachhaltig vergangen.
Als sie am nächsten Morgen müde und lustlos in ihre Arbeitshose schlüpfte, stellte sie erstaunt fest, dass sie die ersten beiden Knöpfe an der Seite wieder schließen konnte. Das konnte nur bedeuten, dass sie abgenommen hatte. Ihre Laune hob sich schlagartig. Irgendwo musste sich die Plackerei ja auch auszahlen, dachte sie. Als sie sich die Zähne putzte, wagte sie einen genaueren Blick in den Spiegel. Ihre Haut war besser geworden, weit und breit keine Pickel mehr. Nics Gesicht und ihre Arme waren leicht gebräunt und verliehen ihr ein gesundes Aussehen. Auch ihre Haare wirkten frisch gewaschen und glänzten in goldenem Braun. Nic schüttelte skeptisch den Kopf und fragte sich, ob es wohl an dem Wasser der Farm lag, das ihr Äußeres sich so verbesserte.
Gutgelaunt ging ihr die Arbeit an diesem Tag viel leichter von der Hand. Um das Heu von der Wiese in den Stall zu bekommen, hatte sie es zu handlichen Bündeln zusammengebunden und es auf eine alte Holzkarre geworfen. Großmutter hatte auf der Farm wie vor hundert Jahren gearbeitet, sie hatte sich immer geweigert, Maschinen einzusetzen. Am Nachmittag kamen aus dem Nichts große Gewitterwolken, sie musste sich beeilen.
Als sie die alte Karre bewegen wollte, stellte sie fest, dass er beladen viel zu schwer für sie war. Hilflos schaute sie sich um. »So ein verdammter Mist! «, fluchte sie laut, »ich kann doch nicht die ganzen Bündel einzeln in den Stall tragen. «
Der große schwarze Hengst stand am Gatter seiner Koppel und schaute zu ihr. Als Nics Blick an ihm hängenblieb, wieherte er laut und stampfte mit den Vorderhufen. Fast kam es ihr so vor, als würde er rufen: »Hey, ich bin auch noch da, lass mich helfen. « Warum nicht, fragte sich Nic und ging zu ihm. Als sie das Gatter öffnete, galoppierte er an ihr vorbei und stellte sich wie selbstverständlich vor die Karre. Sie hielt die hölzerne Deichsel vor seine Brust, und, wie auf Befehl, zog das Pferd die Karre in die Scheune.
Als die ersten großen Regentropfen fielen, hatten sie das Heu schon im Stall. Nic holte noch die anderen Tiere von der Weide und war froh, heute nicht in die Stadt gefahren zu sein. Sie nutzte den Rest des Tages, um das Haus aufzuräumen und endlich auch die Wäsche zu waschen.
Als sie am nächsten Nachmittag das Café betrat, wartete Onkel Luis, schon an einem Tisch sitzend, auf sie. Er sprang auf und drückte sie fest an sich. »Mein Gott, Mädchen, du siehst aber gut aus«, rief er überschwänglich. Er zauberte einen Blumenstrauß hervor und legte eine kleine Schmuckschachtel dazu. »Ist das für mich? «, fragte sie begeistert. »Ja, mein Liebes, ich wollt mich für den Patzer am Telefon entschuldigen«, sagte er.
Freudig öffnete Nic die Schachtel - vor ihr lag eine zarte Kette mit einem goldenen Herzen.
»Oh, die ist aber schön! «, hauchte sie ergriffen. »Komm, ich lege sie dir gleich an«, meinte Onkel Luis mit glänzenden Augen. Einige Minuten später begann Nics Magen zu knurren. Luis tätschelte ihre Hand und meinte: »Lass uns schnell Kuchen bestellen, ich habe sowieso das Gefühl, als hättest du ganz schön abgenommen. «
Leider war es mit einem Stück Kuchen nicht getan. Als die Bedienung das vierte Stück mit einem missbilligenden Blick vor ihr abstellte, schämte sich Nic doch sehr. Sie versuchte, langsam zu essen, doch aber auch nach diesem Stück Kuchen hatte sie das Gefühl, noch immer nicht satt zu sein. Onkel Luis hatte ihr begeistert beim Essen zugesehen, dann fragte er: »Wie ist das mit der Farm, willst du sie immer noch verkaufen? « Nic zuckte mit den Schultern und nuschelte mit vollem Mund:
»Weiß nicht so genau. « Luis lächelte verschlagen und meinte: »Ich sag dir, was wir jetzt machen: ich kauf uns noch ein paar Stückchen als Wegzehrung, dann fahren wir zur Farm raus. Ich fahre, du kannst die alte Klapperkiste von deiner Großmutter hier stehenlassen, wir holen sie die Tage ab. Ich möchte mir das alles wenigstens mal anschauen. «
Nic war das alles irgendwie egal, in ihrem Kopf drehte sich plötzlich alles nur noch um Kuchen und Essen. Sie zuckte wieder nur mit den Schultern und kaute weiter. Als Luis an der Kuchentheke stand, betrachtete ein Teil von ihr sich ihn genauer. Er war wirklich eine seltsame Erscheinung. Wie sie es kannte, war er nur in Schwarz gekleidet. Er war ein Stück kleiner als Nic, schob aber einen enormen Bauch vor sich her. Seine schwarzen Haare klebten ölig an seinem Schädel, und um seine vordere Glatze zu bedecken, hatte er sie von der linken Seite zur rechten herüber gekämmt. Seine Augen waren klein, schwarz und listig. Er hatte Hängebacken wie eine Dogge; und die etwas weiter vorgeschobene Unterlippe war ständig feucht von Speichel.
Wie immer trug er seinen ausgefallenen Spazierstock mit sich, das Holz war vielfach um sich selbst gedreht. Der silberne Knauf war geformt wie ein Drachenkopf, auf dem sich seltsame Zeichen und Symbole befanden.
Der andere, hungrige Teil von Nic sah wieder auf den Teller und stellte erschrocken fest, dass sie soeben das letzte Stück Kuchen in den Mund schob. Onkel Luis hatte eine große Tüte in der Hand als er zurück an den Tisch trat. »Komm, mein Täubchen, lass uns fahren. «
Bis sie die Farm erreichten, hatte Nic noch drei weitere Stückchen verdrückt. Trotz ihrer Fresssucht erinnerte sie sich an ihr Versprechen, das sie ihrer Großmutter gegeben hatte. Sie hörte förmlich ihre Worte, »lass Luis auf keinen Fall ins Haus; alles was er dir schenkt, lass vor der Tür. « Nic überlegte angestrengt, welchen Sinn das haben sollte. Onkel Luis streckte die Hand nach ihr aus und sie ließ sich mitziehen. Er sagte: »Ich will mir erst mal die Stallungen ansehen. « Als er das große Tor aufschob und die Tiere ihn sahen, veränderten sie ihr Verhalten. Die Kuh machte sich klein und drängte sich ängstlich an die Holzwand, an deren anderer Seite der große schwarze Hengst stand. Der Hengst legte die Ohren flach an den Kopf und bleckte die Zähne, als er Luis sah. Unruhig stampfte er in der Box und versuchte, nach ihm zu schnappen. Unbeirrt ging Luis weiter. Als er vor den Schweinen stand, zogen sich diese in die hinterste Ecke zurück - dicht aneinandergedrängt schienen sie vor Angst fast zu zittern.
»Gott, Kind, was willst du denn mit den Viechern«, stöhnte Luis, »die machen doch nur Arbeit.
Also, wenn ich die Farm kaufen sollte, gehen die gleich am nächsten Tag zum Schlachter. «
Nic wäre vor Schreck das Stückchen fast aus der Hand gefallen, an dem sie gerade genüsslich nagte. Die Schafe, die sich sonst in vornehmer Zurückhaltung übten, sprangen, als Luis sich über den Verschlag beugte, in ihrem Stall hoch und versuchten, ihm mit ihrer Stirn einen Hieb zu versetzen. Die Hühner waren auf einmal ganz verschwunden.
Nic war wie in Trance. Als sie den Stall verließen, schnappte der Hengst nach ihr.
»Au, verdammt, das tut jetzt aber weh! «, rief sie erschrocken. »Was ist denn in dich gefahren! «,
schimpfte sie mit dem Pferd. Sie rieb sich die schmerzende Stelle. Es war aber der Schmerz, der sie in die Realität zurückholte. Luis war schon voraus in Richtung Haus gelaufen. Sie musste sich beeilen, um ihn einzuholen. »Warte auf mich, Onkel Luis, ich kann dir die Farm nicht verkaufen! «, rief sie.
Er blieb, wie vom Donner gerührt, stehen und drehte sich langsam zu ihr um, jede Freundlichkeit war aus seinem Gesicht gewichen. »Was sagst du da? «, fragte er scharf. Nic begann zu stottern.
»Ich kann nicht verkaufen, weil, weil«, sie überlegte fieberhaft, »morgen kommt der Notar von
Großmutter. Ich muss erst warten, was er zu sagen hat. « Sie wusste, dass das etwas dünn klang. Luis lächelte wieder.
»Ach, papperlapapp! «, sagte er. »Da du die Farm so oder so an mich verkaufst, kann ich sie mir ja
auch heute schon genau ansehen«, stellte er fest.
Er drehte sich um und ging weiter auf das Haus zu. In Nics Kopf hämmerten jetzt wieder Großmutters Worte, »lass Luis auf keinen Fall ins Haus. «
Plötzlich begann sich alles zu drehen, sie rief nach Onkel Luis. »Was ist denn jetzt schon wieder? «, meinte er unwillig und drehte sich erneut zu ihr um. Nic wurde übel, sie hatte das Gefühl, sich jeden Augenblick erbrechen zu müssen. In dem ganzen Chaos bildete sie sich ein, auf dem Boden um das Haus kleine blaue Flämmchen zu sehen. Nic sah, wie sie auf Onkel Luis zuschossen, über seine Schuhe krochen und an seinen Hosenbeinen leckten. »Ich fantasiere«, sagte sie zu sich selbst, ihr Kopf fühlte sich an, als sei ihr Gehirn aus Watte.
Luis war außer sich vor Wut; die Alte hatte sich die Kraftlinien zunutze gemacht - das machte die ganze Sache sehr viel schwieriger als gedacht. Nun, er würde schon noch einen Weg finden, um in das Haus zu gelangen, wenn nicht heute, dann ein anderes Mal. Schlechtgelaunt eilte er zu Nic und zerrte sie mit sich. Auf der Veranda ließ er sie recht unsanft in einen Stuhl plumpsen. Er hatte es nun sehr eilig, zu verschwinden, denn, je näher er am Haus war, umso höher und schmerzhafter leckten die blauen Flammen an ihm. Die Kraftlinien würden Ruhe geben, wenn Nic ihn in das Haus einlud. Schon fast im Gehen fragte er: »Soll ich dich nicht lieber ins Haus bringen und mich um dich kümmern? « Doch Nic gab ihm keine Antwort mehr, sie sah ihn nur mit glasigen Augen an und schüttelte verneinend den Kopf.
Diese verdammten Flammen bissen ihn jetzt so schlimm, dass er am liebsten laut aufgeschrien hätte. Nic sah, wie er mit steifen Beinen zu seinem Wagen ging und, mit durchdrehenden Reifen, davon schoss.
