Читать книгу Verurteilt - Annette Weber - Страница 6

Оглавление

ICH LASSE MICH NICHT UNTERORDNEN

„Bis morgen.“

„Jo, schönen Feierabend!“

Mit einem lauten Knacken fällt der riesige Eisenriegel in die schwere Tür. Ab jetzt ist „Abkacken“ angesagt – alleine mit seinen Gedanken in der Zelle hockenSchnell noch den Fernseher angemacht, damit man sich ablenken kannDoch das ist leichter gesagt, als getan, denn mein Rücken tut weh durch die dünne Matratze, und die Wände sind kalt – verdammt kalt.

Das war nicht immer so. Denn bevor ich in den Knast kam, bevor es mit den Drogen und der kriminellen Karriere anfing, hatte ich ein schönes warmes Zimmer mit ’nem dicken Bett und ’ner fetten Matratze. Dies war allerdings vor vielen Jahren …

----

Mein Name ist David. Ich bin 18 Jahre alt und hatte bis jetzt ein ziemlich verkacktes Leben. Meine Mom hatte nicht die finanziellen Mittel, um uns alle – mich und meine Geschwister – durchzufüttern. Darum wurde ich mit drei Jahren zusammen mit meiner leiblichen Schwester adoptiert. Sie ist zweieinhalb Jahre älter als ich, und außer uns beiden haben meine Adoptiveltern keine Kinder. Eigentlich wollten sie nur mich, doch die Heimleitung gab mich nur im Doppelpack zusammen mit meiner Schwester ab, und somit hatten wir beide eine neue Familie. Über meine leiblichen Eltern weiß ich nichts – nur, dass kein Geld da war.

An die erste Zeit mit meinen neuen Eltern kann ich mich nur wenig erinnern. Ich hatte ein eigenes Zimmer wie jedes andere Kind und ging wie jedes andere Kind in einen Kindergarten. Doch schon da fingen die Probleme an.

Ich wollte gerade meinen Bauklotzturm um eine Etage erhöhen, als mich plötzlich ein anderer Junge von hinten anrempelte, und ich auf meinen Turm fiel.

„Du Blödmann!“, schrie ich ihn an und fühlte mich zum ersten Mal so richtig wütend. „Selber!“, schrie der Junge zurück und trat nach den Bauklötzen, die um mich herumlagen.

Von diesem Tag an hatte ich einen Feind, und immer wenn ich ihn mit etwas verärgern konnte tat ich es. Ich bewarf ihn zum Beispiel mit Sand oder schubste ihn sogar in ein Ameisennest.

----

Circa zwei Monate später wollte ich mit meinen ersten Inlineskates auf dem Hof des Kindergartens fahren. Allerdings hatte ich keine Schutzausrüstung. Doch als die Erzieher mir die anlegen wollten, schrie ich los und wollte nur noch nach Hause.

Abends redete ich dann mit meinem Dad darüber. Da sagte er zu mir: „Halte dich an die Regeln. Überall gibt es welche. Wenn du so weitermachst, kriegst du später richtig Probleme. Dann komm aber nicht zu mir. Nimm dir meine Worte zu Herzen.“

Solche Diskussionen gab es sehr häufig.

----

Als ich dann in die Grundschule kam, wurden die Probleme immer krasser. In der Klasse war mir oft langweilig, sodass ich beschloss, die Stimmung ein bisschen aufzubessern. Somit war mein Schicksal besiegelt: Ich war unser Klassenclown. Ich machte hinter dem Rücken der Lehrer Faxen, lenkte die Kinder vom Lernen ab, weil ich nur darauf fixiert war, sie zum Lachen zu bringen. Ich wollte einfach nur beliebt sein, denn immer, wenn die anderen über meine Witze lachten, fühlte ich mich anerkannt und akzeptiert. Ich stand im Mittelpunkt, meine Mitschüler fanden mich cool, und das war ein gutes Gefühl. Warum ich dieses Gefühl brauchte weiß ich nicht.

Doch nicht allen gefielen meine Witze.

Die Lehrer beschwerten sich über mich bei meinen Eltern und meiner Schulleiterin. Immer wieder hatte ich deswegen Stress zu Hause.

----

Eines Tages, nach einer Kunststunde, die besonders heftig gewesen war, beschloss ich dann, mit meinem damaligen besten Freund Stefan vor der Schule, den Problemen und den Eltern davonzulaufen.

Wir versteckten uns im Wald und aßen Süßigkeiten, die wir von einem Kindergeburtstag mitgenommen hatten, der am gleichen Tag in der Schule gefeiert worden war. Dann bauten wir uns einen Unterschlupf, futterten dort weiter unsere Vorräte und mussten auf niemanden hören oder achten. Dabei fühlten wir uns wie richtige Männer. Doch als wir gerade so von einer Anhöhe guckten, sahen wir, wie der Vater meines Freundes auf einem Fahrrad den Waldweg entlang fuhr und nach uns suchte.

