Читать книгу Dummes Mädchen, schlaues Mädchen - Ein Fall für Harald Steiner - Ansgar Morwood - Страница 6

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2. Heiko Nille im Visier

Erster Donnerstag nach der Ermordung Angela Jahns

Meistens, wenn ein neuer Fall in Angriff genommen werden musste, fand die erste reguläre Arbeitsbesprechung im Büro der Leiterin des Morddezernates, Patricia Unkel, statt. Das war auch an diesem Morgen um halb neun der Fall. Erschienen waren Boomberg, Lambrecht, Steiner, Frisch, Schmidt, Monika Steiner, - Ehefrau und Assistentin Harald Steiners -, der Polizeipsychologe Meyers und natürlich auch die Kriminalrätin, die hier im Prinzip den Vorsitz führte, sich aber in Fällen, die unter Steiners Leitung fielen, lieber kompetenz- und rangmäßig im Hintergrund hielt.

Harald legte zunächst sachlich den Vorgang nach den gesicherten Fakten dar, um dann selber die Fragen aufzuwerfen, die bei solchen Ermittlungen immer am Anfang aller weiteren Erörterungen stehen: „Wer kommt als Täter und wer eventuell als Auftraggeber des Mordes in Frage, und was sollte mit diesem Mord bezweckt werden?“ Typisch dieser Hauptkommissar, ließ er keine Zeit verstreichen, auch selber die Antworten anzubieten. „Der per Video erfasste Mörder scheint keinen direkten Bezug zu seinem Opfer zu haben. Er rempelt Angela Jahn an, beschimpft sie nur ganz kurz, aber heftig, haut ihr mit der flachen Hand ins Gesicht und zieht ohne Vorwarnung seinen Dolch, oder welcher Art die Stichwaffe auch sonst gewesen sein mag. Dann flüchtet er in die Antonsgasse, wo sich seine Spur verliert. Er hat sie nicht beraubt. Nach allem, was wir über solche Tathergänge wissen, könnten wir es schlichtweg mit einem Psychopathen zu tun haben. Wäre ihm nicht die Jahn über den Weg gelaufen, hätte es eine oder einen anderen getroffen. Auffallend ist seine Zielgenauigkeit. Alle drei Einstiche galten der Herzgegend. Das widerlegt zwar nicht die Theorie vom Psychopathen, belegt aber die eindeutige Mordabsicht. Interessant sind Ort und Zeitpunkt des Geschehens. Mitten in der belebten Fußgängerzone zu einer Zeit, zu der sich noch massenhaft Menschen dort aufhielten. Auch das würde zu einem Bekloppten passen. Je mehr Publikum, desto größer der Reiz. Gesellt sich hinzu, dass solche Anomalen auf dem Höhepunkt ihres Wahns nicht einmal befürchten, erkannt zu werden, sondern gerade das sogar beabsichtigen. Zig Zeugen, womöglich noch hier oder dort ein mitlaufendes Videoband, das ist für solche Leute fast schon so etwas wie ein Orgasmus. Das Weglaufen ist dann nur noch identisch mit einem kindischen ‚fangt mich doch, wenn ihr könnt’. Die Alternative wäre der berechnete Vorsatz…“

„Nichts Neues,“ moserte Patricia. „Dein Steckenpferd sind ja immer schon die vorsätzlichen Morde gewesen.“

Harald sah sie herablassend spöttisch an. „Ja, und das immer noch gut begründet. Dieser Heiko betreibt sowieso Geschäfte, die er niemals auf seine Art und erst recht nicht so, wie er sie betreibt, mit Erfolg betreiben kann. Mein Verdacht ist dahingehend, sein Handel basiert auf Illegalität. Bei Handel mit Autoteilen fallen mir weiter unbesehen gleich zwei Dinge ein. Ehemalige Ostblockstaaten und Autodiebstahl. Und wenn wir schon in dem Milieu verkehren, sind Dinge möglich, die bei normalen Transaktionen nicht möglich sind. Kommt hinzu, dass Angela Jahn vor einigen Jahren selber einmal aggressiv in Erscheinung getreten ist und dabei eine Kollegin verletzt hatte. Muss nichts bedeuten, kann aber doch von Relevanz sein. Dann wäre da noch der Umstand, dass die Jahn sich selbständig machen wollte, und das hätte ihrem bisherigen Chef nicht unbedingt gefallen müssen. Realistisch betrachtet, bleibt die Variante des Psychopathen in dieser Phase unserer Ermittlungen im Rennen. Haben wir es aber mit einem hintergründigen Vorsatz zu tun, werden sich unsere Überlegungen zunächst auf das direkte Umfeld Angela Jahns und das Heiko Nilles konzentrieren. Die Motive können Unregelmäßigkeiten in Nilles Geschäften sein, das Geschäftsvorhaben der Jahn oder etwas, was sie aus ihrer Vergangenheit hierher eingeholt hat.“

Karl Meyers meldete sich zu Wort. „Wenn es sich bei dem Kerl um einen geistig Verwirrten handelt, dann dürfte er sich sein Opfer sehr bewusst ausgewählt haben. Entweder anhand äußerlicher Merkmale oder aber anhand einer früheren Begegnung. Im ersten Fall hieße das, er hasst Frauen, die wie das Opfer aussehen, im zweiten könnte zum Beispiel verschmähte Liebe im Spiel sein oder ein geringfügiger Vorfall, der vom Täter als gar nicht so geringfügig empfunden worden ist, wofür andere Leute gewiss nicht zu einer Stichwaffe greifen würden. Plastisch ausgedrückt, er könnte sich über einen ihm nicht genehmen Haarschnitt aufgeregt haben, den sie ihm verpasst hat, oder darüber, dass sie ihren Hausmüll nicht ordnungsgemäß getrennt hat. Gefällt ihm der Typ Frau nicht, weshalb er Frau Jahn tötete, dürfte er Frauen mit ähnlichem Aussehen auch vorher schon ein oder mehrere Male angegriffen haben, jedoch mit Gewissheit wird er es in Zukunft wieder tun, wenn das hier seine erste Tat aus diesem Grunde war. Das Interessante an solchen Psychopathen ist, dass sie durchaus berechnend vorgehen können, obwohl ihre Triebfeder irrsinnig ist.“

Hierzu meinte Monika: „Wenn er bereits zuvor auf Frauen, die Angela Jahn ähnlich sehen, Attentate verübt hat, müsste das doch aktenkundig sein.“

„Ganz recht,“ stimmte ihr Meyers zu. „Auch ohne großes Beschauen kann ich Ihnen versichern, dass wir aktuell keine bekannten Fälle dieser Art in unserem Bereich vorliegen haben. Wenn also nur der Typ der Frau für seine Aktion maßgeblich ist, war das hier sein erstes Opfer in unserem Revier. Liegt allerdings eine Bagatelle der Sache zu Grunde, muss er ihr schon früher begegnet sein.“

„Sehr aufschlussreich,“ spottete Steiner. „Also hat ein Psychopath als Triebfeder, seine Opfer umzubringen, weil sie einer bestimmten Person ähnlich sehen, oder aber weil sein Opfer ihm die Vorfahrt genommen hat. Sei’s drum. Wir können einen Irren als Täter nicht ausschließen. Ich aber empfinde diese Theorie als zu aufgesetzt. Wie sagtest du gerade noch, Karl? Trotz ihres geistigen Knackses können solche Heinis berechnend vorgehen. Dann wäre meine ‚Orgasmustheorie’, er geile sich an möglichst großem Publik während seiner Tat auf, hinfällig.“

„Nun ja“ korrigierte der Polizeipsychologe, „berechnend sein können, ist nicht gleichzusetzen mit berechnend sein müssen.“

„Auch sehr aufschlussreich, Meister,“ sprach Harald hochnäsig. „Es gibt also keinen echten konkreten Anhaltspunkt, dass der Bursche kirikiri ist, und auch keinen, dass er es nicht ist. Doch zumindest haben wir ja Aufnahmen von ihm und Augenzeugen, die ihn gesehen haben. Heinz, liegen bereits Phantombilder nach deren Angaben vor? Ist die Tatwaffe inzwischen irgendwo aufgetaucht?“

„Tatwaffe bislang Fehlanzeige,“ antwortete Schmidt. „Was die Porträts angeht, habe ich sie mitgebracht, zusammen mit den Zeugenaussagen.“ Er schob einen beachtlichen Stapel von etwa 50 Blättern seinem Chef über den Tisch zu. Der nahm sie sich Stück für Stück im Schnelldurchgang vor, runzelte mehrfach die Stirn und grunzte schließlich verächtlich: „Warum können nicht ein einziges Mal alle Zeugen dasselbe aussagen, beobachtet zu haben. Alleine schon die Körpergröße des Angreifers variiert zwischen 1,70 und 1,85 Meter. Und von Bild zu Bild kann ich nur eine annähernde Ähnlichkeit ausmachen.“

Boomberg stellte richtig: „Die Körpergröße konnte anhand der Videoaufnahmen in etwa ermittelt werden. Größer als 1,75 Meter, aber keineswegs als 1,80.“

Frisch wusste zu berichten, das einzige von den Zeugen wahrgenommene Wort, das der Täter seinem Opfer zugerufen hatte, sei „Schlampe“ gewesen.