Auf den Tisch vor ihr hatte Onkel Luis lieblos den schönen Blumenstrauß geworfen. Eine neue Welle der Übelkeit raste durch sie hindurch, und sie schaffte es gerade noch, sich seitlich über das Geländer zu beugen, um zu erbrechen. Schwach ließ sie sich zurück in den Stuhl fallen; die Welt um sie herum verschwamm im Nebel, und dann verlor sie ihr Bewusstsein.
Auf diesen Augenblick hatten die Flammen der Kraftlinien gewartet, sie schossen aus dem Boden und krochen vorsichtig an Nic hoch, bis sie die Kette erreichten. Ohne Mühe schmolzen sie den Verschluss auf, so dass die Kette auf die Erde fiel, dann machten sie sich mit ihrer ganzen Kraft darüber her.
Als Nic kurze Zeit später erwachte, fühlte sie sich erstaunlicherweise gut. Der Nebel in ihrem Kopf hatte sich verzogen, sie konnte wieder klar denken. Als sie aus dem Stuhl aufstehen wollte, blieb ihr Blick am Blumenstrauß von Onkel Luis hängen. Erstaunt riss sie die Augen auf - vertrocknet lag er auf dem Tisch. Ungläubig streckte sie die Hand aus, um ihn zu berühren: Die Blumen zerfielen zwischen ihren Fingern zu Staub. Sie sah etwas Goldenes auf dem Boden, das bis zur Unkenntlichkeit zerschmolzen war. Als sie es aufhob, war es noch warm. Ihre Hand suchte nach dem Anhänger, den sie um den Hals tragen sollte, doch sie fand ihn nicht. Sie war sich sicher, dass sie die Reste in den Händen hielt. Was zum Teufel war hier losgewesen?
Ihr Herz begann ängstlich zu pochen. Das alles war doch recht unheimlich. Nic sprang aus dem Stuhl auf und lief ins Haus; ihr Weg führte sie in die Küche. Dort suchte sie nach der Dose, in der der Brief ihrer Großmutter lag. Mit zittrigen Händen holte sie ihn hervor. Tatsächlich, wie von Zauberhand waren dort neue Zeilen hinzugekommen. Sie las:
Meine liebste Nic, du brauchst dich nicht zu fürchten, die Farm beschützt dich. Aber deine Erfahrungen musst du schon selbst machen. Vergiss nicht, wenn Luis die Farm in die Hände bekommt, wird er nicht nur unsere Tiere im Stall töten. Ich fürchte, du selbst bist in großer Gefahr, du wirst bald die ganze Wahrheit erfahren, bitte warte noch etwas.
Nachdenklich faltete sie den Brief zusammen und steckte ihn wieder in die Dose zurück. Sie hatte nie an Magie glauben wollen; für Nic gab es immer logische Erklärungen. Hatte sie tatsächlich kleine blaue Flämmchen gesehen? Und wie funktionierte das mit dem Brief, der in der Handschrift ihrer Großmutter Nachrichten für sie hatte? Mit der Hand rieb sie sich über die Stirn - wie, um die ängstlichen Gedanken wegzuwischen. So sehr sie auch überlegte, sie fand dieses Mal einfach keine logische Erklärung. Seufzend stand sie auf und beschloss, über diese Dinge erst einmal nicht nachzudenken. Sie sah auf die Uhr und eilte schnell noch in den Stall, denn die Tiere mussten noch gefüttert werden. Als sie den Stall betrat, standen alle Tiere wie erstarrt und blickten sie unverwandt an. Sogar die Hühner, die wieder aufgetaucht waren, hielten mitten in der Bewegung inne. Nic konnte sich das Verhalten der Tiere nicht erklären. Fassungslos wanderte ihr Blick über die Tiere, und die Tiere standen da und starrten zurück. »Okay, Leute«, sagte sie schließlich, »ich werde die Farm nicht verkaufen. « Als hätten sie verstanden, änderte sich ihr Verhalten schlagartig. Die Schafe zogen sich wieder in ihre Ecke zurück, die Schweine schnüffelten am Trog und quiekten leise, in der Hoffnung, etwas zu fressen zu bekommen. Die Hühner liefen aufgeregt durch den Stall, und die Kuh schloss für einen Moment die Augen. Lediglich der große schwarze Hengst sah sie skeptisch an.
»Was für einen Quatsch denke ich denn da«, schimpfte Nic laut vor sich hin, »Tiere können nicht
erleichtert die Augen schließen und auch nicht strafend schauen, denn Tiere können nicht denken,
basta.« Der Hengst wieherte leise. Nic ging zu ihm und drohte ihm mit dem Finger, doch sie lächelte dabei. »Und wir beide sprechen uns noch - wie kannst du denn nach mir schnappen? «
Als sie die Tiere versorgt hatte, stapfte sie zurück ins alte Farmhaus, denn sie hatte vor, noch etwas aus- und umzuräumen.
Stolz schaute sie sich ein paar Stunden später um: die Räume waren sauber, aufgeräumt und wirkten wieder gemütlich. Da ihr Magen immer noch etwas angegriffen schien, verzichtete sie auf ein Abendessen, sie trank lediglich ein Glas Milch. Nic hatte eine Kiste mit Kleinigkeiten, die sie später noch auf den Speicher tragen wollte. Doch es kostete sie Überwindung, die Treppen zum Speicher hochzusteigen. Hier war Großmutter gestorben, doch es half nichts, die Sachen mussten verstaut werden. Das erste, was ihr auffiel, war der Gestank, der ihr entgegenschlug. Der sonst so aufgeräumte Speicher sah chaotisch aus. Nic ging und öffnete das kleine Dachfenster. Dabei war ihr Fuß nur einige Zentimeter von dem toten, zu Staub zerfallenen Pachnoda entfernt. Doch Nic konnte ihn nicht sehen - noch nicht.
Den Rest des Abends verbrachte sie damit, auf dem Speicher herumzuräumen. Als sie auf die Uhr sah, stellte sie erschrocken fest, dass es schon sehr spät war. Wo hatte sie nur all die Energie herbekommen? Normalerweise läge sie schon längst tiefschlummernd im Bett. Sie fühlte sich zwar müde, doch lange nicht mehr so ausgelaugt wie die letzten Tage. Nic verschloss das Fenster, löschte das Licht und ging zufrieden schlafen.
Was die ersten Tage schwer und schmerzhaft für sie gewesen war, ging ihr jetzt, durch den geregelten Tagesablauf, leichter und schneller von der Hand, was nicht heißen sollte, dass es nicht anstrengend war.
Am nächsten Abend klingelte Alois Grisham, der Rechtsanwalt und Notar ihrer Großmutter. Neugierig öffnete Nic die Tür. Vor ihr stand ein kleiner, dürrer, grauhaariger Mann. In seinem schwarzen Anzug sah er eher aus, als würde er in einem Bestattungsinstitut arbeiten. Nic musste ein Lächeln unterdrücken. Als er sich gesetzt hatte, zog er aus seiner Aktentasche ein Bündel Papiere, dann fragte er: »Sind Sie bereit, Fräulein Vielfalt, kann ich das Testament vorlesen? « Mit einem Kloß im Hals konnte sie nur nicken, und so las Alois Grisham:»Ich, Esmeralda Vielfalt, bestimme im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, dass meine Enkelin, Nicoletta Vielfalt, alles, was ich besitze, erben soll. Ich weiß, das Nicoletta die Farm nach ein paar Wochen verkaufen möchte. «
Nic saß wie vom Donner gerührt - anscheinend hatte Großmutter sie besser gekannt, als sie sich selbst. »Doch ich verfüge, «, las der Notar weiter, »dass Nicoletta ein Jahr auf der Farm leben muss. Sollte sie nach dieser Zeit ihre Meinung nicht geändert haben, darf sie verkaufen. « Nic war etwas entsetzt, sie fragte den Notar: »Wie stellt sie sich das denn vor? Ich werde meinen Job kündigen müssen, wovon soll ich denn leben? Das, was ich so täglich auf dem Hof verkaufe, reicht nicht zum Leben. « Alois Grisham hob die Hand und lächelte. »Stopp, junge Frau, Ihre Großmutter hatte auch noch ein Bankkonto. « Nic verschlug es die Sprache. »Ein Bankkonto? «, würgte sie staunend hervor, woher war das Geld?
Schweigend schob ihr der Notar einen aktuellen Kontoauszug zu. Nic konnte nur trocken schlucken, als sie den Betrag las: 100,000 Dollar waren auf dem Konto. Was hatte sie da noch dagegenzusetzen, fragte sie sich im Stillen. Ein Jahr ging schnell vorbei, dann konnte sie ja ihr altes Leben wieder aufnehmen. »Also gut«, sagte sie resigniert, »wo soll ich unterschreiben? « Nic dachte plötzlich an ihr Auto, das noch in der Stadt stand. »Könnte ich Sie noch um einen Gefallen bitten? «, fragte sie den Notar. »Würden Sie mich bitte mit in die Stadt nehmen? Ich habe dort meinen Wagen stehenlassen und müsste ihn holen. « »Aber natürlich, Fräulein Nicoletta, es wäre mir eine Freude, Sie mit in die Stadt zu nehmen. « Auf der Fahrt nach Wishek unterhielten sich Grisham und sie kaum, was sie als sehr entspannend empfand. Mit einem festen, warmen Händedruck verabschiedete sich Alois Grisham. Er zwinkerte ihr freundschaftlich zu und meinte: »Das war eine sehr gute Entscheidung. Ich bin mir sicher, Sie werden es nicht bereuen, auf der Farm zu bleiben. «
Als sie dann endlich wieder auf der Farm ankam, war es schon dunkel geworden. Nic drehte noch schnell ihre Runde durch den Stall und verschloss das Tor. Wie jeden Abend war sie müde, aber es war nicht mehr diese bleierne, lähmende Müdigkeit, die sie in den ersten Tagen gehabt hatte. Nic kochte sich einen Tee und setzte sich an den Küchentisch und überlegte ihre nächsten Schritte. Morgen würde sie ihren Chef anrufen müssen, um zu kündigen. Gott sei Dank hatte sie keine eigene Wohnung, dafür hatte das Geld, das sie verdiente, nicht gereicht. Sie hatte sich nur ein kleines Zimmer gemietet, und es würde sie nur ein paar Stunden kosten, es zu räumen.
Als Nic am nächsten Morgen ihren Chef anrief, reagierte er wie erwartet: er wehrte sich nicht groß gegen die Kündigung. Er würdigte zwar ihr Können, hatte sie aber immer wieder auf ihr Äußeres angesprochen. »Fräulein Nicoletta«, hatte er mit ernster Stimme gesagt, »Sie müssen sich mehr pflegen, meine Kunden sind über Ihr Aussehen nicht sehr erfreut. « Was noch stark untertrieben war. Schließlich hatte er ihr ein kleines Büro am Ende des Flures gegeben und sie sogar gebeten, dort zu bleiben, wenn Besuch kam.
Dann kündigte sie noch ihr Zimmer und vereinbarte, dass sie am Ende des Monats ihre Sachen holen wollte. Wenigstens ihre Vermieterin schien traurig zu sein, dass sie auszog.
