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Die Flucht

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Es war sehr heiß draußen und jene Hitze drang natürlich auch in die Gebäude ein. Ein schleierhafter Dunst lag in den Hallen einer großen Fabrik. Man hörte einige Maschinen rattern, aber nicht nur die mußten arbeiten. In der Nähe von Karnal stand jene Fabrik, also mitten in Indien. Eigentlich nichts Besonderes. Oder vielleicht doch? Ein Blick auf die dort arbeitenden Menschen belehrte einen eines Besseren. Hunderte von Kindern und Jugendlichen befanden sich in der Fabrik, um dort von früh morgens bis spät abends zu arbeiten. Kinderarbeit in Indien. Also doch nichts Besonderes. Die Arbeiter und Arbeiterinnen wurden von Aufsehern bewacht, die dafür Sorge trugen, daß niemand auf die Idee kam, eine Pause zu machen. Die einen Kinder mußten Teppiche knüpfen, andere machten Körbe, wieder andere stellten Hemden her und so weiter. Die dort arbeitenden Kinder und Jugendlichen kamen aus armen Familien und mußten deshalb die Schulden ihrer Eltern in der Fabrik abarbeiten. Es gab nur eine Pause am Tag und die war mittags. Am Morgen begann man bereits um sechs Uhr und am Abend durften sie nie vor zwanzig Uhr aufhören. Dann wurden sie in die Schlafräume gebracht, wo sie bis zum nächsten Tag schlafen sollten. Sklaverei? Auf jeden Fall. Nur selten bekamen die Kinder mal einen freien Tag, an Urlaub war überhaupt nicht zu denken. Sie hatten nichts von ihrer Jugend und das wußten sie ganz genau. Aber was sollten sie dagegen tun? Wenn sie nicht arbeiteten, dann würde ihre Familie verhungern und das konnten sie nicht zulassen. Es war bereits am späten Nachmittag, als Raja für einen Augenblick durchschnaufen wollte. Sofort kam ein Aufseher zu ihm. „Arbeite weiter!“ befahl er. „Ich kann nicht. Ich brauche frische Luft“, entgegnete Raja. „Die kannst du haben“, meinte der Aufseher, holte eine Lederpeitsche hervor und schlug damit auf den Jungen ein. Um nicht noch mehr Schläge zu bekommen, setzte Raja seine Arbeit sofort wieder fort. Nicht einmal auf die Toilette durften die Arbeiter in der Kinderfabrik. Jeder hatte einen Eimer bei sich stehen, in dem er oder sie das eigene Geschäft verrichten mußte. Zweifellos katastrophale Zustände, aber in Indien gehörten sie einfach dazu. Auf einmal hörte man, wie jemand zu Boden fiel. Wieder war sofort ein Aufseher zur Stelle. „Steh auf!“ brüllte er, doch der am Boden Liegende rührte sich nicht. Da schlug der Aufseher auf ihn ein, aber es gab keine Reaktion. Mittlerweile waren einige andere Kinder herbei gekommen um zu sehen, was da los war. Als sie sahen, daß der Aufseher auf den Halbtoten einprügelte, sprangen sie auf ihn und rissen ihm die Peitsche aus der Hand. Auf einmal fielen Schüsse. Der Fabrikchef kam mit einer geladenen Pistole herein und schrie: „Alle auf Eure Plätze sonst seid Ihr tot!“ Ängstlich schlichen die Kinder von dannen. Sie waren traurig und entsetzt über das, was sie gesehen hatten, obwohl es nicht das erste Mal gewesen war. „Bring die Leiche auf den Müll und besorge Ersatz!“ verlangte der Chef vom Aufseher. Jener packte das tote Kind und warf es dann auf eine riesige stinkende Müllhalde, wo schon einige Kinderleichen vor sich hin verwesten. Auch Shankar und Nathu hatten mitbekommen, was da geschehen war. Sie waren Beide 17 Jahre alt und gehörten damit zu den Ältesten in der Fabrik. Shankar arbeitete schon seit zehn, Nathu seit acht Jahren in jener Fabrik und sie wußten ganz genau, daß sie zu jenen Kindern gehörten, denen man die Jugend gestohlen hatte. Doch als sie nun wieder gesehen hatten, wie einer der Aufseher auf ein fast totes Kind eingeprügelt hatte, da hatten sie beschlossen etwas zu tun. Als sie in der Nacht nebeneinander im Schlafraum saßen, begannen sie zu flüstern, damit die Aufseher sie nicht hörten. „Nathu, wir müssen etwas machen. Denn wenn nicht, dann werden wir aus diesem Teufelskreis nie mehr herauskommen“, erklärte Shankar. „Und was hast Du vor?“ wollte der wissen. „Hier können wir nichts erreichen. Wir müssen fliehen.“ „Weißt Du nicht mehr, wie sie uns beide Male erwischt haben, als wir fliehen wollten. Damals habe ich jeden Knochen einzeln gespürt.“ „Bei mir war es auch nicht besser. Aber das hilft nichts. Du weißt ja, wie es abläuft. Wer 18 wird, kommt entweder in eine andere Fabrik mit Erwachsenen, oder wird umgebracht, wenn man keine Arbeiter mehr benötigt.“ „Du hast Recht. Wir müssen es noch einmal versuchen. Aber wann und wie?“ „Morgen Nacht. Wir müssen versuchen, so Viele wie möglich mit uns zu befreien.“ „Vergiß es! Wenn wir das machen, dann jagen sie uns bis an unser Lebensende. Fünf Flüchtige verkraften sie noch, aber bei mehr hört der Spaß auf. Du weißt ja, daß die gute Beziehungen zur Polizei haben und daß die Polizisten sehr bestechlich sind. Mehr als fünf können nicht fliehen. Also, suchen wir uns noch drei mutige Weggefährten aus, bei denen wir absolut sicher sind, daß sie die Strapazen einer Flucht aushalten können.“ Raja hatte mitgehört. „Ich will auch mit“, stellte er klar. „Traust Du Dir das zu?“ forschte Nathu. „Na klar.“ „Also gut. Dann würde ich sagen, wir sollten noch Indira und Daya mitnehmen.“ „Wie kommst Du auf die Beiden?“ „Auch sie werden bald 18 Jahre alt. Und Du weißt, was mit ihnen dann geschieht.“ „Ja, leider. Entweder werden sie an einen reichen Mann verkauft, der sie dann zur Frau nimmt, oder sie werden von Mann zu Mann verliehen und von denen vergewaltigt. Einverstanden, wenn sie mit wollen, dann können sie mit“, bemerkte Shankar. Nathu stand auf und schlich sich zu den beiden Mädchen. „Schlaft Ihr schon?“ flüsterte er. „Nein. Was ist los?“ forschte Daya. „Shankar, Raja und ich werden morgen nacht fliehen. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr mit“, antwortete er. „Gerne. Ich bin froh, daß endlich jemand den Mut hat. Aber wie?“ fragte Indira. „Das werden wir noch klären. Haltet Euch auf alle Fälle bereit.“ „Wenigstens brauchen wir kein Gepäck mitnehmen, weil wir eh nichts haben“, scherzte Daya, bevor Nathu sie wieder verließ. Er schlich sich zur Tür des Schlafraumes, die, so wie immer, geöffnet war. Dort sah er einen Aufseher schlafen, während er die Anderen aus der Küche hörte. „Die verzocken wohl wieder ihr Geld“, dachte sich Nathu und kehrte dann an seinen Schlafplatz zurück. „Und?“ lautete Shankars Frage. „Sie kommen mit.“ „Sehr schön. Jetzt brauchen wir nur noch einen Fluchtweg.“ „Warte mal! Ich habe da eine Idee.“ Nathu erklärte Shankar seinen Vorschlag flüsternd und der nickte zufrieden. „Jawohl, so machen wir es. Gute Nacht“, hauchte er zum Schluß. Zehn Minuten vor sechs Uhr wurden alle geweckt. Wer nicht sofort aufstand, wurde geschlagen. Das wirkte. Im Nu waren die vielleicht 350 Kinder wieder an der Arbeit. Während die Aufseher nur darüber wachen brauchten, daß die Kinder auch rund um die Uhr arbeiteten, mußten jene ohne Unterbrechung rackern. Wieder war es sehr warm und es stand zu befürchten, daß am Nachmittag ein neuer Hitzerekord aufgestellt werden würde. Die Kinder schwitzten, aber sie bekamen vor dem Mittag kein Wasser. Ein fürchterlicher Gestank durchzog die Fabrik, aber das schien die Aufseher nicht zu stören. Jene waren das schon gewohnt. „Du! Arbeite schneller!“ schrie einer der Aufseher und schaute ein vielleicht fünfjähriges Mädchen an. Jene begann zu weinen. „Heul hier nicht rum, sondern arbeite!“ brüllte der Aufseher und zog seine Peitsche hervor. Nur mit Mühe konnte sich das kleine Mädchen beruhigen und versuchte dann, das ohnehin schon hohe Arbeitstempo noch einmal zu erhöhen. Während er seine Maschine beobachtete, schaute Nathu immer wieder nach draußen. Da war sie also, die große Freiheit. Nur wenige Meter von ihm entfernt und doch so weit weg. „Hey Du! Glotz nicht nach draußen, sondern arbeite! Die Sachen müssen bis heute Abend fertig sein!“ machte ihm ein Aufseher deutlich. Jene Nachricht sorgte in Nathus Innerem für Entzücken. Er wußte nun, daß die Chancen zur Flucht so gut wie nie standen. Es stand nämlich damit fest, daß in der Nacht die Kaufleute kommen würden, um sich die von den Kindern hergestellten Waren zu holen. Und da war es üblich, daß jeder Aufseher sich zu den Kaufleuten begab, um von denen ein paar Rupien für die „Betreuung“ der Arbeiter zu bekommen. Das Tor zur Flucht stand also weit offen. Man mußte nur noch den Mut haben, es auch zu durchschreiten.

Es war mitten in der Nacht, als man draußen Lastwägen herfahren hörte. „Sie kommen!“ zischte Nathu Shankar zu. Es war nun nur noch eine Frage der Zeit, bis alle Aufseher die Fabrik verlassen würden. Auch der Aufseher, der vor den Schlafräumen wachte, hatte die Geräusche der Lastwägen gehört und war darum schnell aufgestanden, um zu überprüfen, ob die Kinder auch alle schliefen. Er stieß einige von ihnen mit einem Stock an und stellte zufrieden fest, daß alle seelenruhig vor sich hin schlummerten. „Kein Wunder, daß die so gut schlafen. Bei der schweren Arbeit, die sie verrichten müssen“, dachte sich der Mann und verschwand dann nach draußen. Es hatte die fünf Fluchtwilligen tatsächlich große Mühe gekostet, um wach zu bleiben. Sie hätten viel lieber geschlafen, aber die Chance zur Flucht wollten sie sich nicht entgehen lassen. Als sie draußen viele Stimmen hörten, standen die Fünf auf und trafen sich vor der Tür des Schlafraumes. „Was jetzt?“ wollte Daya wissen, der man es ansah, daß das Sandmännchen fast gesiegt hätte. „Die sind alle draußen. Wir müssen auf die andere Seite des Gebäudes“, entschied Shankar. So machten sie sich unbemerkt auf den Weg. Plötzlich trat Raja versehentlich auf einen Blechdeckel. „Paß doch auf!“ schimpfte Nathu verärgert ob des Leichtsinns seines Fluchtgenossen. Sie blieben ein paar Sekunden atemlos stehen, um zu lauschen, ob irgend jemand draußen das Geräusch wahrgenommen hatte. Zu ihrem Glück war das nicht der Fall gewesen, weil sich die Aufseher derweil draußen darüber stritten, wie das Geld, das ihnen die Kaufleute gegeben hatten, aufgeteilt werden sollte. Auf einmal blieb Indira stehen. Sie hatte jemanden ihren Namen sagen gehört und wollte deshalb wissen, was über sie gesprochen wurde. Fast zehn Meter von ihr entfernt standen einer der Aufseher und ein Kaufmann, der schon öfter dagewesen war. Nur eine Glasscheibe trennte Indira von den beiden Männern. „Hör mal! Ich hätte da einen Kunden, der eine hübsche junge Frau braucht“, ließ der Kaufmann verlauten. „Oh, da habe ich genau das Richtige für Dich. Sie heißt Indira und wird in drei Wochen 18 Jahre alt. Die ist so schön, daß sie sich von uns nicht mal jemand vergewaltigen getraut hat“, erzählte der Aufseher. „Jawohl, dann komme ich in drei Wochen wieder und nehme sie mit.“ „Und wieviel springt da für mich raus?“ „Kommt ganz drauf an, wie schön sie ist“, entgegnete der Kaufmann. Danach gingen die Beiden wieder zu den Anderen. Während Raja, Nathu und Daya schon längst weiter gegangen waren, war Shankar bei Indira geblieben und hatte alles mitgehört. „Nichts wie weg“, flüsterte sie und er nickte. Wenig später erreichten sie die drei Anderen, die vor einer verschlossenen Tür standen. „Scheiße!“ fluchte Nathu, doch auf einmal fiel ihm etwas ein. Er hatte nämlich die Erfahrung gemacht, daß indische Türen nicht die stabilsten waren. Er holte sein kleines Messer hervor und steckte es zwischen Tür und Angel. Es gab einen lauten Knall, aber die Tür war offen. Da sich die Aufseher und die Kaufleute auf der anderen Seite der Fabrik befanden, hatten sie nichts gehört, so daß Shankar die Tür wieder schloß, als sie alle draußen waren. „Wir sind frei!“ jubelte Raja. „Freu Dich nicht zu früh. Erst wenn wir hier richtig fort sind und sie uns nicht mehr finden können, dann sind wir frei“, erwiderte Nathu, der noch allzu gut wußte, wie leicht man sich täuschen konnte. Bei seiner ersten Flucht mit Shankar waren sie schon 15 Kilometer weit gewesen und trotzdem gefunden worden. Bei der zweiten Flucht waren sie gerade mal sechs Kilometer weit gekommen. Es gab also noch lange keinen Grund zur Euphorie. „Wie spät ist es jetzt?“ erkundigte sich Daya. „Schätzungsweise kurz nach Mitternacht. Wir haben also noch knapp sechs Stunden Zeit. Seid Ihr fit? Wenn wir laufen, dann könnten wir zehn Kilometer in der Stunde schaffen, also bis sie unser Verschwinden bemerken 50 Kilometer“, stellte Shankar fest. „Nein, tut mir leid. Ich bin hundemüde. Laufen ist bei mir nicht drin“, murmelte Indira. „Du hast doch auch gehört, was die mit Dir vorhaben. Na gut, dann trage ich Dich halt“, lenkte Shankar ein und ließ sie auf seinen Schultern aufsitzen. „Wo wollen wir eigentlich hin?“ erkundigte sich Daya. „Nach Neu Delhi. Nur dort haben wir eine Chance, um unterzutauchen“, antwortete Nathu.