„Schlampe?“ Steiner schwieg einige nachdenkliche Sekunden. „Demnach sollte wohl der Eindruck geweckt oder zum Ausdruck gebracht werden, die Jahn habe es mit anderen Männern getrieben. Mit anderen Männern als mit welchem Mann? Dem Täter? Heiko Nille? Einem anderen? Wir wissen, dass er zielstrebig auf sie zuging. Wir dürfen annehmen, dass seine Absicht ihre Tötung war. Soll ‚Schlampe’ der Grund sein, oder nur die Verschleierung des wahren Motivs? Doch lassen wir noch einmal auf das Äußere des Täters zurückkommen, insbesondere auf seine Gesichtsmerkmale. Auch wenn die Bilder, die anhand der Angaben der Passanten gemacht wurden, leicht variieren und die Aufnahmen nicht gerade als besonders gelungen zu bezeichnen sind, habe ich stark den Eindruck, den Typ als aus einem südlichen Raum stammend einordnen zu dürfen.“

„Du immer mit deinen Pauschalverdächtigungen,“ ärgerte sich die Unkel.

Doch Doktor Lambrecht pflichtete dem Leiter des K2 bei und belehrte Patricia. „Frau Kriminalrätin, es wird allgemein vor der Öffentlichkeit verschwiegen und das aus guten Gründen, aber auch Sie dürften wissen, dass wir heutzutage immer noch bei der Suche nach der Herkunft von Tätern deren äußerlichen Merkmale nach gewissen Kriterien einzuschränken versuchen, die auf Theorien und Untersuchungen basieren, deren Ursprünge ins 19. Jahrhundert hineinreichen und die im Dritten Reich verfeinert worden sind. Bedauerlicherweise kann man nicht publik zugeben, dass wir uns auch heute noch bei der Feststellung der Herkunft von Personen gelegentlich immer noch dieser Kriterien bedienen, weil sie nun einmal zumeist zutreffend sind.“

Patricia winkte genervt ab. „Ja, ja! Lassen wir das Thema.“

„Das würde ich mal nicht sagen,“ opponierte Harald. „Psychopathen, wie wir sie in unseren Breitengraden kennen, sind in der Regel unterbelichtete Deutsche. Bei Ost- und Südeuropäern, sowie bei Orientalen haben Ausraster dieser Art deutlich kulturell bedingte Hintergründe. Vendetta, Blutschande, Beleidigungen und Ähnliches. Oder aber sie arbeiten im Auftrag. Demnach dürften also nur noch verschmähte Liebe und Auftrag im Rennen bleiben. Also werden wir uns mit Angelas Jahns Verhältnissen der letzten zwei Jahre, seit sie nach Köln kam, auseinandersetzen. Ich prophezeie aber jetzt schon, da ist nichts gelaufen und schon gar nichts mit einem Jugo, Italiener oder Araber. Parallel dazu, - das ist aber bereits von mir in die Wege geleitet worden -, muss Heiko Nille auf Herz und Nieren überprüft werden. Das sind Dinge, denen erst einmal Heinz, Ralf und Monika nachzugehen haben. Ich werde mich um diesen Maître André kümmern und in Angelas Vergangenheit zu ihren Kasseler Zeiten eintauchen.“

„Mach, was du für richtig erachtest,“ sagte die Unkel, die ohnehin in Haralds Arbeiten kein Veto einlegen konnte. „Hauptsache die Chose bekommt Kontur. Wäre sonst noch etwas anzumerken?“

Es gab momentan nichts mehr, was die Runde zu diesem Fall beitragen konnte.

Heiko Nille hatte in der vergangenen Nacht neue Freundschaften mit zwei alten Whiskyflaschen geschlossen. Dementsprechend verkatert war sein Erwachen. Mit raschen Schritten holten ihn die Erinnerungen an die Ereignisse wieder ein. Da lag der erneute Griff zur Flasche nahe. Er stand auf, zog sich seinen Morgenmantel an und ging ins Wohnzimmer. Er goss sich von einem 12 Jahre alten Scotch in das Glas vom Vortag. Als er gerade das Glas an seinem Mund ansetzen wollte, schrillte sein Telefon. In seiner Situation kam ihm dieses Schrillen wie Fliegeralarm vor. Lustlos und nur, um dem Geräusch ein Ende zu setzen, drückte er auf die Annahmetaste.

„Gut geschlafen, Heiko?“ dröhnte eine gesetzte Männerstimme aus dem Lautsprecher, die nicht minder unangenehm herüberkam als das Schrillen zuvor, zumal Heiko diese Stimme in nicht allzu guter Erinnerung hatte. Sie gehörte dem Mann, der von ihm 50.000 Euro Schweigegeld pro Monat verlangte.

„Bitte nicht jetzt,“ lallte Nille.

„Jetzt ist aber der beste Zeitpunkt, das Geschäft in Kannen und Krügen zu gießen. Doch sei beruhigt. Ich bin ja kein Unmensch. Du sollst dich erst einmal von deinem gestrigen Alkoholexzess bis zum Abend erholen können, vorausgesetzt, du lässt jetzt erst einmal das Trinken sein. Wir erwarten dich dann um 20 Uhr im Lugano. Du weißt, wo das ist?“

„Ja, ja!“ Heiko hörte sich schon etwas wacher, aber keineswegs munterer an. „Irgendwo beim Hansaring. Aber das Geld kann ich so schnell nicht in bar auftreiben.“

„Darum geht es jetzt auch noch nicht,“ sprach der Anrufer in ruhigem Ton. „Wir wollen erst einmal die Modalitäten auf Augenhöhe verhandeln.“

„Verhandeln?“ kam es höhnisch über Heikos Lippen.

„Tja, mein Freund, jetzt, wo deine Schnalle das Zeitliche gesegnet hat, sind die Karten noch anders gemischt als vorher.“

„Ja, aber…“ Mehr konnte Nille nicht sagen, weil er unterbrochen wurde.

„20 Uhr im Lugano.“ Es knackte in der Leitung. Der Anrufer hatte aufgelegt.

Monika hatte von Harald die wenig beneidenswerte Aufgabe erhalten, die Eltern von Angela Jahn anzurufen und sie über das Ableben ihrer Tochter zu unterrichten. Eigentlich hätte die Kripo Köln eine andere Form der Informationsweitergabe wählen können oder gar müssen, nämlich die über die Polizei Kassel. Aber Steiner hatte sich fest vorgenommen, alle eventuell relevanten Kontaktnahmen nur über sein Büro laufen zu lassen. Da er aber schon auf dem Weg zu Maître André war, der in Wirklichkeit Andreas Zeisler hieß, hatte er diesen Part seiner Frau übertragen.

