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Vergangenheit

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Es war fast vierzehn Tage später, als Alfred allein und nachdenklich die oberste Straße an den nun vollendeten Neubauten entlangging. Er hatte, als er das Hauptverkehrsnetz hinter sich gelassen hatte, die Geschwindigkeit seines Autinos gedrosselt und hob immer wieder von seiner Karte den Blick, um die Richtung nicht zu verlieren.

Bisher war er nie in dieses Viertel gekommen, denn es war für die Bürger der Stadt gesperrt gewesen, seit es fertiggestellt war. Man hatte es erbaut unter dem Vorwand, man müsse A 15 gleich in den richtigen Verhältnissen und so groß anlegen, dass man auch bei einer bedeutenden Vermehrung der Einwohner bequem auskommen könnte. Nun hatte sich in den fast hundert Jahren seit Bestehen der Stadt die Einwohnerzahl nicht nur nicht vermehrt, sondern langsam, aber unaufhörlich vermindert. Die Folge davon war, dass ein ganzes Viertel von Straßenblöcken unbewohnt blieb, deswegen erst später und sehr gemächlich ausgebaut wurde und eine Zeitlang den Spott und die Quelle steter Vorwürfe der gesamten Bürgerschaft gegen das Gerade Amt bildete.

Nun auf einmal aber hatte sie einen – wie man vom Geraden Amt aus laut proklamierte – den längst vorhergesehen Zweck gefunden. In ihr sollten künftig alle zum Bezirk gehörigen Landbewohner untergebracht werden, deren Arbeit durch die neuen Erfindungen der Kunstnahrung ein für allemal völlig überflüssig geworden war. Um deren Kraft endlich der Kultur und dem Aufstieg der Menschheit dienstbar zu machen, hatte man bei der alljährlichen Beratung im großen Senat, der aus den 300 Vorstehern der Geraden Ämter bestand, beschlossen, sie in den Städten einzubürgern. Da nun aber alle Weltstädte so ziemlich nach einem Schema erbaut und nach einem von den Erdgeologen in fünfzigjähriger Arbeit gefundenen Schlüssel über die bewohnbare Welt verteilt waren, so hatte jede von ihnen etwa eine gleiche Anzahl von Bauern aufzunehmen. Diese Proklamation war nun in den letzten Tagen öffentlich erfolgt und hatte dadurch Gesetzeskraft erlangt. Alle Bauern, oder Hüttenbewohner, wie die Städter sie nannten, sollten nun in die für sie bereitstehenden Häuser übersiedeln, oder, richtiger gesagt, sie wurden mehr oder weniger zwangsweise übergeführt. Wer sich binnen vierzehn Tagen nicht innerhalb des Bannkreises der ihm zugehörigen Stadt einfand, der sollte ein für allemal von der Kultur ausgeschlossen sein und nirgendwo aufgenommen werden dürfen. Kein Wunder also, dass seit zwei Wochen alle Nachrichten auf den öffentlichen Mitteilungstafeln von nichts anderem, als dem fröhlichen Einzug der Landbewohner in die Städte zu berichten hatten.

Alfred wollte nun, teils aus Neugierde, teils im Auftrag seines Meisters Henrik, der ihm auch den amtlichen Ausweis verschafft hatte, diese überall verkündete Freude der Hüttenbewohner mit seinen eigenen Augen sehen. Außerdem erhoffte sich der junge Mann mit diesem Ausflug seine arg vernachlässigten Kenntnisse von der Natur zu verbessern und war daher entschlossen, auch jedes Detail zu beobachten.

Wie alle Großstädter hatte er vom ersten Unterricht an für die allgemeine Kenntnis der gebräuchlichsten Techniken so viel zu lernen gehabt, dass dies seine ganze Zeit verschlang. Ebenso hatte ein Überblick über die bisherige Weltgeschichte, dazu Philosophie, Literatur und seine Fachwissenschaft ihn wie seinen Altersgenossen derart in Anspruch genommen, dass er die wirklich freie Natur nur einige Male in seinem Leben betreten und die sehr zerstreut hausenden Hüttenbewohner nie gesehen hatte. Dass er bei dieser Lebensweise, wie fast alle Kulturmenschen zu jener Zeit, klein und kindlich zart geblieben war, fiel weder ihm noch anderen auf, da es überhaupt nur in abgeschiedenen Bauerndörfern noch wirklich große Leute gab. Dafür war der Bau seines Gehirns, wie durch Blaustrahlen alljährlich amtlich geprüft wurde, perfekt ausgebildet.