Sie waren gut zwei Stunden gelaufen, als sich die ersten körperlichen Entzugserscheinungen bemerkbar machten. „Ich habe Durst“, klagte Raja. „Ich auch“, stimmte ihm Indira zu. „Was soll das? Du wirst hier getragen wie eine Königin und beschwerst Dich? Ich bin der Esel. Wenn hier jemand Wasser bekommen muß, dann bin ich das“, spottete Shankar, dem es gefiel, Indira auf seinen Schultern zu tragen. „Haltet durch, Leute! Wir werden schon noch Wasser finden“, beruhigte Nathu die Anderen. Kurz darauf stellte sich heraus, daß er Recht behalten hatte. Es verlief da ein Fluß in der Nähe von Karnal und genau den erreichten sie. Dort ließen sie sich nieder und konnten zum ersten Mal für einige Augenblicke ihre neu erworbene Freiheit genießen. „Werden die uns suchen?“ forschte Daya, nachdem sie sich erfrischt hatte. „Darauf kannst Du Gift nehmen. Sie werden unsere Spuren suchen und wohl auch finden. Darum wird es das Beste sein, wenn wir jetzt ein paar Kilometer durch den Fluß gehen“, überlegte Shankar. Dagegen hatte niemand etwas, weil man so immer etwas zu trinken in der Nähe hatte. Alle Fünf hatten sich aus der Fabrik nur ein Ding mitgenommen. Nämlich eine Wasserflasche. Die füllten sie, als sie den Fluß nach vielleicht drei Kilometern, die sie gewatet waren, verließen und sich dann wieder mit Laufgeschwindigkeit auf den Weg machten. Die Beine waren erfrischt und auch gegen die Ermüdung war das Wasser gut, so daß es jetzt doch erheblich schneller vorwärts ging als vorher. Indira konnte selber laufen, so daß auch Shankar Kraft sparen konnte. Natürlich suchten sie sich die wenig befahrenen Wege, um nicht von Kinderfängern oder ähnlichem Gesindel erwischt zu werden. Sie sehnten sich danach, in der Hauptstadt untertauchen zu können, doch bis es soweit war, gab es noch einen langen Weg zu meistern. Viele Gedanken schwirrten durch ihre Köpfe, als sie da liefen. Einmal war da die Angst gefaßt zu werden. Alle wußten, daß dies sehr viele Schmerzen nach sich ziehen würde. Außer wahrscheinlich für Indira, die ja schön bleiben sollte. Doch auch sie hatte kein Interesse daran, in die Fabrik zurückzukehren und so liefen sie so schnell sie konnten in Richtung Neu Delhi. Dabei verließen sie sich auf Nathu, der einen erstaunlichen Orientierungssinn besaß. Gerne hätten sie angehalten und sich über die Zukunft unterhalten, aber noch war das nicht möglich. Erst mußten sie in Sicherheit sein, dann konnte man für die Zukunft planen. Vielleicht verwundert es, daß sie nicht nach Hause liefen, doch das hatte seine guten Gründe. Dort hätte man sie sofort wieder in die Fabrik gebracht. Ihren Eltern nämlich kam es nur darauf an, daß ihre Kinder die Schulden abarbeiteten. Sie konnten es sich gar nicht leisten, ihre Kinder bei sich zu behalten, weil sie das eine Menge Geld gekostet hätte, das sie nicht hatten. Zwar wußten sie, daß ihre Kinder dort geschlagen und mißhandelt wurden, aber das konnten sie nicht ändern und darum hatten sie sich damit abgefunden. So war es äußerst verständlich, daß zwischen den fünf Flüchtigen und ihren Eltern keine allzu starke Bindung bestand, weshalb niemand ein Verlangen hatte, nach Hause zurückzukehren. Nathu wählte den Weg so, daß sie immer in der Nähe des Flusses blieben, um Wasser zur Verfügung zu haben. Er wußte von früher her, daß der Fluß an Neu Delhi vorbeilief, so daß man ihm getrost folgen konnte und nur rechtzeitig westlich marschieren mußte. Inzwischen waren sie fast vier Stunden unterwegs. Es war kurz vor halb fünf Uhr morgens und so langsam machte sich der neue Tag daran zu beginnen. Es war ein besonderer Tag für Shankar, Nathu, Indira, Daya und Raja. Der erste Tag in Freiheit. Sie wünschten sich alle von ganzem Herzen, daß es nicht der letzte sein würde, aber sie konnten nicht wissen, was da noch alles auf sie zukommen würde. Erst einmal waren sie froh und glücklich, daß ihnen die Flucht geglückt war. Neu Delhi kamen sie immer näher und so langsam schwand die Angst, doch noch gefaßt zu werden. Aber noch hatten sie es nicht geschafft.

Wieder war es zehn Minuten vor sechs Uhr, als die Kinder, die in der Kinderfabrik arbeiten mußten, geweckt wurden. So wie jedesmal mußten sie sich aufstellen, um gezählt zu werden. Als einer der Aufseher beim ersten Durchzählen feststellte, daß fünf Kinder fehlten, wollte er es nicht glauben. „Ich hätte gestern nicht soviel saufen sollen“, murmelte er und zählte noch einmal. Als er wieder zum selben Ergebnis kam, meinte er zu einem Kollegen: „Ich glaube, ich habe meinen Rausch noch nicht ausgeschlafen. Zähl Du mal!“ Der tat das und erschrak, als er merkte, daß fünf Jugendliche fehlten. Sie gingen zum Fabrikchef und teilten ihm die schlechte Nachricht mit. „Verdammter Mist! Findet heraus wer fehlt und dann macht Euch auf die Suche. Zehn Aufseher bleiben hier und die restlichen 20 machen sich auf den Weg!“ ordnete er an. Recht bald stellte sich heraus wer geflohen war und als das der eine Aufseher mitbekam, der mit einem der Kaufmänner einen Handel abgeschlossen hatte, schrie er wütend: „Warum ich? Ich hätte reich werden können!“ Sofort machte er sich mit 19 seiner Kollegen auf den Weg, um die Flüchtigen zu suchen und einzufangen. „Sie werden geflohen sein, als wir alle draußen waren“, vermutete einer der Aufseher, als sie in einem Lastwagen saßen. „Das denke ich auch. Na ja, dann haben sie einen Vorsprung von vier bis fünf Stunden“, glaubte ein anderer. „Du sagst es. Sie sind zu Fuß, also können sie noch nicht weit sein.“ Ziemlich schnell entdeckten sie die Spuren der Fünf und folgten ihnen, bis sie an den Fluß kamen. Dort endeten die Spuren und das gefiel ihnen überhaupt nicht. Die Männer stiegen aus und gingen den Fluß entlang. Zehn auf der linken und zehn auf der rechten Seite. Erst nach einer guten Stunde fanden sie wieder Spuren. Zu ihrem Glück hatte es nicht geregnet, so daß man sie doch recht gut erkennen konnte. „Die sind den Fluß entlang gelaufen“, erkannte einer der Aufseher. Aber wenig später standen die 20 Männer da und wußten nicht mehr weiter. Vor ihnen lag weites Land, das mit Gras bewachsen war. Es war wirklich unmöglich, darauf Spuren zu finden. Das heißt, es war schier unmöglich, die Spuren der Flüchtigen zu finden, denn andere Spuren gab es genug. „Wir können doch jetzt nicht einfach zurückfahren und sagen, wir hätten nichts gefunden“, bemerkte ein Aufseher. „Natürlich nicht. Wir werden erst morgen früh wieder in die Fabrik gehen. Hier haben wir wenigstens unsere Ruhe. Ich schlage vor, wir fahren jetzt weiter. Vielleicht haben wir ja Glück und sie laufen uns über den Weg“, hoffte einer der Männer und setzte sich ans Steuer. Viel Optimismus war bei den Aufsehern nicht festzustellen. Das lag vor allem daran, daß die Flüchtigen einen großen zeitlichen Vorsprung hatten. Andererseits waren die Aufseher motorisiert, so daß noch nicht alles verloren war. Aber da sie viel zu faul waren, um zu Fuß die Wildnis am Ufer zu durchsuchen, gab es für die Fünf doch gute Chancen, in Freiheit zu bleiben. Mit Tempo 40 fuhr der Lastwagen einen Weg entlang, den man bei Weitem nicht als Straße bezeichnen konnte. „Die brauchen nur in irgend so einem Gebüsch sitzen und schon finden wir sie nicht“, behauptete einer der Aufseher, als er auf das Ufer des Flusses schaute. „Na und? Wir finden schon Ersatz. Nur um die beiden Mädchen ist es schade. Mit denen hätten wir noch eine Menge verdienen können“, erwähnte sein Kollege. „Wißt Ihr was? Wir machen jetzt Pause. Wir setzen uns an den Fluß und lassen es uns gutgehen. Lange hätten die eh nicht mehr bei uns gearbeitet und so können wir wenigstens unseren Sadismus an ihren Familien ausleben“, glaubte ein Aufseher. Der Lastwagen hielt an. Die Männer stiegen aus und trugen ein paar Kisten mit Bier und ein paar Lebensmittel ans Ufer. Dort ließen sie sich nieder und genossen die Sonnenstrahlen. „Von denen lassen wir uns nicht unsere gute Laune verderben. Obwohl ich den Einen oder Anderen von ihnen schon gerne totgeprügelt hätte“, ärgerte sich ein weiterer Aufseher. „Mach Dir keine Sorgen! Die verrecken eh bald. Oder glaubst Du, daß die irgendwo einen Job finden?“ „Niemals. Höchstens in einer Kinderfabrik. Und für etwas Neues sind sie eh schon zu alt. Denen wird es noch leid tun, daß sie abgehauen sind.“

Hätten die 20 Aufseher gewußt, daß sich die fünf Gesuchten in ihrer unmittelbaren Nähe befanden, dann hätten sie sich wohl nicht zum Sonnen an den Fluß gelegt. Zwar waren Shankar, Nathu, Indira, Daya und Raja ziemlich weit gekommen, aber kurz vor Tagesbeginn waren sie so müde geworden, daß sie beschlossen hatten, sich hinzulegen und auszuschlafen. So lagen sie im hohen Schilfgras vielleicht hundert Meter von ihren Jägern entfernt. Shankar wachte auf. Er hatte laute Stimmen aus der Umgebung gehört und wollte nun wissen, woher die kamen. Er fand die Antwort schneller als ihm lieb war und sie gefiel ihm überhaupt nicht. „Leute, wacht auf! Wir müssen fort!“ zischte er. Langsam öffneten die Anderen ihre Augen. „Was ist denn los?“ wunderte sich Daya. „Wir sind in Gefahr“, antwortete Shankar. Da rissen sie ihre Augen auf und starrten ihn an. „Seid leise!“ befahl er und deutete auf den Lastwagen, den alle zu gut kannten. Damit hatten die Aufseher immer die Rohstoffe geholt. „Was jetzt?“ wollte Indira wissen. „Ich weiß es noch nicht. Irgendwie habe ich den Eindruck, als würden die da bester Laune sein. Wir müssen fort, aber wenn sie unsere Spuren sehen, dann werden sie uns folgen und wahrscheinlich auch finden“, befürchtete Shankar. „Sollen wir etwa hier liegen bleiben und warten, bis sie uns entdecken?“ entgegnete Raja „Nein, aber wenn wir jetzt aufstehen und davonlaufen, dann haben sie uns in weniger als zehn Minuten“, befürchtete Nathu, der die Situation begriffen hatte. „Wir sollten uns trennen, oder unser Aussehen verändern“, schlug Daya vor. „Am besten wäre Beides. Wir dürfen jetzt nicht nervös werden. Ich werde mich jetzt mal hin schleichen, um herauszufinden, was sie vorhaben“, entschied Shankar. „Bist Du verrückt? Dann bist Du verloren“, erwiderte Indira. „Quatsch! Wenn ich bis in einer halben Stunde nicht da bin, dann verschwindet so schnell Ihr könnt.“ „Und wer soll mich tragen?“ „Auch Du kannst laufen, Prinzessin.“ Indira strahlte Shankar an. Der lächelte zurück. „Paß auf Dich auf!“ bat sie ihn zum Abschied. Das Schilfgras war über einen Meter hoch, so daß es Shankar genügend Schutz bot. Auf allen Vieren kroch er zu den Aufsehern hin. Wenig später hatte sich seine Aufregung gelegt. Die Jäger befanden sich alle am oder im Wasser, aßen, tranken und machten allerlei Unsinn. Für einen Augenblick überlegte Shankar. Er hatte da einen tollen Einfall. Er zählte die Männer und kam auf 19. Dann schlich er sich zu seinen Freunden zurück. „Die planschen im Wasser wie kleine Kinder“, berichtete er. „Prima! Dann nichts wie weg!“ raunte Raja. „Halt! Nicht so schnell! Nathu, Du hast doch gesagt, daß Du schon mal den Lastwagen gefahren hast.“ „So ist es. Wie kommst Du darauf?“ „Wenn die den Lastwagen nicht mehr haben, dann erwischen sie uns garantiert nicht.“ „Shankar, worauf willst Du hinaus?“ fragte Indira. „Ganz einfach: Wir haun mit dem Lastwagen ab und lassen die zurück. Dann werden sie uns nie mehr finden“, antwortete der grinsend. „Du bist ein Genie! Auf!“ rief Daya, die begeistert von dem Plan war. „Ganz so einfach ist es nicht. Der Lastwagen steht in der Nähe der Aufseher und da würden wir auffallen, wenn wir alle Fünf hin schleichen würden. Ich schlage vor, daß Nathu alleine hin schleicht, wir uns derweil flußabwärts begeben und dann zusteigen, wenn Nathu den Lastwagen soweit gebracht hat, daß uns die Aufseher nicht mehr einholen können“, erläuterte Shankar. „Einverstanden“, stimmten die vier Anderen zu. So machte sich Nathu also auf den Weg zum Lastwagen, während die vier Anderen in Richtung Süden krabbelten. Die ganze Sache war sehr gefährlich, weil zu erwarten war, daß die Aufseher Nathu spätestens dann entdecken würden, wenn er aus dem Schilf auftauchte. Doch das wußte Freund Alkohol zu verhindern. Der floß nämlich in großen Mengen und so waren sowohl das Seh-, als auch das Reaktionsvermögen der Aufseher stark eingeschränkt, was Nathu natürlich sehr zugute kam. Es gelang ihm tatsächlich, unentdeckt bis zum Lastwagen zu kommen. Dort kroch er zur Beifahrertür hin, damit man ihn nicht sehen konnte. Die Tür war offen und er stieg ein. Auf einmal fiel ihm ein, daß er ja ohne Schlüssel nicht fahren konnte. Überglücklich stellte Nathu fest, daß der Schüssel steckte. Er schloß die Tür des Beifahrersitzes noch nicht, weil er befürchtete, durch den Knall die Aufseher auf sich aufmerksam zu machen. Jene vergnügten sich im Wasser und mit alkoholischen Getränken und hatten keine Lust, einen Blick auf den alten Lastwagen zu werfen, weil ja nicht davon auszugehen war, daß aus dem plötzlich eine wunderschöne nackte Frau stieg. Darum gelang es Nathu, auf den Führersitz zu kommen, ohne von den Männern gesehen zu werden. Auf einmal hatte er eine Idee. Er schob den Sitz zurück und setzte sich auf den Boden, so daß man ihn nicht sehen konnte. Dann ließ er den Wagen an, löste die Kupplung und drückte aufs Gas. Das ging alles so schnell vor sich, daß es die Aufseher erst mitbekamen, als der Lastwagen bereits rollte. Natürlich sahen sie nur die rollende Maschine, nicht aber den dafür verantwortlichen Jungen, der laut auflachte, als er sich die dummen Gesichter der Aufseher vorstellte. Als er sich sicher war, daß sie ihn nicht mehr sehen konnten, stand er auf, schob den Sitz nach vorne und setzte sich. In seinem Rückspiegel entdeckte er zwei Männer, die ihm folgten. Sie wurden immer kleiner, so daß sich Nathu nicht weiter aufregte. Plötzlich sah er seine vier Freunde aus dem Gebüsch springen. Sofort drückte er auf die Bremse. Geschwind sprangen die vier auf den rollenden Lastwagen auf und als sich Nathu sicher war, daß alle auf der Ladefläche waren, gab er wieder Gas. Während er überglücklich im Führerhaus saß, hatten die vier Anderen einen großen Schrecken zu verdauen. Da lag ein Aufseher schlafend auf der Ladefläche und begann langsam aufzuwachen. „Schnell! Helft mir! Wir müssen ihn runterschmeißen!“ erkannte Shankar, der die Situation als Erster erfaßte. Aber es war schon zu spät. Der Mann wachte auf und zog eine Pistole. „Sofort stehenbleiben!“ brüllte er nach vorne, aber Nathu dachte gar nicht daran. Inzwischen hatten die anderen Aufseher die Verfolgung aufgegeben. Bei ihnen war die Laune natürlich auf dem Tiefpunkt angelangt. Sofort einigten sie sich darauf, dem Chef auf keinen Fall zu sagen, daß sie übertölpelt worden waren. „Wir erzählen ihm, daß die alte Kiste nicht mehr fährt und daß wir sie deshalb versteckt haben“, stellte ein Aufseher klar und die anderen nickten. Währenddessen hatte Nathu angehalten, weil er seinen Freunden die Chance geben wollte, zu ihm ins Führerhaus zu kommen. „Na, wie habe ich das gemacht?“ begehrte er freudestrahlend zu erfahren, als er plötzlich den bewaffneten Aufseher erblickte und fürchterlich erschrak. „Ganz hervorragend hast Du das gemacht, Freundchen! So und jetzt wirst Du uns alle schön wieder zurückfahren“, befahl der Aufseher mit scharfer Stimme. Schnell erfaßte Nathu die Situation. Er wechselte kurz einen Blick mit Shankar, nickte und lief dann davon. Damit hatte der Aufseher nicht gerechnet. „Hiergeblieben! Sonst schieße ich!“ donnerte er und setzte zum Schuß an. Nathu blieb stehen. Inzwischen waren die vier Anderen im Rücken des Aufsehers. Jener beschäftigte sich für wenige Sekunden nur mit dem fast Geflohenen und das wurde ihm zum Verhängnis. Shankar schlich sich von hinten an ihn heran und schlug ihm mit der Faust auf den Kopf. Der Aufseher ging zu Boden und Raja schnappte sich seine Pistole. Sofort kehrte Nathu zum Lastwagen zurück und ließ ihn an. Doch der Aufseher kam sehr schnell zu sich, schnappte sich Indira und setzte ihr ein Messer an die Kehle. „Her mit der Waffe!“ rief er. Raja zögerte. Auch Shankar hatte nicht mit so einer Wende gerechnet. Sie waren alle schon auf dem Weg in den Lastwagen gewesen und jetzt das! Plötzlich holte Indira mit ihrem Ellbogen aus und rammte ihn dem Mann voll in den Magen. Während sich der vor Schmerzen krümmte, gelang es ihnen allen, in den Lastwagen zu steigen und damit loszufahren. Jetzt waren sie frei. Zumindest für ein paar weitere Stunden. „Du meine Güte! Vor Dir muß man ja richtig Angst haben“, meinte Shankar zu Indira. „Nur meine Feinde“, entgegnete sie lächelnd. Fröhliches Gelächter erscholl. Man hatte die Häscher abschütteln und ihnen auch noch ihre beste Waffe entreißen können. Es sah nun wirklich gut aus und deshalb war die Stimmung hervorragend.