Weil Peter Jahn (54) auf der Arbeit war, erreichte Monika Steiner nur seine Frau Magda (52). Andersherum wäre vermutlich besser gewesen, denn was diese Mutter nun in ihrem Leid alles von sich gab, forderte von der jungen Kriminalassistentin das Können eines Psychologen oder Seelsorgers ab. Irgendwann sah sie sich genötigt, die Frau zu bitten, umgehend ihren Mann anzurufen und ihn zu informieren, damit sie sich endlich dieses lästigen Gesprächs entledigen konnte. Das erwies sich als ein geschickter Schachzug. Zehn Minuten nach Beendigung des Telefonats mit Frau Magda Jahn rief Peter Jahn auf Monikas Anschluss an. Auch er vermittelte den Eindruck eines Fassungslosen, gewann aber nach dem Austausch einiger Sätze den Boden der Realitäten wieder.

„Wenn ich das richtig sehe, wissen Sie noch nicht, wer den Mord begangen hat.“

„Das sehen Sie richtig,“ bestätigte Monika. „Wir haben sehr gute Indikationen, was den Täter angeht. Hauptkommissar Steiner geht von einer Person aus, die aus dem südeuropäischen Raum oder dem Orient stammt. Den bisherigen Ermittlungen zufolge ist er nicht älter als 25, trägt einen Vollbart und dürfte etwa 1,75 bis 1,80 Meter groß sein. Können Sie mit dieser Beschreibung etwas anfangen? Vielleicht ein ehemaliger Freier Ihrer Tochter?“

„Meine Tochter und ein Albaner oder so?“ Aus Jahns Worten triefte regelrecht die Verachtung. „Angela hatte nur eines im Kopf: Ganz schnell ganz reich und berühmt werden. Ein nobeler Vorsatz, aber ziemlich unrealistisch. Allerdings implizierte das bei der Wahl ihrer Verehrer einen gewissen Besitzstand. Sicherlich gibt es auch reiche Leute auf dem Balkan, aber die werden sich doch nicht zu einer solchen Tat herablassen. Zudem ist mir nichts über eine Relation Angelas mit einem solchen Mann bekannt. Hier in Kassel hatte sie vor drei Jahren einen Freund, der ein Brautmodengeschäft betrieb. Das ist aber ein Einheimischer, und der Nächste, mit dem sie meines Wissens so richtig angebändelt hat, war dieser Heiko Nille in Köln. Sie könnte jedoch zwischendurch einige Affären mit Männern gehabt haben, aber bestimmt nicht mit solchen ohne Geld. Verstehen Sie?“

Monika verstand, sah aber nicht, weshalb ein Südeuropäer demzufolge nicht als Freier in Frage kommen sollte. „Sie kennen Heiko Nille persönlich?“

„Ja, Angela hatte ihn meiner Frau und mir vor einigen Monaten vorgestellt. Der Mann hat Manieren, stellten wir fest, weshalb wir wirklich keine Einwände gegen die Verlobung der beiden hatten.“

„Vor allem hat der Mann Geld,“ konnte sich Monika nicht verkneifen zu sagen. „Hat er Ihnen auch gesagt, wie er an sein Vermögen gekommen ist und womit er sein Geld verdient?“

„Er treibt im großen Stil Handel mit Autos und Autoteilen. Genau hinterfragt haben wir das nicht. Ich hätte eh nichts davon kapiert. Das ist nicht meine Branche.“

„Wir haben einen Aktenvermerk zu Ihrer Tochter, laut der sie von einem Jugendgericht wegen einer aggressiven Handlung zu einer geringfügigen Strafe verurteilt worden war. Können Sie mir etwas Genaueres dazu sagen.“

„Eine leidige Geschichte, Frau Kommissarin.“ Anscheinend empfand Jahn den Vorfall tatsächlich als leidig, denn er seufzte hörbar laut und einige Sekunden anhaltend. „Während ihrer Lehre hatte sie laufend Ärger mit einer anderen Auszubildenden, die sie mobbte, wo es nur ging. Irgendwann riss bei Angela der Geduldsfaden und sie hat das Mädchen mit einer Schere angegriffen. Ihr Meister konnte das Schlimmste verhindern.“

„Wie hieß die Auszubildende?“ wollte Monika wissen.

„Frau Mink,“ Monika nannte sich im Dienst immer noch Mink, was ihr Mädchenname war, „wie das Gör heißt, ist mir längst entfallen. Ich weiß nur, sie hat Angela später immer noch Probleme besorgt. Wohl weil ihr Meister sie nach dem Vorfall gefeuert hat.“

Andreas Zeisler (34) zeigte sich von der Nachricht über Angelas Ermordung so sehr betroffen, dass er abrupt mit seinen kreativen Bemühungen an der Haarpracht einer seiner treuesten Kundinnen stoppte und sehr zum Missfallen dieser Madame eine seiner Gesellinnen anwies, die Prozedur fortzusetzen. Er bat Steiner, ihm in sein Büro zu folgen. Das war genauso elitär eingerichtet wie der Salon. Der Schreibtisch bestand aus einer massiven, durchsichtigen Glasplatte, die vollkommen aufgeräumt und sauber wirkte, als wäre sie noch nie benutzt worden. Sie wurde von einem filigranen, bronzenen Drahtflechtwerk getragen. Der Drehstuhl dahinter sah aus wie eine halbierte übergroße Eierschale aus weißem Kunststoff mit einem durchgehenden braunen Kordpolster als Sitz und Rückenlehne. Ganz ähnlich die beiden Besucherstühle vor dem Tisch. An sonstigem Mobiliar gab es noch einige Vitrinenschränke, deren Funktion auch nur dekorativer Art war. Zeisler bot dem Kriminalbeamten einen Platz an und setzte sich auf den Drehstuhl.

„Ermordet, sagten Sie? Das kann doch gar nicht sein. Wer sollte sie denn ermorden wollen?“

„Das fragen wir uns natürlich auch,“ erwiderte Harald. „Und um uns ein Bild über ein mögliches Tatmotiv zu machen, tauchen wir nun intensiv in ihr Umfeld ein. Zunächst einmal würde ich gerne von Ihnen wissen, was Sie über Angela Jahn zu erzählen haben.“

„Da gibt es eigentlich wenig zu erzählen,“ äußerte sich Maître André. „Sie bewarb sich vor etwas mehr als zwei Jahren bei uns. Da hatte sie noch kurz vor der Meisterprüfung gestanden. Ich stellte sie auf Probe ein und stellte ihr eine Festanstellung in Aussicht, wenn sie den Meisterbrief erhalten würde. In der Regel rekrutieren wir unser Personal aus dem von uns selber ausgebildeten Lehrlingsbestand. Da weiß man dann genau, was man an ihnen hat. Dummerweise waren zu der Zeit unsere Lehrlinge nicht von der Geschicklichkeit, dass wir sie später hätten übernehmen wollen. Also kam uns die Angela ganz recht, und sie überraschte uns mit ihren Qualitäten, ihrem enormen Fleiß, ihrer Hingabe fürs Metier und ihrer besonders gelungenen Art, Kunden zu unterhalten. Wir boten ihr also eine Feststelle an und haben es nie bereut.“

„Sie sprechen laufend im Plural. Wen meinen Sie mit wir und uns?“ interpellierte der Hauptkommissar.

„Wir, das sind meine Frau und ich. Hetty, also meine Frau, ist Mitinhaberin und arbeitet halbtags im Salon mit. Momentan ist sie nicht hier,“ erklärte Zeisler.