Der für sein Alter noch merkwürdig volle Haarwuchs, sonst war ab erreichtem zwanzigsten Jahr völlige Kahlheit die Regel, verleugnete nicht die mächtig hervorsrpingende, fast viereckig gestaltete Schädeldecke mit der riesigen Frontalwölbung, unter der helle und große Augen scharf zu beobachten verstanden. Das übrige Gesicht war klein und zart mit schwach markierten Wangen und weit zurückspringenden, bartlosen Lippen. Unter den Menschen seiner Zeit hatte Alfred von je als auffallend reines Exemplar der besonders geschätzten Gehirnrasse gegolten, die als bestes Produkt einer mindestens zwanzigfachen Kreuzung aller Intelligenznationen der Erde angesehen wurde. Mit einer seiner kindlich schmalen Hände, die jede Ader blau umrissen unter durchscheinender Haut zeigten, hob er eine Art Fernrohr an die kurzsichtigen Augen. Richtig, dort unten lagen Bündel und allerhand Geräte auf der Straße. Die bleiche Sonne schien in bunten Farbflecken darauf. Hier also wollten tatsächlich Bauern einziehen. Bebend vor Neugierde schaltete der junge Gelehrte auf die höchste Geschwindigkeit, die sein Autino fahren konnte. Während der nun sausenden Fahrt versuchte er sich an all die eigenartigen Instrumente und Dinge zu erinnern, die er in dem »Unsere Vorfahren« genannten Museum von A 15 gesehen hatte. Kein Zweifel, er würde einige Geräte, Waffen und Kleidung bestimmt wiedererkennen, wenn sie jenen kulturfernen Menschen hätten. Oh, es würde ein großes Erlebnis für ihn sein, ein Erlebnis, das er diesmal nicht wie sonst aus den Erzählungen seines verehrten Meisters zu schöpfen brauchte, sondern das r in der Wirklichkeit erlebte.

In einiger Entfernung bremste Alfred ab, um die Fremden nicht durch allzu große Geschwindigkeit zu erschrecken. Man konnte ja nicht wissen, ob sie nicht sonst Furcht empfinden und vor ihm fliehen würden! Tatsächlich hatte er es so geschickt eingerichtet, dass er ein paar Schritte vor einer zusammengekauerten, offenbar menschlichen Gestalt stillstand. Durch sein Studium aus dem Museum erkannte er sofort, dass es der Tracht nach eine Frau sein müsse. Er beschloss also, sie in der alten deutschen Sprache, die er mit Daniel zusammen aus Liebhaberei gelernt hatte, anzureden.

»Würdest du mir gestatten, dir zu helfen?«, sagte er langsam und deutlich, um ihr das Verstehen zu erleichtern.

Das Weib hob ein altes, faltiges und nussbraunes Gesicht, bei dem Alfred sofort an jene merkwürdigen, nun schon längst ausgestorbenen Geschöpfe denken musste, die früher als »Affen« bezeichnet wurden und von denen man aufgrund der wenigen und unzuverlässigen Urkunden nicht wusste, ob sie nicht vielleicht doch eine Art Menschen gewesen waren. Für sein Leben gern hätte Alfred in seinem Forschungseifer das seltsame Wesen genau untersucht, doch wagte er nicht es zu berühren. Die Frau sagte endlich misstrauisch: »Was will de’ Chaib?«

Er begriff, dass sie ihn nach seinen Wünschen fragte, und versuchte, ihr nochmals seinen Vorschlag begreiflich zu machen, indem er ihre Sprechweise so gut wie möglich nachahmte.

»Brauchst du etwas?«, fragte er von neuem.

Doch sie glotze ihn nur weiterhin dumm an. Sie hob einen um den Leib gebundenen, buntfarbenen Lappen aus einem ihm unbekannten Stoff an die Augen und schluchzte: »Mir hand kei’ Feuer nit! Mir könna nit kochen!« Und sie machte mit den Händen eine Bewegung, als ob sie in einem Topf rühren wollte.

Alfred nickte, aber er wusste nicht, wie er ihr helfen sollte. So begnügte er sich also, tröstend zu sagen: »Man wird Euch geben, was Ihr braucht. Das Amt wird Leute schicken, die Euch alles zeigen!« »Häh?« fragte das Weib, das ihn nur zum Teil verstanden hatte. »Ich hör’ nit gut! Bei uns daheim ... da gibt’s sell alles nit!« Sie wies um sich auf die Häuser und Straßen.

Ein Teil ihres Misstrauens war verschwunden. Sie fand, dass der vor ihr Stehende zwar immer noch merkwürdig, aber lange nicht so böse aussah, wie jene Leute, die vor vier Tagen in ihrem kleinen Ort zwischen dem Bergvorland und einem versumpften Wald eingedrungen waren und ihnen befohlen hatten, sofort ihre wichtigste Habe zusammenzupacken und ein Fahrzeug zu besteigen, das nachher mit ihnen durch die Wolken davongeflogen war. Natürlich hatten sie sich zuerst geweigert, aber ein Dokument in ihrer Sprache, mit Siegeln und altmodischen Stempeln versehen, sowie die drohende Energie der unbekannten Männer hatten sie zuletzt doch veranlasst, allen Widerstand aufzugeben. Nun waren sie hier und wussten nicht, was sie tun sollten, vor allem weil die Männer sogleich auf das Gerade Amt zur Meldung geholt worden waren.