„Nathu, Du bist der Beste“, lobte ihn Daya. „Nicht übertreiben. Das verdanken wir alles nur unseren Sklavenhaltern“, widersprach der. Verwundert schauten ihn die vier Anderen an. „Na ja, wenn die mir nicht gezeigt hätten, wie man den Lastwagen fährt, dann würden wir jetzt immer noch zu Fuß rumgurken.“ Da lachten sie. Aber auf einmal fiel Raja etwas ein. „Leute, das mit dem Lastwagen ist gut und schön, aber das kann uns noch zum Verhängnis werden“, behauptete er. „Was meinst Du damit?“ wunderte sich Indira. „Die wissen die Nummer und wenn sie ihn finden, dann finden sie auch uns.“ „Stimmt. Daran hätte ich jetzt nicht gedacht.“ „Raja hat Recht. Wir müssen den Lastwagen früher oder später stehen lassen“, bemerkte Shankar. „Lieber später“, ließ Daya verlauten, die froh war, nicht mehr laufen zu müssen. „Laßt mich mal kurz zusammenfassen: Wir sind höchstens noch 50 Kilometer von Neu Delhi weg und es wird bis abends dauern, bis die Aufseher in der Fabrik ankommen“, erläuterte Nathu. „Außer wenn sie jemand mitnimmt“, fügte Raja hinzu. „Jetzt hör aber auf. Vor solchen Gestalten laufen die Leute davon. Die nimmt niemand mit“, lästerte Shankar und sorgte damit für Stimmung. Plötzlich sah Nathu einen Schatten, der Sekunden später verschwunden war. Er hielt an. „Was hast Du vor?“ wunderte sich Shankar. „Da ist gerade jemand in die Höhle hinein“, antwortete Nathu. „Na und? Was geht uns das an?“ „Viel. Entweder sind das Freunde oder Feinde.“ „Scheißegal. Fahr weiter!“ „Nein, ich seh mir das jetzt mal genauer an“, gab Nathu von sich, hielt an und stand auf. Er verließ den Wagen und da er der Einzige von ihnen war, der ihn fahren konnte, stiegen auch die anderen Vier aus, um ihm zu folgen. Nathu ging in eine Höhle hinein, in der er das Lebewesen vermutete. „Hab keine Angst! Wir tun Dir nichts!“ rief er in die Dunkelheit. „Verschwindet!“ brüllte jemand aus dem Inneren der Höhle. „Wir sind Freunde!“ „Das sagen sie alle.“ „Wir sind unbewaffnet und kommen in friedlicher Absicht!“ „Dann schafft erst mal Euren Lastwagen weg! Es muß ja nicht sein, daß man uns hier findet“, mahnte die Stimme. Shankar hatte inzwischen gemerkt, daß es sich bei dem Antwortgeber um einen Jungen in ihrem Alter handeln mußte. Darum erteilte er Nathu folgenden Auftrag: „Fahr den Lastwagen ein paar Kilometer weg, verstecke ihn ein wenig und komm dann zurück!“ „Ich komme mit“, stellte Daya klar und dagegen hatte Nathu nun wirklich überhaupt nichts. Während er sich mit Daya daran machte, den Lastwagen in ein sicheres Versteck zu bringen, setzte Shankar die Unterhaltung fort. „Ich bin Shankar und neben mir sind Indira und Raja. Wir sind aus einer Kinderfabrik geflohen.“ Als die „Höhlenbewohner“ jene Worte vernommen hatten, fühlten sie sich sicher. Wenige Augenblicke später standen sechs junge Menschen vor den drei Neuankömmlingen. „Dann seid Ihr so wie wir. Ich bin Bharat, das ist Sardar, das ist Parwez, das ist Tejbin und das sind Hirabai und Sonia“, stellte Bharat sich und seine Leute vor. „Später kommen noch Nathu und Daya. Die bringen nur den Lastwagen weg“, erzählte Shankar. „Wie kommt Ihr eigentlich an einen Lastwagen?“ wollte Tejbin wissen. Da erzählte ihm Shankar die ganze Geschichte und seine Zuhörer begannen zu lachen. „Das ist ja ein starkes Stück. Da seid Ihr ja in kurzer Zeit verdammt weit gekommen“, stellte Sardar fest. „Und was ist mit Euch?“ fragte Indira. „Ja, das ist eine etwas längere Geschichte. Aber ich denke, daß Ihr ein bißchen Zeit habt und darum will ich sie Euch erzählen“, begann Parwez, um dann fortzufahren: „Wir kommen aus einer Kinderfabrik in der Nähe von Moradabad. Dort haben wir es nicht mehr ausgehalten. Die hatten tatsächlich vor uns zu zwingen, von früh sechs Uhr bis zehn Uhr abends zu arbeiten und wollten uns nicht mal mehr zahlen. Wir hatten eh schon lange vor zu fliehen und darum waren wir dann umso entschlossener. Das Problem war, daß man uns in der Nacht immer einsperrte, so daß wir eigentlich keine Fluchtmöglichkeit hatten. Um das zu umgehen, sagten wir sechs, wir wollten gleich mal bis zehn Uhr arbeiten um zu sehen, wie das ist. Der Chef und seine Aufseher hatten natürlich nichts dagegen, so daß wir weitermachen konnten. Zur Belohnung für unseren Fleiß durften wir dann kurz nach zehn Uhr raus und ein bißchen was rauchen. Natürlich waren zwei Aufseher dabei, die uns nicht aus den Augen ließen. Auf einmal fuhren Hirabai und Tejbin wie vom Blitz getroffen zusammen und gingen zu Boden. Das war zwar alles nur gespielt, aber das wußten die Aufseher natürlich nicht. Normalerweise hätten sie ja auf die Beiden eingeprügelt, doch nachdem wir so fleißig gewesen waren, wollten sie uns natürlich am Leben erhalten. Sie beugten sich zu den scheinbar Verletzten hinunter und da bekamen sie von uns ein paar Hiebe, bis sie bewußtlos waren. Na gut, wir haben sie auch ein wenig gewürgt, weil diese Typen ja verdammt zäh sind. Jedenfalls haben wir sie geknebelt und gefesselt und sie an einen Platz gebracht, wo man sie nicht so leicht finden würde. Das ging, weil sie bewußtlos waren. Dann machten wir uns aus dem Staub. Die anderen Aufseher saßen drinnen im Büro vom Chef und forderten derweil höhere Löhne, weil sie uns nach der geplanten Arbeitszeitverlängerung ja länger mißhandeln mußten. Das alles geschah vor fast zwei Wochen. Und jetzt sind wir hier, ganz nahe an unserem Ziel.“ „Sagt mal, wieso habt Ihr so lange gebraucht? Ich meine, Ihr konntet doch den ganzen Tag marschieren“, äußerte sich Raja ein wenig erstaunt. „Hast Du eine Ahnung! Wir sind nur in der Nacht gelaufen und da auch nur ein paar Stunden. Dann haben wir uns einen sicheren Unterschlupf gesucht. Am Tag ist das alles viel zu gefährlich. Da treiben sich so viele fiese Typen herum, daß es besser ist, wenn man sich versteckt hält. Solche Bosse einer Kinderfabrik haben überall ihre Leute. Lieber brauchen wir etwas länger und kommen sicher ans Ziel als umgekehrt“, trug Bharat vor. Seine Mitstreiter nickten. „Was haltet Ihr davon, wenn wir uns zusammenschließen?“ erkundigte sich Shankar, der von der Einstellung seiner neuen Bekannten sehr angetan war. „Nichts dagegen. Je mehr zu uns gehören, desto stärker sind wir“, ließ Tejbin von sich hören.

Währenddessen hatten Nathu und Daya den Lastwagen sicher versteckt. Ungefähr zweieinhalb Kilometer von der Höhle entfernt hatten sie ihn in einem Wald untergebracht und dort mit Zweigen Blättern und Ästen bedeckt. Nathu hatte das Nummernschild abgeschraubt und im Erdboden vergraben. Ein paar Sachen hatte er aus dem Lastwagen mitgenommen und in eine Tüte geworfen, die er nun mit sich trug. „Weißt Du, wie wir gehen müssen, um wieder zur Höhle zu kommen?“ fragte Daya ein wenig ängstlich, weil sie sich nicht so sicher war, daß sie den Weg finden würde. „Na klar. Bleib einfach bei mir, dann kann Dir nichts passieren“, antwortete Nathu. „Das mach ich. Du sag mal, was machen wir dann in Neu Delhi?“ „Gute Frage. Ich weiß es auch nicht so genau. Erst einmal ist es wichtig, daß wir nicht gefunden und zurückgebracht werden.“ „Stimmt. Aber glaubst Du wirklich, daß uns so etwas Schreckliches passieren könnte?“ „Wer weiß? Auf dieser Welt kann man sich auf nichts verlassen. Ich bin gespannt, ob die Anderen mit denen in der Höhle schon Freundschaft geschlossen haben.“ „Hoffentlich. Nicht, daß das auch solche Leute sind, die uns an Menschenhändler verkaufen.“ „Ach was! Shankar ist nicht dumm. Der merkt schon, wenn da etwas faul ist.“ „Du mußt es wissen. Nathu, ich habe Angst. Ich meine, in der Fabrik war es schon fürchterlich, aber jetzt sind wir in der Freiheit und sind doch nicht frei.“ „Wie meinst Du das?“ „Es gibt immer etwas, das wir brauchen. Ob das Wasser ist oder Nahrung, ganz egal. Dann noch einen Platz zum Schlafen. Es wird nie sein, daß wir einfach so leben können, ohne etwas zu benötigen.“ „So ist das halt mal auf dieser Welt. Damit mußten schon Milliarden Menschen vor uns fertig werden. Wir sollten froh sein, daß wir endlich aus dieser Fabrik weg sind, die uns unsere ganze Kindheit und Jugend geraubt hat.“ „Das ist wahr. Aber wir werden unser ganzes Leben lang Angst haben müssen, wieder an so einen Ort zu kommen.“ „Normal schon. Und genau deshalb ist es wichtig, daß Du lernst zu vergessen. Das wird am Anfang nicht so leicht und so schnell gehen, aber wenn Du es erst mal geschafft hast, dann ist das alles kein Problem mehr. Versuche, die Vergangenheit zu vergessen!“