Kaum hatte sie das Telefon aufgelegt, klingelte es auch schon wieder. Als sie abhob, hörte sie die fröhliche Stimme ihres Onkels. »Hallo, mein Täubchen, wie geht es dir? «, fragte er überschwänglich.
Irgendwie hatte Nic ihre Unbefangenheit ihm gegenüber verloren; sein Verhalten war in der Tat sehr merkwürdig. Nic antwortete vorsichtig. »Danke der Nachfrage, mir geht es wieder sehr gut. «
»Das freut mich, mein Liebes«, säuselte er mit sanfter Stimme. »Darf ich denn fragen, wie es mit
der Testamentseröffnung gelaufen ist? « »Ach, Onkel Luis«, seufzte Nic, »Großmutter hat mir zur Auflage gemacht, dass ich erst ein Jahr auf der Farm leben muss, bevor ich sie verkaufen kann. «
Von dem Geld erwähnte sie nichts. Sie hörte ihn wütend schnauben, doch sein Ton blieb nett.
»Das sieht Esmeralda mal wieder ähnlich. Und was machst du jetzt? «, fragte er.
Nic antwortete wahrheitsgetreu: »Ich werde in den sauren Apfel beißen; Job und Zimmer sind schon gekündigt. « »Soll ich dich fahren, wenn du deine Sachen holen möchtest, oder soll ich an diesem Tag lieber die Farm für dich machen? «, fragte er mit einem seltsamen Unterton. Er hatte sie wieder mal in eine Ecke gedrängt, eigentlich wollte sie weder das Eine noch das Andere, doch ihr fehlte der Mut, es ihm zu sagen. So brauchte sie nicht lange zu überlegen - sie würde ihn auf keinen Fall bei den Tieren hier auf der Farm lassen. »Wenn du möchtest, kannst du mich fahren. Ich habe nicht viel, das bekommen wir alles in deinen Wagen hinein«, erwiderte sie. »Aber ich habe ja noch drei Wochen Zeit, bevor wir nach Harvey fahren müssen. « Luis‘ Stimme klang enttäuscht, als er meinte: »Soll ich dich so lange nicht sehen? « »Es tut mir sehr leid, Onkel Luis, aber ich habe wirklich viel zu erledigen«, meinte sie. Doch so schnell gab Luis auch dieses Mal nicht auf. »Wenn du keine Zeit hast, in die Stadt zu kommen, dann komme ich eben zu dir. « Nic brach der Schweiß aus, sie wollte ihn nicht auf der Farm haben; kurzentschlossen log sie. »Also, Ende nächster Woche habe ich in Wishek einige Dinge zu erledigen, dann können wir uns ja wieder auf einen Kaffee treffen. « Nic glaubte zu spüren, dass Onkel Luis lieber zur Farm gekommen wäre, doch er blieb freundlich, als er antwortete: »Ich freu mich schon jetzt auf dich. « Sie unterhielten sich noch ein wenig über Allgemeines, und Nic war froh, als sie endlich auflegen konnte.
Am nächsten Morgen fand Nic eine Waage. Mit klopfendem Herzen stellte sie sich darauf. Ein kleiner Freudenschrei entfuhr ihr - sie hatte fünf Kilo abgenommen! Fünf Kilo in zehn Tagen! Die blaue Latzhose ließ sich auch wieder leicht zuknöpfen; so langsam finde ich das Leben auf der Farm gar nicht mehr so schlimm, dachte Nic beschwingt.
Einige Tage später nahm sie allen Mut zusammen und rief Onkel Luis an. Das Treffen zum Kaffetrinken sagte sie mit viel Bedauern ab.
Als sie sich drei Wochen später, früh am Morgen, wieder wog, hatte sie noch einmal sechs Kilo abgenommen. Gutgelaunt ließ sie sich zu Luis ins Auto gleiten, als dieser sie abholte. Verdutzt sah er sie von der Seite an: Nic hatte sich verändert, sie schien lebenslustiger, und sah um Welten besser aus. Haut und Haare schimmerten gesund, und sie sah, trotz der Farmarbeit, sehr gepflegt aus. Luis‘ Laune sank; sie hatte ihm vorher besser gefallen, er würde schon einen Weg finden sie wieder aufzufüttern. »Wer macht denn heute die Farm? «, fragte er scheinheilig. »Niemand«, erwiderte Nic mit einem Lachen, »ich habe die Tiere heute morgen auf die Weide gelassen und hole sie heute Abend wieder herein. Alle anderen Arbeiten habe ich auf morgen verschoben. Mittlerweile bin ich so gut eingearbeitet, dass ich recht schnell fertig bin. « Luis verzog den Mund, dann fragte er: »Wo hast du denn die schöne Kette, die ich dir geschenkt habe? « Es blieb Nic nichts anderes übrig, als zu einer Notlüge zu greifen. »Es tut mir ja so leid, aber ich muss sie irgendwo auf der Farm verloren haben«, sagte sie zerknirscht. »Das ist aber wirklich schade«, meinte er und schwieg dann.
Die nächsten Stunden Fahrt hatte er noch genug Zeit, sich einen neuen Plan auszudenken. Kaum waren sie eine halbe Stunde unterwegs, begann Nics Magen zu knurren. So ganz konnte sie das nicht verstehen, sie hatte doch gefrühstückt. Ihr Magen knurrte so laut, dass Luis lächelnd meinte: »Ich glaube, wir zwei gehen erst einmal richtig frühstücken. « Er ignorierte Nics Protest und fuhr die nächste Ausfahrt raus.
Eine doppelte Portion Rühreier mit Speck, Bratkartoffeln und vier Scheiben Toast später, fuhren sie weiter. Wie das letzte Mal, als sie sich getroffen hatten, hatte Luis ihr eine Tüte mit Stückchen auf den Schoß gelegt. Nic starrte auf die Tüte. Irgendetwas lief hier ganz falsch, überlegte sie, jedesmal, wenn sie sich mit Onkel Luis traf, hatte sie das Gefühl, nur noch essen zu können, fast wie in einem Fressrausch. Mit jedem Bissen, den sie zu sich nahm, vernebelte sich ihr Geist zusehends; am Ende konnte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen. Auf der Farm hatte sie nie solchen Hunger. Verzweifelt überlegte sie, woran das liegen konnte, gab dann aber auf und begann, das süße Gebäck in sich hineinzustopfen.
Gegen Mittag erreichten sie ihr Ziel. Nic meinte zu Onkel Luis: »Ich werde nur zwei Stündchen brauchen, um alles auszuräumen. Du kannst, wenn du möchtest, irgendwo etwas essen gehen und mich dann abholen. « Luis fragte: »Bist du dir sicher, dass ich dir nicht helfen soll? « »Nein, danke, ist schon okay, ich brauche nur meine Kleider und etwas Kleinkram zusammenzupacken«, sagte sie lahm. Mittlerweile war ihr wieder schlecht, der Magen schmerzte von dem vielen ungewohnten Essen, und ihr Kopf fühlte sich auch wieder an, als sei er in Watte gepackt. Kaum war Luis um die Ecke gefahren, wurde ihr schlecht. Sie schaffte es gerade noch zu Frau Patt, in deren Wohnung sie ihr Zimmer gemietet hatte. Mit einem, »Entschuldigung«, stieß sie die erstaunte Frau einfach zur Seite, stürmte das Bad und übergab sich. Zitternd spülte sie sich den Mund aus und wusch sich die Hände. Vor der Tür hörte sie Frau Patt voller Sorge nach ihr rufen. »Sind Sie in Ordnung, Kindchen? Soll ich einen Arzt holen? « Nic atmete mehrmals tief durch, bevor sie antwortete. »Alles ist gut, ich muss wohl auf der Fahrt etwas Falsches gegessen haben. «
Als sie die Tür öffnen wollte, spürte sie eine weitere Welle der Übelkeit. Erst als ihr Magen restlos leer war, konnte sie hinaus wanken. Frau Patt faltete erschrocken die Hände, als sie Nic sah.
»Gott, Sie sehen aber schlecht aus! «, rief sie entsetzt. »Kommen Sie, legen Sie sich doch mal für
ein paar Minuten hin.« Sie schob Nic in ihr altes Zimmer. »Ich koche Ihnen in der Zeit eine schöne Tasse Tee. « Nic hatte nicht die Kraft, zu widersprechen, sie ließ sich auf ihr Bett fallen und war sofort eingeschlafen. Es schienen nur einige Minuten vergangen zu sein, als die Stimme von Frau Patt sie die Augen öffnen ließ. Diese stand mit einer Tasse Tee unsicher vor dem Bett. »Ich wollte Sie nicht wecken, Kindchen«, flüsterte sie, »aber Ihr Tee wird kalt. « Nic setzte sich auf, alle Übelkeit war verflogen, sie fühlte sich gut und voller Tatendrang. Immer noch war die Stimme von Frau Patt mitfühlend, als sie fragte: »Geht es Ihnen besser? « Wortlos nahm Nic die Tasse und trank den lauwarmen Tee in einem Zuge aus, dann schwang sie die Beine aus dem Bett und sah sich um.
»Danke, Frau Patt, ich fühle mich wieder sehr gut und werde mich auch sofort an die Arbeit
machen. « Frau Patt sah sie zweifelnd an. »Sie werden doch nicht schwanger sein? «, fragte sie unsicher. Nic sah sie nur überrascht an und schüttelte den Kopf. Einer der Gründe, warum Frau Patt Nic so als Mieterin geschätzt hatte, war, dass sie nie Männerbesuch mit nach Hause gebracht hatte. Was wohl daran lag, dass das Mädchen so hässlich gewesen war. Frau Patt besah sich Nic genauer: die vielen Pickel und Mittesser waren verschwunden, das Gesicht war leicht gebräunt. Die Haare schienen frisch gewaschen zu sein, und so wie es aussah, hatte das Mädchen sogar ein paar Kilo abgenommen. Wenn man sie jetzt so ansah, war sie fast hübsch.
Nic brauchte nicht lange, um ihre Habseligkeiten zu packen. Luis war in der Zwischenzeit dazugekommen und trug die Kisten in seinen Wagen. Frau Patt drückte Nic zum Abschied herzlich und meinte: »Sollten Sie doch noch einmal ein Zimmer suchen, dann melden Sie sich bei mir, Kindchen. «
»Wollen wir unterwegs nochmal etwas essen? «, fragte Luis, als sie losgefahren waren.
Nic schüttelte heftig den Kopf. »Danke nein, ich bin nicht hungrig. « Doch genau in diesem Moment begann ihr Magen wieder heftig zu knurren. Nic war außer sich vor Wut über ihren Körper, Luis tätschelte tröstend ihre Hand. »Ich werde an der nächsten Raststätte herausfahren«, sagte er milde, »und ich dulde keine Widerrede. «
Das ganze Spiel vom Vormittag begann sich zu wiederholen - sie aß und aß, ohne wirklich sattzuwerden. Ihr Blick blieb am ausgefallenen Gehstock ihres Onkels hängen. Fast schien es ihr so, als würden die Augen des silbernen Drachenkopfes, der als Knauf diente, rot glühen. Zwischen zwei Gängen legte ihr Onkel Luis eine Schachtel auf den Tisch. »Ich habe da noch eine Kleinigkeit für dich«, säuselte er. Neugierig öffnete Nic die Schachtel; erschrocken atmete sie aus. Sie sah dieselbe Kette, die er ihr vor einigen Wochen schon einmal geschenkt hatte. »Das ist aber lieb von dir«, würgte sie hervor und versuchte Freude zu heucheln. Wie das letzte Mal auch, nahm er die Kette aus der Schachtel und legte sie ihr um den Hals - doch dieses Mal hatte sie das Gefühl, als würde die Kette schwer wie ein Stein an ihrem Hals hängen. So sehr sie auch versuchte, sich zusammenzunehmen, schlang sie doch auf dem Nachhauseweg noch einige Tüten Chips in sich hinein und hasste sich dafür.