Während die Frau halb feindselig, halb hilfesuchend Alfred mit ihren kleinen, nahe aneinander stehenden und tiefliegenden Augen anblickte, begann der eingesperrte Haushahn in einem verschlossenen Korb neben ungeduldig laut zu krähen. Der junge Mann beugte sich sofort zu dem Bündelhaufen herunter und versuchte, das schreiende Geschöpf zu finden. In der Stadt gab es keine Zuchttiere; Fleisch wurde schon so lange künstlich hergestellt, dass die wenigsten Bürger außer der zahmen Seidenlöwen nie ein lebendiges Haustier gesehen hatten. Das Bauernweib erbarmte sich des hungrigen, gefiederten Hausgenossen. Sie griff in ihr Kleid und reichte ihm in der offenen Hand ein Häufchen Getreidekörner, die Alfred zu seiner Freude sofort als solche erkannte. Der Hahn hob die Flügel, blinzelte mit roten Augen und begann zu picken. Aufmerksam sah der Städter zu.

Die Frau erklärte gutmütig: »Sell isch unser Gockel!« und Alfred wiederholte »Gockel« und zeigte gelehrig auf das Tier.

Dann lachten sie beide, und mit diesem Lachen kamen sie sich mit einem Male um eine ganze Welt näher. Der Kulturmensch empfand fast ein verwandtschaftliches Gefühl für das vorsintflutliche Geschöpf, von dem er im ersten Augenblick tatsächlich nicht gewusst hatte, ob es ein Mensch oder der Klasse ausgestorbener Tiere zugehörig sei. Er wollte mehr von ihr und ihrem merkwürdigen Leben erfahren, als plötzlich auf dem gegenüberliegenden Pflaster der Straße, grellrote, türhohe Buchstaben erschienen: Zwei Uhr Vortrag Platz 1! Die neuen Bürger sollen alle kommen!

Die Bäuerin folgte der Richtung seines Blickes und schrie vor Entsetzen über die aus dem Boden aufsteigenden Worte laut auf. Aber Alfred fasste mutig mit seinen kleinen, schneeweißen Händen nach ihrer riesigen, harten, braunen Tatze und redete beruhigend auf sie ein. Wenn es ihm auch nicht gelang, sich ganz verständlich zu machen, so fasste sie doch bald Zutrauen zu ihm. So entschloss sie sich, nachdem die sie beängstigende Schrift verschwunden war, mit ihm zu Platz 1 zu gehen. Er erzählte ihr, dass sie dort auch ihren Mann sehen würde. Einem kleinen Jungen, der zwischen seltsamen, bunten Polstern – Alfred hielt sie für Ziegel – hockte, befahl sie auf den Hausrat achtzugeben, und sie ließ sich dann von Alfred fortziehen.

Allerdings machte das gemeinsame Gehen Schwierigkeiten. Zwar entsprach die niedrigste Geschwindigkeit des Autinos etwa der Größe ihrer Schritte, doch drohte ihr weites Gewand sich andauernd in die komplizierte Mechanik zu verwickeln. Gehen aber konnte der Städter nicht, denn die Kraft seiner Füße reichte nur aus, ein Autino zu lenken, in einem Zimmer kleine, nicht ganz sichere Schrittchen zu machen oder ein Arachnion zu ersteigen. Niemals aber wäre er ohne sein Autino bis Platz 1 zu gelangt, am wenigsten in den schweren, plumpen Schutzschilden, wie sie die Bäuerin trug, die offenbar nicht die geringste Eigenbewegung hatten. Sie schienen aus einer geschwärzten Tierhaut zu bestehen. Im Museum wurden ganz ähnliche aufbewahrt, als Zeichen der Barbarei früherer Jahrhunderte hatten sie ihm von jeher ein geheimes Grauen eingeflößt.

Überhaupt, so wie Alfred zum ersten Male mit der Möglichkeit eines Vergleiches an sich heruntersah, musste er gestehen, dass die städtische Art, zu leben, doch vieles für sich habe. Der arme Daniel, vielleicht bereute er jetzt schon seine Flucht, die ihn zwang, ein Leben voll Gefahren, Unbequemlichkeiten und Abhärtungen zwischen tierisch riechenden und wohl auch so denkenden Menschen zu führen! Aber Daniel und Jolán gehörten nicht zur Gehirnrasse, sie besaßen einen viel stärkeren Körper, da mochte es ihnen gar nicht so schwerfallen. Am leichtesten freilich würde es Henrik in einem solchen Falle haben, da er viele Jahre seiner Jugend mit der Erforschung der Natur zugebracht hatte. Aber selbst er zog es vor, die Bequemlichkeiten der Stadt weiterhin zu genießen.

Nach einer anstrengenden Wanderung war endlich Platz 1 erreicht. Der angekündigte Vortrag hatte noch nicht begonnen, doch der größte Teil der Bürgerschaft hatte sich bereits versammelt. Mehr denn je glich die Weltstadt in diesem Augenblick einem aufgedeckten Ameisenhaufen, der an einer bedrohten Stelle die Mehrzahl des wimmelnden Volkes vereint. Aber diese Ameisen waren bunt, und viele von ihnen schimmerten wie Kristalle. Diese Glänzenden waren Frauen und Mädchen. Obwohl stets etwas größer oder mindestens ebenso groß wie ihre Gatten und Freunde, schienen sie doch infolge ihres zarten Körpers und ihrer seltsamen Gewänder wie Schmetterlinge dahinzuflattern. Ein glasähnlicher und dennoch in allen Farben irisierender Stoff schmiegte sich wie eine zweite Haut dicht an ihre sehr schlanken Glieder und breitete sich nur am Hinterkopf, in einem Ornament in Gestalt eines Sternes aus, von denen jedoch jeder seine besondere Form hatte. Das Haar, viel üppiger als das der Männer, fiel zu beiden Seiten der Schläfen unter einem funkelnden, fest anliegenden Rundhelm, in kurzen Locken herab. Diejenigen der Frauen, die besonders elegant sein wollten, zeigten gar kein Haar, sondern der Rundhelm setzte sich in einer Art regenbogenfarbiener Wellen fort, die sich am Nacken verloren.