Auch in der Höhle hatte man die Vergangenheit inzwischen abgehakt und widmete sich lieber der bevorstehenden Zukunft. „Es wird nicht leicht werden in Neu Delhi zu überleben“, vermutete Sardar. „Lieber in Freiheit sterben, als in Knechtschaft leben“, entgegnete Indira. Hochachtungsvoll blickten die Anderen auf sie. „Das waren weise Worte“, bemerkte Bharat. Shankar spürte, daß man einen Plan brauchte, um in Zukunft bestehen zu können. „Wir werden uns also heute Nacht auf den Weg machen. Vielleicht schaffen wir es sogar, bis nach Neu Delhi zu kommen. Wenn nicht, dann ist das auch nicht weiter schlimm. Ich muß jetzt einen Vorschlag machen, der verdammt blöd klingt, aber ich halte ihn trotzdem für richtig. Wir sollten in Neu Delhi unser Aussehen verändern“, schlug er vor. „Wozu soll das gut sein? Bei Deinem Gesicht verstehe ich es ja, aber bei uns“, scherzte Tejbin. Alle lachten, auch Shankar. „Nicht schlecht. Um Dich brauchen wir uns keine Sorgen machen, Du wirst problemlos beim Fernsehen unterkommen. Ihr wißt doch, daß der Fabrikchef unsere Ausweise hat. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, daß die davon ausgehen, daß wir nach Neu Delhi geflohen sind. Darum werden sie dort sicherlich Steckbriefe aushängen und vielleicht persönlich nach uns suchen. Deswegen sollten wir unser Aussehen verändern, damit sie uns nicht mehr erkennen“, erläuterte Shankar. Die Anderen nickten zustimmend. „Soll ich mir etwa eine Brust abnehmen lassen?“ spottete Indira. „Nein, aber so eine Einäugige wäre nicht schlecht“, erwähnte Shankar grinsend. „Oder wäre es vielleicht doch besser, nicht nach Neu Delhi zu gehen?“ überlegte Bharat laut. „Quatsch! Natürlich müssen wir dorthin. Oder willst Du Dein Leben lang in so einem Höhlenloch vegetieren?“ fragte Shankar provozierend. „Besser als die Fabrik ist es allemal.“ „Das ist unbestritten. Aber nur in Neu Delhi haben wir eine Überlebenschance auf längere Sicht hin. Im ganzen Land geht es den Menschen schlecht. Aber in Neu Delhi geht es den Menschen nicht ganz so schlecht. Zwar nicht gut, aber immerhin besser als an allen anderen Orten in Indien.“ „Schon klar. Weil in Neu Delhi die reichsten und mächtigsten Leute des Landes sitzen und, wenn sie gut gelaunt sind, auch mal für die Bettler was springen lassen.“ Interessiert hörten die Anderen dem Dialog von Shankar und Bharat zu. „So ist es, Bharat. Ich weiß nur noch nicht, wie wir unseren Lebensunterhalt bestreiten können. Jedenfalls denke ich, daß ich Euch überzeugt habe, daß wir zunächst unser Aussehen verändern sollten.“ Alle nickten. Es war nicht hell in der Höhle, aber man konnte sich ziemlich gut sehen. „Wieso können wir nicht hier schon unser Ausehen verändern?“ forschte Parwez. „Ganz einfach: Weil uns die Sachen, die man dazu braucht, fehlen“, antwortete Raja. Auf einmal hörten sie vor der Höhle ein Geräusch. Sofort zogen sie sich in das Innere zurück. „Bleibt da, Leute! Wir sind’s!“ rief Nathu und natürlich erkannten sie ihn an seiner Stimme wieder. Man stellte sich gegenseitig vor und dann leerte Nathu die Tüte. „Was hast Du denn da mitgebracht?“ wunderte sich Sonia, die bisher noch fast nichts gesagt hatte. „Ein paar Sachen aus dem Lastwagen, die wir vielleicht brauchen können“, berichtete Nathu. „Cool. Ein Rasierapparat, ein paar Sonnenbrillen, eine Schere und was zu saufen und fressen. Nathu, Du bist ein Genie“, lobte ihn Sardar. Man begab sich in die Nähe des Eingangs, wo es mehr Licht gab. Dort begannen die flüchtigen Jugendlichen dann damit, sich zu verwandeln. Während Shankar und Nathu keine wesentlichen Änderungen an sich vornahmen, sondern beschlossen, sich einen Bart wachsen zu lassen, schnitten sich die Anderen ihre Haare. „Wenn wir jetzt noch Haarfarbe hätten, dann wäre es noch besser“, glaubte Hirabai. „Man kann nicht alles haben. Aber schaut mal in die Tüte. Ich glaube, da ist noch was für Euch“, mutmaßte Nathu. Sekunden später kamen sie mit Perücken auf dem Kopf zurück. „Wer hätte gedacht, daß männliche Aufseher Frauenperücken mit sich tragen?“ wunderte sich Indira, die man fast nicht wiedererkannte. „Tja, vielleicht wollen sie sich so an Lesben ranmachen“, mutmaßte Raja lachend. „Da bräuchten sie aber noch zwei ausgestopfte Gummibällchen“, fügte Tejbin hinzu. „Na ja, ein paar Tennisbälle habe ich auch gefunden und mitgenommen“, erinnerte sich Nathu.

Da waren nun also elf Jugendliche, die aus zwei Kinderfabriken geflohen waren, in einer Höhle zusammengetroffen und hatten sich entschieden, fortan einen gemeinsamen Weg zu gehen. Sie alle waren glücklich darüber, weil sie sich in einer größeren Gruppe doch stärker und sicherer fühlten. Und das war sehr wichtig in jener Zeit, in der Kinder verschleppt und zur Arbeit in Fabriken gezwungen wurden. Es wurde dunkel, aber erst als tiefste Nacht herrschte, machten sie sich auf den Weg. Schon recht schnell merkten Bharat, Sardar, Parwez, Tejbin, Sonia und Hirabai, daß Nathu einen stark ausgeprägten Orientierungssinn hatte, auf den man sich voll verlassen konnte. Als sie Durst hatten, führte er sie an den Fluß, als ein paar Autos zu hören waren, brachte er sie in Sicherheit und als sie am nächsten Morgen ein neues Versteck brauchten, fand er eines in kürzester Zeit. „Sag mal, warst Du schon mal hier gewesen?“ erkundigte sich Bharat bei Nathu. „Nein. Wieso?“ „Du läufst hier herum, als würdest Du diese Gegend wie Deine Westentasche kennen.“ „Das ist doch nicht schwer. Paß auf! Hörst Du den Vogel dort?“ „Ja. Was ist mit ihm?“ „Der verrät mir, daß hier in der Nähe ein Baum ist. Und wo ein Baum ist, da ist meistens auch ein Wald. Und in einem Wald kann man sich hervorragend verstecken.“ „Hört sich einfach an.“ „Ist es auch. Ich schlage vor, daß immer zwei von uns Wache halten, während sich die anderen Neun ausschlafen können.“ Damit waren alle einverstanden und so schliefen sie mitten im tiefen Wald, während zunächst Shankar und Nathu die Wache übernahmen. „Was meinst Du, Nathu? Wie weit ist es noch bis Neu Delhi?“ fragte Shankar. „Nicht mehr weit. Morgen sind wir da.“ „Hey, Dir wächst ja schon ein Bart.“ „Das ist auch gut so. Ich habe keine Lust an meinen kurzen Haaren erkannt zu werden.“ „Ich lasse meine jetzt wachsen. Einmal zur Sicherheit und weil es besser aussieht.“ „Hat das etwa Indira gesagt?“ „Wie kommst Du denn darauf?“ „Na komm, das sieht doch ein Blinder, daß es zwischen Euch gefunkt hat.“ „Findest Du?“ „Aber sicher. Ihr seid auch ein schönes Paar.“ „Erst einmal müssen wir in absoluter Sicherheit sein. Dann kann ich mich damit befassen.“ „Oh Shankar, dann wird es nie was mit Euch. Die absolute Sicherheit wird es für uns wohl nie geben. Es sei denn, Du kannst Dir fünf Leibwächter leisten.“ „Na klar, ich habe ja hier zehn zur Auswahl.“ Beide lachten. Sie waren gute Freunde und sie kannten sich gut. Doch die gemeinsame, bisher geglückte Flucht, schweißte sie mehr als alles Andere zusammen. Man war voneinander abhängig und man mußte einander vertrauen. „Du, Shankar, was machen wir in Neu Delhi?“ „Frag nicht solche Sachen. Wir werden schon etwas finden.“ „Sicher?“ „Ich denke schon. Sei optimistisch. Was haben wir zu verlieren?“ „Nichts. Weil wir nichts haben.“ „Siehst Du? Das ist die richtige Einstellung.“ „Ich bin froh, wenn ich in Neu Delhi bin. Hier ist es scheiße, weil man sich den ganzen Tag verstecken muß.“ „Das ist wahr. Mir wäre es auch lieber, in der Natur herumzulaufen, aber wir wissen ja Beide, wie schlecht Menschen sind.“ „Du sagst es. Aber diese Menschen wird es auch in der Hauptstadt geben.“ „Gewiß. Aber dort sind wir trotzdem sicherer. Vor allem wenn wir in der Gruppe zusammen bleiben.“ „Was hältst Du eigentlich von den sechs Anderen?“ „Die sind voll in Ordnung. Uns verbindet die Flucht. Wir haben alle schreckliche Erfahrungen gemacht und das hält zusammen. Hoffe ich zumindest.“ „Die Typen sind wirklich in Ordnung. Na gut, ich wäre schon gerne mit dem Lastwagen weiter gefahren, aber ...“ „Du hast doch angehalten.“ „Schon. Ich mußte einfach wissen, wer dieser Schatten ist. Sonst hätte ich mich nicht sicher gefühlt. Außerdem hätte man uns mit dem Lastwagen viel leichter gefunden und erkannt. Da hätte es auch nichts geholfen, wenn wir unser Aussehen verändert hätten.“ „Es war schon richtig, was wir gemacht haben. Sonst wären wir wohl jetzt schon im Knast wegen Diebstahls eines Lastwagens. Du kennst ja unsere tollen Gesetze.“

Während sie sich unterhielten merkten sie nicht, daß noch nicht alle Anderen schliefen. Es war halt einfach nicht so leicht, ruhig zu schlafen, wenn man sich auf der Flucht befand. Trotzdem mischte sich niemand in Shankars und Nathus Gespräch ein. „Aber wo schlafen wir in Neu Delhi?“ wollte Nathu wissen. „Neu Delhi ist groß. Da wird auch für uns ein Fleckchen dabei sein“, erwähnte Shankar. „Schon. Aber auf die Dauer ist das halt auch nichts. Von irgendwas müssen wir auch leben. Oder willst Du als Dieb in den Knast?“ „Nein, sicher nicht. Dann würde ich ja früher oder später wieder in eine Fabrik geschickt werden. Es gibt bestimmt irgendeine Sache, die wir gut können. Und genau von der müssen wir leben.“ „Und welche Sache wäre das?“ „Keine Ahnung. Das werden wir schon noch herausfinden.“ „Na hoffentlich. Sonst finden nämlich bald die Würmer nicht mehr aus uns heraus, wenn sie unsere Eingeweide verköstigen.“ „Alter Pessimist. Wir sind frei. Vergiß das nicht.“ „Freiheit kann manchmal auch Tod bedeuten.“ „Sterben müssen wir sowieso irgendwann.“ „Auch wieder wahr.“ „Na ja, gefallen würde sie mir schon.“ „Wovon redest Du?“ „Indira.“ „Sag ich doch. Ihr seid ein Traumpaar.“ „Übertreiben mußt Du auch wieder nicht. Erst einmal müssen wir uns richtig kennenlernen. Wir haben zwar in der selben Fabrik gearbeitet, aber eben nur gearbeitet.“ „Das wird schon. Fang einfach mal mit einem romantischen Abendessen in einem Nobelrestaurant in Neu Delhi an.“ „Du bist ein Spinner. Wer soll denn das zahlen?“ „Was meinst Du, wie froh die Leute sind, wenn sie für das Essen von zwei Verliebten spenden dürfen?“, kalauerte Nathu. Auf einmal hörten sie ein Kichern. „Wer hat denn da seinen Gute-Nacht-Brei nicht aufgegessen?“ wunderte sich Nathu. Kurz darauf stellte sich heraus, daß neben Shankar und Nathu auch noch Indira, Daya, Tejbin und Parwez wach waren. „Leute, wenn das so ist, dann könnt Ihr ja die Wache übernehmen. Ich brauche nämlich meinen Schlaf“, erklärte Shankar, dem es ein wenig peinlich war, daß Indira mitgehört hatte. Während er und Nathu sich aufs Ohr legten, blieben Daya und Indira wach. Sie wollten gerade zu reden beginnen, als sie in der Nähe Stimmen hörten. „Wacht auf! Wir müssen hier weg!“ flüsterte Indira, aber die Anderen schliefen fest. Da mußte sie zu härteren Methoden greifen. Jeder bekam zwei Schläge ins Gesicht und so wachten alle auf der Stelle auf. „Was ist denn?“ wunderte sich Bharat. „Wir müssen verschwinden! Hört Ihr nicht die Stimmen?“ zischte Indira. „Also ein Guten-Morgen-Kuß wäre mir lieber gewesen“, gestand Nathu und rieb sich das Gesicht. Plötzlich hörten sie laut und deutlich eine Stimme. „Los! Auf ins Dickicht! Dort sind sie bestimmt versteckt!“ Das waren keine Aufseher, sondern Jäger. Doch auch denen konnte man nicht trauen und darum verschwanden die elf Jugendlichen, bevor man sie entdeckte. Wenig später standen sie im Wald herum und wußten nicht so recht wohin. Zwar glaubte Nathu den Weg zu kennen, aber er war sich auch nicht so sicher wie sonst. „Wir brauchen schnell ein gutes Versteck. Am Tag ist es zu gefährlich. Wir könnten zu leicht entdeckt werden“, behauptete Sardar. Doch allzu viele Möglichkeiten gab es da nicht. So blieben sie also im Wald, bis sie dort einen geeigneten Unterschlupf fanden, der groß genug für sie alle war. „Ich habe Hunger“, klagte Hirabai. „Vor Dir liegt leckeres Gras“, teilte ihr Bharat grinsend mit. „Hey, bin ich ein Hase oder was?“ „Wenn Du einen Hasen willst, dann mußt Du Dir schon einen fangen. So wie den da“, machte Tejbin deutlich und zeigte auf einen Meister Lampe, der in geringer Entfernung hoppelte. Raja und Parwez wollten sich aufmachen, um ihn zu fangen, aber Sonia rief sie zurück. „Laßt das arme Tier am Leben! Wir werden es schon noch bis morgen durchhalten.“ Geschwisterlich teilten sie sich das Wasser. Es war zwar kühl im Wald, aber trotzdem hatten sie viel Durst. Deshalb machten sich wenig später Shankar, Daya und Parwez auf die Suche nach einer Quelle, um dort frisches Wasser zu holen und in die Flaschen zu füllen. Es dauerte eine Weile, bis sie endlich fündig wurden. Natürlich nutzten sie die Gelegenheit zu einem kleinen Bad, erfrischten sich und tranken, bis sie genug hatten.

