Читать книгу Merkt doch keiner, wenn ich schwänze - Annette Weber - Страница 5
Оглавление„Papa kommt!“
Katharina brüllte so laut sie konnte.
Sie hatte schon stundenlang hinter dem Fenster gestanden. Jetzt rannte sie zur Tür. Ihr Bruder Felix hinterher. Danach die Mutter. Stefan und Paul fühlten sich mit ihren 15 und 16 Jahren schon zu erwachsen, um schreiend durchs Treppenhaus zu laufen.
Also gingen sie ihrem Vater irgendwie cooler entgegen, mit großen Schritten und einem lässigen Sprung über die Mauer.
War das immer eine Freude, wenn der Vater nach langer Zeit wieder mit seinem LKW in der Straße auftauchte. Diesmal war er in Italien gewesen. Fast drei Wochen lang.
„Na, meine Süßen!“
Der Vater strahlte über das ganze Gesicht, als er aus dem Führerhaus kletterte. Als Erstes schnappte er sich Katharina, das einzige Mädchen der Familie. Und dazu die Jüngste. Sie war sein Goldschatz. Das sagte er immer wieder. Jetzt schwenkte er sie durch die Luft. Katharina kreischte und quietschte.
Danach war Felix an der Reihe. Er war genauso wild wie seine kleine Schwester. Stürzte sich auf seinen Vater und hängte sich an sein Knie.
Mit Katharina auf dem Arm und Felix am Bein stiefelte Herr Seidt zu Paul und Stefan hinüber. „Na, meine Großen? Wie sieht’s aus?“
Mit dem freien Arm haute er beiden kräftig auf die Schulter.
„Ganz okay“, sagte Stefan.
„Alles klar“, brummte Paul.
„Ja?“
So ganz überzeugt hörte sich der Vater allerdings nicht an. Er setzte Katharina ab und löste sich von Felix, um die Mutter fest zu umarmen und ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken.
Stefan beobachtete sie aus den Augenwinkeln. So richtig verliebt sahen sie eigentlich nicht mehr aus. Eher so ein bisschen wie gute Kumpel. „Was soll’s“, dachte er sich. Viele aus seiner Klasse hatten keine Eltern mehr, die nach 16 Jahren noch verheiratet waren.
„So, jetzt komm aber erst mal rein. Ich hab Schwarzwälderkirschtorte gebacken.“
„Hmm.“
Es war so richtig heile Welt. Der Vater erzählte von Italien und was ihm unterwegs alles passiert war. Reifenpanne in der Schweiz, Stau im Tunnel, Streik an der Grenze.
Der Vater redete gerne und die Kleinen hingen an seinen Lippen.
„So, nun habe ich aber genug erzählt“, brach der Vater schließlich ab. „Jetzt seid ihr an der Reihe.“
Was sollten sie schon groß erzählen. Es war alles wie immer. Katharina berichtete vom Kindergarten, Felix von der Einschulung ins erste Schuljahr, Paul von seinem Job als Prospektverteiler, auf den er so stolz war. Stefan überlegte, was er erzählen sollte.
„Wir machen Ende des Schuljahres eine Klassenfahrt nach Berlin“, sagte er schließlich. „Für fünf Tage.“
„Das ist ja toll. Mensch, Berlin, da war ich auch vor ein paar Monaten. Tolle Stadt.“
Der Vater schien wirklich die ganze Welt zu kennen.
„Ich habe heute den Zettel dazu gekriegt. Frau Lempert will nämlich nächste Woche das Geld einsammeln. Zehn Euro im Monat, damit es am Ende des Schuljahres nicht zu viel wird.“
„Zehn Euro? Wie teuer soll die Fahrt denn werden?“
„Ich hole mal den Zettel.“
Stefan ahnte, dass es jetzt ungemütlich wurde. Wenn’s um Geld ging, machte der Vater schnell ein riesiges Drama.
Auch Frau Seidt schien das zu befürchten. „Lasst uns doch später darüber reden, ja?“, sagte sie schnell. „Herrmann, nimm doch noch ein Stück Kuchen.“
Aber Herrmann ließ sich nicht ablenken.
Mit wachem Blick las er sich das Papier durch, das Stefan ihm hinhielt. „Hundertzwanzig Euro!“, fauchte er. „Ich werd verrückt. Die Lehrer spinnen total. Wissen die denn nicht, was ein normaler Malocher verdient?“
„Herrmann“, mischte sich Frau Seidt nun ein. „Zehn Euro im Monat haben wir doch wohl. Guck mal, die Kinder gehen in Berlin doch auch ins Theater und wollen ins Museum.“ „Theater und Museum. Dass ich nicht lache“, meckerte der Vater weiter. „Was wollen die denn da? Interessiert doch keinen Menschen. Warum gehen die nicht in Dortmund in den Zoo und gut is’.“
Stefan, Paul, Felix und Katharina sagten nichts dazu. Sie wussten, wie es weiterging. „Und was ist mit dem Leasing für das Auto?“, fuhr der Vater fort. „Hast du daran schon mal gedacht? Und die Wohnungsmiete ist auch noch nicht überwiesen.“
„Ich weiß ja, Herrmann. Auch die Telefonrechnung …“ Frau Seidt brach erschrocken ab.
Die Kinder blickten betreten zu Boden.
Warum musste die Mutter ausgerechnet jetzt mit der Telefonrechnung anfangen?
„Was ist damit?“
„Na ja.“ Frau Seidt biss sich auf die Lippen. „Zeig mal her. Ich will sehen, was damit ist!“ Katharina rannte los und fischte die Rechnung aus der Schublade.
