Читать книгу Leonies Rosenbeet - Annie Sonnenberg - Страница 4

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1.

Das Siegel

„Nein”, meinte Ricardo und lächelte. „Bei allem Respekt, aber ich denke, so einfach ist das nicht.” Der Knappe stand neben seinem Fürsten Cuculaínn am Rand der Gruppe erwartungsvoller Dorfbewohner und wärmte seine Hände am Lagerfeuer.

„Nicht so einfach? Wieso, was soll es denn sonst sein?” Der junge Ritter tauchte aus seiner offensichtlichen Verliebtheit auf und schaute verwirrt umher.

Ricardo wurde unsicher. „Sie ist... komisch. - Einfach komisch.”

„Ric, lass den Quatsch. Jeder weiß, dass sie sich seltsam benimmt, aber niemand kann es begründen. Die meisten können nicht einmal beschreiben, was sie stört. Dass sie anders sein soll als wir, ist vermutlich nur Gerede.”

Der Jüngere der beiden wandte leicht den Kopf und sah mit klaren blauen Augen das Mädchen an, das ihm gegenüber auf einer Bank am Feuer saß und die sein Ritter bereits den ganzen Abend angestarrt hatte. „Vermutlich”, sagte er. Und damit schwiegen sie.

*

Leonie war gar nicht wohl. Aus irgendeinem Grunde hatte sie sich nie richtig zugehörig gefühlt zu ihrem Dorf. Sie hatte sehr früh ihre Eltern verloren, lebte im Gebäude der alten Mühle unten am Fluss und verdingte sich um ein paar Schnitten Brot beim Müller, der keinen Hehl daraus machte, dass er sie nicht besonders mochte.

Das junge Mädchen stand von der Bank am Feuer auf und wandte sich in die Richtung des großen Waldes.

Dieser Ritter Cuculaínn und sein Knappe Ricardo starrten sie so komisch an. Sicher würden sie gleich über sie sprechen, und es würden keine freundlichen Worte sein. Es war gut, wenn sie ging. Aber aus irgendeinem Grunde vermochte sie den Anblick von Ricardos freundlichen Augen nicht aus ihren Gedanken zu vertreiben. Der junge Mann wirkte anders als die anderen, nicht so roh.

Cuculaínn dagegen konnte sie nicht recht einschätzen. Die Ritter waren im Dorf hoch angesehen; allerdings sprachen sie zumeist nicht mit dem einfachen Volk. Nur bei Festen wie diesem zeigten sie sich ohne Rüstung - bei Opferfesten, die Leonie verabscheute.

Die anderen Dorfbewohner glaubten, dass mit einem Opfer das Gleichgewicht der Kräfte in der Welt wieder in Ordnung gebracht werden konnte, und das war eine Vorstellung, die auch ihr guttat. Aber ihr war nicht wohl dabei. Es war, als ob ihr irgendetwas fehlte.

Leider konnte sie sich niemandem anvertrauen, außer dem Müllergesellen. Den fragte sie, weshalb ihr als einziger die Freude am Fest verborgen blieb, aber sie erhielt nur ausweichende Antworten, denn er wusste auch nicht genau, was mit ihr nicht stimmte. Und davon wurde ihr erst recht nicht wohler.

*

Die Dorfbewohner begaben sich in einer langen Prozession vom wärmenden Lagerfeuer in die Kälte hinaus. Opferfesttage waren zugleich potentiell Tage des Gerichts, und auch diesmal war jemand angeklagt worden. Die Spannung stieg mit jedem Schritt, bis es endlich so weit war: Die Richter hatten entschieden, und der Müllergeselle erklomm den Glockenturm, bereit zu läuten. Wenn alle versammelt waren, würde die sanfte Bronze erklingen. Zweimal verkündete Schuld, dreimal Unschuld des Angeklagten.

Auf der höchsten Klippe, am Rand des Dorfes, stand eine junge Frau mit einem Strick um den Hals. Leonie musste nicht ihre Sehkraft bemühen, um zu wissen, dass daran ein Stein befestigt war. Die Frau sollte dem Meer überantwortet werden. Nahmen die Wellen ihren Leib auf und ging sie unter, galt sie als unschuldig und mit der Mutter Erde versöhnt. Andernfalls war sie mit Sünde verseucht und musste umgebracht werden, um das Dorf zu schützen.

So ging es an jedem Gerichtstag im Dorf zu.

„Was ist?”, fragte Cuculaínn freundlich und legte einen Arm um Leonies Schultern. „Du solltest dich freuen.”

„Ja”, sagte sie nur. Aber in ihrem Inneren rebellierte es: Cuculaínn hatte keine Ahnung. Die arme Frau hat gar keine Chance, dachte sie. Und sah ihr direkt in die sanften braunen Augen, die vor Angst ganz groß geworden waren.

Plötzlich schrie die Unbekannte auf. Leonie fuhr aus ihrer Betrachtung.

„Caitlínn”, kam es von der Klippe, „Caitlínn!”