Danach machten sie sich auf den Rückweg, auf dem Daya Shankar zur Seite nahm. „Indira und ich haben gehört, was Du mit Nathu besprochen hast“, begann sie. Er schwieg verlegen. „Sie fühlt genauso wie Du, aber sie will, daß alles nicht so schnell geht.“ „Das ist in Ordnung. Ich würde auf sie Jahre warten.“ „Na, ganz so lange muß es nicht sein. Gib ihr noch ein paar Tage und dann ist sie soweit.“ „Danke.“ „Schon gut. Vielleicht kannst Du Dich ja revanchieren.“ „Sag was ich tun soll!“ „Könntest Du herausbekommen, ob Nathu an mir interessiert ist?“ „Ich kann es versuchen, aber ich kann Dir nichts versprechen. Weißt Du, Nathu ist ein ganz besonderer Kerl. Bei dem weiß man nicht ganz so genau, ob er immer das denkt, was er sagt. Ich werde ihn mal fragen.“ „Aber nicht so direkt. Das klingt nämlich sonst aufdringlich.“ „Schon klar. Nein, nur so ganz nebenbei. Jedoch wirst Du Dich ein paar Stunden gedulden müssen.“ „Es eilt nicht. Liebe hat und Liebe gibt Zeit.“ „Ein schöner Satz.“ „Oh ja.“ Einige Minuten später kehrten die Drei mit frisch gefüllten Wasserflaschen zum Versteck zurück. „Irgendwie komme ich mir blöd vor. Da scheint die Sonne und wir müssen uns verstecken“, jammerte Sardar. „Vergiß nicht, daß wir früher auch nichts von den Tagen gehabt haben. Früh aufstehen, bis abends arbeiten und dann schlafen. Jetzt sind wir wenigstens frei“, warf Hirabai ein. „Stimmt. Aber wir sollten nicht zu euphorisch sein. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, daß uns die einfach so laufen lassen“, gestand Bharat. „Also ich an Deiner Stelle wäre vollkommen beruhigt. Ihr seid ja doch schon einige Zeit auf der Flucht. Bei uns Fünfen ist es gefährlicher. Wir sind nämlich noch nicht lange fort“, entgegnete Raja. „Aber durch das, daß Ihr Euren Jägern ihr Gefährt geklaut habt, habt Ihr Eure Chancen unentdeckt zu bleiben, um Einiges vergrößert“, glaubte Sardar. Damit hatte er natürlich Recht und dennoch fühlten sich die elf Flüchtigen keineswegs sicher. Vor allem solange es noch Tag war. Man hatte keinen großen Bewegungsfreiraum, weil man nicht entdeckt werden wollte und so setzte man sich zusammen und unterhielt sich über die Dinge, die man bisher so erlebt hatte. „Diese Aufseher sind keine Menschen, das sind Tiere. Einmal ist eine von uns umgefallen, weil sie total erschöpft war. Da haben zwei Aufseher auf sie eingeprügelt, bis sie wieder aufstand. Zwei Minuten später lag sie wieder da. „Die taugt nichts mehr“, hat ein Aufseher gesagt und dann haben sie sie draußen auf die Müllhalde geworfen. Dort haben sie das Mädchen angezündet und sie ist bei lebendigem Leibe verbrannt“, erzählte Tejbin. „Diese Aufseher hätten den Schlimmsten aller Tode verdient. Sie stehen nur daneben, schauen uns zu wenn wir uns abplagen und sobald wir eine Sekunde ausruhen, schlagen sie mit ihren Peitschen zu. Was glaubt Ihr wie gerne ich ihnen diese Peitsche abgenommen und damit auf sie eingeprügelt hätte“, lauteten Shankars Worte. „Da bist Du nicht allein. Irgendwie ist das schon frustrierend, wenn wir auf unser Leben zurückblicken. Nur Arbeit, sonst überhaupt nichts. Schlechte Bezahlung, wenig zu essen und überhaupt keine Freizeit. Nie wieder in eine Fabrik“, stellte Bharat klar. Alle Anderen nickten. Sie waren fest entschlossen, sich nie wieder demütigen zu lassen. „Ich bin müde. Irgendwer wird schon wach bleiben und aufpassen“, hoffte Sonia und schloß ihre Augen. Indira hatte inzwischen ihre Perücke in die Tüte zurückgelegt. „Gefällt sie Dir nicht?“ wunderte sich Shankar. „Ich sehe blöd damit aus“, antwortete sie. „Woher willst Du das wissen? Du hast doch gar keinen Spiegel.“ „So etwas spürt man.“ „Und Frau.“ „Genau.“ „Aber so wird man Dich problemlos wiedererkennen. Die paar Zentimeter Haare, die Du Dir abgeschnitten hast, die machen da überhaupt keinen Unterschied.“ „Wenn wir in Neu Delhi sind, dann werde ich mir die Haare färben.“ „Aber bitte nicht rot.“ „Warum denn nicht?“ „Dann habe ich Angst vor Dir.“ „Also am besten rot.“ Beide lachten. Sie lächelten sich an und doch wollten sie Beide noch warten. „Ich würde zu gerne wissen, ob unsere Jäger schon wieder in der Fabrik sind“, gab Nathu zu. „Aber sicherlich. Die werden schon wieder auf der Jagd nach uns sein“, vermutete Raja.

Jedoch irrte er sich mit jener Einschätzung gewaltig. Die Aufseher hatten sich mit ihrer Rückkehr zur Fabrik unglaublich viel Zeit gelassen. Sie dachten, sie würden so den Zorn des Chefs dämpfen können. Eben erst, als Raja an sie gedacht hatte, standen sie vor ihrem Boß. Einer der Aufseher erzählte: „Wir waren ihnen dicht auf den Fersen. Sie hatten vielleicht noch einen Vorsprung von einer Stunde. Da auf einmal ist dieser verdammte Lastwagen abgefreckt. Ich habe schon oft gesagt, daß wir einen neuen brauchen, aber auf mich hat ja noch nie jemand gehört. Jedenfalls sprang das Ding nicht mehr an und so mußten wir zu Fuß weiter. Dieses Handicap hat dafür gesorgt, daß sie entkommen konnten.“ Lange Zeit sagte der Fabrikchef nichts. Es schien, als würde er nachdenken. Dann fragte er: „Und wo ist der Lastwagen jetzt?“ Da wurde der Aufseher, der gesprochen hatte, rot. Was sollte er nun sagen? „Wir haben ihn zu einem Schrottplatz abschleppen lassen. Dort ist er gleich verschrottet worden“, berichtete er frech und seine Kollegen nickten beflissen. „Das glaube ich Euch nicht.“ Jene Worte ihres Chefs stürzten sie in Verlegenheit. Doch die ließ sich der Redner nicht anmerken. „Sie müssen uns glauben. Es ist die Wahrheit“, bekräftigte er energisch. Da zog sein Boß eine Peitsche hervor. „In diesem Teil steckt die Wahrheit. Wenn Ihr sie mir jetzt nicht auf der Stelle sagt, dann bekommt Ihr so eine Tracht Prügel, daß Ihr glaubt, Ihr würdet zu den arbeitenden Kindern hier gehören“, drohte er. Irgendwie war es schon komisch mit anzusehen. Da stand ein kleiner Mann mit einer Peitsche vor 20 weitaus größeren und stärkeren Männern und doch gelang es ihm, sie dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen. „Also gut, also gut. Wir sind mit dem Lastwagen gefahren und haben Spuren entdeckt. Da sind wir ausgestiegen, um ihnen zu folgen. Auf einmal begann der Lastwagen davonzufahren. Den Rest mußt Du Dir von ihm erzählen lassen. Der war als Einziger länger dabei“, berichtete einer der Aufseher und deutete auf den Kollegen, der die Flüchtlinge fast zurückgebracht hätte. „Ich untersuchte gerade die Ladefläche des Lastwagens, als der losfuhr. Auf einmal sprangen ein paar Jugendliche auf. Es waren vier der Flüchtlinge, der Fünfte fuhr den Wagen. Ich zwang ihn anzuhalten und auszusteigen. Er stieg aus und lief davon. Ich lud meine Waffe und da blieb er stehen. Auf einmal bekam ich einen Schlag auf den Kopf und ging zu Boden. Doch als sie in den Lastwagen wollten, da packte ich den Stärksten von ihnen und hielt ihm ein Messer an den Kopf.“ „Was war mit Deiner Pistole?“ unterbrach ihn der Chef. „Die hatten sie mir ja weggenommen. Ich hielt dem also das Messer an den Kopf, doch plötzlich schlug mir der seinen Ellbogen in den Magen und ich fiel zu Boden. Dann verschwanden sie“, beendete der Mann seine Geschichte. „Ihr hirnlosen Idioten! Laßt Euch einfach den guten Lastwagen stehlen! Das wird von Eurem Gehalt abgezogen“, machte der Chef wütend deutlich. Verärgert schauten sich die Männer an. „Was glotzt Ihr denn so? Besorgt Euch einen neuen Lastwagen und macht Euch auf die Suche nach dem alten. Und laßt Euch nicht wieder übertölpeln!“ rief er. „Das macht doch keinen Sinn. Den alten Lastwagen können wir doch eh wegschmeißen. Außerdem sind die Flüchtigen alle schon fast 18 Jahre alt. Die hätten wir eh nicht mehr lange hier gehabt“, argumentierte einer der Aufseher, der sich eine Menge Arbeit sparen wollte. Etwas erstaunt schaute sein Chef ihn an. „Na ja, vielleicht ist die Idee gar nicht so dumm. Zwei von Euch kaufen morgen einen gebrauchten Lastwagen und der Rest bleibt hier. Nicht, daß die Kleinen einen Aufstand wagen“, meinte er spöttisch und seine Untergebenen lachten. „Haltet die Schnauze! Ich werde Euch den Arbeitsverlust anrechnen!“ versicherte er. „Aber wenn wir morgen ausreichenden Ersatz besorgen, dann nicht, oder?“ wollte ein Aufseher wissen. „Nicht morgen, heute. Wenn Ihr heute sechs neue Arbeiter herbringt, dann bekommt Ihr Euer Geld“, versprach der Chef. Da machten sich die Kinderfänger sofort auf den Weg. Das alles bedeutete, daß die Flüchtigen nichts mehr zu befürchten hatten. Doch sie wußten nichts von ihrem Glück und blieben deswegen sehr vorsichtig.

Ihnen wurde es mit der Zeit in ihrem Versteck langweilig und deshalb suchten sie sich eine Beschäftigung. Parwez zog sein Hemd aus und verknotete es, so daß daraus so etwas Ähnliches wie ein Ball wurde. Dann suchten sie sich jeweils zwei auseinander stehende Bäume aus, die sie zu ihren Toren umfunktionierten. Wenig später ging es los. Shankar, Raja, Nathu, Indira und Daya gegen Parwez, Bharat, Sardar, Tejbin und Hirabai. Sonia spielte nicht mit, sondern machte die Schiedsrichterin. Am Anfang war es ein fürchterliches Gestochere. Meistens trafen sie den Gegenspieler oder traten neben den „Ball“. Doch nach einiger Zeit zeigte sich, daß sie durchaus zu spielen verstanden. Mittlerweile war Nathu aufgefallen, daß es unsinnig war, daß sich alle auf den „Ball“ stürzten und darum verteilte er seine Mitspieler geschickt. Das machte die gegnerische Mannschaft auch und so entstand schon bald ein richtig schönes Spiel. Mit der Zeit bekamen alle Mitspieler den „Ball“ immer besser unter Kontrolle, so daß es wirklich ein Vergnügen war, ihnen zuzuschauen. Irgendwann hörten sie mit dem Zählen der Tore auf und spielten nur noch aus Spaß. Man versuchte etliche Tricks und es machte ihnen riesig Freude. Nach drei kurzweiligen Stunden saßen sie alle völlig erschöpft im Gras. „Ich hätte nie gedacht, daß das so schön sein kann“, gab Raja zu. „Es ist absolut geil. Mensch, wenn ich nur früher die Gelegenheit gehabt hätte“, ärgerte sich Shankar. „Noch ist es nicht zu spät. Auch wenn wir schon einige Jahre harter Arbeit auf dem Buckel haben, so sind wir trotzdem noch jung. Zwar kommt das Spiel von den Engländern, aber es muß nicht alles von denen schlecht sein“, fand Tejbin. „Wie hat es Dir gefallen?“ begehrte Shankar von Indira zu erfahren. „Es war schön“, antwortete sie. „Mehr nicht?“ „Es ist halt doch ein Männersport.“ „Ach was! Ihr könnt doch auch gut spielen.“ „Schon. Aber es gibt halt keine gemischten Mannschaften.“ „Das ist wahr. Aber zusammen sind wir genau elf. Und das reicht für eine Fußballmannschaft“, stellte Bharat fest. Das Hemd wurde wieder fest verknotet und nach der kurzen Pause ging es weiter. Inzwischen beherrschten sie alle ein wenig die Technik und das Zusammenspiel, so daß teilweise ganz ansehnliche Kombinationen zu sehen waren. Wenn man bedenkt, daß sie sich dabei im Wald befanden, dann war das schon sehr bemerkenswert. „Na gut. Jetzt reicht es. Schlafen wir noch ein wenig, bevor wir uns auf den Weg in die Stadt machen“, schlug Sardar nach weiteren zwei Stunden Fußball vor. Die Anderen nickten. Derweil merkte Shankar, daß Daya unruhige Blicke auf ihn warf. Ach ja! Da hätte er fast etwas vergessen. „Kann ich mal mit Dir reden?“ wollte er von Nathu wissen, der sich über jene Frage ein wenig wunderte. „Was ist denn mit Dir los? Du hast mit mir immer reden können, dann wirst Du das jetzt auch noch schaffen.“ Alle lachten. „Nein, ich meine unter vier Augen.“ „Gut, dann mußt Du Deine Augen zumachen. Ich habe nämlich zwei Hühneraugen, also sind es schon vier.“ „Kannst Du nicht einmal ernst bleiben?“ „Wieso sollte ich? So lebt es sich doch viel schöner.“ Sie zogen sich an einen Ort zurück, wo sie unter sich waren. „Wann kümmerst Du Dich eigentlich um eine Freundin?“ fragte Shankar. „Das hat Zeit. Vielleicht finde ich ja in Neu Delhi die Richtige.“ „Hast Du die etwa noch nicht gefunden?“ „Wie kommst Du denn darauf?“ „Na ja, was hältst Du denn von Daya?“ „Sie ist nett.“ „Ist das alles?“ „Was soll ich denn sonst noch sagen?“ „Das mußt Du wissen.“ „Hör mal, ich habe von der Liebe meine eigenen Vorstellungen. Wenn ich eine Frau treffe, die mir gefällt, ich ihr dann in die Augen schaue und darin das gleiche Feuer sehe, das in meinen Augen brennt, dann ist sie die Richtige.“ „Du bist kompliziert. Wenn Du eine Frau mit Feuer in den Augen haben willst, dann geh zu einer Urnenbeisetzung.“ „Hey Shankar, seit wann bist Du so ein Zyniker?“ „Wer mit Dir so lange zusammen ist und Deine Sprüche hört, der wird das ohne es zu wollen.“ „Daya will was von mir. Stimmt’s?“ „So ist es.“ „Und Du solltest mich fragen, wie ihre Chancen stehen?“ „Genau.“ „Hör zu! Sag ihr, daß ich, ach laß es, nein ich sag’s ihr selber, oh, das kann ich nicht, paß auf: Sag ihr, daß ich Zeit brauche. Viel Zeit. Sie soll sich keine zu großen Hoffnungen machen, weil sie nicht enttäuscht sein soll. Sag ihr, daß ich momentan die Freiheit einer festen Beziehung vorziehe. Das kann sich ändern, muß sich aber nicht ändern.“ „Willst Du ihr das nicht selbst sagen?“ „Das kann ich nicht. Weißt Du, es ist eine blöde Sache, wenn jemand was von Dir will, Du aber nichts von ihr. Da weiß man nie, was man machen soll, weil man ja auch keine Gefühle verletzen will.“ „Seit wann nimmst Du Rücksicht auf die Gefühle Anderer?“ „Jetzt hör mal! Ich war kein Aufseher, sondern ein Arbeiter. Bring da ja nichts durcheinander!“ „Schon gut, Nathu. Ich werde es ihr schonend beibringen.“ „Na hoffentlich.“ Sie gingen zu den Anderen zurück. „Na, habt Ihr ausgemacht, wer wieviel bekommt, wenn Ihr uns alle in Neu Delhi an eine Kinderfabrik verkauft?“ scherzte Bharat. „Nein, das lohnt sich nicht. Ihr seid viel zu faul. Sitzt den ganzen Tag nur rum. Mit Euch kann man kein Geschäft machen“, beklagte sich Nathu, der natürlich gern darauf einstieg.