Es war schon längst dunkel, als sie auf der Farm ankamen. Eigentlich hatte sie die Tiere gleich in den Stall bringen wollen. Doch durch das viele Essen war sie wieder einmal wie benebelt. Onkel Luis hob die schweren Kisten aus dem Auto und meinte beiläufig: »Ich bring sie dir gleich ins Haus. « Nic hatte sich auf der Veranda in einen Stuhl fallen lassen und winkte ab. »Stell sie einfach dort hin, den Rest mach ich morgen. « Sie hatte das Gefühl, als hätte sich ein Teil von ihr getrennt; dieser Teil stand nun neben ihr und beobachtete das Geschehen, der andere Teil in ihrem Körper war zu nichts mehr fähig.
»Aber, Liebes, ich kann das doch für dich hineintragen«, versuchte Luis es noch einmal freundlich. Verzweifelt versuchte Nic einen klaren Kopf zu bekommen. »Bitte, lass es einfach stehen, du hattest schon genug Arbeit«, meinte sie schwach. Dann sah sie es wieder, und sie riss die Augen auf, um noch besser sehen zu können. Kleine blaue Flämmchen, die aus dem Boden zu wachsen schienen; in der Dunkelheit waren sie gut zu sehen. Sie krochen auf Luis zu. Nic saß bewegungslos auf ihrem Stuhl, unfähig sich zu bewegen. Sie sah, wie Luis den letzten Karton aus dem Auto lud - er warf ihn mehr auf die Veranda, als dass er ihn trug - und dabei von einem Bein aufs andere sprang und fluchte. Was genau er sagte, konnte sie nicht verstehen. Sie glaubte zu hören: »Dusselige Kuh, was soll ich denn noch machen, um in das Haus zu gelangen. « Nic spürte wieder Übelkeit in sich aufsteigen und wusste, was jetzt kommen würde. Luis stieg in seinen Wagen und fuhr, ohne sich zu verabschieden, davon.
Mit letzter Kraft gelang es Nic, sich die Kette vom Hals zu reißen und von sich zu schleudern. Ergeben beugte sie sich über das Geländer und erbrach sich. Immer und immer wieder wurde ihr Körper von heftigem Würgen geschüttelt. Irgendwann schaffte sie es, sich in den alten Schaukelstuhl fallen zu lassen, und erschöpft verlor sie wieder das Bewusstsein.
So entging es ihr auch, dass die blauen Flammen erneut aus dem Boden auftauchten. Sie stürzten sich hungrig auf ihre Umzugskisten, sie suchten und fanden alles, was Luis ihr je geschenkt hatte.
Unerbittlich löschten sie alle diese Gegenstände aus; sie zerschmolzen sie zu unansehnlichen kleinen Klümpchen, oder verbrannten sie zu Asche. Dann stürzten sie sich auf die Kette und ließen erst von ihr ab, als nur noch ein geschmolzener Klumpen Gold übrig blieb. Zufrieden zogen sich die Flammen zurück.
Wenig später kam Nic wieder zu sich. Wie sie es erwartet hatte, ging es ihr gut. Diese ganze Sache ging doch nicht mit rechten Dingen zu. Aber eines wusste sie mit Sicherheit: das alles musste irgendwie mit Onkel Luis zusammenhängen. Nic hatte Onkel Luis nie als bedrohlich empfunden, aber so langsam bekam sie doch Angst vor ihm. Sie erhob sich, um ins Haus zu gehen, und ihr Fuß stieß gegen einen verschmolzenen, kleinen Gegenstand. Fassungslos schüttelte sie den Kopf, doch noch bevor sie es aufhob, wusste sie, was es war, und achtlos warf sie die Überreste der Kette in den Abfall. Bevor sie zu Bett ging, kramte sie Großmutters Brief heraus. Es waren keine Zeilen dazugekommen, dabei hatte sie so viele Fragen. Enttäuscht steckte sie den Brief in die Dose zurück. Erst dann fiel ihr ein, dass sie noch die Tiere auf der Weide hatte. Im Schlafanzug rannte sie los.
Die Schafe und die Schweine standen dicht aneinandergedrängt, auch die Kuh und das Pferd standen auf der großen Weide dicht beieinander. Unter dem mächtigen Hengst drängten sich die vier Hühner. Nic musste lächeln, fast sah es so aus, als würden sich die Tiere gegenseitig Schutz geben. Sie öffnete die Umzäunung und lief voraus, die Tiere folgten ihr ohne Probleme.
Am nächsten Tag packte sie ihre wenigen Sachen aus und verstaute sie. Erschrocken hielt sie mitten in der Bewegung inne - in der Hand hielt sie einen Klumpen geschmolzenes Glas. Irgendwie erinnerte sie die Farbe an eine Vase, die sie einmal von Onkel Luis bekommen hatte. Kopfschüttelnd legte sie ihn zur Seite. Einige Augenblicke später zog sie etwas hervor, das einmal ein Buch gewesen war. Die zu Asche verbrannten Seiten zerfielen in ihrer Hand. Was war hier geschehen? Ziemlich schnell fand Nic heraus, dass nur die Sachen von Onkel Luis verbrannt waren. Hatten das die kleinen blauen Flämmchen getan, die sie immer zu sehen glaubte, wenn Luis sich der Farm näherte? Hatte das Haus tatsächlich ein Eigenleben? Sie packte die zerstörten Sachen zusammen und warf sie in die Mülltonne.
Nic war eingebunden in die Arbeit der Farm, als die Tiere von einem auf den anderen Tag ihr Verhalten ihr gegenüber änderten. Es war auf einmal wie verhext, sie hatte nie Schwierigkeiten gehabt, die Tiere in den Stall oder auf die Weide zu bringen. Sie waren immer folgsam gewesen, aber plötzlich schienen sie sich einen Spaß daraus zu machen, ihr zu entwischen. Mal waren es die Schafe, die kurz vor dem Stall davonliefen, mal die Hühner und mal die Schweine. Nic lief ihnen hinterher, bis sie, nach Luft ringend, stehenbleiben musste. Sie hatten alle das gleiche Ziel: einen kleinen Hügel, etwa zwei Kilometer entfernt. Ohne dass sie es bemerkte, stärkte sie ihre Ausdauer mit jedem Tag, den sie den Tieren hinterherlaufen musste.
Schließlich schaffte sie es nach einigen Wochen den Hügel im Laufschritt zu erklimmen, ohne dass sie groß außer Atem war. Am allerschlimmsten aber trieb der Große Schwarze sein Spiel - an manchen Tagen spielte er regelrecht Nachlauf mit ihr. Er ließ sie bis auf einen Meter an sich herankommen und warf sich dann links oder rechts zur Seite; nur um mit hocherhobenem Kopf an ihr vorbeizugaloppieren. Er wieherte dabei so laut, dass es sich anhörte, als würde er sie auslachen.
Die ersten Tage war sie noch schnell außer Atem, doch mit der Zeit wurde sie schneller.
Es war schon später Nachmittag, und sie wollte die Tiere in den Stall bringen, aber der Hengst trieb wieder sein Spiel mit ihr. Als er ihr in der Mitte der Weide wieder davon galoppiert war, verließ Nic der Mut. Sie setzte sich auf den großen Stein, der auf der Weide lag und ließ ihren Kopf traurig hängen. Sie fühlte sich sehr allein und einsam, ihr fehlte einfach jemand zum Reden. Tränen liefen ihr über die Wangen und sie begann zu schluchzen. Langsam, Schritt für Schritt, kam der Große Schwarze auf sie zu, bis er direkt vor ihr stand. Seine weichen Nüstern strichen ihr zart durch das Gesicht, gerade so, als wollte er ihre Tränen abwischen. »Geh weg«, sagte sie traurig, »lass mich in Ruhe«. Der Hengst stupste sie vorsichtig an. Nic verstand nicht, was er von ihr wollte. Er hatte sich so vor den Stein gestellt, dass sie, wenn sie sich darauf stellen würde, leicht auf seinen Rücken gleiten konnte. Sie hatte noch nie gesehen, dass irgendjemand versucht hätte, das Pferd zu reiten. Der Gedanke war absurd, wieso sollte das Pferd wollen, dass sie es ritt? Doch es blieb beharrlich stehen, ab und zu drehte es den Kopf und stieß sie an die Schulter.»Also gut«, sagte sie schließlich, »denk dran, dass du es wolltest, dass ich mich auf deinen Rücken setze. « Sie stellte sich auf den Stein und schwang sich auf ihn. Er war erstaunlich bequem - warm fühlte sie seine Haut an ihren Schenkeln. Ihre Hände griffen in die lange Mähne, vorsichtig und langsam lief er los. Ziemlich schnell fand sie heraus, dass er schneller ging, wenn sie sich nach vorne legte. Beugte sie sich leicht nach hinten, wurde er langsamer. Sie war sich nicht so sicher, was sie mit ihren Beinen machen sollte, deshalb versuchte sie, die Beine einfach hängenzulassen. Aber es wurde ihr schnell klar, dass sie einen viel besseren Halt hatte, wenn sie die Beine fest an seinen Leib drückte. Nic hätte nie gedacht, das Reiten ihr gefallen könnte, doch sie fand es fantastisch. Langsam trottete der Hengst mit ihr in Richtung Stall.
Als sie ihn am nächsten Nachmittag von der Weide holen wollte, stand er schon am Stein und schien nur auf sie zu warten. Nic konnte es kaum glauben - vorsichtig schwang sie sich auf seinen Rücken. Langsam lief er los, mehrmals lief er quer über die Weide, doch dann begann er schneller zu werden. Als er in den Trab fiel, wurde Nic gehörig durchgeschüttelt, verlor den Halt, doch noch bevor sie fallen konnte, stoppte der Hengst. Immer wieder begann er zu traben und nach einiger Zeit fand sie schließlich einen Weg, einigermaßen bequem auf seinem Rücken zu sitzen. Fest schloss sie die Beine und beugte ich ein wenig nach vorn, so dass ihr Hintern einige Zentimeter über seinem Rücken schwebte. Er machte einen kleinen Satz und Nic fiel zu Boden; der Hengst blieb stehen und schaute sich nach ihr um. Außer, dass ihr Hintern schmerzte und sie sich erschreckt hatte, ging es ihr gut.