„Schön, dann fahren Sie bitte fort.“

„Angela machte sich so gut, dass wir ihr auf Dauer immer mehr Verantwortung anvertrauten. Normalerweise schlossen wir den Salon immer im Januar und im Juli jeweils während zwei Wochen wegen unserer Urlaube. Doch dann haben wir versucht, das Geschäft unter ihrer Regie während unserer Abwesenheit offen zu lassen und waren angenehm vom Resultat überrascht, da die Umsätze konstant geblieben waren. Tja, und dann lernte sie diesen Heiko kennen, mit dem sie dann auch zusammengezogen ist. Der Nille war offenbar für sie die Liebe ihres Lebens, denn schon nach einigen Monaten, - das war etwa vor vier Wochen, bat sie uns -, ihre Stelle nur noch halbtags wahrnehmen zu dürfen. Begeistert waren wir wahrlich nicht, aber eine Angela halbtags hier zu haben, war immer noch besser als gar keine Angela. Es trat dann ein, was wir befürchteten, nämlich dass Angela diesen Nille heiraten und sich ganz aus der Branche zurückziehen wollte. Zum Glück hat sie uns rechtzeitig vorgewarnt, zum Letzten des Februars auszuscheiden. So hätten wir uns nach Ersatz für sie umsehen können.“ Andreas Zeisler grübelte kurz. „Aber Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wie und wo Angela getötet wurde.“

„Die Tat wurde gestern kurz vor 18 Uhr in der Schindlergasse verübt. Der Täter hat sie angerempelt, beschimpft und ohne Vorwarnung dreimal auf sie eingestochen. Sie verstarb wenige Minuten später. Der Angreifer flüchtete. Es gibt aber einige interessante Aufnahmen, auf denen man den Kerl sehen kann, wenn auch nicht sehr deutlich, und Phantombilder, die anhand von Zeugenaussagen angefertigt wurden.“ Steiner legte eine Auswahl der Bilder, die mit der Kamera gemacht worden waren, und der Phantombilder auf die Glasplatte. Zeisler nahm sie und betrachtete sie Stück für Stück.

„Sieht aus, wie ein Ausländer. Bei uns kann der Mann nicht Kunde gewesen sein. Mit so einem ungepflegten Bart hätte er unseren Salon nie verlassen dürfen. Das wäre ja Geschäftsschädigung hoch drei.“

„Also kennen Sie diesen Typen nicht?“

„Parbleu!“ empörte sich der Maître. „Weder in unserem Salon noch in unserem privaten Umfeld verkehren Leute, die mit Messern auf junge Damen einstechen.“

Blöder Snob, dachte Harald. „Bleiben wir noch eben bei Ihrem persönlichen Wissen über Angela Jahn. Gab es vor oder zeitgleich zu Nille andere Verehrer Angelas?“

„Aber ich bitte Sie, Herr Hauptkommissar,“ gab sich Zeisler weiterhin arrogant. „Wir schnüffeln nicht hinter unserem Personal her. Dass sie mit Heiko Nille liiert war, wussten wir in erster Instanz von ihr selber. Später machten wir dann auch persönlich seine Bekanntschaft, da er sich dann auch seine Haare bei uns stylen ließ. Ein äußerst umgänglicher Mensch, muss ich zugeben. Ich glaube nicht, dass sie bei ihm in die falschen Hände geraten war. Außerdem denke ich, dass sie in den beiden Jahren, die sie bei uns war, bevor sie Heiko kennen lernte, keine tiefer gehenden Männerbekanntschaften gehabt hat. Dass dem nicht so gewesen sein dürfte, dafür gab es zwei Indikationen. Erstens ist sie nie mit diesem besonderen Blick morgens zum Dienst erschienen…“

„Besonderer Blick?“ hakte Steiner nach, der sehr wohl wusste, was gemeint war.

„Nun, diese glasig glücklichen Augen, die Frauen manchmal so haben.“ Dem Meister schien dieses Thema wenig zu behagen. „Na ja, und die zweite Indikation, die Männerbekanntschaften für eher unwahrscheinlich erscheinen lassen, leitet sich aus dem Getuschel der weiblichen Angestellten ab. Frauen können selten etwas für sich behalten. Schon am Tag, nachdem Nille in Angelas Leben getreten war, wussten meine Frau und ich darüber Bescheid, weil es die Angela den anderen Mädchen gesagt hatte und die es meiner Frau kolportierten. Hätte sie vorher eine ähnliche Bekanntschaft gemacht, wäre mir das wohl auch zu Ohren gekommen.“

„Stichwort die anderen Mädchen. Wie war denn das Verhältnis zwischen Angela und ihren Kolleginnen? Gab es Unstimmigkeiten? Man könnte sich vorstellen, dass ihre Kolleginnen ihr bei ihrer exponierten Stellung auch mit Neid begegneten.“

„Meine Frau und ich dulden keine Streitigkeiten im Salon. Käme so etwas vor, würden wir sofort dazwischen gehen. Das wissen die Angestellten. Das impliziert aber auch, dass ich Ihnen nichts Sinniges darüber sagen kann, ob es nicht doch Eifersüchteleien gegeben hat.“

„Sie gingen also davon aus, Frau Jahn wollte zum ersten März aus Ihren Diensten treten, um sich fürderhin besser ihrem zukünftigen Gatten widmen zu können.“

„Aber sicher doch,“ zeigte sich Zeisler ungehalten. „Der Mann hat doch genug Geld, eine Frau unterhalten zu können, von der er erwarten darf, dass sie rund um die Uhr für ihn da ist.“

„Interessante Einstellung,“ äußerte sich der Hauptkommissar. „Also ist bei Ihnen nie der Verdacht aufgekommen, die Frau Jahn könnte sich als Frisöse selbständig haben machen wollen?“

„Wie kommen Sie denn darauf? Mit einem einigermaßen begüterten Ehemann wäre das doch bestimmt abwegig, da überflüssig gewesen.“

„Finden Sie? Da bin ich aber anders informiert.“ Es schien Harald zu erheitern, dem Coiffeur einen mittelgroßen Schock zu bescheren, wenngleich er sich nicht sicher war, ob dieser nicht schon längst im Bilde war. „Frau Jahn hat ihren Tagesjob auf einen Halbtagsjob reduziert, weil sie mehr Zeit für organisatorische Tätigkeiten benötigte. Und die Kündigung hat effektiv damit zu tun, dass sie zum ersten März unweit von Ihrem Salon einen eigenen Salon eröffnen wollte. Das sollen Sie nicht mitbekommen haben?“

Der Meister war oder tat verwundert. „Angela sich selbständig machen? Dazu gehört doch mehr, als nur das Fach des Hairstylisten zu beherrschen. Wirtschaftliche Kompetenz, vertrauenswürdiges Personal, einen Anfangsbestand an Klientel…“

„Eben Maître, das scheint sie wohl alles allmählich und minutiös in die Wege leiten haben wollen. Dass sie geschäftstüchtig war, haben Sie ja selber gerade zum Ausdruck gebracht. Hätte sie sonst etwa Ihren Salon während Ihrer Abwesenheit leiten dürfen? Mehr beschäftigen mich da die beiden anderen Komponenten, die Sie hervorgehoben haben, nämlich das anzuwerbende Personal und die ersten Kunden. Wäre ich an ihrer Stelle gewesen, hätte ich mich zuerst dort umgesehen, wo ich mich am besten auskenne, in dem Laden, in dem ich beschäftigt bin. Und schon wieder komme ich auf eine Ihrer Aussagen von vorhin zurück. Frauen, - gemeint war in diesem Fall Ihr weibliches Personal, nehme ich an -, können selten etwas für sich behalten. Bleiben Sie also dabei, nichts von Frau Jahns Vornehmen gewusst zu haben?“

Zeisler hob beide Arme mit ausgestreckten Händen in die Höhe. „Mein Gott, wenn ich so etwas geahnt hätte, hätte ich sie doch zur Rede gestellt. Wenn sich so etwas bewahrheitet hätte, hätte ich sie sofort entlassen, wenn nötig mit Fortzahlung ihres Gehaltes bis zum Tag des offiziellen Ausscheidens, wie es die Arbeitsgesetze vorsehen.“

„Womit Sie sich ihrer künftigen Konkurrenz immer noch nicht entledigt hätten,“ konkludierte Steiner und erntete dafür einen Blick, der ihn, wenn es machbar gewesen wäre, getötet hätte.

Heinz Schmidt kehrte von seinem Rundgang durchs Präsidium ins Assistentenbüro zurück und berichtete Ralf und Monika, was er dabei so alles gewahr geworden war.