Erst als die Anderen schliefen, nahm Shankar Daya zur Seite und teilte ihr mit, was Nathu gesagt hatte. „Also wird es nichts mit ihm und mir“, gestand sie sich traurig ein. „Gib nicht auf! Er braucht Zeit. Vielleicht wird es ja Liebe auf den zweiten Blick“, tröstete sie Shankar. Doch auch jene Worte konnten nicht verhindern, daß Tränen über Dayas Gesicht liefen. „Laß uns schlafen! Morgen sind wir in Neu Delhi und da sieht die Welt schon ganz anders aus“, glaubte Shankar, um danach die nächsten beiden Wächter zu wecken. Es war stockfinster, als sie sich alle auf den Weg in die Hauptstadt machten. Sie wußten, daß sie ihrem Ziel Schritt für Schritt näher kamen und deshalb fiel ihnen das Laufen auch nicht weiter schwer. Etliche Stunden später waren sie an den Außenbezirken der riesigen Stadt angelangt. „Wir sind da!“ jubelte Raja. Dort fühlten sie sich nun sicher und geborgen, doch schon bald sollten sie merken, daß der Schein trog. Als sie so durch die Straßen schlenderten, tauchten plötzlich fünf bewaffnete Jugendliche vor ihnen auf. „Halt! Stehenbleiben!“ befahl der Eine, der wohl der Chef war und lud seine Pistole. „Was wollt Ihr von uns?“ erkundigte sich Bharat. „Alles was Ihr habt. Und die vier Tussis laßt Ihr auch hier. Wir brauchen nämlich was für die Nacht“, erklärte der Anführer. „Was bildet Ihr Euch eigentlich ein wer Ihr seid? Ihr glaubt, Ihr könnt da in der Nacht rumlungern und fremde Leute blöd anquatschen!“ rief Shankar, der ziemlich wütend geworden war. „Da schau her! Ein Kläffer! Ich sag Dir eins, Freundchen: Es sind hier schon ein paar Leichen abtransportiert worden.“ „Du willst mir drohen. Du, der ein Kanonenrohr braucht, weil er sonst keins hat“, provozierte ihn Shankar. Seine Begleiter lachten und auch die Leute des Bewaffneten verzogen ihren Mund zu einem Grinsen. „Los, Schlange, gib’s ihm!“ forderte einer von denen seinen Boß auf. Der warf seine Pistole weg und zog ein Messer hervor. „Komm her Du feige Sau!“ brüllte er Shankar an, doch der dachte überhaupt nicht daran. „Du nennst mich eine feige Sau und traust Dich nur mit einem Messer gegen mich kämpfen? Du bist hier die feige Sau.“ „Also gut, dann halt ein Faustkampf.“ „Und keine Tricks. Wenn ich gewinne, dann laßt Ihr uns in Frieden durch und wenn nicht, dann kriegt Ihr was Ihr wollt“, schlug Shankar mit lauter Stimme vor. „Einverstanden.“ Sie gingen aufeinander zu. Shankars Begleiter waren wie gelähmt. Sie konnten nicht glauben, auf was für ein Wagnis sich der Junge eingelassen hatte. Sein Gegenüber war etwa zehn Zentimeter größer und um Einiges stärker als er. Wütend stürmte er auf Shankar zu. Der ging einen Schritt zur Seite, ließ seinen Fuß stehen, so daß der Angreifer darüber flog. Shankars Leute klatschten. „Hey Du Memme! So war das nicht ausgemacht!“ beschwerte sich der Sprücheklopfer. „Führ Dich nicht so auf. Man darf jedes Körperteil benutzen. Was kann ich dafür, wenn Du so blöd bist und über meine Füße stolperst?“ Sofort lief der Andere wieder auf ihn zu. Auch dieses Mal genügte Shankar ein großer Schritt, um seinen Gegner ins Leere laufen zu lassen. „Das erinnert mich doch ein wenig an einen Stierkampf“, gab Nathu von sich, der von so etwas schon mal gehört hatte. „Das ist kein Stier, das ist ein Ochse“, spottete Shankar, weshalb sein Gegner noch wütender wurde. Dieses Mal packte er sich Shankar und schlug auf ihn ein. Doch der ließ sich das nicht lange gefallen. Mit ein paar geschickten Armbewegungen brachte er den Chef der Bande zu Boden. „Hast Du jetzt endlich genug?“ fragte Shankar. Da sprang der Andere noch einmal auf und warf sich mit letzter Kraft auf Shankar. Der hatte damit gerechnet und einige Augenblicke später landete der vermeintlich Stärkere kopfüber in einer Mülltonne. „So, den hätten wir entsorgt. Da drin ist er gut aufgehoben. Wer ist der Nächste?“ fragte Shankar in die Runde. Da starrten ihn die vier Verbliebenen an, als ob er ein Außerirdischer wäre. Als die Elf an ihnen vorbeizogen, hob der Anführer seinen Kopf aus der Mülltonne und rief: „Halt! Sagt mir wenigstens wo Ihr herkommt?“ „Frisch aus der Kinderfabrik“, antwortete Shankar und daraufhin zog er mit seinen Kameraden von dannen. „Ich hätte nie gedacht, daß Du so stark bist“, wunderte sich Indira. „Ich auch nicht. Das war nur Technik. Scheiße, jetzt habe ich Euch Vier ja immer noch am Hals“, stänkerte er mit Blick auf die Mädchen. Da versetzte ihm Indira einen Stoß in die Rippen und versicherte: „Jetzt wirst Du uns auch nicht mehr los.“

Es war noch Nacht in Neu Delhi, aber die Straßenlaternen sorgten für ein wenig Beleuchtung. Etwas orientierungslos zogen die Elf durch die Straßen. Irgendwann reichte es ihnen und sie setzten sich auf eine Straße. „Und was jetzt?“ wollte Parwez wissen. „Keine Ahnung“, murmelte Sardar. „Leute, was ist los mit Euch? Freut Euch, wir haben es geschafft. Wir sind in Neu Delhi, der Hauptstadt Indiens“, vermeldete Nathu. „Na und? Trotzdem wissen wir nicht, wie es weitergeht“, entgegnete Hirabai. „Es stimmt also doch, daß wir die Generation ohne Zukunft sind. Na und? Dann machen wir uns halt unsere eigene Zukunft“, entschied Nathu, der sich seine gute Laune von nichts und niemandem nehmen ließ. „Nathu hat die richtige Einstellung. Wir sollten jubeln und frohlocken ohne Ende, daß wir endlich aus den Fängen dieser Sklavenhalter entkommen sind“, behauptete Sonia. „Mach die Augen auf! Wir sitzen auf der Straße, haben kein Geld, keine Unterkunft, einfach gar nichts“, jammerte Tejbin. „Aber wenigstens haben wir uns“, erwiderte Daya. „Davon werden wir auch nicht satt“, widersprach Sardar. „Oh, ich glaube, da irrst Du Dich. So eine Portion Menschenfleisch kann schon für einige Tage den Hunger stillen. Ich schlage vor, wir losen jetzt aus, wer als Erstes geschlachtet wird“, ließ Nathu mit ernster Stimme von sich hören. Alle lachten. Nathu gelang es immer wieder, sie aufzubauen und ihnen zu zeigen, daß man auch ohne Hab und Gut ein lustiger und glücklicher Mensch sein konnte. Für jene Gabe bewunderten ihn die Anderen, aber seine Sprüche allein konnten halt nicht alle ihre Probleme lösen. „Wir sollten erstmal schlafen und dann sehen wir weiter“, schlug Bharat vor. „Ein kluger Junge. Denn so schnell sehen wir eh nicht weiter, so dunkel wie es hier ist“, bemerkte Nathu zur allgemeinen Erheiterung. Sie fühlten sich sicher in der Stadt und da man ihnen eh nichts stehlen konnte, entschieden sie sich, keine Wachposten zu bestimmen. So schlummerten sie eine Weile vor sich hin, bis sie unsanft geweckt wurden. „Aufwachen, elendes Pack! Ihr könnt doch hier nicht übernachten“, schnarrte ein Polizist, der mit drei seiner Kollegen hergekommen war. „Aber sie sehen doch, daß wir das können. Also, gute Nacht“, murmelte Nathu schlaftrunken. Auf einmal traf ihn das Schlagholz eines Polizisten, der dazu noch Folgendes fragte: „Wie redest Du denn mit einem Polizisten? Könnt Ihr Euch überhaupt ausweisen?“ Natürlich konnten sie das nicht, weil ihre Ausweise noch in der Kinderfabrik lagen. „Wir können uns zwar nicht ausweisen, aber wir können Euch ins Haus scheißen“, antwortete Nathu, weshalb er wieder einen Schlag abbekam. Da riß er plötzlich einem der Polizisten den Schlagstock aus der Hand. Der wich entsetzt zurück. „So, jetzt drehen wir den Spieß mal um. Wenn Du unbedingt jemanden schlagen mußt, dann werde Domino, oder sowas!“ rief Nathu, der Einiges vom Wortschatz der Aufseher übernommen hatte. „Ja, jetzt werden wir mal ernst. Wo sind wir denn hier? Wir liegen friedlich schlafend am Boden und Ihr kommt hierher und macht Ärger. Was soll denn das?“ fragte Nathu die erstaunten Polizisten. „Moment, Junge! Du bringst da was durcheinander. Ihr habt kein Recht hier zu schlafen und darum müssen wir Euch wegschaffen“, stellte einer der Polizisten klar. Es war keineswegs so, daß die Jugendlichen in der Kinderfabrik nur gearbeitet hatten. Man hatte sie ab und zu auch noch unterrichtet, so daß sie doch ein kleines, aber wertvolles Wissen besaßen. „Bist Du der neue Hitler, oder was? Diese Stadt gehört allen und darum können wir schlafen wo wir wollen. Es sei denn, Du stellst uns Deine Villa zur Verfügung“, stieß Nathu energisch hervor. „Du bist ganz schön frech. Ihr kommt jetzt mit und damit basta!“ „Ihr verschwindet jetzt und damit basta!“ Mit solchen Worten hatten die Polizisten nicht gerechnet. Fragend schauten sie sich an. „Das ist Widerstand gegen die Staatsgewalt“, stammelte einer. „Was soll die ganze Scheiße, die Ihr da labert? Ich sehe weit und breit keine Staatsgewalt. Ihr habt uns angegriffen, also ist es unser Recht, uns zu wehren. Laßt uns jetzt endlich in Ruhe!“ forderte Shankar. Die Polizisten wußten nicht so recht, was sie tun sollten. „Ihr glaubt wohl, nur weil Ihr in einer Uniform herum rennt seid Ihr was Besseres als wir und dürft Euch alles erlauben? Aber da irrt Ihr Euch gewaltig“, garantierte Bharat, der seine Freunde unterstützen wollte. „Wir geben Euch zehn Minuten Zeit, um zu verschwinden. Wenn Ihr bis dahin nicht fort seid, dann, äh, dann, dann werden wir Verstärkung rufen“, sagte ein Polizist. „Kleines Stotterproblem, was? Seid froh, daß wir friedlich sind, weil wir Euch auch auseinandernehmen könnten. Wir verschwinden, aber eines garantiere ich Euch: Wenn Ihr wieder bei uns auftaucht, oder Eure Kollegen, dann gibt’s Ärger. Wir lassen uns nämlich nicht von einem Ort zum nächsten schicken“, bekräftigte Shankar. Danach setzten sich die Elf in Bewegung. „Einen Augenblick! So war das nicht gedacht. Ins Gefängnis müßt Ihr schon“, beharrte einer der Polizisten. Da ging Bharat seelenruhig auf ihn zu, stellte sich vor ihn hin und fragte: „Hast Du was gesagt?“ Der Polizist war gut 20 Zentimeter kleiner als Bharat und darum zögerte er mit der Antwort. Erst nach einigen Sekunden ließ er ein „Schönen Tag noch“ von sich hören. So zogen die Flüchtlinge von dannen und wunderten sich. „Was ist denn das für ein Sauhaufen? Da schläft man in aller Ruhe und dann tauchen auf einmal solche Idioten in Uniform auf, die nichts Besseres zu tun haben als junge Leute zu schikanieren“, ärgerte sich Raja. „Solange wir im Freien schlafen müssen, werden uns die noch einigen Ärger bereiten“, glaubte Daya. „Kein Problem. Bauen wir uns halt ein Haus“, schlug Tejbin vor, obwohl er genau wußte, daß das unmöglich war. Langsam wurde es hell und die ersten Kurzschläfer erwachten. Aus den Fenstern schauten die ersten Gesichter, doch als man die elf Flüchtigen sah, wurden die Fenster schnell wieder geschlossen. Natürlich sah man ihnen an, daß sie nicht zur besseren Gesellschaft gehörten, sondern daß sie wohl einige Tage in der Wildnis verbracht hatten. Im Gegensatz zu den Leuten störte die elf Jugendlichen das wenig. Sie waren froh, daß ihnen ihre Flucht geglückt war und alles Andere würde schon nach und nach auf sie zukommen. „Wohin gehen wir?“ forschte Hirabai. „Immer der Nase nach“, antwortete Parwez. „Prima Antwort.“ „Das soll heißen, daß Parwez mal wieder keinen blassen Schimmer hat“, erklärte Sardar. „Das ist egal. Mir würde es schon reichen, wenn er etwas zu essen dabei hätte“, warf Nathu ein und so langsam spürten sie alle ein sehr großes Hungergefühl. Aber wo würden sie um die Zeit Nahrung her bekommen? Und überhaupt hatten sie keine einzige Rupie. Das Geld, für das sie in der Kinderfabrik gearbeitet hatten, hatten sie nämlich nie gesehen. Man hatte ihnen gesagt, es würde direkt von der Schuld ihrer Eltern abgezogen, so daß sie nie etwas bekommen hatten. Sie hatten praktisch nie für sich selbst, sondern nur für Andere gearbeitet. Das stellten sie jetzt ernüchtert fest und das belastete sie doch gewaltig. Sie waren auf diese Art und Weise arbeits-, wohnungs- und mittellos. Das bedeutete, daß es fast nur noch besser werden konnte.