Dieser schimmernden Schwarm bewegte sich unablässig. Die vielen Stimmen vereinigten sich zu einem durchdringenden, halblauten Summen, das über dem Platz wie Grillen schwirrte. Da und dort hatten sich Gruppen junger Männer zusammengefunden, deren riesige, kahle Schädel das blaue Licht des Himmels widerspiegelten. Fast alle trugen Fernrohre in der Hand, um die Frauen betrachten zu können. Überall gab es lebhaften Meinungsaustausch.

»Siehst du!« sagte einer der jungen Bürger, »Hier führt deine Schwärmerei für die altmodische Erziehung der Frau als Kameradin hin! Sieh nur mit welcher Dreistigkeit sie sich uns gegenüber gleichgültig benehmen! Sag selber, so sind sie doch bestenfalls ein guter Freund mehr!«

»Du wirst mich nicht überzeugen, Edmond!«, widersprach der andere. »Auch wenn du auch ein Vertreter der neuen Päda­gogik bist, die von Frauen verlangen, so schön und nutzlos wie eine Blume zu sein. Ich bitte dich, was findest du nur an einem so schweigsamen, törichten, ewig lächelnden Geschöpf?«

»Das ist es ja, was mich reizt. Ich finde sie in ihrer Hilflosigkeit entzückend. Ich möchte sie beschützen, möchte zärtlich sein, möchte sie verhätscheln und verwöhnen! Versuche das einmal bei einer Kameradin! Die lacht dich ja einfach aus! Die Vorteile eines scharfen Verstandes, die habe ich schließlich auch bei jedem Freund, beispielsweise bei dir.«

»Nein, ich kann dir nicht recht geben!«, bestand der andere auf seiner Meinung. Der Erste setzte mit dem Ausruf der Bewunderung sein Fernglas an die Augen.

»Siehst du diese hier, wie schlank und zart! Die hat das, was ich an einer Frau reizvoll finde, das gesenkte Köpfchen, den scheuen Blick, die ist wirklich ganz modern erzogen.«

»Ein hübsches Püppchen, ich gebe es zu!«

»Du kannst mir glauben, wenn es lauter solche Frauen in A 15 gäbe, dann wäre der viel bejammerte Geburtenrückgang nicht halb so schlimm! Die alten Herren vor zweitausend Jahren, die nicht duldeten, dass ihre Töchter etwas lernten, hatten ganz sicher keine solche Not, Schwiegersöhne zu bekommen wie unsere Väter!«

»Nein, nein, eine gute Kameradin ist der beste Freund und die beste Frau! Die Menschheit ist nicht mehr so jung, dass sie ein Mädchen nur wegen ihrer zarten Hüften und weißen Händen begehrenswert findet. Ich wenigstens verlange mehr! Und die hypermoderne Erziehung zur unschuldigen Dummheit halte ich einfach für ein großes Unglück.«

Eine Schar Bürger schwemmte die Plaudernden wie eine Woge fort. Alfred, der in ihrer Nähe stehen geblieben war, teils weil er nicht wusste, wo er sich bleiben sollte, teils weil ihn das Gespräch ihn interessierte, bedauerte das. Was sie sagten, beschäftigte ihn ja auch, aber bisher wusste er nicht, welcher Art von Frauen er lieber mochte. Endlich erinnerte er sich wieder an die alte Hüttenbewohnerin, die sprachlos über all das Neue mit weit aufgerissenen Augen auf die stufenweise angeordneten Sitze aus weißem, glattem Stein und die üppigen Ornamente starrte. Aber ehe Alfred sie zu einem Platze führen konnte, lösten sich aus der Menge jene beiden Mädchen, die vorhin die Aufmerksamkeit der jungen Männer erregt hatten, und traten auf die Alte zu. Die eine war kräftiger, lebhafter und rosiger als ihre offensichtlich zögernde Begleiterin.