»Ich glaube, wir lassen das für heute«, sagte sie zu dem Hengst, rief ihn und wollte ihn in den Stall
bringen. Doch der Große Schwarze hatte wohl andere Pläne, er trottete zum Stein und war mit nichts zu bewegen, in den Stall zu gehen. Nic hatte keine Wahl, seufzend ging sie zurück zum Stein, und von dort aus ließ sie sich auf den Rücken des Hengstes gleiten. An diesem Tag fiel sie noch zwei Mal herunter, doch der Hengst nötigte sie immer, mit sanfter Gewalt, wieder aufzusteigen. Nach einigen Tagen galoppierte er das erste Mal mit Nic auf seinem Rücken. Sie war erstaunt, wie leicht sie sich halten konnte. An ihren Schenkeln spürte sie das Spiel seiner Muskeln, und er steigerte sein Tempo, bis ihre Haare im Wind flatterten. In diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, mit dem Pferd zu einer Einheit zusammengewachsen zu sein. Alle Sorgen, alle Ängste fielen von ihr ab, es gab nur noch das Pferd und sie.
Die Wochen vergingen, Nic erledigte die Farmarbeit nun schnell und gewissenhaft. Nicht nur, dass ihr jetzt auch die Zeit und die Kraft blieb, das Haus zu reinigen, sie fand auch die Muße, am Abend in Großmutters Büchern zu lesen. Am Anfang las sie aus Langeweile, doch mit jedem Buch, das sie las, wurde ihr Interesse größer. Sie erfuhr viel über Astrologie, Pflanzenkunde und unsichtbare Kräfte, die jeden Menschen umgaben. Ein kleines Buch hatte es ihr besonders angetan, sein Ledereinband war abgegriffen und rissig. Es schien sehr alt zu sein; es barg ein uraltes Wissen von Heilung und Weisheit.
Nach und nach fand sie heraus, dass sie erst einmal mit sich und ihrer Umwelt in Einklang kommen musste. War das nicht genau das, was auf der Farm im Moment geschah? Sie lernte, wie sie ihre Spiritualität entdecken konnte und übte Anrufungen für die Geistwesen der Himmelsrichtungen. Sehr oft fragte sie sich, kann das alles stimmen? Es gab schöne Rituale für Gesundheit, Liebe und zum Vertreiben von bösen Geistern. Eines der Schutzrituale gefiel ihr besonders. In dem Büchlein stand: „Trage immer einen Bergkristall bei dir. Bei Gefahr sprich leise: ‚Wall aus Kristall entstehe überall. ‘ Stell dir dabei vor, wie ein Berg aus Kristall um dich herum zu wachsen beginnt. Dicht an dicht umschließt er dich, sprich weiter: ‚Schütze mich, du heller Stein, lass von den schlechten Dingen nichts herein, so soll es sein. ‘ “ Immer mehr begriff sie, wie alles zusammenhing. Und mit wachsendem Wissensdurst begann sie, Buch um Buch zu verschlingen. Ohne lange darüber nachzudenken, hatte sie aus einer flachen Schale, in der viele bunte Steine lagen, einen kleinen Bergkristall herausgenommen. Sie trug ihn ab diesem Tage immer bei sich, und oft schlüpfte ihre Hand in die Hosentasche, nur um den Stein kurz in die Hand zu nehmen. Großmutter hatte überall im Haus diese Steine verteilt. Und nach einigen Wochen war Nic sogar in der Lage, die verschiedenen Steine zu erkennen. Da gab es Achate, Karneole, Opale und viele andere Steine. Aber in jedem Raum lagen Bergkristalle. Früher hatte Nic darüber geschmunzelt, doch jetzt hatte sie herausgefunden, dass der Bergkristall der größte Schutzstein vor negativen Schwingungen war. Schließlich fing sie an, von den vielen Pflanzenrezepten gegen allerlei körperliche Beschwerden, Salben herzustellen. Auch wenn sie es nicht gerne zugab, begann ihr das alles Spaß zu machen. Sie erwischte sich, dass sie leise ein Lied summend, in der Küche stand und liebevoll Pflanzenteile zerstieß. Nics Blick ging nach draußen, der volle Mond stand am Himmel, sie lächelte verträumt. Nie hätte sie geglaubt, dass sie in Großmutters Fußstapfen treten würde.
Eines Morgens, sie war nun fast den siebten Monat auf der Farm, und der Spätsommer hatte Einzug gehalten, kramte sie wieder die Waage hervor. Die blaue Latzhose, die ihr zu eng gewesen war, schlackerte nun an ihrem Körper. Vorsichtig stellte sich Nic auf die Waage und hielt die Luft an, sie wog nur noch achtundsechzig Kilo. Sie hatte sich schon lange nicht mehr nackt im Spiegel angesehen, doch jetzt schien der Augenblick gekommen, dieses Risiko einzugehen. Ängstlich trat sie im Bademantel vor ihr Abbild und ließ das Kleidungsstück zu Boden fallen, dabei hatte sie die Augen fest zusammengekniffen. Nic atmete tief ein und wagte zögernd einen Blick. Das sah gar nicht so schlecht aus, stellte sie erleichtert fest. Ihre Haut war straff und sie hatte tatsächlich an einigen Stellen Muskeln bekommen. Das Mädchen, das sie im Spiegel sah, war jung und hübsch. Zaghaft schmunzelte sie sich zu. Nur um den Unterschied zu sehen, schlüpfte sie in eine alte Jeans von sich - die Hose rutschte ohne Probleme an ihr herunter. Ihr Herz machte einen Sprung! Es war an der Zeit, in die Stadt zu fahren und sich neue Kleider zu gönnen. So ein Tag würde ihr mit Sicherheit guttun, überlegte Nic, sie musste mal raus aus ihrem Trott. Wenn sie schon dort war, konnte sie auch gleich zum Friseur gehen.
Am nächsten Tag, nachdem sie die Tiere versorgt hatte, machte sie sich voller Vorfreude, mit Großmutters altem Auto, auf den Weg. Etwas unsicher betrat sie das Bekleidungsgeschäft, doch die Verkäuferinnen versicherten ihr, dass sie in den Jeans, die sie anprobierte, umwerfend aussah. Nic erstand drei Jeans; eine behielt sie gleich an. Die Verkäuferin entsorgte die alte Hose mit spitzen Fingern. Nic erstand dazu noch einige T- Shirts und zwei Hemden. Glücklich verließ sie das Geschäft und bog um die nächste Ecke. Als sie die Tür zum Friseurgeschäft öffnete, erkannte sie sofort eine alte Schulkollegin wieder. Sie hatte nicht studiert und lieber ihre große Liebe geheiratet. Die beiden jungen Frauen fielen sich vor Freude in die Arme. »Nicoletta«, rief Mandy, »du siehst ja super aus! Komm, ich mache dir erst mal eine kosmetische Verwöhnbehandlung und dann bringen wir deine Haare in Form. « Mandy duldete keine Widerrede und Nic musste sich fügen. In der ganzen Zeit schnatterte Mandy ununterbrochen, und Nic fühlte sich plötzlich wieder wie ein Teil dieser Kleinstadt. Als sie nach drei Stunden den Laden verließ, war Nic ein neuer Mensch. Einige Männer auf der Straße drehten sich mit Bewunderung nach ihr um, und sie lief langsam, um dieses Gefühl zu genießen.
Als sie an der Auslage eines Schmuckgeschäftes vorbeiging, blieb sie erstaunt stehen. Im Schaufenster lag die gleiche Kette mit dem Herzanhänger, wie sie ihn von Onkel Luis bekommen hatte. Ohne zu zögern, betrat sie das Geschäft und kaufte sie. Im Stillen fragte sie sich, ob die blauen Flammen auftauchen würden, um die Kette wieder zu zerstören. Wenn das geschah, hatte sie wenigstens den Beweis, dass es nicht an Onkel Luis lag. Doch ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass es anders war. Seit Monaten ging sie Onkel Luis aus dem Weg. Sie erfand immer neue Ausreden, um sich nicht mit ihm treffen zu müssen. Doch lange würde er sich nicht mehr vertrösten lassen.
Als sie auf der Farm ankam, setzte sie sich mit einer kalten Zitronenlimonade auf die Veranda. Sie wartete auf die blauen Flämmchen, doch nichts geschah. Im Grunde hatte sie das erwartet; es war der endgültige Beweis: das Haus duldete nichts von Onkel Luis. Eine Zeit lang saß sie grübelnd da, dann fasste sie einen Entschluss, sie ging ins Haus und rief ihn an. Onkel Luis schien hocherfreut, ihre Stimme zu hören, und er war außer sich vor Freude, als sie sich mit ihm in der Stadt verabredete. Gedankenverloren legte sie auf, es war an der Zeit, herauszufinden, was an ihm nicht stimmte. Als sie das Café betrat, hätte Luis fast die Tasse mit Kaffee, die er gerade zum Mund führte, fallen lassen. Eine wunderschöne, schmale und körperlich durchtrainierte junge Frau schwebte zu ihm an den Tisch. Einige Männer im Café unterbrachen ihr Gespräch und verrenkten sich den Kopf nach Nic. Sie sah wirklich fantastisch aus. Das pickelige, plumpe und ungepflegte Wesen mit den strähnigen Haaren war verschwunden - vor Onkel Luis stand eine fünfundzwanzigjährige Schönheit. »Hallo, mein Mädchen«, rief er mit geheuchelter Freude, »du hast dich aber verändert, Donnerwetter. Aber ich finde, du bist ganz schön abgemagert. Komm setz dich, ich bestelle uns erst einmal ein Stück Kuchen. «
Nic hatte sich nicht nur äußerlich verändert, ihr Geist war auch wacher geworden. Sehr genau spürte sie, dass etwas Dunkles und Kaltes von Onkel Luis ausging. Sie versuchte, herzlich zu klingen, als sie ihn begrüßte, doch sie war auf der Hut und beobachtete ihn genau.
Wie immer hatte er ihr Blumen mitgebracht. »Danke, Onkel Luis«, täuschte sie Freude vor, »die sind wie immer wunderschön. « Kaum hatte sie sich gesetzt, stellte sie mit Entsetzen fest, dass ihr Magen zu knurren begann. Das konnte doch nicht wahr sein. Rasend schnell breitete sich das Gefühl in ihr aus. Bis sie schließlich nur noch daran denken konnte, Kuchen zu essen. Luis freute sich, als er ihren Anhänger sah. »Ich sehe, du trägst meine Kette«, sagte er einschmeichelnd. Kurz flammte ihr schlechtes Gewissen auf, aber dann nickte sie nur und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Ihr Magen knurrte jetzt laut, sie atmete tief ein. Ganz klar sah sie nun die Zusammenhänge. Immer wenn sie sich mit Onkel Luis traf, bekam sie diese Fress-Attacken. Ihre Erinnerung ging etwas in der Zeit zurück, als sie noch ihr kleines Zimmer hatte. Alle vierzehn Tage hatte sie sich mit Onkel Luis getroffen, und immer hatte er Blumen und ein kleines Geschenk dabei. Es war ihr nie aufgefallen, aber wenn sie darüber nachdachte, war nach diesen Treffen ihr Hunger immer um vieles größer gewesen. »Ich werde dir erst einmal ein ordentliches Stück Kuchen bestellen«, hörte sie ihn sagen », das kann sich ja kein Mensch mit anhören, wie dein Magen knurrt. « Nic wusste, er würde keinen Widerspruch dulden. Trotzdem schüttelte sie entschlossen den Kopf und versuchte verzweifelt, an etwas anderes zu denken. »Nein, bitte, Onkel Luis, ich habe wirklich keinen Hunger. « Er legte seine Hand liebevoll auf die ihre, doch Nic zog die Hand weg, als habe sie sich verbrannt. Stumm sah er sie für einen Augenblick mit zusammengekniffenen Augen und heruntergezogenen Mundwinkeln an. Dann wurde sein Gesicht wieder freundlich. »Aber was ist denn mit dir los, mein Mädchen? «, fragte er. Nics Geist war dabei ihr zu entgleiten, um sich nur noch dem Essen hinzugeben. Sie kämpfte darum, bei klarem Verstand zu bleiben. In ihrem Kopf hörte sie eine leise Stimme, die sagte nur einen Satz: »Wall aus Kristall, entstehe überall. « Wie von selbst sprach sie im Geiste weiter: »Schütze mich, du heller Stein, so soll es sein. « Unbemerkt hatte sie ihre Hand in die Hosentasche gesteckt. Der Bergkristall rollte in ihre Handfläche, doch fast hätte sie erschrocken aufgeschrien - er war eisig kalt. Wieder und immer wieder sprach sie diese zwei Sätze in ihrem Kopf. Sie stellte sich vor, wie eine Wand aus Bergkristall sie zu umschließen begann. Erleichtert und gleichzeitig erstaunt stellte sie fest, dass es ihr wieder gutging. Sie konnte klar denken - das Gefühl des übermächtigen Hungers hatte sich aufgelöst.
