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WIE ALLES ANFING
Von der Zeit, als ich ein Baby und später ein Kleinkind war, weiß ich nichts mehr. Ich kenne aber viele Geschichten, und meine Oma besitzt eine ganze Reihe Fotos von mir. Die habe ich mir immer wieder angeschaut, um herauszufinden, wer ich eigentlich bin und wer meine Eltern waren.
Erste Fotos zeigen mich auf einem Bauernhof. Dort, in einem kleinen Dorf, habe ich nach meiner Geburt mit meinen leiblichen Eltern und meiner Schwester Susanne gelebt.
Das Leben dort war wahrscheinlich gar nicht mal so schlecht. Ich konnte mich dort bestimmt frei bewegen und hatte genug Platz zum Spielen.
Es gibt Bilder von mir, wie ich auf einem Rutschauto durch die Gegend fahre. Da sehe ich sogar ganz vergnügt aus.
Unser Familienleben war auch ganz okay. Aber so richtig glücklich war es wahrscheinlich nicht. Das lag wohl vor allem an meiner Mutter. Meine Oma erzählt mir immer, dass sie Alkoholikerin und starke Raucherin war. Ich selbst kann dazu nicht allzu viel sagen, denn ich erinnere mich nur dunkel an diese erste Zeit mit meinen Eltern.
Meine Mutter bewirtschaftete den Hof, mein Vater war bei der Bundeswehr.
Ich habe ja schon gesagt, dass meine Mutter Alkoholikerin war. Sie trank viel, und dann wurde sie schnell aggressiv. Mit meinem Vater hatte sie sehr viel Streit.
Dabei ging es aber nicht nur um Alkohol, sondern auch um andere Probleme. Denn meine Mutter hatte neben meinem Vater noch einen anderen Freund, der bei uns ein- und ausging. Auch er war Landwirt.
So hatten sich meine Eltern oft in den Haaren.
Wenn solch ein Streit anfing, wollte meine Schwester immer, dass ich das nicht mitbekomme. Sie brachte mich dann in mein Zimmer und spielte so lange mit mir, bis sich einer der beiden Kampfhähne halbwegs beruhigt hatte. Trotzdem merkte ich natürlich, dass etwas los war, denn es war immer schrecklich laut bei diesen Gelegenheiten.
Ich war damals natürlich nicht alt genug, um zu verstehen, warum sich meine Eltern so oft zankten. Aber es war offenbar so bedrohlich für mich, dass ich regelmäßig anfing, zu weinen.
Aber ich hatte ja zum Glück noch meine Schwester Susanne. Sie ist neun Jahre älter als ich. In Wirklichkeit ist sie meine Halbschwester, weil sie einen anderen Vater hat als ich. Aber weil sich meine Mutter oft nicht um mich kümmerte, sorgte Susanne häufig für mich und spielte mit mir.
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So sah also unser Alltag aus, bis eines Tages ein schreckliches Unglück passierte.
Ich war damals fast zwei Jahre alt.
Im Grunde war ich zu klein, um mich an diesen Tag zu erinnern. Trotzdem meine ich, alles noch ziemlich genau zu wissen. Das liegt sicherlich daran, dass meine Schwester und auch meine Oma Lene mir immer wieder von diesem Tag erzählt haben. Was ich tatsächlich noch weiß, vermischt sich bestimmt mit diesen Erzählungen.
So bilde ich mir ein, diese schreckliche Szene noch genau vor Augen zu haben:
Ich spielte gerade mit meiner Schwester Verstecken. Plötzlich tauchte meine Mutter mit einem aschfahlen Gesicht an meiner Zimmertür auf und starrte meine Schwester und mich an, als habe sie eben den Teufel höchstpersönlich gesehen.
„Susanne, komm doch mal ganz schnell“, sagte sie.
Meine Schwester ging zu ihr in die Küche.
Ich war nun alleine in meinem Zimmer und spielte ein bisschen weiter.
Doch dann robbte ich in die Richtung, aus der ich die Stimmen meiner Schwester und meiner Mutter hörte. Auch an das Bild, das ich dann vor Augen hatte, meine ich mich irgendwie noch genau zu erinnern. Dabei konnte ich es sicherlich erst viel später einordnen. Für mich als zweijähriges Kind war es wahrscheinlich damals einfach nur verwirrend.
Denn da saß meine Mutter an der einen Seite des Tisches. Sie rauchte und hatte ein Glas Irgendetwas (höchstwahrscheinlich wieder Alkohol) vor sich stehen. Ihr gegenüber hockte meine Schwester. Sie hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt und heulte und heulte. Mich hatte sie noch nicht bemerkt. Aber meine Mutter sah mich misstrauisch an.
Sie sagte nichts, blickte dann wieder auf ihr Glas und rauchte weiter.
Nun bemerkte mich auch meine Schwester. Ihr Gesicht war vom Weinen rot gefärbt. Schnell wischte sie sich die Tränen fort und sah meine Mutter mit einem Ausdruck an, den ich selbst heute nicht so recht erklären kann.