„Mist, der wird uns sicher finden“, sagte ich, doch Stefan antwortete: „Sei leise.

Wir ducken uns auf den Boden, dann sieht er uns nicht.“

Und so war es auch. Er fuhr weiter, und wir wurden nicht gefunden.

Am Abend wurde uns dann allmählich klar, dass „richtige Männer“ eigene Häuser haben, in die sie zum Schlafen zurückgehen können, also machten wir uns auf den Weg nach Hause. So eine richtige Flucht war es also nicht. Vielleicht wollten wir einfach erste Erfahrungen sammeln.

Als ich zu Hause angekommen war, waren alle erst mal froh, dass ich wieder da war. Doch nach der Erleichterung kamen dann natürlich auch Gespräche, die jeder gut kennt: Warum? Wieso?

„Blablabla“, dachte ich mir damals nur und machte weiterhin mein Ding.

Ich lief immer öfter von zu Hause und auch von der Schule aus weg.

----

Als ich dann in der vierten Klasse war, wurde es mit meinen Problemen immer schlimmer, bis hin zu meiner ersten Boxerei – naja, jedenfalls dem, was man so als 10-Jähriger unter einer Boxerei versteht.

Wir hatten auf jeden Fall beide Nasenbluten, und nur, weil wir uns über eine selbst aufgestellte Fußballregel gestritten hatten. Nach diesem Vorfall suchten meine Eltern Hilfe beim Jugendamt. Wir bekamen eine Sozialarbeiterin vom Jugendamt zugeteilt, die ziemlich cool drauf war. Sie war nett, hörte zu und redete nicht nur mit meinen Eltern, sondern auch mit uns allen zusammen.

Mit ihr besprachen wir, dass es wohl am besten wäre, mal mit einer Kindertherapeutin zu sprechen.

Gesagt, getan. Ich kam zu einer Therapeutin, mit der ich zweimal wöchentlich Gespräche führte. Sie versuchte, die Ursache für mein Verhalten festzustellen.

Am Anfang war das Reden mit einem wildfremden Menschen ziemlich komisch für mich, und ich öffnete mich nur Stück für Stück. Doch sie schaffte es irgendwie, meine „Ist-mir-doch-alles-scheißegal“-Einstellung zu durchbrechen …

Sie sprach ganz offen mit mir und gab mir dadurch das Gefühl, verstanden zu werden. Dabei redete sie nicht so überheblich wie die anderen Erwachsenen. Ich fühlte mich richtig wohl bei den Therapiestunden.

Gespräch für Gespräch erzählte ich mehr und fühlte mich zum ersten Mal verstanden und interessant. Denn hier war ich der Mittelpunkt, hier wurde auf mich eingegangen und hier meckerte keiner rum. Wenn ich etwas nicht machen wollte, wurde das akzeptiert, ohne dass ich Faxen machen musste, um aufzufallen.

Währenddessen wurden immer mehr Fragen in meiner Klasse gestellt. Das Thema Adoption stand plötzlich immer wieder im Raum. Wir waren ja damals noch klein, und da nahm keiner ein Blatt vor den Mund. Niemand respektierte meinen Wunsch, nicht darüber zu reden. „Was ist das für ein Gefühl, adoptiert zu sein?“, fragte man mich zum Beispiel. Oder auch: „Sagst du Mama und Papa zu deinen Adoptiveltern?“

Ich weiß nicht einmal, woher meine Klassenkameraden überhaupt davon wussten.

----

Immer häufiger war ich gezwungen, darüber nachzudenken. Damals fand ich es eigentlich richtig schlimm, adoptiert zu sein: das Gefühl, dass es da eine andere Mutter und einen anderen Vater gegeben hat, die einen nicht haben wollten.

Wenn es jetzt zu Hause Stress gab, dann war immer mein erster Spruch: „Ihr seid gar nicht meine Eltern. Ihr seid nichts und niemand für mich.“

Heute bin ich ganz anderer Meinung. Wenn ich heute gefragt werde: „Sagst du Mama und Papa zu deinen Adoptiveltern?“, sage ich immer, dass ich keine Adoptiveltern habe, sondern genauso eine Mama und einen Papa wie jeder andere auch. Sie sind wirklich die besten Eltern, die man sich wünschen kann. Und ich habe sie …

Doch damals sah ich das noch ganz anders. Egal, was meine Eltern zu mir sagten, ich protestierte, schrie rum oder wurde sogar handgreiflich.