„Der Name Heiko Nille ist den Kollegen von der SOKO Autodiebstahl nicht unbekannt. Sie werden des Kerls aber nicht habhaft. Sein Name ist hier und dort schon mal im Zusammenhang mit Autoaufbrüchen und Autodiebstählen gefallen. Aber alle Hinweise auf ihn waren so vage, dass man es sich nicht erlauben konnte, Hausdurchsuchungen bei ihm zu veranstalten. Man weiß auch, dass er beim Finanzamt mit einer weißen Weste dasteht. Das wiederum entnahm der Staatsanwaltschaft jegliche Möglichkeit, Nilles Telefone abhören zu lassen. Kurzum, man vermutet seine Beteiligung an Autodiebstählen, hat aber keine Handhabe, ihm auf die Schliche zu kommen.

„Hat man denn wenigstens seine Konten überprüfen können?“ fragte Frisch.

Heinz hielt seine Hand rechts von seinem Mund, als wollte er etwas mitteilen, was andere als seine beiden Kollegen nicht vernehmen sollten. Dabei waren sie sowieso unter sich. „Eigentlich hätten die von der SOKO das auch nicht gedurft, haben es aber trotzdem gemacht. Was über seine Konten läuft, ist clean. Natürlich hat man ihn auch einige Zeit observiert. Aber der Bursche bewegt sich einfach nicht. Will sagen, er lebt nach außen hin in den Tag hinein, ohne irgendwie ansonsten in Berührung mit der Ware zu kommen, die er verhökert.“

Nun erzählte Monika, von ihren Gesprächen mit den Eltern und rundete ihren Bericht mit den Worten ab: „Der alte Jahn ist allen Ernstes Vornehmens, nach Köln zu kommen, um uns bei unseren Ermittlungen auf die Finger zu schauen.“

Heinz brach in schadenfrohes Lachen aus, an dessen Ende er gluckste: „Da wird sich unser Chef aber richtig freuen. Vermutlich wird er ihn an die Unkel verweisen, damit die sich mit ihm abplagen muss.“

Der Kommissariatsleiter hatte sich von Maître André sämtliche Adressen seines Personals geben lassen, aber darauf verzichtet, die im Salon anwesenden Angestellten direkt zu befragen. Er zog es vor, zu Fuß bis zu Nilles Wohnung zu pilgern, um diesen erneut zu vernehmen, obwohl ihm noch nicht klar war, was er ihn denn überhaupt fragen wollte. Schließlich war noch immer nichts Neues aufgetaucht, worüber Nille eventuell nähere Auskunft hätte geben können.

Nille war immer noch mit einem Morgenrock bekleidet, als er dem Hauptkommissar die Wohnungstür öffnete. Sein Äußeres wirkte auf den Hauptkommissar, wie das eines gerade aus dem Bett Geklingelten, seine Fahne wie die, eines gerade erst ins Bett Gegangenen. Passend zu beiden Optionen Heikos Reaktion.

„Oh, Sie, Herr Kommissar! Ist was passiert?“

Steiner schnaubte. „Was passiert ist, dürfte ja wohl reichen,“ und spazierte unaufgefordert durch die Tür den Gang hindurch bis ins Wohnzimmer, wo er sich genauso uneingeladen in einen Sessel setzte. Nille war ihm hilflos und perplex gefolgt, fand aber nicht die Kraft, irgendwie gegen Steiners selbstherrliches Auftreten zu opponieren, sondern ließ sich selber auf sein Sofa nieder. Harald erfasste mit einem Augenaufschlag den Grund für Nilles Zustand, der auf dem Salontisch stand. Daher seine Bemerkung: „Sie scheinen schwer an Frau Jahns Tod zu tragen.“

Fast schon über diese Feststellung Steiners erleichtert, antwortete Heiko: „Ja, das sehen Sie richtig.“

„Nun, ich bin nicht hier, um Ihnen über Ihren Schmerz hinwegzuhelfen. Dazu fehlen mir augenblicklich das Feingefühl und die Zeit. Ich bin hier, um Sie zu bitten, mir Einblick in Angelas privaten Nachlass nehmen zu lassen, eventuell auch mir zu erlauben, mir wichtig erscheinende Dinge daraus mitzunehmen. Wären Sie damit einverstanden? Ich darf doch annehmen, dass sie ihre gesamte Habe bei ihrem Einzug bei Ihnen eingelagert hat.“

Heiko zögerte und überlegte. Angela hatte nie mitbekommen, womit er sein Geld machte. Für ihre geschäftlichen und privaten Papiere hatte er ihr ein verwaistes Schlafzimmer zur Verfügung gestellt, das so zu ihrem Arbeitszimmer geworden war. Die Möbel aus ihrer alten Wohnung hatte er in eine der beiden hinter dem Haus befindlichen Garagenboxen einlagern lassen. Einige kleinere Utensilien hatten eine vorläufige Bleibe auf dem Dachboden gefunden. Nur ihre Kleider und ihr Make-up hatte sie in ihrem zum gemeinsamen Schlafgemach gewordenen Zimmer untergebracht. Im Badezimmer befanden sich auch noch einige Sachen von ihr. Unter dem Strich gab es keinen Grund, dem Ermittler diesen Wunsch zu verwehren, zumal in allen diesen Räumen nichts zu finden war, was auf Heikos Geschäfte hinwies. So kurz diese Reflexionen auch waren, Harald hatte sie irgendwie unausgesprochen wahrgenommen.

„Selbstverständlich dürfen Sie das.“ Er erhob sich träge und redete weiter: „Folgen Sie mir bitte.“ Was Steiner auch tat. Zunächst führte ihn Nille in Angelas Arbeitszimmer. „Sehen Sie sich in aller Ruhe um, Herr Kommissar. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, werde ich mich in der Zwischenzeit frisch machen und mich anziehen.“

Das hätte natürlich auch der Versuch Nilles sein können, schnell das wegzuräumen, was ihn aus Angelas Besitz als potenziellen Urheber ihrer Ermordung in Verdacht bringen konnte. Allerdings wussten beide Männer, dass diese Annahme unsinnig war, denn Heiko hätte genau das bereits vor dem Mord getan. Also sah sich Steiner nicht veranlasst, einen Einwand zu erheben, der ihm in der momentanen Situation ohnehin nicht zustand vorzubringen.

Heiko beeilte sich mit seiner Morgentoilette und dem Ankleiden. Provisorisch strich er die Bettbezüge glatt, kehrte in den Raum zurück, in dem er den Polizisten zurückgelassen hatte, und fragte: „Kaffee? Espresso?“

Harald schaute auf seine Armbanduhr. Es war Viertel nach zwölf, eigentlich Essenszeit. Aber er hatte kein Hungergefühl. Kaffee war ihm recht. Also schlurfte Nille zur Küche.

Steiner hatte inzwischen einige Schubladen in Angelas Büro durchforstet. Prospekte jüngeren Datums über Einrichtungen und Gegenstände für Frisiersalons und dergleichen überwogen. Nur ein Ordner, - wenn auch schon ziemlich gut gefüllt -, hatte mit dem gesamten Gründungsverfahren für den neuen Salon zu tun. Des Weiteren fand er eine Korrespondenzmappe, die ebenfalls mit der Geschäftsgründung zu tun hatte. Echt private Niederschriften konnte er nicht ausfindig machen, obschon er sich sicher war, dass es die gegeben haben musste. Dann kam Nille erneut ins Zimmer und verkündete, der Kaffee warte in der Küche auf seine Abnehmer. Steiner folgte dem Hausherrn in die Küche, die, wie er es erwartet hatte, rundum bestens ausgestattet war und natürlich nicht von einem x-beliebigen Hersteller stammen konnte. Heiko hatte die Tassen auf der Küchentheke platziert, um die herum acht barhockerähnliche Sitzgelegenheiten standen. Als sich beide vor ihren gefüllten Tassen gegenüber saßen, - Nille war in einem dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd, aber ohne Krawatte gehüllt und sah nun durchaus agiler aus als dreißig Minuten zuvor -, fragte er den Hauptkommissar: „Haben Sie inzwischen etwas herausgefunden?“

Zum Glück hatten die Hocker Rückenlehnen, sodass sich Harald gewichtig nach hinten zurückgleiten lassen konnte, um seiner anstehenden Ansprache den ebenso gewichtigen Anstrich verpassen zu können.