Vielleicht dachte sie damals: „Wie sagen wir das denn jetzt Matthias?“ Oder auch: „Was machen wir jetzt mit ihm?“
Schließlich stand sie auf, nahm mich an die Hand und brachte mich zurück in mein Kinderzimmer. Dort hockte sie sich vor mich hin und sah mir in die Augen.
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Was jetzt kam, haut mich noch heute so aus dem Ruder, dass ich es selbst nach so vielen Jahren immer noch sehr schwer verdauen kann.
„Papa hatte einen Autounfall“, sagte Susanne. „Er liegt im Krankenhaus und ist schwer verletzt.“
Ich weiß nicht, ob ich an dieser Stelle alles verstanden habe. Aber meine Schwester und meine Oma erzählten mir später, ich hätte angefangen, wahnsinnig zu weinen. Und zwar mehr als die Niagarafälle zusammen. Wahrscheinlich habe ich damals gleich gespürt, dass etwas Schlimmes passiert war. Meine Schwester nahm mich in ihre Arme und versuchte, mich zu trösten. Doch vergebens. Weil ich nicht mehr aufhörte zu weinen, rief sie schließlich meine Großeltern an. Die wohnten im gleichen Ort wie wir. Sie erzählte ihnen von dem Vorfall und bat sie, mich doch erst einmal bei sich aufzunehmen. Da ich mich mit ihnen wunderbar verstand (meine Oma Lene lebt noch, und auch heute komme ich noch gut mit ihr aus), war das sofort geregelt. Sie machten sich direkt auf den Weg zu uns.
Als sie da waren, stürzte meine Oma auf mich zu und drückte mich ganz fest an sich. Natürlich weinte sie auch schrecklich, denn mein Vater war ja ihr Sohn!
Irgendwann brachen wir dann zu meinen Großeltern auf.
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Heute weiß ich, dass mein Vater bereits tot war, als wir im Haus meiner Großeltern an kamen. Er starb im Krankenhaus, zwei Stunden nach dem Unfall. Ich weiß nicht, ob er allein war, als er starb, oder ob jemand an seinem Bett gesessen hat. Niemand hat darüber mit mir geredet. Sicher dachten alle, ich wäre zu klein dazu. An die Beerdigung kann ich mich nicht erinnern. Ich bin aber dabei gewesen. Sogar der Freund meiner Mutter ist dort hingegangen! Das hat mir zumindest meine Großmutter erzählt. „Unmöglich hat der ausgesehen“, sagte sie später oft. „Wie ein Bauer. Mit dreckigen Hosen, an denen noch der Mist klebte.“
Und einen blöden Spruch über meinen Vater hat er wohl auch von sich gegeben. Das macht mich heute noch total sauer. Konnte er nicht wenigstens mal bei der Beerdigung die Klappe halten?
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Mein Vater war auf einer geraden Landstraße auf die linke Fahrbahnseite geraten und gegen einen Baum gefahren. Irgendwann hat mir meine Oma die Stelle genau beschrieben, an der er gestorben ist. Diese Unfallstelle habe ich mir später angeschaut. An dem Baum, an dem der Unfall passierte, fehlt immer noch ein Stück Rinde.
Oft überlege ich, wie das Ganze wohl passiert sein kann. Vielleicht ist mein Vater eingeschlafen. Vielleicht hat er sein Auto überschätzt. Vielleicht aber wollte er einfach nicht mehr leben. Das könnte ich sogar verstehen.
Es hat ihn wohl damals sehr mitgenommen, dass es so viele Probleme mit meiner Mutter gab. Meine Oma Lene tickt jedenfalls immer aus, wenn das Thema auf meine Mutter zu sprechen kommt. Dabei ist Lene eigentlich ein ganz lieber, friedlicher Mensch und sagt nie etwas Böses über jemand anders.
Nur bei meiner Mutter fallen ihr nur negative Dinge ein.
„Rabenmutter“, sagt sie zum Beispiel oft. Oder auch: „Wie konnte mein Sohn nur mit dieser Frau ankommen?“
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Natürlich normalisierte sich alles wieder. Ich kehrte nach Hause zurück, und nach einiger Zeit wurde ich selbst wieder halbwegs normal. Zumindest nach außen hin.
Die Lücke, die dadurch entstand, dass ich meinen Vater so früh verlor, ist aber bis heute geblieben. Oft denke ich, dass mein Leben ganz anders verlaufen wäre, wenn er noch leben würde. Vielleicht wäre ich dann bei ihm aufgewachsen. Und dann wäre all das Beschissene, das mir in meinem Leben passiert ist, nicht geschehen.
Aber so nahm das Unglück seinen Lauf.
Und ich konnte es leider nicht verhindern.
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Auch andere Menschen kamen über den Tod meines Vaters nicht hinweg. Mein Großvater zum Beispiel war seit dem Vorfall nie wieder, wie er vorher war. Er redete kaum noch, und essen wollte er oft auch nicht. Schließlich starb er selber. Da war ich drei Jahre alt.
Auch dieser Tod nahm mich sehr mit, denn er war mein einziger Opa, und in ihm hatte ich so was wie einen Ersatzvater gesehen.
Besonders hart hat es aber meine Oma Lene getroffen. Selbst heute fängt sie ab und zu an zu weinen, wenn wir über ihn sprechen oder wenn sie an ihn denkt.