Dabei hatte ich eigentlich ein ganz gutes Verhältnis zu meinen Eltern. Mein Vater war so etwas wie mein bester Freund. Mit ihm konnte ich über alles reden, was mir auf dem Herzen lag. Meine Mutter war so etwas wie die gute Seele. Sie hatte für alles Verständnis. Aber manchmal wäre es besser gewesen, sie hätte strenger durchgegriffen …

----

Immer häufiger lief ich von zu Hause weg. Denn wenn ich weglief, war es immer irgendwie befreiend für mich. Dann gab es niemanden, der mir etwas vorschreiben konnte. Ich war dann mein eigener Herr, konnte machen, was ich wollte, und gehen, wohin ich wollte. Die Therapie hatte also keine besonderen Erfolge gebracht.

Meine Eltern machten sich immer verdammt viele Sorgen, doch das alles interessierte mich nicht. Ich wollte allen durch diese Aktionen zeigen, dass ich mich nicht unterordnen lasse – durch nichts und niemanden!!!

Da war ich gerade mal zehn Jahre alt.

----

Damals wurde es immer schlimmer mit meinem Ausrasten, und irgendwann riet das Jugendamt meinen Eltern, mir durch einen Kinderarzt Medikamente verschreiben zu lassen. Nach mehreren Gesprächen und etlichen Tests verschrieb mir mein Kinderarzt Ritalin, ein Medikament, das hyperaktive Kinder und Jugendliche bekommen.

Was ich damals noch nicht wusste: In Ritalin befinden sich Amphetamine, die man auch als Pep, Speed oder Paste kennt, halt nur in geringen Mengen. Mir wurde damals gesagt, es würde mir helfen, ruhiger zu werden, aber jeder weiß, dass man mit ein bisschen Wasser keinen Vulkan beruhigen kann.

Am Anfang nahm ich die Tabletten auch morgens, mittags und abends. Irgendwann bekam ich eine Tablettendose, wo einzelne Fächer für verschiedene Zeiten drin waren. Sogar in der Schule musste ich diese Scheiße nehmen.

Ich fühlte mich wieder einmal, als wäre ich anders als die anderen.

Zum Glück fragte mich niemand, was das für Tabletten seien.

Doch tief in mir fing ich an, alles und jeden zu hassen.

Ich fühlte mich unfair behandelt. Mir erschien es so, als würden mich die Leute nur auf den Scheiß, den ich machte, reduzieren, aber nicht sehen bzw. versuchen zu verstehen, warum ich das alles tat.

Durch die Adoption, die Einnahme der Tabletten und die Therapiestunden hatte ich immer das Gefühl, nicht wie die anderen zu sein.

Dadurch nahm ich mir dann aber auch das Recht heraus, mich anders zu verhalten. Ich bekam immer mehr Stress und versuchte, mich zu verteidigen, indem ich das machte, was ich konnte: Faxen in der Schule, zu Hause und jetzt auch vermehrt Stress, wenn ich draußen spielte.

----

In der Grundschule hatte ich natürlich auch meinen ersten Kontakt mit Mädchen, doch er war anders als der, den die anderen Jungen damals hatten.

In unserer Klasse knisterte es gewaltig zwischen Jungs und Mädchen, doch nicht im positiven, sondern im negativen Sinne. Es wurde beleidigt, geschubst und geschlagen. Eines Tages lief alles außer Kontrolle. Vier andere Jungs und ich hatten mit fünf Mädchen so richtig Stress. Wir haben sie beleidigt, wir haben sie bedroht und schließlich geschlagen.

Als die Mädchen das zu Hause ihren Eltern erzählten, kam es zu einer kleinen Klassenkonferenz, in der wir Jungs uns mit den Mädchen auf einen Waffenstillstand einigen mussten.

Das Beste aber war, dass wir Jungs nach einigen Wochen mit genau diesen fünf Mädchen zusammenkamen. Nina war meine erste Liebe. Genau genommen war es für mich nicht so richtig Liebe, eher ein Mitmachen-Müssen. Trotzdem habe ich Nina zum ersten Mal geküsst. Es war nichts Besonderes, aber ich habe es getan.

Kurz bevor wir auf die weiterführende Schule gehen sollten, trennten wir uns dann – da ich herausfand, dass sie rauchte. Damals war das wirklich ein Grund für mich, Schluss zu machen.

Als ich sie dabei erwischte, grinste sie nur. „Willst du auch eine?“, fragte sie.

„Bist du bescheuert?“, schrie ich sie an.

Dann beendete ich die Beziehung.

Seitdem habe ich sie nur noch einmal gesehen, doch wir haben uns kein bisschen unterhalten.

Heute ärgert mich das total, denn sie ist zu einer echten Sexbombe mutiert …

Egal, es gibt nicht nur eine Hand voll, es gibt ein ganzes Land voll.

Verurteilt

Подняться наверх