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UNGLEICHZEITIGKEITEN

In meiner Schulzeit fuhr ich gerne nach Lesbos. Ich musste nur mein Lehrbuch des Altgriechischen aufschlagen (es zeigte die Reste eines antiken Tempels vor sanften Hügeln auf seinem Umschlag), und schon konnte ich mit dem Zeigefinger durch die Ägäis reisen: vom Olymp im Westen, wo, der späteren Sage nach, die Göttinnen und Götter wohnten, über die wir so vieles lesen mussten, bis nach Kleinasien im Osten, wo Homers Ilias spielt. Es waren keine vergeudeten Stunden, diese Fahrten, im Gegenteil. Man ließ den Aorist Aorist sein und träumte sich an jene »krummen Gestade«, von denen in den altertümlichen Übersetzungen eines Johann Heinrich Voß die Rede war: Jetzo landeten wir am sandigen Ufer der Insel,/Stiegen alsdann aus dem Schiff’ ans krumme Gestade des Meeres,/Schlummerten dort ein wenig, und harrten der heiligen Frühe. Sie war in der Tat heilig, die Frühe damals. Kaum jemanden von uns verlangte es wirklich danach, einen Spiritus asper in die morgendliche Kälte zu hauchen. Stattdessen lockte das Kopfkissen, noch warm vom nächtlichen Schlaf.

Um die Mittagszeit, wenn die Müdigkeit erneut zuschlägt, trifft man sich in den Cafés von Panagioúda. Der Ort liegt im Osten von Lesbos, keine Viertelstunde Autofahrt von Mytilene, der Inselhauptstadt, entfernt. Es gibt Espresso, Cappuccino oder Eiskaffee gegen die Schwere der Lider; für leere Mägen empfiehlt die Menükarte Sandwich mit Feta, Tomaten und schwarzer Olivenpaste, herzhafte Crêpes mit Schinken und Käse oder Waffeln mit Weintrauben, Mangostückchen und Schokoladeneis. Aus den Lautsprechern kommt (wie sollte es, hier direkt am Wasser, auch anders sein?) sanfte Café-del-Mar-Musik, ansonsten läuft wahlweise griechischer Pop. Im Hintergrund (es ist tatsächlich eher nur Kulisse) leuchten die Häuser des Ortes: in Altrosa, Blassblau, Mattgelb, Weiß. Die Kuppel der griechisch-orthodoxen Kirche, die, wie so viele ihrer Art, der Mutter Gottes geweiht ist, wurde silbern angestrichen. Sie glänzt in der Mittagssonne, als wäre sie von Alufolie umhüllt. Auf einem Platz zwischen den Cafés und Restaurants sitzt ein Pärchen im Schatten hoher Bäume. Ein Fischer, das Gesicht sonnengebräunt, flickt sein Netz. Sein Bötchen schaukelt ruhig und entspannt, umgeben von kleinen Segeljachten und Motorbooten. Eine Mole schirmt den Hafen gegen die Wellen des Meeres ab. Durch die Wedel der Palmen, die neben den Cafétischen stehen, fährt ein leichter Wind und trägt die Hitze fort. Es ist, wie einer der hier Sitzenden sagt, als gäbe es kein Leid dieser Welt.

Im Jahr 1935 veröffentlichte der Philosoph Ernst Bloch ein Buch mit dem Titel Erbschaft dieser Zeit. Darin unternahm er, Sohn jüdischer Eltern aus der Pfalz, verheiratet mit einer polnischstämmigen, ebenfalls jüdischen Architektin, den Versuch, den Aufstieg des Nationalsozialismus zu verstehen. Das Buch erschien bei Emil Oprecht in Zürich. Es wurde also in jenem Land veröffentlicht, aus dem Bloch zuvor wegen des Vorwurfs der Komplizenschaft mit kommunistischen Kreisen ausgewiesen worden war. Sein Buch besaß eine Verlagsheimat; er selbst hingegen, 1933 als Jude aus Deutschland in die Schweiz emigriert, war zum Zeitpunkt des Erscheinens eine Art Staatenloser. In Erbschaft dieser Zeit greift Bloch auf eine Gedankenfigur zurück, die sich in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einer gewissen Beliebtheit erfreute: die Idee von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹. In einer vielzitierten Passage schreibt er: »Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, daß sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich.« Die Zwecke, zu denen Bloch dies schrieb, sind spezielle. Die Zeiten, in denen er es tat, sind vergangen. Aber die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gibt es noch immer, und sie ist im kleinen Fischerdörfchen Panagioúda mehr als nur eine Idee. Sie ist Realität.