»Wirklich, Aïne!« Sie nahm die Freundin am Arm. »Wir sollten die Gelegenheit nicht nutzen. Lad sie doch ein! Wir geben Sonja und Dalila Bescheid ... natürlich auch Lilith. Es wäre sehr interessant.«

Das Mädchen konnte sich immer noch nicht dazu entschließen. Sein zartes, wie rosa Marmor getöntes Gesicht zeigte einen leisen Widerwillen. Es schüttelte abwehrend den Kopf, so dass die bunten Wellen des Rundhelms zitterten. Alfred beobachtete sie genau. Die zauberhaft, zarte Schüchternheit auf dem blumenhaften Gesicht des Mädchens lockte ihn wie eine liebliche Melodie. Er verneigte sich vor ihr und begrüßte auch die andere, die offensichtlich nach der alten Mode erzogen war, mit einem vertrauten Nicken, das sie fröhlich lachend quittierte. Sie ergriff sogleich das Wort: »Ich heiße Leila 47 563! Sagen Sie mir, mein Herr, wäre es möglich, dieses vorsintflutliche Scheusal da zu uns einzuladen?« Sie wies mit dem Finger auf die Alte.

»Ich weiß nicht ... vielleicht will sie es. Ich kann sie ja fragen«, meinte Alfred belustigt.

»Nein, nicht so … «, wehrte Leila energisch ab, »Sie müssen natürlich auch mitkommen. Wir können doch ihre Sprache nicht verstehen! Du bist doch einverstanden, Aïne?«, wandte sie sich zu der Freundin, die bisher mit gesenkten Wimpern daneben gestanden hatte.

Nun schlug sie die großen, hellgrünen, von einem schmalen, von einem dunklen Rand umgebenen Augen hilfesuchend auf: »Wenn du meinst ... «, flüsterte sie sehr leise.

»Aber natürlich! Es wird entzückend! Dieses schöne Mädchen«, sie wand sich an Alfred, »ist Aïne 50000, die Tochter unseres Stadtoberhaupts. Eine Verbeugung, wenn ich bitten darf! Vielleicht haben Sie jetzt auch die Freundlichkeit, uns Ihre Einheit zu nennen!«

»Ich bin Alfred 6720. Und ich komme natürlich mit großem Vergnügen mit.«

»Also schön, abgemacht! Vielleicht gehen Sie sich jetzt mit Ihrem Scheusal in die Ringbahn, damit Sie pünktlich bei uns eintreffen. Nach Aïnes Haus brauchen Sie nur zu fragen. Wiedersehen!«

Sie drehte sich lachend um und zog die sichtlich aufatmende Aïne mit sich fort, zurück in die Menge.

Alfred beugte sich zu der Alten hinunter und versuchte mit Aufbietung aller seiner Sprachkenntnisse ihr die Einladung zu erklären. Sie schien es auch tatsächlich zu verstehen, zumindest wehrte sie sich nicht, als er mit ihr Platz 1 in Richtung der nächsten Haltestelle verließ.

Leila hatte in der Nähe beobachtet, ob Alfred Wort halten würde. Nun wandte auch sie sich mit Aïne zum Gehen, als eben der erste Redner das hochragende Podium bestieg und hinter seinem Rücken die große Leuchttafel aufgezogen wurde, auf der jedes Wort in riesigen Buchstaben sofort nach dem Sprechen erschien.

Als die beiden Mädchen dann in Aïnes Gemächer kamen, waren die eingeladenen Freundinnen schon da, Lilith, Dalila und Sonja, drei Töchter der 40 000-Einheiten-Klasse. Sie hatten sich in der Polsterecke nahe am Vorhang niedergelassen und schwatzten wie aufgezogene Autophons. Ihre eleganten Fahrzeuge standen an den dafür bestimmten Ständern, und Aïne und Leila reihten ihre eigenen ein. Dann tasteten sie sich mit den zarten, nur mit schillernden Strümpfen bekleideten Füßen ein wenig linkisch die paar Schritte zu dem riesenhaften Diwan, auf dem man gleich bequem liegen, kauern und sitzen konnte und der in seiner Mitte einen mit Leckerbissen reich gefüllten, kostbaren Aufsatz trug.

Das ganze, von mattrosa Licht aus eingelegten Scheiben durchflutete Gemach war nach der neuesten Mode mit Perlen bestickt. Synthetische Edelsteine herzustellen, war schon vor undenklichen Zeiten zu einem niedrigen Handwerk herabgesunken und ebenso gehörten auch Perlen schon seit langem nicht mehr zu den auserlesenen Kostbarkeiten. Dagegen liebten es alle Frauen von A 15, ihre Wohn- und Empfangsräume mit Perlen zu schmücken und hätten sie so wenig am Hals getragen, wie ihre Vorfahren eine Kette aus Bachkieseln.

In Aïnes Boudoir hingen die tropfenförmigen Perlen in breiten Schleifen über die mit korallenroter Goldseide bespannten Wände herab, flossen in gewellten Borten zur Tür und von da zurück und wanden sich als loses, leuchtendes Zelt über dem Ruhelager zur rosenfarbenen Zimmerdecke empor. Nachdem Aïne ihre Freundinnen begrüßt hatte, beeilte sie sich, auf eine Koralle in der Wand zu drücken. Sofort wuchsen aus den Flanken des Perlenzeltes kleine Parfümflämmchen und begannen, während sie in einem berückenden, langsamen Neigen auf und ab stiegen, das Zimmer mit dem weichen und vollen Duft ungezählter Rosen zu füllen. Von irgendwo aus der Ferne schien dazu eine unendlich süße Musik herüberzuklingen, leise und träumerisch wie der Tanz schwebender Elfen.