Onkel Luis hatte sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt, die Arme vor seiner Brust verschränkt und beobachtete sie mit versteinerter Miene. Seine Stimme klang kalt und gefühllos, als er sprach:
»Glaubst du, das bisschen Kindermagie könnte mich aufhalten? « Kurz wurde Nic abgelenkt, als ein junger Mann das Café betrat. Seine schulterlangen blonden Haare standen ihm struppig um den Kopf. Sein Gesicht war mit einem Vollbart so zugewachsen, dass sie seine Züge nicht erkennen konnte. Er war groß und sehr schmal, sie sah, wie er den Kopf hob und die Luft fast witternd tief in die Nase zog. Kurz begegnete sein Blick dem ihren. Er schien mehr zu trotten, als zu gehen, und er ließ sich an einem Tisch hinter Onkel Luis nieder. Für Nic sah der junge Mann fast aus wie eine Mischung aus Mensch und Hund.
Nics Aufmerksamkeit wurde von Onkel Luis an den Tisch zurückgezwungen, als er sagte: »Du unterschätzt die Situation. Ich habe es all die Jahre mit Liebe und Güte versucht, aber ich kann
auch anders.« Er beugte sich etwas nach vorne. »Ich will die Farm und dich, mein Liebes, und ich bekomme das auch. « Nic schüttelte den Kopf, was war denn nur plötzlich in Onkel Luis gefahren? Leise sprach Luis weiter: »Deine Großmutter hat dich schlecht vorbereitet, du hast keine Ahnung, was die Farm wirklich ist. Ich habe all die Jahre dafür gesorgt, dass du fett, hässlich und unglücklich bist. So habe ich erfolgreich dafür gesorgt, dass dich kein Mann attraktiv findet«, flüsterte er.
Nics Mund formte ein fassungsloses „Oh“, doch mehr konnte sie nicht sagen. Ungerührt sprach Luis weiter: »Mein Sohn wird bald kommen, für ihn habe ich deine Jungfräulichkeit all die Jahre bewahrt. Ihr werdet euch vereinen, und gemeinsam öffnet ihr die Mauer. Das ist deine Bestimmung. «
Nic zitterte am ganzen Körper; hätte sie doch nur auf ihre Großmutter gehört. Sie verstand überhaupt nicht, von was er da sprach. Luis drehte seinen Spazierstock in ihre Richtung. Nic wurde schwindelig, es schien fast so, als würden die Augen des silbernen Drachenkopfes wieder rot leuchten. Auch die Symbole und Zeichen begannen nun rot zu glühen, und es schien, als würden sie ineinanderfließen. Wie aus weiter Ferne hörte sie nun die Stimme Luis‘: »Du wirst mich in dein Haus einladen, und du wirst es mir verkaufen. « Sie nickte mechanisch, als plötzlich der Hundemann von hinten über Luis fiel. Wieder trafen sich kurz ihre Blicke, und seine Stimme knurrte: »Verschwinde von hier. Los, steh auf und lauf, Mädchen. « Mit tauben Beinen und pochendem Herzen sprang sie auf und stürzte davon. Sie hatte das Gefühl, dass sie erst wieder klar denken konnte, als sie auf der Farm ankam.
Nic war zutiefst verletzt und enttäuscht. Ohne Umwege ging sie in die Küche, suchte den Brief von ihrer Großmutter heraus und las:
Liebste Nic,
so, nun hat also Luis endlich seine Maske fallen lassen. Er ist eine große Gefahr für dich, und er würde auch nicht zögern, dich zu töten, wenn du ihm nicht mehr von Nutzen bist. Ich bitte dich, lies das Buch über den Nexus, damit du die Farm verstehst. Ich hoffe, dein Beschützer ist rechtzeitig zurückgekommen. Deine körperliche Ausbildung ist fast beendet, was du zum großen Teil den Tieren zu verdanken hast. Alles was geschieht, ist nur zu deinem Besten. Es wird Zeit, dass du noch andere Dinge begreifst.
Sie ließ den Brief sinken. Wieder einmal hatte Großmutter sich kurzgehalten, dabei hatte Nic noch so viele Fragen. Welche Ausbildung meinte Großmutter? Was hatten denn die Tiere damit zu tun? Sie dachte über die letzten Monate nach, und dann begriff sie. Wie oft war sie den Tieren hinterhergelaufen? War das nicht das reinste Fitness-Training gewesen? Wie schon so oft in letzter Zeit, überlegte sie, ob Tiere nicht doch selbstständig denken konnten. Aber das ergab keinen Sinn. Nic fühlte sich mit einem Mal wieder sehr einsam, was war hier nur los? Sie sank auf einen Stuhl, und gerade als sie über ihr Elend weinen wollte, hörte sie den Großen Schwarzen aufgeregt im Stall wiehern. Sie griff nach der alten Schrotflinte. Zum Glück hatte Großmutter ihr gezeigt, wie man damit umging. Mit der Waffe im Anschlag trat sie vor die Tür. Die Dunkelheit hatte sich schon über das Land gelegt. Der erste Nebel kroch über die Felder, und es war unheimlich still. Schnell lief sie zum Stall. Als das Licht flackernd den Stall erhellte, sah sie, dass alle Tiere unruhig waren. Die Hühner hatten unter dem großen Pferd Zuflucht gesucht. Die Tiere starrten an ihr vorbei in die Nacht. Und dann hörte sie das langgezogene Heulen eines Wolfes. Eine Gänsehaut lief über Nics Körper und ihre Nackenhaare stellten sich auf. Der Hengst wieherte laut, seine Hufe krachten gegen das Holz seiner Box. Wieder heulte der Wolf, diesmal war er ganz nahe. Die Tiere im Stall schienen gänzlich durchzudrehen, denn alle begannen sie durcheinanderzuschreien. Nic war entsetzt. Verhielten sich Tiere, wenn sie Angst hatten, nicht still? »Ruhe! «, rief sie, und tatsächlich verstummten alle auf einmal. Noch einmal hörte sie den Wolf heulen, aber nun schon in weiter Ferne. Sie blieb noch eine Weile und horchte angestrengt, doch es blieb alles still. Sie löschte das Licht und ging zurück zum Haus. In Großmutters altem Bücherregal fand sie schnell, was sie suchte. Die Angst über das Wolfsgeheul saß ihr noch in den Knochen, und so fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Zuerst las sie etwas über Geomantie, wo behauptet wurde, aus der Erde würden elektromagnetische Wellen fließen, die sich dann zu Kraftlinien vereinigten. Angeblich zogen sie sich über die ganze Erde.
Müde wollte sie schon das Buch auf die Seite legen, da las sie etwas, das sie fesselte. Eine solche Kraftader schützte alles in ihrem Umfeld, also auch Menschen, Tiere und Pflanzen. Aber nicht nur das. Kreuzten sich die Linien, nannte man sie Nexus. Es kam so gut wie nie vor, dass sie sich aus allen vier Himmelsrichtungen kreuzten, aber wenn dies geschah, war der Schnittpunkt ein magischer Ort. Er eignete sich für kraftvolle, magische Handlungen und unterstützte den wahrhaft Suchenden mit großem Schutz und ermöglichte einen Übergang in die andere Welt. Welchen Übergang? Und welche andere Welt? Sie ärgerte sich ein wenig. Das Buch war so geschrieben, als müsste jeder wissen, um was es geht. Die Kraft dieser Linien konnte durch das Setzen von Steinen verstärkt werden. Aber man konnte sie auch ihrer Kraft berauben, indem man Straßen, Autobahnen oder Betonhäuser auf sie setzte. Erstaunt ließ Nic das Buch sinken. Hatte Großmutter nicht erzählt, dass dieses Haus auf solchen Linien stand?
Als sie am nächsten Morgen zum Stall ging, bemerkte sie gleich, dass etwas nicht stimmte. Sie war sich ganz sicher gewesen, das große Tor am Abend fest verschlossen zu haben - nun stand es weit offen. Ihr Herz begann vor Angst schnell zu pochen, und sie beschleunigte ihren Schritt. Als sie um die Ecke bog, traute sie kaum ihren Augen. Ein fremder junger Mann stand bei dem Großen Schwarzen an der Box. Er hatte seine Hand auf die Stirn des Tieres gelegt und redete in einer Sprache mit ihm, die sie noch nie vorher gehört hatte. Fast hätte man meinen können, das Pferd hörte ihm aufmerksam zu. »Was machen Sie da? «, rief sie lauter als beabsichtigt. Er drehte sich erschrocken zu ihr herum. Irgendwie kam er ihr bekannt vor, verzweifelt überlegte sie, wo sie ihn schon einmal gesehen haben konnte. Der junge Mann lächelte offen und deutete eine Verbeugung an. »Mein Name ist Balko, und ich stehe zu deinen Diensten. « »Wie kommst du darauf, dass ich Hilfe brauchen könnte? «, fragte sie barsch zurück. Balko hob die Hände zu einer allumfassenden Bewegung.
»Dies ist eine große Farm und du bist eine kleine Frau. Ich sehe, dass hier einiges repariert werden
muss. « Nic sah ihm fest in die Augen; sie glaubte, ihn erkannt zu haben. »Sag, bist du nicht der Typ, der gestern auf Onkel Luis gefallen ist? « Er lächelte immer noch. »Ein unglücklicher Zufall, fürwahr«, meinte er. »Ach, und warum hast du dann zu mir gesagt, ich solle laufen? «, konterte Nic. Er sah sie unschuldig an. Ihr fiel auf, dass er gekämmt war, und er hatte sich den Bart entfernt. Seine Augenfarbe war von einem dunklen Grau. Sie schätzte sein Alter auf zwei- oder dreiundzwanzig.