Der Tag brach an und so langsam kam Leben in die Straßen Neu Delhis. Viele Menschen machten sich auf den Weg zu ihrer Arbeitsstätte, um dort das Geld zum Leben zu verdienen. Andere hatten keine Arbeit und versuchten, irgendeine Beschäftigung zu finden, um die Stunden zu füllen. Nachdem es immer lauter wurde, erhoben sich auch die elf ehemaligen Fabrikarbeiter, um einen Zeitvertreib zu suchen. Doch zunächst gingen sie in ein Friseurgeschäft, um dort nach Haarfarbe zu fragen. „Ihr wollt, daß ich Euch Haarfarbe schenke?“ fragte der Friseur ein wenig schockiert, weil er nicht glauben wollte, was er da gehört hatte. „Na ja, wir haben kein Geld und darum können wir sie nicht bezahlen“, gestand Tejbin etwas verlegen. „Tut mir leid. Kein Geld, keine Ware. Wo kämen wir denn dahin, wenn ich meine Sachen verschenken würde? Ich muß ja auch von etwas leben.“ „Wo haben sie denn die Waren, bei denen das Haltbarkeitsdatum schon abgelaufen ist?“ wollte Nathu wissen. „Die liegen da vorne. Das sind die zu den Sonderpreisen.“ „Haben sie wirklich nichts für uns übrig?“ fragte Indira mit einem unschuldigen Lächeln. „Doch und zwar einen guten Ratschlag: Sucht Euch eine Arbeit und dann könnt Ihr wiederkommen und Euch etwas kaufen“, sprach der Friseur und schickte sie dann fort. „Der redet sich leicht. Der hat einen Job“, moserte Bharat enttäuscht. So machten sie sich auf den Weg in die Innenstadt, um dort vielleicht Arbeit zu finden. Da sahen sie Männer, die schwere Kisten schleppten. „Das können wir auch“, fand Shankar, weshalb er die Arbeiter fragte: „Können wir Euch helfen?“ „Verschwindet! Elendes Pack, will uns unsere Arbeitsplätze klauen!“ rief einer der Männer. Da auch dort nichts zu holen war, gingen sie zu einer Art Arbeitsamt. „Wir suchen Arbeit“, erzählte Shankar dem Mann, der sich über den Aufmarsch ein wenig wunderte. „Das tun Viele. Glaubt ja nicht, daß Ihr da die Einzigen seid. Aber es gibt keine Arbeit. Ihr müßt schon selber sehen, wie Ihr über die Runden kommt“, stellte er fest. Shankar wollte das nicht wahrhaben. „Was soll denn das heißen? Sollen wir stehlen, oder was?“ „Das ist Eure Sache. Verschwindet wieder! Ich habe genug zu tun.“ „Ich dachte, das hier wäre die Arbeitsvermittlung.“ „Das ist sie auch. Aber da es keine Arbeit gibt, kann ich auch keine vermitteln. Bist Du schwer von Begriff, oder was?“ „Das darf doch wohl nicht wahr sein. Sollen wir verhungern?“ „Da wärt Ihr nicht die Ersten. Ihr müßt wissen was Ihr tut, das ist nicht mein Problem. Aber stört mich jetzt nicht länger.“ „Gibt es denn gar keine Möglichkeit, irgendwo Arbeit zu finden?“ „Natürlich. Ihr braucht nur gute Beziehungen, dann findet sich immer ein Job. Sonst seid Ihr die Verlierer. Aber wenn Ihr Glück habt und wir bald einen Krieg gegen Pakistan beginnen, dann gibt es sehr schnell wieder genug Arbeit“, versprach der Mann. „Das ist doch krank. Wir sollen auf einen Krieg hoffen, um Arbeit zu bekommen. Ihr seid doch hier alle nicht ganz richtig im Kopf“, erwähnte Bharat, bevor sie das Büro verließen. „Das ist also die Freiheit. Lange werden wir sie nicht mehr erleben“, vermutete Sonia ein wenig bedrückt. „Halt! Ganz so einfach geben wir uns nicht geschlagen. Wir müssen halt unsere Ansprüche ein wenig herunterschrauben“, behauptete Sardar. „Unsere Ansprüche sind ganz unten, tiefer geht es gar nicht mehr. Sollen wir Scheiße fressen, oder was?“ wunderte sich Parwez. „Nein, da gibt es andere Möglichkeiten. Viele Leute schmeißen achtlos Nahrungsmittel weg“, deutete Sardar an und hob eine alte Fischsemmel auf. „Ist doch besser als gar nichts“, hörte man ihn sagen, während er kaute. So machten sie sich also auf den Weg zu den Müllcontainern der Gaststätten, um dort nach Eßbarem zu suchen. Doch als sie bei der ersten Tonne ankamen, erschraken sie gewaltig. Vor ihnen drängten sich gut 15 Menschen auf der Suche nach Essensresten. „Nein Leute, man kann es auch übertreiben. Ich finde nicht, daß es gut ist, mit alten Bettlern um eine angewieselte Kartoffel zu streiten“, glaubte Shankar und zog sich angewidert zurück. „Du kannst wohl von der Luft leben“, meinte Tejbin, der sich einen Knochen mit etwas Fleisch geschnappt hatte. „Da sieht man einmal wieder wie ungerecht das Leben ist. Wir haben die ganze Zeit gearbeitet und trotzdem stehen wir nun mit leeren Händen da“, erkannte Indira, die sich zu Shankar setzte. „Wir müssen ganz anders vorgehen. Bisher sind die meisten Menschen noch nicht mit dem Elend konfrontiert worden oder sie haben einfach weg geschaut. Kommt mit!“ forderte Nathu seine Genossen auf. Wenig später standen sie zu elft in einem Lokal. Sofort kamen zwei Männer auf sie zu. „Verschwindet! Ihr habt hier nichts zu suchen!“ rief der Eine. „Was können wir dafür, daß wir kein Geld haben? Gebt uns was zu essen und wir gehen wieder“, versprach Bharat. „Einen Dreck könnt Ihr haben! Raus hier!“ brüllte der Wirt, der sich dazu gesellt hatte. „Jetzt geben sie den Kindern doch was zu essen. Die sehen ja ganz ausgehungert aus“, konstatierte einer der Gäste, der noch einen Anflug von Menschlichkeit zu besitzen schien. „Und wer bezahlt mir das?“ fragte der Wirt mit grimmiger Miene. „Jetzt tu mal nicht so, als ob Du am Bettelstab gehen würdest. Das Fleisch von eben, das war auch eher ein Batura“, erinnerte sich der Gast. Da beeilte sich der Wirt, damit niemand aufmerksam wurde. „Kommt mit!“ bat er die Elf und brachte sie in einen Nebenraum. „Seid froh, daß es der Mann dort drin gut mit Euch meint. Aber glaubt ja nicht, daß Ihr noch einmal hier auftauchen könnt. Ihr bekommt jetzt was zu essen und dann haut Ihr ab!“ verlangte er mit dunkler Stimme. „Aber gib uns bitte kein falsches Fleisch“, ermahnte ihn Nathu grinsend. Wenig später bekamen sie ein paar von den Sachen aufgetischt, für die sich einige der Gäste zu schade gewesen waren und so kam es, daß sie zum ersten Mal seit langer Zeit satt wurden. Auf einmal kam der Gast herein, der dafür gesorgt hatte. „Danke“, schmatzte Raja glücklich. „Nichts zu danken. Das war das Mindeste, was ich für Euch tun konnte. Wo kommt Ihr her?“ Shankar zögerte. Meinte es der Mann wirklich gut mit ihnen oder wollte er sie nur ausnutzen? „Wir sind alle aus Kinderfabriken geflohen“, erzählte er. „Was! Das ist ja super. Ich hätte nie gedacht, daß es Leute gibt, die das schaffen.“ „Aber jetzt haben wir wieder Probleme. Kein Zuhause, kein Geld und auch keine Arbeit.“ „Paßt auf! Ich kenne da ein paar Leute, an die Ihr Euch wenden könnt. Das sind gute Menschen, die sich um die kümmern, die nichts zum Leben haben. Wenn Ihr wollt, kann ich Euch zu denen hinbringen, nachdem Ihr satt seid.“ „Aber das sind keine Kinderhändler, oder?“ Der Mann lachte. „Was denkt Ihr von mir? So etwas würde ich nie tun. Nein, es sind Frauen und Männer, für die Geld nicht so wichtig ist. Sie kümmern sich um die Armen, um denen das Überleben zu ermöglichen.“ „Na dann ist e ja gut.“ Wenige Minuten später brachen sie auf. Es dauerte eine Weile, bis sie dort ankamen, wohin sie der Mann hatte bringen wollen. „So, da sind wir. Hallo Lucia. Ich habe Euch ein paar junge Menschen mitgebracht, die Eure Hilfe dringend benötigen“, berichtete er und ging dann. Lucia war eine kleine Frau, deren Lachen den Flüchtigen Vertrauen schenkte. „Seid willkommen. Hier seid Ihr absolut richtig. Hier habt Ihr einen Platz zum Übernachten, bekommt etwas zu essen und findet vielleicht auch eine Arbeit“, erzählte sie. Danach führte sie die Elf zu ihrem Zimmer. „Wenn Ihr wollt, dann könnt Ihr zusammen bleiben. Seht Euch erst einmal genau um. Wenn Ihr Fragen habt, dann stellt sie ruhig“, ermunterte sie die Frau. „Warum sind sie so gut zu uns?“ wollte Sonia wissen, die ein wenig Angst hatte. „Weil auch Ihr die Chance haben sollt zu überleben“, antwortete die Frau lächelnd. „Aber das bringt ihnen doch nichts“, entfuhr es Parwez. „Oh doch. Es macht uns sehr glücklich, wenn wir sehen, daß wir anderen Menschen helfen können.“ „Sie sind ein Engel“, bemerkte Shankar beeindruckt. „Was redet Ihr denn da? Normalerweise müßten alle Menschen das tun, was wir hier machen. Ach, was rede ich. Eigentlich dürfte es gar nicht soweit kommen, daß es Menschen gibt, die Hunger leiden müssen“, erörterte die Frau. „Wenn Ihr mir Eure Geschichte erzählen wollt, dann tut das“, fügte sie hinzu. Sie setzten sich an einen großen Tisch. Erst erzählte Bharat, dann erzählte Shankar und danach erzählte Nathu alles, was sich zugetragen hatte, seit sie sich zusammengeschlossen hatten. Aufmerksam hörte ihnen Lucia zu und immer wieder mußte sie dazwischen schlucken oder weinen, weil ihr das, was sie da hörte, sehr nahe ging. „Ihr habt viele schlimme Sachen durchmachen müssen. Aber damit wird es jetzt endgültig vorbei sein. Das verspreche ich Euch“, garantierte sie schluchzend. „Warum weinst Du?“ wunderte sich Raja. „Warum ich weine, Junge? Ich weine darüber, daß man Euch so schrecklich behandelt hat.“ „Aber das hilft doch nichts. Außerdem sind noch genug Kinder in den Fabriken, die so behandelt werden“, fiel Sardar dazu ein. „Ich weiß und das stimmt mich so traurig. Seit über 20 Jahren versuche ich gegen die Kinderarbeit zu kämpfen, aber wir haben nichts erreicht. Rein gar nichts“, murmelte Lucia traurig. „Sei nicht traurig. Allein hat man gegen diese Leute keine Chance“, stellte Shankar klar. „Wenn Ihr wollt, könnt Ihr jetzt ein wenig raus gehen. Wir haben ein paar Spielplätze, auf denen Ihr Euch austoben könnt“, teilte ihnen die Frau mit und ging dann. „Daß es solche Menschen gibt“, freute sich Parwez ein wenig erstaunt. Doch lange dachten sie darüber nicht nach. Sie waren unglaublich glücklich, endlich eine Heimat gefunden zu haben, wo sie gute Aussichten auf ein Überleben hatten. Sie fühlten sich erleichtert, denn nun waren sie erst einmal sicher und geborgen. Zwar hatten sie nach wie vor keine Arbeit und damit kein Geld, aber das war nun wirklich nicht das Entscheidende. Hauptsache, sie hatten alle ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Darum begaben sie sich nach draußen, wo sie auf viele andere Jugendliche in ihrem Alter trafen. Mißtrauisch musterte man sie, da sie ja Neue waren. Sofort spürten sie, daß sie nicht willkommen waren. „Was wollt Ihr hier?“ rief ihnen einer zu. „Wir leben hier“, antwortete Sardar. Das sorgte für erhebliche Unruhe. „Bildet Euch ja nichts ein! Wir haben hier das Sagen“, tönte ein Junge entschlossen und seine Kumpanen stimmten ihm zu. „Hey Leute, was ist Euer Problem. Ihr seid Menschen, wir sind Menschen. Wieso können wir nicht normal miteinander umgehen?“ fragte Nathu. „Ihr seid keine Menschen. Ihr seid Dreck“, erwiderte ein stärkerer Jugendlicher. „Hast Du schon einmal von einem Dreck einen Schlag ins Gesicht bekommen?“ fragte ihn Nathu und schritt unerschrocken auf ihn zu. Da lachte der Angesprochene höhnisch und holte zum Schlag aus. Nathu duckte sich und schon landete seine Hand mit schneller Geschwindigkeit auf der Backe seines Gegenübers. Platsch! Es war laut und deutlich zu hören. Nathu drehte sich um und ging zu seinen Leuten zurück. Rufe der Überraschung und des Erstaunens gingen durch die Menge. Da kam Lucia vorbei. „Was ist denn los? Wieso spielt Ihr nicht?“ wunderte sie sich. „Stimmt das, daß die auch hier wohnen?“ wurde sie von einem Jungen gefragt. „Das ist richtig. Und ich möchte, daß Ihr sie genauso in Eure Gemeinschaft aufnehmt, wie man Euch aufgenommen hat.“ „Niemals!“ riefen da einige Jugendliche. Da wurde die Frau laut. „Was bildet Ihr Euch denn ein? Man hat Euch immer gut behandelt hier und den Neuen soll es auch nicht schlechter gehen“, fügte sie hinzu. „Aber die sind Abfall. Die sind voller Dreck, die sind Dreck“, behauptete ein Junge. „Schweig! Kein Mensch ist besser als ein anderer! Das habe ich Euch schon so oft gesagt. Es kommt nicht auf das Äußerliche, sondern auf das Innere an! Sie haben Euch nichts getan. Sie haben das gleiche Recht hier zu leben wie Ihr auch. Und damit hat es sich“, machte Lucia deutlich und ging. „Laßt Euch nicht unterkriegen!“ flüsterte sie den Neuankömmlingen zu. „Das geht gar nicht. Wir sind schon ganz unten“, spottete Nathu, der nicht glauben konnte, daß die Gleichaltrigen so viel Ärger machten. Jene zogen ab und ließen die elf Flüchtigen etwas ratlos zurück. „Toller Empfang. Da hätten wir gleich in der Fabrik bleiben können“, urteilte Tejbin. „Quatsch! Das ist am Anfang immer so. Die müssen sich erst daran gewöhnen, daß wir jetzt auch hier sind. Dann wird das schon besser“, versprach Shankar. „Deinen Optimismus möchte ich haben“, murmelte Sardar. „Kein Problem. Der reicht locker für zwei“, ließ Shankar von sich hören. Man hatte sie nicht jubelnd empfangen, doch das hatte auch niemand erwartet. Trotzdem hatten sie sich mehr erhofft gehabt.