„Hier“, sagte sie. „Paul und Stefan waren immer im Internet“, trompetete sie dann.
„Und Mama hat immer telefoniert. Und auch Felix …“
„Ach halt doch die Klappe, du Petze“, fauchte Paul.
Er sah so aus, als wollte er gleich vor Wut platzen.
„Wie, was soll das denn heißen? Wieso waren die immer im Internet?“
„Du wolltest ja keine Flatrate“, sagte Stefan trotzig.
„Und weißt du auch, warum nicht?“, schnaubte der Vater wütend. „Weil die auch Geld kostet, mein Sohn.“
Na und, hätte Stefan am liebsten gesagt, aber das wagte er nicht. Er wusste, dass sein Vater dann komplett austicken würde.
„Und so viel Geld nur dafür, dass ihr da rumchattet und euch ein paar Pornos anglotzt. Das sehe ich nicht ein. Die paar Minuten, in denen ihr das Internet mal für ein Referat nutzt, kann ich jedenfalls an einer Hand abzählen.“
Der Vater starrte weiter auf das Papier in der Hand.
„Und was ist das hier für ’ne Nummer?
Die 32 6498? Die scheint ihr ja jeden Tag mehrmals anzurufen.“
Alle schwiegen. Der Vater sah streng von einem zum anderen.
„Wer von euch wählt die Nummer immer?“
„Ich“, sagte die Mutter nun und sah ihren Mann herausfordernd an. „Es ist nämlich Brigittes Nummer.“
„Brigitte“, fauchte der Vater. „Diese dumme Nuss. Das hätte ich mir denken können.“
„Sie ist immerhin meine beste Freundin.“ „Müsst ihr darum jeden Tag zweimal stundenlang telefonieren?“
Stefan kannte das genau. Das ging jetzt so weiter, bis sich die Eltern wieder in den Haaren hatten. Erst brüllte der Vater, dann weinte die Mutter, dann heulte Katharina.
Und alles, weil das Leben so verdammt teuer geworden war.
Es hatte Zeiten gegeben, da waren die Eltern ganz gut mit dem Geld hingekommen.
Aber dann kam der Euro. Sein Vater verlor seine Arbeit und musste als LKW-Fahrer anfangen. Und bei dem Job bekam er weniger Lohn als vorher.
Katharinas Kindergarten war außerdem teurer und die Miete höher geworden. So blieb nichts mehr übrig, um sich das eine oder andere zu leisten. Nicht mal Internet war mehr drin. Und die Klassenfahrt konnte er sich auch von der Backe putzen.
Stefan stand auf und ging in sein Zimmer. Paul folgte ihm.
Sie teilten sich ein Zimmer, seit Katharina geboren worden war. Aber das war kein so großes Problem.
„Immer das gleiche“, murmelte Paul.
„Da freut man sich auf den Alten und nach einer Stunde wünscht man ihn schon wieder nach Italien zurück.“
Stefan nickte. Mit einem Fußtritt schaltete er den Fernseher an.
Es kam eine dieser Talkshows mit viel Geheule und hysterischen Frauen, die sich beklagten: „Hilfe, mein Freund geht immer fremd!“ Worauf der Freund dann meist antwortete: „Ja, wenn du auch immer so viel rumzickst!“
„Unsere Eltern sollten auch mal in so eine Talkshow gehen“, murrte Stefan. „So nach dem Motto: Ich liebe dich besonders, wenn du nicht da bist.“
Zwei Stunden später gab es Abendessen. Die Mutter saß mit aufgesetztem Lächeln am Tisch, der Vater mit brummigem Gesicht daneben.
„Hört mal“, sagte der Vater. „Wir müssen mal was mit euch besprechen. Ihr habt ja schon gemerkt, dass wir im Moment hinten und vorne nicht mehr mit dem Geld klarkommen.“
„Das war nicht zu überhören“, sagte Paul provozierend.
„Werd bloß nicht frech“, fuhr ihn sein Vater an. „Und nimm diese Kappe ab, sonst setzt es was, mein Freund.“
Paul nahm die Baseballkappe vom Kopf.
Alle starrten ihn an. Ohne Kappe sahen sie ihn höchstens mal im Bad. Sonst trug er sie immer. Es störte auch niemanden. Nur der Vater meinte, in der Woche, in der er zu Hause war, seine Kinder zu gutem Benehmen erziehen zu müssen.
„Es ist nämlich so“, redete die Mutter schnell weiter. „Ich könnte bei uns im Edeka-Laden den ganzen Tag arbeiten. Also volle acht Stunden. Hilde ist doch letzte Woche gegangen. Ich könnte für sie einspringen. Für euch heißt das allerdings, viel Verantwortung zu übernehmen. Packt ihr das?“
Paul und Stefan sahen sich kurz an. Verantwortung übernehmen? Das hieß kochen und einkaufen, Kathi vom Kindergarten abholen, Hausaufgaben mit Felix machen. Und vielleicht noch vieles andere mehr.
„Du könntest dann auch auf Klassenfahrt gehen“, versuchte die Mutter, die beiden zu überreden. „Und für dich, Paul, wäre endlich mal eine E-Gitarre drin.“
Stefan und Paul sagten nichts. Verantwortung, das hieß auch, keine LAN-Session bei André, keine Treffen mit der Clique, kein Fußball am Schulzentrum und kein Inliner-Fahren auf der Rampe.
„Klar packen die das“, sagte der Vater.
„Sind doch keine kleinen Kinder mehr.“