Wer im Skiniko Café bei einem Espresso, einer Coca-Cola und einem warmen Sandwich sitzt und den Blick von Norden nach Süden schweifen lässt (dort beginnend, wo der Fischer gerade sein Netz flickt), wird zunächst nur das Wasser sehen und die Mole, im Hintergrund die braun gegen den blauen Himmel abgesetzten Berge der Türkei (sie sind nur rund fünfzehn Kilometer entfernt). Aber je weiter der Blick nach Süden wandert, desto heftiger wird er gestört, oder irritiert vielmehr, von dem, was es dort am anderen Ende der Bucht, zu Füßen eines spärlich mit Bäumen bestandenen Hügels, zu sehen gibt. Es sind nicht die weiß getünchten Fassaden und die runden, blauen Dächer malerischer Steinhäuschen, mit denen das Urlaubsziel Griechenland so gerne beworben wird. Es sind die weißen, beigen und hellgrauen Planen von Zelten. Vor einigen Tagen erst wurden sie errichtet, auf staubigem, steinigen Untergrund. Sie tragen das Logo des UNHCR (des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen), der IOM (der Internationalen Organisation für Migration) und des DRK (des Deutschen Roten Kreuzes). Sie stehen dicht an dicht und in unmittelbarer Nähe zum kiesigen Ufer, wo die Wellen des Meeres anbranden. Vor zwei Wochen noch badeten hier die Einheimischen, vielleicht vor einem Sundowner im Skiniko Café. Jetzt schwimmen an ihrer Stelle Plastikflaschen, Essensreste und der aufgepumpte Schlauch eines Autoreifens im Wasser. In der Mitte des Schlauchs planscht ein Kind.

Es ist ein Sonntagabend Ende September, als die kleine Propellermaschine, in die ich in Athen gestiegen bin, auf Lesbos aufsetzt. Der Flieger ist nicht ausgebucht, kaum die Hälfte der Sitzplätze ist belegt. Schon im Zubringerbus am Flughafen hatte ich die Mitreisenden so unauffällig wie möglich gemustert. Ich fragte mich, ob abgesehen von den Einheimischen, die von irgendeinem Termin oder Besuch auf dem Festland zurückkehren, überhaupt noch irgendwer in dieses Flugzeug steigt, ohne mit den Zelten gegenüber von Panagioúda in Verbindung zu stehen; ob es hier überhaupt noch so etwas gibt wie einen normalen Tourismus. Vielleicht könnte das junge verliebte Pärchen dort drüben, sie in dünner weißer Sommerhose, er in schwarzen Shorts, ein Indiz dafür sein? In Mytilene quartiere ich mich im Hotel Blue Sea ein. Es heißt, dies sei der Ort, an dem sich die internationale Gemeinschaft treffe. Und tatsächlich begegne ich beim Frühstück am Montagmorgen zwischen Marmeladenbrot und Schwarztee dem Who’s who der humanitären Hilfe: Da sitzen die Malteser, das Deutsche Rote Kreuz, das Österreichische Rote Kreuz, UNICEF und die Swiss Humanitarian Aid beieinander, an Tischen und Stühlen in strahlendem Weiß. Vor der breiten Glasfront, jenseits der Straße, über der eine Mischung aus frischer Meeresmorgenluft, stinkenden Abgasen und Putzmitteln schwebt, liegt ein Schiff der Border Police. An der Seitenwand der Brücke klebt ein Aufkleber von Frontex (der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache). Diejenigen, die hier sind, wären wohl kaum hier, wenn nicht zweieinhalb Wochen zuvor, in der Nacht vom 8. auf den 9. September, Moria, das größte Flüchtlingslager Europas (welch fragwürdige Auszeichnung), in Flammen aufgegangen wäre. Von einer Stunde auf die andere saßen elf-, zwölf- oder gar dreizehntausend Menschen auf der Straße (die Zahlen sind, wie so vieles hier, nicht genau zu ermitteln, und sie sind, ebenfalls wie so vieles hier, ein Politikum). Es wäre irreführend, zu behaupten, die Menschen hätten plötzlich kein Dach mehr über dem Kopf gehabt. Auch in den Tagen, Wochen, Monaten und Jahren zuvor (der Beginn des sogenannten Erstaufnahmelagers datiert auf das Jahr 2015) schützten sich die meisten von ihnen lediglich mit Planen oder anderen Provisorien gegen Sonne und Wind, gegen Regen und Schnee. Nun aber waren sie verstreut auf die Olivenhaine, schliefen, wenn von Schlaf denn überhaupt gesprochen werden kann, unter den Dächern eines Supermarktparkplatzes und auf den Straßen in Richtung Meer. Schon kurz nach dem Brand hieß es bei Google Maps, das Flüchtlingslager Moria sei »vorübergehend geschlossen«.