Die jungen Damen achteten nur wenig auf diesen Zauber aus Duft, Klang und Glanz, denn sie waren aus ihren eigenen Wohnungen an solche Dinge längst gewöhnt. Dagegen erwarteten sie ungeheuer neugierig die Vorführung der alten Hüttenbewohnerin, von der Leila – als beste Freundin der Tochter von Nummer 50000 musste sie natürlich immer etwas Besonderes wissen – sofort zu erzählen begann.

»Kommt sie ?« fragte Dalia gespannt und sah ungeduldig auf ihren Uhrring.

»Wir werden sie sicher nicht verstehen!«, klagte Sonja. »Meine Mutter sagt, sie knurren und grunzen wie Lais!« Und sie zerzauste ihre kleine Seidenlöwin, die bisher zwischen den Polstern geschlafen hatte, bis diese erzürnt zu fauchen begann.

»Ach, es ist so langweilig mit dieser modernen Erziehung«, stimmte nun auch Lilith ein, »stell dir vor, Aïne, ich musste heimlich zu dir kommen! Mein Vater hält es für äußerst unanständig, eine Hüttenbewohnerin anzusehen. Er sagt, sie kleiden sich in Tierhäute und leben mit Tieren in unschicklicher zusammen.« Aïne streichelte die kleine, misshandelte Lais, die ihr faustgroßes Köpfchen beruhigt auf die beschnittenen Pfötchen bettete, um weiterzuschlafen.

»Wir werden sie verstehen«, beruhigte Leila die Mädchen, »und unanständig ist es sicher nicht, sie anzusehen, sonst dürfte sie auch nicht auf der Straße laufen. Übrigens wird auch Marian 27 974 kommen, stellt euch das vor!«

»Er kommt?« Sonja zog eine neidische Schnute und tastete nach ihrem Sternschmuck, der nach einem genialen Einfall ihrer Freundin – Arbeiterinnen gab es schon seit mehr als hundert Jahren nicht mehr – die Linie ihres Hinterkopfes auffallend verbreiterte.

Lilith klagte: »Er ist so unliebenswürdig!«

Währenddessen zerbiß Leila ein mit Alkon gefülltes Bonbon von der Gestalt einer Orchideenblüte.

»Marian ist grässlich kultiviert«, sagte sie entrüstet. »Am liebsten möchte er sich und uns alle zu Maschinen machen!«

Lilith seufzte verständnisvoll. Dalila hob lauschend den Kopf, denn sie hörte ein ihr ganz unbegreifliches Trampeln und Klirren auf den bunten Glasfliesen des Vorraumes. Dann stieß sie Leila aufgeregt an: »Ist sie das?«

Diese nickte nur, und erklärte dann flüsternd: »Das Geräusch entsteht, weil sie mit Schilden an den Füßen geht ... tritt. Seht, so. « Sie versuchte durch einige zaghafte Strampelbewegungen ihren Freundinnen diese merkwürdige Tatsache zu erklären. Im Türrahmen erschien wie auf einer Mattscheibe jetzt endlich das Bild der alten Hüttenbewohnerin, die sich mit einer Hand, offenbar verängstigt, an das Gewand eines jungen Mannes klammerte.

»Wer ist das, der mitkommt?«, fragte Sonja.

»Ach, es ist nur Alfred 6720, ich habe ihn darum gebeten, weil wir doch einen Dolmetscher brauchen. Jemand sagte mir, er sei der Schüler von Henrik 19530.«

»Also niemand von uns?«, meinte die neugierige Sonja lässig und wurde erheblich gleichgültiger.

Das Bild im Anmelder verschwand, denn Aïne hatte die Hängetüre durch einen unsichtbaren Hebel geöffnet. Alfred und die Alte betraten den Raum.

Während der junge Mann sich vor dem Diwan voll vornehmer Bürgerinnen tief verneigte, öffnete die Frau in grenzenlosem Erstaunen Augen und Mund, so weit dies nur irgend möglich war. Auch die Mädchen waren vor Neugierde verstummt und musterten mit forschenden Blicken den wunderlichen Gast. Die Alte drehte den hässlichen Kopf auf den gekrümmten Schultern nach rechts und links, zum Fußboden, dessen Glätte so unendlich beschwerlich für ihre beschlagenen Schuhe war, und hinauf zur Decke, zu den tanzenden Parfümflämmchen, die wie rosige Vögelchen zwischen den Perlenketten auf und nieder kletterten. Dieser Anblick schien offenbar alles, was sie in A 15 bisher gesehen hatte, an Seltsamkeit zu überbieten. Sie stieß ein dumpfes »Ah« aus und deutete mit dem behaarten Finger hinauf. Dann stieg ihr der starke, künstliche Rosenduft in ihre Nase. Grinsend verzog sie das Gesicht nach allen Seiten, so dass die Mädchen laute Rufe des Abscheus ausstießen, und nieste dann unter schrillen Schreien wohl ein halbes dutzendmal hintereinander.