„Herr Nille, grosso modo rühren wir immer noch im Trüben. Haben wir es mit einem Irren zu tun, dem Frau Jahn zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort über den Weg gelaufen ist? Möglich! Aber ein solcher Verrückter wird schnell lokalisiert sein. Sie haben ja selber die Filmaufnahmen und die Phantombilder gesehen. Morgen früh werden diese Bilder in allen lokalen Zeitungen und in vielen überregionalen Blättern erscheinen und vermutlich zur besten Sendezeit auch übers Fernsehen flimmern.“ Nille ließ einen Laut der Erleichterung vernehmen, um sogleich darauf den Dämpfer zu erfahren. „Ich hingegen glaube nicht an einen Schwachkopf als Täter. Es gibt genügend Hinweise auf andere Motive.“

„Ach!“ stöhnte Heiko zu ängstlich, als dass das Ach nach Überraschung klang.

„Was wir über Frau Jahns bisheriges Leben, Tun und Sein wissen, ist noch sehr vage. Sicher ist nur, dass es da einige Ansätze gegeben hat, die sie bis in die Gegenwart verfolgt haben könnten. Insbesondere eine Geschichte aus ihren Lehrjahren in Kassel wird unsererseits eine gewisse Aufmerksamkeit gewidmet. Dann wäre da eventuell das Nicht- oder Wohlwissen ihres letzten Arbeitgebers über ihre Planungen zur Eröffnung eines eigenen Salons genauer zu untersuchen. Aber, - und das möchte ich Ihnen gegenüber keinesfalls verhehlen -, auch ihre Beziehung zu Ihnen erscheint uns in einem erweiterten Kontext nicht verwahrlosbar.“

Nille schien für den Bruchteil einer Sekunde zusammenzuzucken. Auch der Erpresser hatte Angelas Ermordung in seinem letzten Telefonat hervorgehoben. Er fing sich aber wieder, ehe Steiner seine Reaktion überhaupt hatte wahrnehmen können. „Worin soll denn da die Ursache zu finden sein?“

Steiner nahm kaum ein Blatt vor seinen Mund, als er darauf einging. „Betrachten Sie es mal von einer externen, neutralen Position, Herr Nille. Sie sind nicht gerade im Reichtum hineingeboren worden. Alles, was Sie heute besitzen, ist das Resultat Ihrer ökonomischen Aktivitäten.“ Heiko nickte dezent und zustimmend. „Wir fragen uns, inwiefern Frau Jahn in Ihren Aktivitäten involviert war, aber insbesondere, woraus diese detailliert resultieren.“

Offenbar vom Koffein wieder etwas alerter geworden, erwiderte der Angesprochene: „Meine Buchführung ist korrekt, und ich habe keine Veranlassung, sie Ihnen vorzuenthalten.“

„Sehr lobenswert,“ äußerte sich Steiner in einem Tonfall, der so aufrichtig klang, dass man ihm das auch als aufrichtig gemeint abzunehmen geneigt sein musste, „Aber es sind nicht immer die Bücher, die rundum Auskunft über den Gang der Dinge erteilen. Wie wäre es mit bösen Differenzen? Auch solchen Dingen werden wir nachgehen müssen.“

Heiko hob seine Schultern lang angezogen hoch. „Ich habe nichts zu verbergen, wüsste aber auch beim besten Willen nicht, wieso meine Geschäfte einen solch brutalen Mord ausgelöst haben könnten.“

„Ich auch nicht, Herr Nille,“ entgegnete Harald, als sei seine vorherige Aussage nur eine von vielen seiner in der Schwebe baumelnden Überlegungen gewesen. „Übrigens, was mich auch interessiert, sind Ihre früheren Beziehungen. Oder sind Sie vor Ihrer Begegnung mit Frau Jahn wie ein Mönch durchs Leben gewandelt?“

Heiko musste kurz auflachen. Er und ein Kostverächter!? „Nein, Herr Kommissar, Frauen haben mich immer schon interessiert, - jedenfalls seitdem ich meine erste Erektion hatte. Allerdings, sobald ich mich gut mit einer Schnecke verstanden habe, bin ich ihr auch treu geblieben.“

„Das hört sich aber zweideutig an,“ warf der Kriminalbeamte ein. „Es hört sich nämlich so an, als seien Sie mehreren Ihrer ‚Schnecken’ dann doch abtrünnig geworden.“

Auch hierüber musste Heiko schmunzeln. „Tja, irgendwann treten auch in der heißesten und innigsten Beziehung kaum überbrückbare Unstimmigkeiten auf, die man vorher nicht hatte sehen können oder wollen.“

„Über wie viele Beziehungen dieser Art reden wir denn?“ wollte es Steiner genauer wissen und fügte hinzu: „Namen und Adressen würden mir vielleicht weiterhelfen.“

„Wenn’s sein muss,“ sagte Nille. „Also da war die Maike, Maike Gröber. Wo die heute wohnt, weiß ich nicht, aber damals wohnte sie in Bedburg, Bedburg-Kaster. Mit ihr habe ich ein halbes Jahr zusammengelebt. Dann war da die Aischa Gül, eine aufgeklärte Türkin aus einer ebenso aufgeklärten türkischen Familie. Mit ihr war ich etwa drei Jahre zusammen. Soviel mir bekannt ist, arbeitet und lebt sie heute in Düsseldorf. Im letzten Mai habe ich mich mit meiner letzten Freundin, die ich vor Angela hatte, verworfen. Sie heißt Helga Bode. Mit ihr war ich auch ungefähr drei Jahre zusammen. Ich werde Ihnen gleich ihre Adresse und Telefonnummern geben. Irgendwo habe ich noch Visitenkarten von ihr.“ Steiner hatte währenddessen alles fleißig notiert.

„Inwiefern waren diese drei Frauen und auch Angela Jahn in Ihren Geschäften eingebunden oder über diese im Bilde?“

Nille verzog seine Lippen zu einer hässlichen Grimasse, die wohl ausdrücken sollte, dass er es selber nicht zu sagen vermochte. „Eigentlich habe ich mein Business immer von meinem Privatleben zu trennen vermocht. Die Mädchen hätten schon ziemlich gut kombinieren können müssen, um aus den paar Telefonaten, die ich in ihrem Beisein geführt hatte, ein Gesamtbild gewinnen zu können.“

„Sind diese denn solch geheimen Transaktionen, die Sie da durchziehen, dass andere nichts Genaues darüber wissen dürfen?“

„Natürlich nicht!“ entrüstete sich Nille. „Alles geht korrekt von Statten. Wie gesagt, ich trenne Beruf von Privatem und lehne darüber hinaus jegliche Fremdeinmischung ab. Weder wünsche ich eine Beeinträchtigung meiner Privatsphäre durch meine Geschäftspartner, noch umgekehrt meiner Geschäfte durch meine privaten Kontakte.“

„Das leuchtet ein,“ tat Harald so, als sei für ihn das Thema abgehakt, und steckte sein Notizbüchlein wieder ein. „Ich bin eigentlich im Büro der Frau Jahn erst einmal durch. Könnte sein, dass wir da später noch einmal genauer reinschauen müssen.“

„Soll mir recht sein.“

„Erlauben Sie mir, Frau Jahns Rechner sicherzustellen?“

„Gewiss doch. Nehmen Sie den ruhig mit.“

„Was gibt es sonst noch, was Frau Jahn hier hinterlassen hat?“

Nille zeigte Steiner Angelas Kleider- und Kosmetiksammlung, ihren überwiegend häuslichen Kleinkram auf dem Speicher und ihre spärlichen Möbel in der Garage. Von alledem schien Steiner nichts zu interessieren. Dann bat er Heiko darum, ihn in das Geschäftslokal in die Bonner Straße zu begleiten, das sie mit seinem Geld für ihre zukünftige selbständige Tätigkeit angemietet hatte. Da Harald zu Fuß gekommen war, fuhren sie mit Nilles Porsche dorthin. In dem großzügig bemessenen und gut aufgeräumten und sauberen, ehemaligen Konfektionsladen stand nur ein Verkaufstresen, der wohl vom Vorbesitzer stammte. In dessen Fächern fand Steiner wieder nur allerlei Prospekte vor. Auf dem Rückweg zur Villa in der Lindenallee bat Harald Nille, ihn vor Maître Andrés Laden herauszulassen, damit er seinen Dienstwagen für die weitere Fahrt bis zu Heikos Haus benutzen konnte, da er immerhin noch Angelas Rechner abholen wollte. Kaum hatte er den Computer im Beisein Nilles eingeladen, fragte er ihn: „Wer sind denn eigentlich die Bewohner der Parterrewohnung? Ich habe die Leute noch nicht kennenlernen dürfen.“

Heiko machte eine auf Gelangweilt hindeutende Geste. „Ein älteres Ehepaar. Er Musiklehrer, der manchmal noch privat bei sich zuhause Unterricht erteilt. Sie eine aufgedonnerte Madame, die ihre beiden Pudel morgens und abends Gassi führt.“

„Herr Nille, sicherlich werden wir nochmals auf Sie zukommen, aber augenblicklich habe ich keine weitere Fragen an Sie. Wie heißen denn Ihre Nachbarn im Erdgeschoss?