»Entschuldige, aber ich habe nichts dergleichen gesagt«, meinte er. »Doch, das hast du«, beharrte Nic. Das Pferd wieherte mehrmals leise und Balko nickte, so als habe er verstanden. »Ja, du hast recht«, sagte Balko zu dem Pferd, »ich sollte ihr die Wahrheit sagen. « Wieder wieherte der Hengst und Balko lächelte breit. »Sie ist schlau und so stur wie ihre Großmutter. Doch sie ist noch viel hübscher, als du es gesagt hast. « Nic tippte sich mit dem Finger an die Stirn. »Willst du mir weismachen, du unterhältst dich mit dem Pferd? « Balko lehnte sich lässig an die Box. »Wir sind alte Bekannte, und er wollte nur wissen, wie es seinen Freunden in seiner Heimat geht. « Nic ging einige Schritte rückwärts, offensichtlich hatte dieser junge Mann nicht mehr alle Tassen im Schrank.
»Woher kennst du denn meine Großmutter? «, fragte sie, als der Abstand groß genug zu sein
schien. »Sie hat uns hier und da mal besucht«, meinte er ausweichend. »Großmutter hat mir nie von dir erzählt«, meinte Nic verhalten. Balko lächelte schief. »Sie hat auch sehr wenig von dir gesprochen. Wir waren alle der Meinung, Nic sei ein Jungenname. Deine Großmutter hat uns in diesem Punkt auch nie widersprochen. « Nic musste lachen. »Eigentlich heiße ich Nicoletta. «
»Das sehe ich jetzt auch«, sagte Balko freundlich. Nic fielen die Worte aus Großmutters Brief wieder ein: »Ich hoffe, dein Beschützer ist rechtzeitig angekommen. « Sollte er etwa ihr Beschützer sein? Balko unterbrach ihre Gedanken. »Nun, wie ist es, für etwas Essen und ein Bett im Stroh würde ich dir gerne hier auf der Farm helfen. Ich verspreche dir, du wirst mich sonst auch kaum bemerken, ich werde dich nicht belästigen. « Sein Blick ging, ohne dass sie es bemerkte, an ihr hinunter und wieder hinauf. Sie sah einfach hinreißend aus in der blauen Latzhose, die ihr mindestens fünfzehn Nummern zu groß war. Ihr braunes Haar hatte sie im Nacken zusammengebunden, und er war fasziniert von ihren blauen Augen. Wohl, da er noch nie in seinem Leben welche gesehen hatte, außer denen von Esmeralda. In seiner Welt gab es keine blauen Augen.
»Also gut, du kannst bleiben, aber bitte tue nicht so, als könntest du dich mit den Tieren
unterhalten«, fügte sie hinzu. Balko zuckte die Schultern. »Wenn du es so möchtest, ist mir dein Wunsch Befehl«, sagte er ergeben.
Nic musste feststellen, dass Balko wirklich fast unsichtbar war. An manchen Tagen sah sie ihn gar nicht, dann stellte sie ihm sein Essen einfach in den Stall. Sie sah aber die Dinge, die er repariert hatte, oder sie fand die gepflückten Äpfel, die er ihr hingestellt hatte. Nic ahnte nicht, dass er immer versuchte, in ihrer Nähe zu bleiben. Balko wünschte sich aus tiefstem Herzen, er hätte mit seinem Bruder reden können. Aber im Moment war es ihm unmöglich, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Zu gerne hätte er das Gesicht von Sarolf gesehen, wenn der erfuhr, dass Nic ein Mädchen war. An einem Wochenende half er Nic, den alten klapprigen Wagen von Großmutter zu beladen, damit sie auf dem Markt alles verkaufen konnten. Bis jetzt hatte es Balko vermieden, sich länger mit Nic zu unterhalten. Er hatte sich vorgenommen, keine Freundschaft zu ihr entstehen zu lassen. Durch ihre unbefangene Art jedoch merkte er, dass er sie zu mögen begann. Die Farm zu verlassen, war für Nic sehr gefährlich, auch wenn sie das nicht wusste. Darum entschloss sich Balko, sie zu begleiten. Er wusste, Luis, diese Ratte, würde nicht aufgeben, bis er die Farm hatte. Balko hatte gehört, wie Luis gesagt hatte, er würde seinen Sohn zu sich holen, und Balko wusste, wer das war. Swidger war in Balkos Augen eine bösartige Kreatur. Wenn er in diese Welt kam, würde er Mord und Totschlag über die Menschen bringen. Balko musste sich schütteln, der Gedanke daran machte ihm Angst. Nic indessen war ausgelassen und fröhlich, sie war froh, der Einsamkeit der Farm für eine kurze Zeit zu entrinnen.
Es war schon am Nachmittag als Nic und Balko zusammenpackten, um sich auf den Rückweg zu machen. Balko hielt plötzlich in der Bewegung inne, hob den Kopf und zog schnuppernd die Luft in die Nase. Seine grauen, wachen Augen glitten über die Umgebung Er zuckte zusammen, als er fand, was er suchte. Etwas abseits entdeckte er Luis, und neben ihm stand sein Sohn, Swidger. Groß und dünn, mit fast weißer Haut, stand er da und richtete seinen Blick aus schwarzen, brennenden Augen auf den Stand. Balko griff nach Nics Arm. »Wir müssen sofort hier weg«, sagte er. Nic lachte und meinte: »Aber wir sind ja schon längst am Packen. « Balko schüttelte ernst den Kopf. »Wir müssen jetzt fahren«, sagte er in einem Ton, der Nic Angst machte. Obwohl sie nicht verstand, um was es ging, nickte sie, schlug die Plane über die Kisten, gurtete diese fest und schwang sich ins Auto. Auch sie konnte deutlich spüren, dass Gefahr in Verzug war. »Kannst du schneller fahren? «, bat Balko sie.
»Ich hole doch schon das Letzte aus der Kiste heraus«, antwortete sie ängstlich. Balko saß dumpf brütend neben ihr - er wusste, dass Luis und Swidger ihnen irgendwo auflauern würden. Kurz bevor sie die Farm erreichten, befahl er Nic mit belegter Stimme: »Halte hier an, ich werde aussteigen. Egal was geschieht, fahr einfach weiter, bis du die Farm erreichst. Halte für nichts und niemanden an, ist das klar? Dann geh sofort ins Haus und bleib dort. « Nic sah ihn mit großen Augen an. »Ich verstehe das alles nicht, was ist denn los? « Balko lächelte schwach. »Ich denke, Luis möchte dir seinen Sohn vorstellen. Aber glaub mir, du wirst ihn nicht mögen. « Nic konnte nicht antworten, Angst schnürte ihr die Kehle zu. Als Balko ausgestiegen war, gab sie Vollgas.
Balko atmete tief durch, das einzig Gute an der Sache war, dass auch Swidgers Kräfte hier eingeschränkt waren. Nur dumm, dass er es gleich mit zwei dieser widerlichen Kreaturen zu tun bekommen würde - er musste schnell sein, sehr schnell. Balko begann zu laufen, er schlug sich in die Büsche, um so den Weg zur Farm abzukürzen.
Nic raste auf die Farm zu, der Staub der Straße wirbelte hinter ihr her, dann sah sie das Auto von Onkel Luis. Er und eine große Gestalt standen vor dem geschlossenen Gatter.
Wer zum Teufel hat das verfluchte Gatter geschlossen, dachte Nic voller Verzweiflung. Das massive Holz würde nicht nachgeben, wenn sie dagegen fuhr. Sicher wollten sie Nic so zum Anhalten zwingen. Kurz setzte sie ihren Fuß auf die Bremse, entschied sich aber dann anders und gab weiter Vollgas. Aus den Augenwinkeln sah sie eine Gestalt aus dem Dickicht hervorbrechen. Für einen Augenblick dachte sie, einen großen, grauen Wolf zu erkennen. Das Gatter kam näher und näher. Sie glaubte, auf den oberen Balken kleine blaue Flämmchen tanzen zu sehen. Luis und Swidger sprangen im letzten Augenblick auf die Seite. Nic duckte sich und fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit auf das Gatter zu. Jetzt müsste sie dagegen rasen, doch nichts geschah. Sie hob den Kopf und setzte sich gerade, ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihr, dass das Tor immer noch geschlossen war. Wie konnte das sein? War sie einfach durch das geschlossene Gatter gerast? Sie sah, wie etwas die zwei Gestalten ansprang, doch sie hielt nicht an. Erst als sie das Haus erreichte, stoppte sie. Mit zitternden Fingern schloss sie die Tür auf, und als sie diese hinter sich geschlossen hatte, ließ sie sich erleichtert an ihr auf den Boden gleiten.
Balko hatte sich das letzte Stück an Luis und Swidger herangeschlichen. Er musste sie nur kurz ablenken, nur so lange, bis Nic ungehindert passieren konnte. Er betete, dass sie nicht vor dem Tor bremsen würde. Als Nic mit ihrem Wagen fast auf gleicher Höhe war, sprang er die beiden an.