»Sie ist nur an natürliche Luft gewöhnt«, glaubte Alfred erklären zu müssen und bereitete damit der nicht geringen Besorgnis der Damen auf dem Diwan ein schnelles Ende. Sogar Lilith, die das Ganze für eine Art von barbarischem Kampfgeschrei gehalten hatte, wagte sich wieder zwischen den Polstern hervor. Jetzt entdeckte die Hüttenbewohnerin die kleine Lais. Sie versuchte, sie mit merkwürdigen Zungenlauten zu locken. Da das Tier sie aber nur schläfrig anblinzelt, sagte sie entrüstet: »Jetz, is des amal a fauls Viech!«

Die jungen Damen lachten und amüsierten sich besser als jemals im Leben. Das war doch wirklich etwas anderes, etwas viel Interessanteres als alle die gewohnten Kulturvergnügungen! Nur Aïne saß still da und betrachtete mit unbeweglichem Gesicht die seltsame Frau. Durch Gebärden baten sie nun das alte Weib, einen der plumpen, schwarzen Schutzschilde auszuziehen, die es an den Füßen trug. Gutmütig erfüllte die Hüttenbewohnerin diesen Wunsch und reichte ihnen das schwere, mit Metall beschlagene Ungetüm hin, damit sie es genau besichtigen könnten. Sie versuchten als Scherzen sogar, es an die Füße zu ziehen und mit ihm Schritte zu machen, aber es erwies sich als so groß, dass es abglitt und immer wieder mit lautem Schlag zu Boden fiel. Dann kamen die Schürze und das Kopftuch, das bisher von Sonja für einen merkwürdigen Rundhelm gehalten worden war, an die Reihe. Die Bäuerin lachte in dumpfen, gurgelnden Lauten, und ihr ganzes, braunfaltiges Gesicht wurde zu einem einzigen Grinsen. Die jungen Bürgerinnen kicherten und mischten das helle Zwitschern ihrer zarten Kehlen hinein. Es war ein allgemeines Vergnügen, obgleich die eine Partei die andere nicht zu verstehen vermochte und der Dolmetscher alle Mühe hatte, in dem herrschenden Lärm zu Worte zu kommen. Sogar die schläfrige Lais wachte auf und ließ Gähnen und schwaches Knurren hören.

Im Stillen bewunderte Alfred die unendliche Gutmütigkeit und Freundlichkeit seines Schützlings. Sie ließ sie sich nach rechts und links drehen, bückte sich, zeigte Zähne und Hände, sie zupften sie in übermütiger Ausgelassenheit an Haaren und Ohren, untersuchten ihre Kleider – sie benahmen sich ihr gegenüber eigentlich nicht anders, als gegenüber den kleinen Seidenlöwen, das zerbrechliche Spielzeug ihrer guten oder schlechten Laune. Alfred konnte nicht glauben, dass die Hüttenbewohnerin so dumm war, dass sie dies nicht merkte. Vielmehr hatte er aus manchen Äußerungen, aus ihrer ganzen Art, unzweifelhaft entnehmen können, dass sie, wenn auch in recht beschränkten Grenzen, klar und richtig zu denken vermocht. Es musste also bei ihr eine natürliche Gutmütigkeit vorhanden sein, die sie veranlasste sich so und nicht anders zu benehmen. Eine Gutmütigkeit, von der bei der Kulturbevölkerung im allgemeinen nur äußerst wenig zu spüren war.

Mitten in diesem Tumult öffnete sich die Hängetür und Marian 27974 trat ein. Im ersten Augenblick schien es, als wolle er vor dem lärmenden Lachen sofort wieder fliehen. Dann aber schloss er die Türe und ging, ohne die andern auch nur zu beachten, auf Aïne zu, vor der er sich in einem genau berechneten Winkel verbeugte. Nach dieser Begrüßung blieb er aufrecht mitten im Zimmer stehen, steif, wortlos, mit einem so unbeweglichen Gesicht, als trage er eine Maske aus Porzellan.

Die Fransen des kunstvoll gepressten Tuches aus veilchenfarbenem Stoff hingen reglos auf seine schmalen Schultern herab. Die Hände mit den langen, unglaublich beweglichen Fingern ruhten in den Falten des hellvioletten, goldbordierten Gewandes. Obwohl er weder etwas sagte, noch eine Bewegung machte, war er der ausdrucksvollste Protest gegen die fröhliche Unruhe der übrigen. Und wirklich, die Mädchen schwiegen und rückten gesittet auf dem Diwan zurecht.

Nur die Hüttenbewohnerin kümmerte sich nicht um seine vornehmen Gesten. Sie tat einen Schritt auf ihn zu, schaute ihm von unten herauf ins Gesicht, und machte halb belustigt, halb erstaunt: »Häh ...«

Marian zog ein Fernrohr aus dem Gewand und mit Bewegungen, die aussahen, als hinge jedes seiner Glieder einzeln an einem Draht, der von einer unsichtbaren Hand gezogen würde, ging er um die Alte herum und betrachtete sie wie ein seltenes Wundertier von allen Seiten. Leila lachte laut auf. Es wäre ihr unmöglich gewesen, zu schweigen, und wenn es ihr das Leben gekostet hätte. Aber sie erntete nur einen missbilligenden Blick von Aïne, während die andern sich nicht zu bewegen wagten. So groß war die Furcht von Marian, der in allen Dingen der Kultur tonangebend war, als unmodern angesehen zu werden.

