Читать книгу Im Chat war er noch so süß - die Fortsetzung! - Annette Weber - Страница 5
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Manchmal habe ich gedacht, es ist nun alles vorbei. Nie wieder will ich darüber nachdenken, dass ich einmal so leichtsinnig war. Dass ich beinahe vergewaltigt oder vielleicht sogar umgebracht worden wäre. Ich streiche das jetzt einfach für immer aus meinem Gedächtnis.
Und gerade, als ich es fast geschafft hatte, das alles halbwegs zu vergessen, holte mich die Vergangenheit plötzlich wieder ein.
Es war wie ein Schock!
Der Tag begann zunächst friedlich. Wir saßen zusammen in der Klasse und warteten auf unsere Englischlehrerin Frau Kruse. Elin schrieb noch die Hausaufgaben von mir ab, Yasin und Hannes lasen die GameStar, Rebecca tütete mich mit ihren Beziehungsproblemen zu. Andrej war offenbar doch nicht so toll, wie sie in den ersten Wochen ihrer Beziehung angenommen hatte.
Dann flog die Tür auf. Frau Kruse stand im Türrahmen, und neben ihr … ich fasste es nicht.
„Ist der süß!“, quietschte Rebecca in mein Ohr.
Der Typ neben ihr war wirklich süß. Dunkle Haare, dunkle Augen, kantiges Gesicht … Jetzt stellte er sich neben Frau Kruse ans Lehrerpult. Ganz still wurde es nun in der Klasse.
„Kinder, das ist Fynn Richter. Er wird ab jetzt in unsere Klasse gehen“, erklärte Frau Kruse. Kinder – das sagte sie immer zu uns.
„Oh, cool!“, grinste mir Elin zu.
Ich wusste selbst nicht, was mit mir los war. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Mir war schwindelig.
Nun sah dieser Typ zu mir herüber. Lange und aufmerksam schaute er mich an.
Ich kannte diesen Jungen! Kannte ihn aus einem anderen Leben. Aus einem Leben, das ich unbedingt vergessen wollte.
Dieser Typ war nämlich der Junge, den ich damals im Wald getroffen hatte. In diesem kleinen Ort … wie hieß der noch, verdammt noch mal?
„Ich komme aus Brenkenberg“, berichtete der Typ nun.
Genau, Brenkenberg. Das war der Name.
Und in dem Wald in der Nähe von Brenkenberg befand sich das Haus, in dem mich die beiden Männer eingeschlossen hatten.
Damals – das hört sich so nach weit entfernter Vergangenheit an. Und doch war das Ganze erst drei Monate her. Aber irgendwie hatte ich alles in eine so entfernte Ecke in meinem Gedächtnis gepackt, dass es sich anfühlte, als lägen schon Jahre dazwischen.
Und dann das!
Aber war das möglich? Wieso stand dieser Junge jetzt da vorne? Warum ging er ausgerechnet in unsere Klasse?
„Wir sind umgezogen“, berichtete Fynn nun.
„Mein Vater hat eine Stelle in Bielefeld bekommen. Naja, darum bin ich jetzt hier.“
„Cool!“, bemerkte Elin wieder.
Frau Kruse lächelte.
„Wenn du willst, kannst du dich neben Elin setzen“, sagte sie. „Da ist noch ein Platz frei. Und dann holt eure Englischbücher raus, damit wir anfangen können.“
Fynn Richter kam mit langen Schritten auf unseren Gruppentisch zu. Er nickte kurz und mit ernstem Gesicht zu Rebecca und mir herüber. Dann setzte er sich neben Elin. Elin schob ihm ihr Englischbuch zu, und die beiden blickten gemeinsam hinein.
Die Stunde verging langsam.
Ich beugte mich tief über mein Buch.
Bloß nicht rübersehen.
Einmal schaute ich ganz kurz zu Fynn. Da bemerkte ich, dass er mich auch musterte. Das war mir sehr unangenehm. Ich schlug mein Tuch um den Hals und versuchte, mich darin zu verstecken.
Endlich war die Stunde zu Ende.
„What do you know about Thanksgiving?“, schrieb Frau Kruse noch als Hausaufgabe an die Tafel. Dann verschwand sie.
„Oh Mann, war das öde“, seufzte Elin und rückte etwas dichter an Fynn heran. „Jetzt erzähl mal von dir. Wer bist du? Was machst du gerne? Wie gefällt es dir hier?“
Auch Yasin, Tina und Kaan kamen nun zu unserem Gruppentisch herüber und bildeten einen Halbkreis um den Neuen.
„Naja, ich weiß nicht, ob ihr Brenkenberg kennt“, erzählte Fynn grinsend. „Das ist ein kleines Kaff, aber ganz nett. Was gibt‘s noch über mich? Ich habe einen Hund. Einen riesigen kuscheligen Bärenhund.“
„Cool!“, kreischte Elin wieder.
Sie schien an diesem Tag nicht viele Vokabeln draufzuhaben.
„Seid ihr auch im Schüler-VZ?“, wollte Fynn wissen. „Da könnt ihr meinen Hund sehen.“ Alle waren begeistert. Einer nach dem anderen nannte Fynn seinen Namen, damit er ihn im Schüler-VZ oder bei wer-kennt-wen suchen konnte.