Erst jetzt erkannte Leonie, dass die Frau ein Amulett in der Hand hielt, das an einer Kette befestigt war. Sie sah der Unbekannten wieder in die Augen.

Die Fremde starrte zurück. „Caitlínn!”

Mit diesem Wort schwang die Verurteilte das Amulett in die Zuschauerschaft.

Leonie hatte nur noch einen Gedanken: Sie musste das Siegel finden! Sie kroch zwischen den Füßen der Herumstehenden hindurch und zwängte sich an der beifallklatschenden ersten Reihe vorbei.

Die Glocke ertönte.

Bim. Leonie riss das Siegel an sich.

Bim. Nur ein Herzschlag - - -

Bim.

Das leiernde Gemurmel des Priesters kam Leonie abscheulich vor.

Fiona entzündete eine Fackel und summte eine kleine Melodie.

*

Keiner von ihnen wusste später zu berichten, wie es genau geschehen war. Leonie war in ihrer Wut nach vorne gestürmt und hatte sich auf den Priester gestürzt. Cuculaínn hatte das bemerkt und war ihr gefolgt, um sie zurückzuhalten, Ricardo dicht auf seinen Fersen. Aber Leonie war schneller.

Der Priester schrie um Hilfe und wehrte die Hände des Mädchens ab, die seinen Hals umklammerten. Ihre entschlossenen Augen trafen auf dem Höhepunkt des Zorns die seinen: ihre voller Leben, seine schwach und ohne jede Hoffnung. Noch nie hatte sie solche Verachtung gefühlt. Sie drückte ohne Erbarmen weiter zu.

Cuculaínn packte sie am Kragen; gleichzeitig schrie einer der Wächter: „Nehmt sie fest und werft sie in die See!”

Ricardo versuchte, Leonie etwas zu sagen, aber er kam gegen den Lärm der Menge nicht an. Cuculaínn drängte sie, völlig gegen seinen Willen, auf die Klippe zu. Da packte ihn eine fünfzehnjährige Hand am Arm: sein Knappe Ricardo. Eine Stimme an Leonies Ohr rief laut und vernehmlich: „Lauf!” - und ehe Cuculaínn wusste, wie ihm geschah, war er zum Komplizen und Hochverräter geworden.

*

Das Leben absorbierte jeden Gedanken im staubigen Sandweg, bevor er geäußert werden konnte, und bewahrte ihn sicher in einer Schublade der Ewigkeit auf. So liefen die Freunde schweigend nebeneinander her.

Wegen des Opferfestes war ein Feiertag ausgerufen worden, deshalb hatten die Ritter ihre Waffen in einer gut bewachten Hütte mitten im Dorf deponiert; ihre Pferde standen im gemeinschaftlichen Stall, der ebenfalls unter Aufsicht stand. Nicht einmal Rüstungen trugen die Kämpfer, aus Respekt vor der Zeremonie. So war Cuculaínn sämtlicher ritterlicher Kennzeichen beraubt, was ihn nachdenklich machte.

Schließlich meinte Ricardo: „Wir werden ein Nachtlager brauchen.”

Cuculaínn antwortete: „Zehn Meilen von hier liegt Chesterford, von dort können wir uns zu meinen Ländereien durchschlagen.”

„Zehn Meilen?” warf Leonie schmollend ein. „Dann muss ich aber vorher rasten.”

„Ja”, stimmte Ricardo zu. „Am besten jetzt. Mir tun die Füße weh.”

Leonie latschte betont langsam auf einen Eichenstamm zu und setzte sich. „Ich bin jedenfalls froh, da raus zu sein. Die Frau tat mir leid.”

„Wieso?”, fragte Cuculaínn verblüfft. „Sie hatte es verdient. Das ist überall so: Abtrünnige werden verurteilt.”

„Ich hoffe nicht”, murmelte Leonie und rupfte einen Grashalm ab. Damit verstummte das Gespräch. Sie pfiff eine kurze Melodie auf dem grünen Instrument.

„Sag mal”, fragte Ricardo unvermittelt, „Chesterford - das ist doch da, wo Dragon George gelebt hat?”

„Ja”, antwortete Cuculaínn, „aber das ist lange her.”

Leonie war mit einem Schlag wieder wach. „Dragon George? Toll! Er ist einfach toll!”

„Du meinst, er war einfach toll”, besänftigte Cuculaínn. „Er ist tot.”

„Oh, sei doch nicht so langweilig. Ich will jedenfalls so werden wie er!”

„Du?”, staunte Ricardo. „Du bist doch ein Mädchen!”

„Na und?” Leonie war beleidigt. Und danach sofort wieder begeistert: „Wie er den Drachen besiegt hat... Zu Fuß! Große Klasse, ganz große Klasse!”

„Du, Ric?” fragte Cuculaínn mit einem Gesicht, das unbewegt auf Leonie gerichtet war. „Sie ist wirklich komisch.”

*

Leonies Rosenbeet

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