Sicher hatten die zwei gedacht, dass er mit im Auto sitzen würde. Der Überraschungsmoment lag auf seiner Seite. Sie gingen zu Boden, und für einen kurzen Moment verlor Luis seinen Stock. Knurrend verbiss sich Balko in dessen Schulter, aber nur, um im nächsten Augenblick den Kopf herumzuwerfen und Swidgers Hals zu erwischen. Balko schmeckte Swidgers schwarzes, warmes Blut, und das machte ihn fast rasend. Als Nic vorbei war, setzte er zum Sprung an und flog fast über das Gatter. Luis hatte sich noch, auf dem Boden liegend, herum gerollt, und seine Hände hatten den Stock ergriffen. Er richtete ihn auf den flüchtenden Wolf und ein roter Blitz löste sich aus dem silbernen Knauf. Balko fühlte den durchdringenden Schmerz an seiner linken Flanke, der ihn fast von den Pfoten riss. Doch er lief weiter bis er den sicheren Stall erreichte. In menschlicher Gestalt ließ er sich mit einem Schmerzenslaut ins Stroh fallen. Das große schwarze Pferd blähte die Nüstern und schnaubte, als es Balko so verletzt sah.»Lass gut sein, Junge«, flüsterte Balko, »ist nicht so schlimm«. Dann verlor er das Bewusstsein. Nic hörte das Pferd im Stall toben. Vor Angst zitternd nahm sie die Schrotflinte und lief vorsichtig, sich nach allen Seiten umsehend, zum Stall. Als sie das Gebäude betrat, sah sie das Pferd unruhig in der Box. »Ruhig, mein Großer«, flüsterte sie, behielt aber die Waffe im Anschlag. Ihre Augen wanderten durch den Stall, wo war der Feind? Ein kleiner Schreckensschrei entfuhr ihr, als sie Balko erkannte, der bewegungslos im Stroh lag. Sie stellte die Waffe ab und eilte sofort zu ihm. Aus seiner linken Seite quoll Blut, und er schien bewusstlos zu sein. Als sie sich über ihn beugte, öffnete er die Augen. »Was machst du denn hier? «, fragte er schwach. »Habe ich dich nicht gebeten, im Haus zu bleiben? «
Nic überhörte seine Worte, besorgt fragte sie: »Kannst du aufstehen? Ich bringe dich zu mir ins Haus, deine Wunden müssen versorgt werden. « Balko schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht zu dir ins Haus«, sagte er, »es sei denn, du würdest mich vor der Tür ausdrücklich einladen, es zu betreten. « Nic war fassungslos, was sollte das denn nun schon wieder bedeuten? Wieso musste sie alle Leute immer erst einladen? Sie half ihm auf die Beine, legte seinen Arm um ihre Schultern und stützte ihn. »Gut, wenn du so großen Wert darauf legst, werde ich dich in mein Haus einladen«, sagte sie. Unter ihrer Last keuchend, erreichte sie die Veranda. »Vergiss nicht, was du mir versprochen hast«, sagte er unter Schmerzen. Nic lehnte ihn an die Haustüre, täuschte sie sich, oder sah sie überall winzige blaue Flämmchen? Balko stöhnte auf, Nic sah ihn an und meinte: »Sei willkommen in meinem Haus, bitte komm doch herein. « Sie setzte Balko in der Küche auf einen Stuhl, zog ihm das Hemd aus und besah sich die Wunde. Die Verletzung war, Gott sei Dank, nicht sehr tief. Jetzt machte es sich bezahlt, dass sie die Kräuterbücher alle gelesen hatte. Bald lief sie hierhin und dorthin und suchte sich die Kräuter zusammen, die sie brauchte. Mit einer Schüssel voll heißem Wasser trat sie an Balko heran und reinigte die Wunde. Balko gab tapfer keinen Schmerzenslaut von sich. Nic legte die Kräuterkompresse auf die Wunde und verband ihn. Als sie endlich fertig war, sprang er auf und wollte das Haus verlassen. Nic hielt ihn an der Schulter fest. »Du bleibst heute nacht hier im Haus«, stellte sie in einem Befehlston fest. Balko musste lächeln.»Du wirst deiner Großmutter immer ähnlicher«, meinte er. Sie verzog den Mund. »Sehe ich etwa aus wie eine Siebzigjährige? « »Nein, ich meine damit, dass du eine starke Frau geworden bist. « Seine Hand griff nach einer ihrer braunen Locken. Er ließ sie durch seine Finger gleiten. »Dort, wo ich herkomme, wartet ein Mädchen auf mich«, sagte er versonnen, dann blickte er Nic keck an, »sonst hätte ich mich sofort in dich verliebt. Du musst wissen, in meinem Land gibt es keine Menschen mit braunem Haar und blauen Augen. Ich könnte wetten, du würdest meinem Bruder sehr gefallen, er hätte dich bestimmt zum Fressen gern. «
Seine Augen verdunkelten sich, und sein Blick wurde traurig. Nic wusste es nicht, aber er hatte das nicht nur so dahingesagt. Sarolf, sein Bruder, wollte Nic töten. Doch das konnte er ihr unmöglich sagen. Sie sah sein trauriges Gesicht und fragte: »Hast du Heimweh? «Er nickte. Wie sollte er ihr sagen, dass der Weg zurück in seine Welt nicht möglich war - sie war die einzige, die ihn mitnehmen konnte. Deshalb war auch Luis so versessen auf sie und die Farm. Hatte er beides, würde die Mauer fallen, die seine Welt noch vor den Dämonen schützte. Er seufzte tief, legte seine Hände auf ihre Schultern und sprach eindringlich: »Vielleicht wirst du meinen Bruder Sarolf einmal kennenlernen. Sag ihm einen Gruß von mir, er soll sich auf mein Gefühl verlassen. « Dann schien er nach Worten zu suchen. »Sage ihm, die Idun irrt sich. « Nic hatte fragend die Brauen zusammengezogen. »Warum denkst du, ich werde deinen Bruder treffen? Wieso soll ich ihn von dir grüßen, wenn du
doch jederzeit nach Hause gehen kannst? Wer bitte, ist die Idun? « Balko lächelte hilflos. »Mach dir darüber keine Sorgen, du wirst in deinem Leben noch sehr viele Menschen kennenlernen. « Für einen kurzen Augenblick dachte er daran, wie er und Sarolf sich getrennt hatten. Sarolf war außer sich vor Wut gewesen, als Balko ihm gesagt hatte, dass er mit Esmeralda Vielfalt reisen würde. Sie hatte, als er noch ein Kind war, sein Leben gerettet und dafür ein Versprechen eingefordert. Sarolf hatte geschrien: »Nur weil die Alte dir das Leben bewahrt hat, willst du jetzt für sie sterben? Ich bitte dich, mein Bruder, wenn du diesem Nic begegnest, töte ihn. « Zu diesem Zeitpunkt hatten beide noch gedacht, Nic sei ein junger Mann. Esmeralda Vielfalt hatte Balko eine Woche vor ihrem Tod mit in diese Welt gebracht.
»Geh, und erkunde das Neue«, hatte sie gemeint, »du kannst dir Zeit lassen.“ Wochenlang war er durch diese für ihn so fremde Welt gestreift; es hatte keiner damit gerechnet, dass sie so bald sterben würde. Als er dann auf die Farm zurückkam, erfuhr er von den Tieren von Esmeraldas Tod.
Es war ein Schock für ihn, als er erfuhr, dass Nic eine Frau war, und er hatte einige Tage gebraucht, das zu verstehen. Es machte die Sache nicht leichter für ihn, als er sah, dass sie wirklich hübsch war. Er hatte lange Gespräche mit den Tieren geführt, und sie hatten ihm versichert, dass sie für Nic sterben würden. So hatte er begonnen sie zu beobachten, und als er sie kennenlernte, stand sein Urteil fest: Nic war reinen Herzens. Er war so tief in Gedanken versunken, dass Nic ihn mehrmals rufen musste. »Wo bist du denn mit deinem Kopf? « »Entschuldige, ich habe an zu Hause gedacht«, sagte er. Sie kochte ihm einen Tee. »Wenn du ihn trinkst, schläfst du heute nacht gut. « Sie saßen zusammen am Küchentisch. »Wie mir scheint, kennst du Onkel Luis«, sagte sie unvermittelt. »Mich beschäftigt die Frage, warum er sich mir gegenüber so verändert hat, er macht mir wirklich Angst. «
Balkos Blick ging an ihr vorbei ins Leere. Kurz überlegte er, was er ihr von Luis erzählen sollte. Er kannte die Sippe, aus der Luis kam, recht gut. In seiner Welt nannte man sie die Uberi. Sie trieben Handel mit allem, was sich verkaufen ließ. Die Uberi waren dafür bekannt, hinterhältig und verschlagen zu sein. Sie zogen über das Land, stahlen, raubten und verkauften alles wieder an gutgläubige Friedwelter. Balko ahnte, dass Luis über einen Träumer in diese Welt gelangt war. Hier eröffneten sich für so ein verschlagenes Wesen natürlich ganz neue Perspektiven. Es war klar, dass er Nic gezielt gesucht hatte und sie nun für seine Zwecke missbrauchen wollte. Egal, was er auch vorhatte, es konnte nichts Gutes sein.
Dann straffte Balko die Schultern und sprach: »Ich kenne ihn nicht wirklich, deine Großmutter nur hat oft von ihm gesprochen. Ich denke auch, dass Luis nicht der Bruder deiner Mutter ist. Du hast ja selbst gesehen, zu was er fähig ist. « Nic verstand einfach nicht, wieso er so hinter der Farm her war, und warum er sie über all die Jahre so liebevoll behandelt hatte. Balko lächelte hilflos. »Ich weiß es doch auch nicht« log er. Eines Tages würde sie es verstehen, aber bis es soweit war, musste er sie schützen.
Das Wetter wurde schlechter und Nic musste die täglichen Reitstunden auf dem Hengst einstellen, und Balko übernahm für sie die Stallarbeit.
Endlich hatte sie auch Zeit, Großmutters Zimmer zu betreten; sie war jetzt soweit, sich dieser Aufgabe zu stellen. Mit einigen großen Kisten gerüstet, öffnete sie die Tür. Schon als Kind hatte sie immer das Gefühl gehabt, eine andere Welt zu sehen, wenn sie diesen Raum betrat. Das Zimmer war der größte Raum im Haus. Neben dem Fenster stand ein großes Himmelbett. Mit den weißen Vorhängen und Überwürfen sah das Bett aus, als würden Wolken es umspielen. Als Kind hatte sie am Wochenende hier oft mit ihrer Großmutter noch gekuschelt. Schlafen durfte sie aber nie bei ihrer Großmutter. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein großer, alter, fast schwarzer Schrank. Sonst war das Zimmer eher spärlich eingerichtet; ein bequemer Stuhl mit buntem Überzug stand am Fenster. Hier hatte Großmutter oft gesessen und am Abend noch etwas gelesen. Ein angefangenes Buch lag noch aufgeschlagen auf der Fensterbank. Nic griff danach und kleine Staubwölkchen erhoben sich. „Die Kraft der Weisen Frau“, las sie. In den Ecken des Raumes hingen kleine Kräutersträuße von der Decke. Überall im Raum waren Edelsteine verteilt. »Ach, Großmutter«, seufzte Nic. Als erstes öffnete sie den Kleiderschrank. Großmutter hatte nicht viel besessen. Nic kannte jedes Kleid und verband es sofort mit einem Ereignis. Das Schwarze hatte sie bei der Beerdigung ihrer Eltern getragen und später auf jeder anderen Beerdigung. Das Blauweiße hatte sie immer an, wenn sie auf eine Hochzeit oder Taufe gehen musste. Sorgfältig faltete Nic die Sachen zusammen und legte sie liebevoll in die Kiste. Der Abend war schon angebrochen, als sie endlich fertig war, und Nic schaltete das Licht an, um besser sehen zu können.
Unten, unter dem Fenster, stand Balko, er schaute hinauf in das erleuchtete Viereck. Sehr gut, sie war also im Zimmer ihrer Großmutter, von nun an war es nur eine Frage von Tagen, bis sie das erste Mal reisen würde.
Nic überlegte, ob sie die Möbel fortgeben sollte. Sie ging hinüber zum Himmelbett, ihre Hände strichen die glatte Holzsäule entlang, auf dem der Himmel ruhte. Sie ließ sich mit dem Rücken aufs Bett fallen; bequem war es ja, dachte sie, sehr sogar. Sie gähnte herzhaft, warum war sie denn auf einmal so müde? Ihr Blick ging nach oben - was war das denn? Aus dem Himmel, der das Bett überspannte, war ein Stück herausgeschnitten worden. Erstaunt stützte sich Nic auf die Ellenbogen. Dort, wo das Stück Stoff fehlte, konnte sie die Zimmerdecke sehen. Dieses freie Stück Decke war über und über mit fremdartigen Symbolen bemalt. Nic wusste mit Sicherheit, dass das Stück Stoff noch nicht gefehlt hatte, als sie ein Kind war. Sie hatte so etwas noch nie gesehen. Eine Zeitlang besah sie sich die Zeichen genau und versuchte ein vertrautes Symbol zu finden. Angestrengt starrte sie darauf, täuschte sie sich, oder bewegten sich die Symbole? Verwirrt schüttelte Nic den Kopf, die Müdigkeit hatte ihr bestimmt einen Streich gespielt. Sie war so müde, dass sie nur mit Mühe wieder aufstehen konnte. Kurz überlegte sie. Für Heute war alle Arbeit getan, sie konnte also ruhig zu Bett gehen. Nic ging hinüber in ihr Zimmer, und kurze Zeit später schlüpfte sie unter die Decke und schlief fast sofort ein.
In dieser Nacht träumte sie zum ersten Mal so intensiv, dass sie am nächsten Tag noch jede Einzelheit wusste