Zuletzt blieb sein Blick an mir hängen.
„Und du? Bist du bei wkw oder im Schüler-VZ?“, wollte er wissen.
Ich schluckte. Dann schüttelte ich den Kopf. „Nirgends“, meinte ich ein bisschen verlegen. Fynn sah überrascht aus.
„Bei facebook?“, fragte er dann.
Wieder schüttelte ich den Kopf.
„Sarah chattet nicht“, platzte Rebecca nun heraus. „Die hat mal eine blöde Erfahrung gemacht. Die war nämlich mal …“
„Halt die Klappe!“, fuhr ich Rebecca so scharf an, dass sie mitten im Satz abbrach.
Das tat mir natürlich sofort leid, denn Rebecca ist meine beste Freundin. Ich wollte sie auf keinen Fall verärgern.
„Entschuldige!“, sagte ich deshalb schnell. Rebecca strich mir über den Arm.
„Schon okay, Sarah“, erwiderte sie, aber ich merkte, dass sie gekränkt war.
Fynn sah mich lange an. Seine Augen glühten wie schwarze Kohlestücke. Sie fixierten mich durchdringend, und ich hatte das Gefühl, dass er in meinem Gesicht las wie in einem offenen Buch.
Ob er mich erkannt hatte?
Hoffentlich nicht. Damals im Wald, als wir uns begegnet waren, hatte ich bestimmt anders ausgesehen. Verschwitzt und ängstlich vielleicht. Jedenfalls nicht so wie heute in meinen normalen Schulklamotten.
Aber so sehr ich mir das auch einzureden versuchte, richtig glauben konnte ich es nicht. „Wir kennen uns doch“, sagte er.
Elin und Gesine schauten mich überrascht an. „Ihr kennt euch?“, wollte Elin wissen.
„Warst du schon mal in Brenkenberg?“, fügte Gesine lachend hinzu.
Ich war tatsächlich in Brenkenberg gewesen.
In einem unheimlichen Haus in einem Wald. Aber das würde ich ihnen auf keinen Fall auf die Nase binden.
„Nicht dass ich wüsste“, erwiderte ich.
Und dann zog ich mein Mathebuch aus der Tasche und ignorierte Fynns durchdringende Blicke.
Hoffentlich kam unser Mathelehrer bald.
Als ich die Mittelstraße überquerte, um nach Hause zu kommen, sah ich diesen Fynn an der Kreuzung stehen. Er guckte sich suchend um. Als er mich sah, lächelte er und kam auf mich zu.
„Ich glaube, diese Stadt ist echt ’ne Nummer zu groß für mich“, meinte er. „Wie komme ich von hier zur Münzstraße? Weißt du das?“ Wohnte er nun womöglich auch noch in der Münzstraße? Das war irgendwie unglaublich. Denn parallel zur Münzstraße liegt die Turnerstraße, und da wohne ich.
„Ja, das weiß ich“, sagte ich. „Komm mit.
Wir müssen in dieselbe Richtung. Ich wohne in der Turnerstraße. Die liegt gleich dahinter.“
„Das ist ja genial“, freute er sich und ging mit großen Schritten neben mir her.
Zunächst gingen wir eine Weile schweigend nebeneinander her.
„Sarah Hoffmann, Turnerstraße 13 in Bielefeld, stimmt‘s?“, fragte er nun.
Ich antwortete nicht.
„Du warst das Mädchen im Sommer im Wald“, ergänzte er. „Du warst total in Panik, ganz verschwitzt und ängstlich, richtig?“
Ich nickte. Was sollte ich auch anderes machen? „Du hast mir nachher noch einen Brief geschrieben und mir die zehn Euro zurückgeschickt“, fuhr er fort. „Ich erinnere mich an deinen Absender. Ich habe erst überlegt, dir zurückzuschreiben.“
Er schien nachzudenken. Ich schwieg.
„Was ist damals passiert?“, wollte er wissen. „Nichts, was man jetzt einfach so auf der Straße erzählen kann“, erwiderte ich.
Fynn nickte.
„Du bist mir damals lange nicht aus dem Kopf gegangen“, berichtete er. „Ich habe mir richtig Vorwürfe gemacht, dass ich dich einfach so in den Zug gesetzt habe. Du sahst so klein und hilflos aus.“
Ich musste schlucken. An die Zeit damals wollte ich nicht wieder denken.
„Du hast mir damals sehr geholfen“, erwiderte ich leise. „Sehr sogar.“
Schweigend gingen wir weiter. Es war plötzlich eine Vertrautheit zwischen uns entstanden. Das war irgendwie schön.
An der nächsten Kreuzung blieb ich stehen und zeigte auf die Straße, die nach links abging.
„Das hier ist die Münzstraße“, erklärte ich. „Ich muss weiter geradeaus.“
Fynn nickte. „Danke“, sagte er. Dann sah er mich nachdenklich an. „Kann ich dich heute besuchen?“, fragte er.
Ich hatte schon fast mit dieser Frage gerechnet. War ja klar, dass er wissen wollte, was damals passiert war. Ich seufzte.
„Okay“, nickte ich.
„Erzählst du es mir dann?“, bohrte er weiter.
Wieder nickte ich.
„Um 15.00 Uhr?“, wollte er wissen.
„Turnerstraße 13“, sagte ich.