Für gut anderthalb Wochen steht Moria medial ganz oben auf der Agenda. Die Geschichten liegen auf der Straße. Und so gibt es zahlreiche Berichte von mangelnder Hygiene und fehlender medizinischer Versorgung (was nicht heißt, dass vor dem Brand auch nur eines von beiden in ausreichendem Maße vorhanden gewesen wäre, aber nun ist alles vollständig zusammengebrochen). Kameraaufnahmen zeigen, wie Familien mit schreienden Kindern von der Polizei mit Tränengas beschossen werden (A Short Story of Moria, ein viertelstündiges Video über die Zustände im Camp vor und nach dem Brand, schafft es am 16. September zur Primetime ins Privatfernsehen und geht in den folgenden Tagen bei YouTube viral). Und es herrscht in vielen Kommentaren Einigkeit darüber, dass dieser Brand ein Geschehen mit Ansage war, und zwar im doppelten Sinne: Diejenigen, die im Camp lebten, seien zum Teil von dem Vorhaben unterrichtet gewesen, heißt es (auch im Camp selbst werde ich, ohne danach gefragt zu haben, mit dieser Erzählung konfrontiert). Wie sonst sollten so viele Menschen binnen so kurzer Zeit aus einem überfüllten Lager fliehen, ohne sich zu Tode zu trampeln oder zu verbrennen? Zudem sei doch eigentlich schon seit Langem bekannt, wie es um die Situation auf der Insel bestellt ist. Es hatte in der Vergangenheit mehr als nur eine Petition, mehr als nur einen Aufruf gegeben, schleunigst etwas daran zu ändern.

Die Bilder und die Augenzeugenberichte verfehlen ihre Wirkung nicht, und sie verfehlen sie doch: Eine knappe Woche nach dem Brand verkündet der deutsche Innenminister Horst Seehofer, Deutschland nehme eintausendfünfhundertunddreiundfünfzig Menschen auf (die Zahl erscheint in ihrer Beliebigkeit genauso merkwürdig, wie sie sich ausgeschrieben liest). Der Nebensatz, dass es sich dabei nicht allein um ein Kontingent für Lesbos, sondern für sämtliche griechische Inseln handelt (denn auch auf Samos, Chios, Leros und Kos sitzen Menschen fest; insgesamt sind es an die fünfunddreißigtausend), bleibt geflissentlich unerwähnt. Und je mehr Tage vergehen mit der politischen Diskussion, wie diese Maßnahme zu beurteilen sei, wie überhaupt verfahren werden sollte, ob ›ein deutscher Alleingang‹ das richtige Mittel sei, um die Situation zu entspannen, ob man sich damit nicht erpressbar mache, desto unaufhaltsamer wächst auf Lesbos ein neues Camp heran. Es liegt keine fünf Autominuten vom alten Camp entfernt, nur nicht im Inland, zwischen Olivenbäumen, sondern auf einer Art Halbinsel, die wie ein Sporn ins Meer ragt. Kara Tepe, so lautet der Name des Ortes, zu Deutsch ›Schwarzer Hügel‹. Es gibt Berichte, wonach längst nicht alle aus dem alten in das neue Camp übersiedeln wollten. Doch schon anderthalb Wochen nach dem Brand ist der ›Umzug‹ ohne größere Zwischenfälle, ohne den erwarteten Knall so gut wie abgeschlossen. Die meisten Kamerateams besteigen die Flugzeuge zurück in die Städte ihrer Redaktionssitze. Am Samstag, dem 19. September, ist der eine Woche zuvor eingerichtete Themenschwerpunkt ›Lesbos‹ aus der Audiothek des Deutschlandfunk wieder verschwunden.

Die Grenzen des Glücks

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