Robert Renner (72) und seine Frau Karmen (71) waren zuhause, als Steiner sie nach seiner Verabschiedung von Nille, aufsuchte. Die Renners waren äußerst biedere Leute, wie man es von ehemaligen Studienräten, was sie zu sein, schnell durchblicken ließen, erwartete.

Über den Tod Angela Jahns waren sie bereits von Heiko Nille informiert worden und dennoch nach wie vor äußerst bestürzt. Ihre Einstellung zu ihrem Nachbarn im Geschoss über ihnen war auch rasch auf den Punkt gebracht. „Ein feiner Mann, der Herr Nille, der keinem zur Last fällt und immer sehr hilfsbereit ist,“ erklärte Frau Renner. Ihr Mann ergänzte: „Im Gegensatz zu seinem Vorbewohner hat er sich nie darüber beklagt, wenn ich oder meine Schüler Klavier spielen. Andererseits hat er selber auch nie Krach erzeugt. Wenn man manchmal so hört, was andere Vermieter zu erleiden haben, dann haben wir es doch echt gut mit ihm getroffen.“

„Darf ich daraus schließen, dass Ihnen dieses Haus gehört?“

Karmen Renner schien vor Stolz zu platzen. „Ja, meine Eltern haben es von ihren Eltern geerbt, und ich habe es von meinen Eltern geerbt, Sie müssen wissen, meine Großeltern hatten…“

„Karmen, bitte!“ herrschte Robert Renner seine Frau an, „Den Herrn Hauptkommissar interessieren unsere Familienhistorien nicht,“ und wandte sich wieder an Steiner. „Was können wir für Sie tun, Herr Hauptkommissar?“

Harald wollte alles wissen, was mit Heiko Nille zu tun hatte, und bekam alles zu wissen, was die Renners über ihn wussten.

Nachdem die Kinder des Ehepaars Renner flügge geworden waren, hatten sie die Villa so umbauen lassen, dass das Obergeschoss und das Dachgeschoss eine eigene Einheit bildeten. Zudem hatten sie im hinteren Bereich ihres Grundstücks zwei Garagen für den oder die künftigen Mieter errichten lassen. Ihr erster Mieter war ein Luftikus gewesen, der nur moserte, aber selber in allem nachlässig und säumig war. Sie waren anfangs erstaunt gewesen, als sich ausgerechnet ein junger Mann von kaum 20 Jahren als Nachmieter dieser Wohnung beworben hatte. Immerhin war die Miete kalt auf 1.200 Euro festgesetzt worden und die Kaution auf weitere drei Monatsmieten. Aber Nille hatte anstandslos das Geld hingeblättert, und vor allem hatte er einen disziplinierten und kultivierten Eindruck vermittelt. Er war in den Jahren nicht ein einziges Mal säumig geblieben, auch nicht, was die Nebenkosten anging. Konform mit den Aussagen Nilles sagten die Rentner aus, dieser habe, seit seinem Einzug vor zirka acht Jahren, vier längere Verhältnisse mit „Damen“ gehabt, die auch längere Zeit hier gewohnt hatten. Sie konnten sich noch schwach an Maike Gröbe erinnern, umso besser an Aischa Gül und Helga Bode, und sowieso an Angela Jahn. Drei von diesen Frauen hätten sich ja besonders vorbildlich verhalten, nur diese Bode sei ihnen extrem arrogant vorgekommen, hieß es. Als Letzteres einmal ausgesprochen war, erging sich Karmen Renner in allerlei alltägliche Details, um die gemachte Behauptung zu untermauern. Was die Frau hervorhob, betraf vermeintlich oberflächliche Verfehlungen der Bode, diente Steiner aber zu den Ausgangspunkten einer näheren Charakterstudie dieser Person und rückte sie für ihn in den Bereich der interessanteren Figuren des Geschehens. Die Kernpunkte der Kritik Frau Renners an Helga Bode, - Herr Renner hielt sich diesbezüglich vornehm zurück -, waren ihre Nachlässigkeiten. Aus technischen Gründen hatten beide Wohnungen eine gemeinsame Waschküche im Keller. Helga, so die Renner, habe, wenn sie überhaupt mal die Waschmaschine benutzt hatte, immer wieder Wäscheteile herumliegen lassen. Das Bügelbrett habe sie niemals in Benutzung genommen… Und dann war da noch die Sache mit den Herrenbesuchen, die über Nacht blieben, wenn Heiko mal einige Tage abwesend war. „Robert hat sich immer die Kennzeichen der Autos notiert. Nicht wahr, Robert?“

Ihr Mann nickte verlegen und wich erläuternd aus. „Aber nur, weil du das so wolltest.“

„Na hör mal, Robert, wenn die Helga bei Nacht und Nebel hier ausgezogen wäre und Heikos Sachen oder sonst was mitgenommen hätte…“

„Hat sie aber nicht,“ fiel ihr Robert in die Rede. „Sie ist einfach ganz normal ausgezogen, und einige Wochen später ist die Angela eingezogen. Also sahen wir keine Veranlassung, noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, indem wir dem Heiko etwas über diese Herrenbesuche gesteckt hätten.“

„Haben Sie diese Notizen zu den Kennzeichen noch?“ interessierte es Steiner.

„Aber ja doch,“ reagierte die Frau spontan, sprang wie ein Floh von ihrem Stuhl auf, eilte zum Büffetschrank und kehrte mit einer Ringkladde zum Tisch zurück. „Da haben wir erst einmal…“ Steiner konnte genau vernehmen, wozu diese Kladde angelegt worden war. Außer den Herrenbesuchen war jede kleinste Unstimmigkeit oder Besonderheit darin mit Datum und Uhrzeit vermerkt. Jeder Besucher, jede verspätete Müllabholung, jedwedes Erscheinen seltsamer Personen in Sichtweite des Hauses und sogar die Tatsache, dass ein Nachbar höchst eigenhändig eine Eiche in seinem Garten gefällt hatte.

Robert Renner erklärte hierzu entschuldigend: „Uns geht es nicht darum, Leute anzuzeigen, nur weil sie sich etwas merkwürdig benehmen. Aber wir leben in einer äußerst unsicheren Zeit. Da ist es besser, man dokumentiert solche Vorgänge für den Fall, so etwas müsse mal amtlich untersucht werden.“

Typische Bleistiftlutscher, dachte Harald. Doch ausnahmsweise war er froh, dass ausgerechnet die Renners so veranlagt waren. „Dürfte ich dieses Heft bitte mitnehmen, um es zu kopieren. Das könnte uns vielleicht im Mordfall der Frau Jahn weiterhelfen. Sie bekommen es auch sofort morgen wieder.“

Vor lauter Stolz, einer polizeilichen Behörde, ja, sogar einer kriminalpolizeilichen Behörde bei der Lösung eines Mordfalls dienlich sein zu dürfen, überschlugen sich die Renners regelrecht in Hilfsbereitschaft. Der Herr Hauptkommissar könne auch die anderen Hefte mitnehmen, und Steiner befand, das sei kein schlechter Vorschlag, insofern diese Niederschriften den gesamten Zeitraum seit Nilles Einzug in die Villa betrafen.