Doch es gab auch Jugendliche, die nichts gegen die Neuankömmlinge hatten. Vier von denen kamen auf sie zu. „Nehmt das nicht so ernst, was die Anderen gesagt haben. Die haben halt Angst, daß sie jetzt etwas kürzer treten müssen. Übrigens, ich bin Rahul und das sind Brahma, Gautam und Brijesh“, stellte Rahul sich und seine drei Freunde vor. Shankar zählte die Namen seiner Leute auf, bevor er mit Rahul ins Gespräch kam. „Wie lange seid Ihr schon hier?“ wollte er wissen. „Seit zwei Jahren. Es ist schön hier. Wir helfen alle zusammen und können überleben.“ „Habt Ihr auch in einer Fabrik gearbeitet?“ „Ja, aber nicht so lange. Höchstens fünf Jahre. Aber das hat gereicht.“ „Und wie seid Ihr rausgekommen?“ „Man hat uns rausgeschmissen, weil wir eine bessere Behandlung gefordert haben.“ „Komisch. Wenn wir das gemacht hätten, dann hätte man uns verprügelt.“ „Na ja, das haben sie sich nicht getraut, weil sie sonst Ärger bekommen hätten. Außerdem hatten sie schon Ersatz gefunden, so daß sie uns nicht mehr brauchten.“ „Und was macht Ihr hier den ganzen Tag?“ „Das was wir wollen. Könnt Ihr Fußball spielen?“ „Na ja, ein bißchen.“ „Kommt mit! Wir haben hier einen schönen Platz“, sagte Rahul und führte seine neuen Bekannten zum Fußballplatz. Dort wich dann jegliche Zurückhaltung von den „Flüchtlingen“. Als sie einen richtigen Fußball sahen, gab es kein Halten mehr. Sie stürzten sich auf das runde Leder und wollten es am liebsten nie mehr hergeben. Wenig später spielten sie in zwei Mannschaften zu je fünf Leuten. Nathu ging ins Tor und die vier Mädchen schauten zu. „Wie kleine Kinder“, meinte Indira, die das Treiben interessiert beobachtete. „Hauptsache es macht ihnen Spaß“, fand Daya, die immer noch ein wenig traurig war. Stundenlang tobten sich die Jugendlichen auf dem Bolzplatz aus, doch auf einmal war der Ball weg. Sardar hatte ihn über das Tor geschossen und war losgelaufen, um ihn zu holen. Jedoch war einer derer, die sie nicht leiden konnten, schneller am Ball und hatte ihn zu seinen Leuten gebracht. „Was soll denn das? Gebt uns den Ball!“ forderte Bharat. „Vergeßt es! Das ist unser Ball. Und jetzt verschwindet, weil jetzt richtige Fußballer auf den Platz kommen“, tönte der Andere. „Der Ball gehört uns allen. Also her damit!“ befahl Shankar. „Spiel Dich hier nicht auf! Seid froh, daß wir Euch hier wohnen lassen“, entgegnete einer der „Feinde“. Raja wollte die Situation entschärfen. „Wir haben doch jetzt lange genug gespielt. Lassen wir die aufs Feld. Aber nur, wenn sie uns versprechen, daß wir den Ball wiederbekommen, wenn sie fertig sind“, schlug er vor. Damit waren alle einverstanden und so beobachteten die elf Jungen ihre Konkurrenten. „Also viel besser wie wir sind die auch nicht“, kommentierte Tejbin. „Umso besser. Aber das bringt uns auch nicht viel“, glaubte Bharat. Nach einer Weile hatten sie genug gesehen und gingen mit den vier Mädchen zu Lucia. „Na, habt Ihr genug von der Sonne?“ fragte die freundlich. „Können wir Dir irgendwie helfen?“ wollte Shankar wissen. „Gerne. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr das Abendessen herrichten.“ Da waren sie alle sofort Feuer und Flamme und so machten sie sich an die Arbeit. Doch als sie dann alle zu Tisch saßen, herrschte eisiges Schweigen. Feindselig blickten sich die Mitglieder der Gruppen an. „Was ist denn mit Euch? Ihr könnt doch miteinander reden“, fand Lucia, die merkte, daß es nicht leicht werden würde, für Frieden und Ordnung zu sorgen. „Was sollen wir denn mit denen reden? Die können ja nicht mal unsere Sprache“, lästerte einer der Anderen. „Das liegt an Deinen Ohren. Wahrscheinlich hast Du die auf Englisch eingestellt“, scherzte Nathu. Während seine Freunde lachten, machten die Anderen finstere Gesichter. Lucia beschloß, nach dem Essen dafür zu sorgen, daß sich die Gruppen etwas näher kamen. Darum ließ sie alle in einem großen Raum zusammenkommen und sprach: „Damit Ihr Euch jetzt kennenlernt, bitte ich Euch, daß Ihr Euch gegenseitig vorstellt und Euch die Hand gebt.“ Aber jene Worte fruchteten nicht. Während Shankar und seine Freunde dazu bereit waren, verweigerten die Anderen ihnen den Händedruck. So blieb es bei der eisigen Stimmung und es hatte nicht den Anschein, als ob sich das ändern sollte.

Zum ersten Mal seit langen Jahren konnten die Flüchtlinge in richtigen Betten schlafen und das freute sie sichtlich. Zu elft lagen sie im Zimmer, als auf einmal Lucia hereinkam. „Ich habe fast vergessen, daß Ihr Euch noch duschen könnt, wenn Ihr wollt“, teilte sie mit. Sofort sprangen sie alle auf. Kurze Zeit später genossen sie das kühle Naß und wuschen sich den Dreck vom Körper. Zum ersten Mal seit Langem fühlten sie sich richtig sauber und waren darum bestens gelaunt, als sie wieder in ihre Betten stiegen. „Jetzt haben wir es also geschafft“, begann Tejbin die Unterhaltung im Dunkeln. „Was?“ erkundigte sich Sonia. „Na ja, wir sind frei und haben ein Zuhause. Wir können machen was wir wollen und haben was zu essen“, antwortete er. „Freiheit ist relativ. Wenn Du es genau nimmst, sind wir hier gefangen, auch wenn es uns nicht schlecht geht. Denn sobald wir hier weg gehen würden, hätten wir die alten Probleme“, befürchtete Bharat. „So ist es. Aber so schnell werden wir hier nicht fort gehen. Ich zumindest nicht“, tönte Raja. „Wir müssen bloß auf die Anderen aufpassen. Denen traue ich alles zu. Nicht, daß die hier mitten in der Nacht auftauchen und uns zusammenschlagen“, befürchtete Sardar. „Ach was! Die werden sich schon noch an uns gewöhnen“, glaubte Hirabai. „Du Shankar, hol doch mal den Sanka“, bat Nathu. Alle lachten. „Wozu das denn?“ wollte der wissen. „Ich habe heute zum ersten Mal etwas Richtiges gegessen. Nicht diesen Fabrikfraß. Ich glaube, mein Magen ist so viele gute Sachen nicht gewöhnt. Der arbeitet, aber er schafft es nicht. Ich glaube, ich brauche einen neuen“, kalauerte Nathu. „Du bist und bleibst ein Quatschkopf.“ „Das ist auch gut so. Sonst hättet Ihr ja überhaupt nichts vom Leben.“ „Gute Nacht, Du Komiker.“ „Gute Nacht, Ihr Trantüten!“ Da sie alle in einem Zimmer lagen, war es für Daya nicht schwer, zu Nathu zu gelangen. Sie ging an sein Bett und flüsterte: „Nathu, magst Du mich etwa nicht?“ „Doch natürlich. Aber zwischen Sympathie und Liebe gibt es einen Unterschied.“ „Und der wäre?“ „Wenn ich jemanden sympathisch finde, dann unterhalte ich mich mit dem oder der, mache blöde Witze und so. Aber wenn ich jemanden liebe, dann, das kann man nicht beschreiben.“ „Also liebst Du mich nicht?“ „Ja, nein, ach komm, mach es uns doch nicht so schwer! Laß uns einfach gute Freunde sein.“ „Das genügt mir aber nicht.“ „Dafür kann ich nichts. Gute Nacht“, murmelte Nathu und drehte sich zur Seite. Sekunden später lag Daya wieder in ihrem Bett und weinte. „Mensch Nathu, alter Herzensbrecher! Muß es denn sein, daß Du die Frauen zum Weinen bringst?“ fragte Shankar, der alles mitgehört hatte. „Ich würde sie auch lieber zum Lachen bringen, aber das geht halt mal nicht immer. Manchmal muß ich die Wahrheit sagen, auch wenn sie weh tut“, gab Nathu von sich, um dann endgültig zu schlafen. Am nächsten Morgen beim Frühstück trafen sie wieder auf die selben finsteren Gesichter wie am Tag zuvor. „Heute spielen nur wir Fußball. Daß das klar ist“, stieß einer der „Griesgrämigen“ hervor. „Ihr habt wohl Angst, daß wir Euch fertig machen“, entgegnete Raja. „Pah! Gegen Euch Flaschen gewinnen sogar Säuglinge“, erwiderte sein Gegenüber. Die Anderen lachten und danach herrschte eisiges Schweigen. Nach dem Frühstück sprach Shankar noch mit Lucia. „Du, es gibt da noch ein Problem. Du kennst ja unsere Geschichte und es kann durchaus sein, daß man uns immer noch sucht. Darum wollten wir eigentlich unser Aussehen verändern, um nicht erkannt zu werden“, erzählte er. „Das braucht Ihr nicht. Ich verspreche Euch, daß Euch von hier niemand wegholen wird. Wenn es jemand versucht, dann werde ich es verhindern. Ich habe gute Freunde, die Euch beschützen werden“, versicherte ihm die Frau und so gelang es ihr, Shankar und seine Freunde zu beruhigen. Sie fühlten sich wohl in ihrem neuen Zuhause, auch wenn es noch einige Probleme mit den Mitbewohnern gab. Aber das war ganz sicher nicht ihre Schuld und darum kümmerten sie sich auch nicht weiter darum.

Doch kurze Zeit später tauchte ein Mann auf und ließ alle Jugendlichen zu sich kommen. Als alle da waren, begann er zu erzählen: „Ab nächster Woche finden die Fußballstadtmeisterschaften für alle Jugendlichen aus Neu Delhi statt. Auch Euer Heim darf mit einer Mannschaft daran teilnehmen. Es spielen wie im richtigen Fußball elf Spieler, darunter ein Torwart. Ihr könnt auch Auswechselspieler mitnehmen, aber das ist kein Zwang. So, wer von Euch will denn gerne dabei mitmachen?“ fragte er und zog einen Stift und einen Zettel hervor. „Da brauchen wir erst gar nicht lang diskutieren. Wir haben bereits eine Mannschaft“, meldete sich ein Junge zu Wort und zeigte auf sich und zwölf weitere Jugendliche. „Moment mal! Das lassen wir uns nicht gefallen. Wir wollen auch bei den Stadtmeisterschaften mitmachen“, entschied Nathu. „Ihr haltet die Klappe! Ihr habt hier nichts zu sagen!“ rief sein Gegenüber. „Einen Augenblick. Alle haben grundsätzlich das Recht, dabei mitzumachen. Da ich sehe, daß Ihr fast zwei Mannschaften hättet, schlage ich vor, daß wir ein Ausscheidungsspiel machen. Der Gewinner nimmt an den Stadtmeisterschaften teil, der Verlierer nicht“, erläuterte der Mann und erntete für seinen Vorschlag bei Shankar und seinen Freunden Zustimmung, im anderen Lager Ablehnung. „Was soll die Scheiße? Wir leben hier schon seit Jahren und die sind erst gestern gekommen. Da steht doch fest, wer spielt“, maulte einer der Jugendlichen. „Ihr habt doch nur Angst, daß Ihr gegen uns verliert“, konterte Rahul. „Reißt nur nicht Eure Klappe so weit auf! Gegen uns habt Ihr eh keine Chance“, erwiderte ein Anderer. „Also, paßt auf! Wir machen das Spiel heute Abend um sechs Uhr. Ich mache den Schiedsrichter und Ihr könnt Euch sicher sein, daß ich absolut neutral sein werde. Wir spielen zwei mal 30 Minuten und wenn es dann unentschieden steht, dann gibt es ein Elfmeterschießen“ verkündete der Mann. „Haben sie einen Fußball für uns? Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, daß uns die keinen geben werden“, vermutete Shankar. „Fragt Lucia. Ich glaube, die hat noch einen“, antwortete der Mann und ging daraufhin. „Leute, hört mir mal zu. Wenn wir heute abend wirklich eine Chance haben wollen, dann brauchen wir eine gute Taktik“, begann Rahul. „Was ist eine Taktik?“ wunderte sich Raja. „Ich weiß, daß Ihr ziemlich gut Fußball spielen könnt, aber da gehört noch mehr dazu. Ihr müßt beim Spielen auch mitdenken. Vor allem muß jeder genau wissen, was er zu tun hat. Darum werden wir erst einmal die Positionen festlegen“, argumentierte Rahul, der zweifellos am meisten von jenem Sport verstand. Er hatte schon ein paar Fußballspiele gesehen und so wußte er doch ein wenig, wovon er sprach. Es dauerte eine Weile, bis sich jeder eine Position ausgesucht hatte. Erst danach fuhr Rahul fort: „Also paßt auf! Die Abwehrspieler haben vor dem Tor des Gegners nichts verloren.“ „Warum nicht?“ fragte Parwez. „Weil sie dann in der Deckung fehlen und es dem Gegner leichter machen, ein Tor zu schießen“, antwortete Rahul. „Es gibt beim Fußball ein paar Regeln. Der Ball darf außer vom Torwart nicht mit der Hand berührt werden.“ „Klar, sonst hieße es ja Handball“, meinte Nathu grinsend. Gelächter kam auf. „Richtig. Außerdem darf man dem Gegner den Ball nur mit fairen Mitteln abnehmen, ihn also am besten nicht berühren, weil es sonst Freistoß für den Gegner gibt. Wenn der Ball im Toraus ist, gibt es entweder Eckball oder Abstoß. Wenn er im Seitenaus ist, dann gibt es Einwurf. Alles klar?“ wollte Rahul wissen. Um ihn zu beruhigen nickten alle. Kurz darauf holten sie sich von Lucia einen alten Ball. Außerdem zog sich jeder ein Paar Schuhe an, weil man damit doch besser spielte als mit den Sandalen. Nun gab es auf dem Fußballplatz des Heimes ein seltenes Bild zu sehen. Auf der einen Seite des Platzes trainierten die Einen, auf der anderen Seite trainierten Rahul und seine Leute. Man vermied es, zum Gegner zu schauen, sondern konzentrierte sich auf das eigene Spiel. Alle warteten gespannt auf den Abend. Es würde für Shankar und die Anderen das erste richtig ernsthafte Spiel werden und deshalb waren sie doch ein wenig aufgeregt. Denn sollten sie verlieren, dann wäre sofort alles vorbei.

Rückkehr der Gerechtigkeit

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