Endlich war er mit seiner Musterung fertig. Er hob die hellen, fast farblosen Augen und sagte mit einer ganz gleichmäßigen Stimme ohne jeden Ausdruck: »Haben die verehrten Einheiten sich von den wichtigen Unterschieden dieses Urmenschen im Verhältnis zu unsrer hochgeistigen Rasse überzeugt?«

Die Einheiten schüttelten den Kopf. Nein, sie hatten wirklich nicht daran gedacht. Es war so lustig gewesen, sich über die Alte zu amüsieren. Marian fing die erwartungsvoll auf ihn gerichteten Blicke ein, dann fuhr er fort: »Ich darf vielleicht eine der verehrten Einheiten bitten, sich zu mir zu bemühen!« Er sah suchend umher, bis er Aïne fand, die still wie eine an ihren Platz gestellte Puppe dasaß und zuhörte.

»Aïne ... ich bitte sehr.« Gehorsam erhob sie sich. Ein kaum sichtbares Rosenrot floss wie ein Schleier von ihren Schläfen bis zum Kinn. Sie stellte sich mit gesenkten Lidern neben die Alte. Marian nickte befriedigt, obwohl er keinesfalls übersah, dass die Blicke Alfreds, den er schon von früher her kannte, wie die eines Sklaven an dem zarten Mädchen hingen.

»Nun sehen Sie es jetzt: Hier ... ganz Idee ... ganz Geist ... ganz sorgfältig gepflegte Zivilisation. Dort ... Plumpheit, Hässlichkeit, Formen, die an die Tiere erinnern, mit denen diese Geschöpfe in widerlicher Gemeinschaft leben sollen. Hier, die niedrige Vergangenheit der Rasse aufgesogen, gleichsam sublimiert von einer trieb- und instinktgereinigten Gegenwart, die reizende Schwäche des Körpers nur ein Flor um höchst entwickelte Kultur. Dort, stumpfes Triebleben, alles nur Körper ... alles nur bösartigste Instinkte, ganz noch die Vergangenheit des brutalen Menschentieres aus der Zeit von vor zweitausend Jahren! Und da mutet uns der Senat zu, mit so etwas in Gemeinschaft zu leben!« Er machte eine wohlberechnete Gebärde des Ekels.

Alfred vermochte nicht mehr an sich zu halten. »Sosehr die geistvollen Worte der verehrten Einheit zu schätzen sind«, begann er, »sosehr muss man ihnen doch in einigem entgegentreten. Vor allem die Bösartigkeit! Ich glaube, die Bürgerinnen haben sich ausreichend davon überzeugt, dass die alte Hüttenbewohnerin von grenzenloser Gutmütigkeit ist. Über anderes hier zu sprechen, halte ich nicht für geeignet. Aber, was das letztere betrifft, ein Zusammenleben mit diesen Menschen, so können wir, glaube ich, nur an Lebenskraft dabei gewinnen. Was hilft uns schließlich die hohe Kultur, wenn wir an dieser Kultur zugrunde gehen!« Er wollte weitersprechen, hielt aber dann unmutig inne. Er sah, dass die Mädchen sich entrüstet abwandten, obwohl ihnen die alte Frau noch eben zum Spielzeug gut genug gewesen war. Er sah, dass Aïne einen Schritt in Richtung ihrer Polster tat. Da fasste er die Alte am Arm.

»Komm!« sagte er herrisch und merkte zugleich, wie er in den Augen der ganzen Gesellschaft sich selbst mit seiner Parteinahme herabwürdigte. Aber er konnte nicht anders. Das steife Lächeln der Mädchen, die gefühllosen Augen Aïnes, die unbewegte Maske Marians. Er verbeugte sich kurz und zeremoniell. Dann zog er die Hüttenbewohnerin mit hinaus.

Marian sah ihm mit einem beherrschten, aber entscheidenden Blick des Siegers nach. Dann wandte er sich zu den jungen Bürgerinnen, die mit etwas ängstlichen und verblüfften Gesichtern Alfred verfolgt hatten, ohne dass eine von ihnen den Mut gefunden hätte, gerechterweise seine Worte zu bestätigen.

»Ich werde in vier Wochen ein Fest der lebenden künstlichen Blumen geben, deren Erfindung mir jetzt endgültig gelungen ist«, sagte Marian mit ausgesuchter Liebenswürdigkeit. »Ich werde dort Sie sehen und auch jene Einheit, die mich heute widerlegen zu müssen glaubte. Vielleicht werde ich Sie dann dort noch einmal endgültig um Ihre Meinung bitten!«

Die Mädchen wagten sogar, bei dieser unvorhergesehenen Aussicht in die Hände zu klatschen und mit lauter Geschwätzigkeit ihre Freude auszudrücken, ohne dass sie von Marian in ihrem Jubel unterbrochen wurden. Er achtete gar nicht darauf. Denn er sah, dass Aïnes Augen mit einem merkwürdig verschleierten Blick noch immer an der Türe hingen.

Feuerseelen

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