Als Harald seinen Mercedes zurücksetzte und davonfuhr, schaute ihm das Ehepaar hinterher, und sie sagte zu ihrem Mann: „Siehst du, Robert? Ich habe doch immer schon gesagt, dass wir diese Notizen nichts für nichts angelegt haben.“

Auch Heiko Nille hatte rausgesehen, als der Hauptkommissar losfuhr. Er schaute auf die Küchenuhr. Es war bereits 14.40 Uhr durch. Steiner, so stellte er nun fest, hatte sich ziemlich lange mit ihm, dem Abstecher zu Angelas Laden und den Renners aufgehalten. Stand er, Heiko, eventuell doch unter Mordverdacht? Absurd! Vollkommen absurd! Er hatte doch nun wirklich keinen Grund gehabt, Angela umbringen zu wollen. Das hatte dieser Steiner sicherlich längst begriffen. Und trotzdem hatte er sich so lange hier aufgehalten. Ein hartnäckiger Typ, dieser Polyp. Plötzlich überlagerten andere Gedanken Heikos Grübeln um die Vorgehensweisen des Kriminalers. Ihm fiel ein, dass der Erpresser ihn an diesem Morgen genau zu dem Zeitpunkt angerufen hatte, als er aus dem Bett gekrochen war und ihn, obwohl es bereits später Vormittag gewesen war, gefragt hatte, ob er gut geschlafen hatte, und er hatte eine Bemerkung über Heikos Alkoholexzess gemacht. Aber woher sollte er überhaupt gewusst haben, wann Heiko aufgestanden war und dass er sich in der Nacht vorher hatte volllaufen lassen? Konnte jemand im Haus gewesen sein? Auch absurd! Die Wohnung war zwar groß, aber sie war auch gemäß ihrer Einrichtung nicht gerade dafür ausgelegt, erfolgreich Verstecken spielen zu können. In ein noch so gut gesichertes Haus herein- und wieder herauszukommen, so wusste Nille aus eigener Erfahrung, ist kein Ding der Unmöglichkeit. Allerdings sich unbemerkt darin aufzuhalten, während die Bewohner selber anwesend sind, das grenzt schon ans Fantastische. Da hatte er die Eingebung. Irgendwer überwachte ihn per Video. Diese Kameras waren ja heutzutage inzwischen so klein wie Nadelköpfe, die Mikrofone auch. Na klar, man hatte ihm heimlich diese Dinger in seiner Wohnung installiert, und mit Gewissheit waren sie noch da. Am Morgen müssen sie jedenfalls noch dagewesen sein. Also mussten sie auch jetzt noch da sein. Wie sonst hätte dieser Fiesling wissen können, wann er aufgestanden war? Sollte er sie suchen? Nein. Vielleicht ließ sich aus dem Wissen um das, was er eigentlich nicht wissen sollte, anderswie Kapital schlagen. Ihm schwebte bereits schemerhaft vor, wie er das anzustellen hatte. Denn, wie hieß es doch so schön? „Einem nackten Mann kann man nicht in die Tasche greifen.“

Monika, Heinz und Ralf brachten ihren Chef gleich nach seiner Rückkehr auf den neuesten Stand ihrer Erkenntnisse. Wie zu erwarten gewesen war, sprang Steiner nicht vor Freude an die Decke, als er vernahm, Peter Jahn wolle nach Köln kommen, um die Ermittlungsarbeiten aus nächster Nähe verfolgen zu können. Auch dem Umstand, man könne anhand der Stichwunden in Angela Jahns Brustkorb in etwa die Beschaffenheit der Tatwaffe ableiten, weckte seine Begeisterung nicht. Doch beim Vernehmen, das Diebstahls- und Einbruchsdezernat habe sich bereits längere Zeit mit Heiko Nille befasst, wurde er hellhörig.

„Ach, und die bekamen bislang keine Genehmigung, ihn abzuhören?“ fragte er nach.

„Nein. Wie denn auch?“ erwiderte Schmidt. „Ein bloßer Verdacht alleine lockt keinen Untersuchungsrichter hinter dem Schreibtisch hervor.“ Womit er mal wieder Haralds Apathie gegen den Justizapparat mobilisiert hatte.

„Ja, ja, diese Bürokraten sind katholischer als der Papst, wenn es um die Rechte der Delinquenten geht, und blauäugiger als jeder blinde Taubstumme, wenn es um echte Ermittlungsarbeit geht. Aber jetzt haben wir es mit einem Mordfall zu tun, da werden sie sich wohl kaum unserer Bitte zum Mitlauschen verschließen können. Ralf, leite das mal gleich im Anschluss an unsere Besprechung in die Wege! Was ist denn eigentlich mit den Geschwistern der Jahn?“

Monika antwortete: „Zwei Schwestern, ein Bruder. Allesamt in ziemlich bürgerlichen Verhältnissen verkehrend. Wir haben sie noch nicht kontaktiert. Sollten wir?“

„Nein, vorläufig nicht von Interesse,“ beschied ihr Harald.

Monika erklärte weiter: „Inzwischen hat uns Kassel die Akte der Jahn zugemailt. Die Story mit dem Scherenangriff auf die Kollegin und die anderen gegen sie erhobenen Vorwürfe. War wohl ein Zickenstreit, der anscheinend von Angela Jahns Opfer, einer gewissen Jenny Mombach, provoziert beziehungsweise angeregt worden war. Diese Mombach muss enorm eifersüchtig auf die Jahn gewesen sein, weshalb sie sie laufend gepiesackt hat. Da ist bei der Jahn einmal das Maß voll gewesen. Und nach ihrer Verurteilung wegen ihrer Scherenattacke auf die Mombach hat Letztere jede Gelegenheit wahrgenommen, die Jahn anzuzeigen. Wie gesagt, Zickenstreit.“

„Interessant,“ befand Steiner. „Und wo hält sich Jenny Mombach jetzt auf?“

Das Lugano war zwar keine Räuberhöhle im landläufigen Sinne, aber, wer es genauer kannte, wusste, welche Sorte Menschen hier überwiegend verkehrten. Heiko hätte von seiner Tätigkeit her einer dieser Stammgäste sein können, aber er war bislang nicht einmal ein Gelegenheitsgast dieses Etablissements gewesen. Obwohl ihm der Erpresser nicht gesagt hatte, wie er ihn hier erkennen sollte, war Heiko sich sicher, selber von ihm erkannt und angesprochen zu werden. Hätte der Kerl ihn einen Tag zuvor herzitiert, wäre Nille auch ohne Angelas Ermordung nahezu zitternd hier hineingegangen. Doch jetzt fiel es ihm schwer, Angst zur Schau zu stellen, die er gar nicht empfand.

Er behielt Recht, was das Erkennen anging. Schon vor dem Eingang sprach ihn ein junger Mann beim Namen an. „Herr Nille?“

„Ja, Heiko Nille.“

„Folgen Sie mir bitte hinein. Mister Bezengo erwartet Sie bereits.“

Bezengo, welch ein Name, ging es Heiko durch den Kopf. Sie betraten das Lokal. Viele Männer saßen und standen am Tresen. Einige Frauen, an einem Tisch sitzend, diskutierten, zwei Pärchen spielten an einem anderen Karten. In einem Separee saß ein einzelner Mann und las eine Tageszeitung. Auf den steuerte Heikos junger Begleiter zu und sprach ihn an. „Mister Bezengo, Herr Nille.“ Bezengo legte die Zeitung weg und sagte mit einem aufgesetzten Smile: „Guten Abend, Herr Nille. Bitte setzen Sie sich mir gegenüber.“ Der junge Mann entfernte sich, Heiko setzte sich und wunderte sich, dass der Mann mit dem sonderbar exotisch klingenden Namen doch sehr mitteleuropäisch wirkte. Der holte vom Stuhl neben sich einen Stapel Bilder unter einem Aktenordner hervor und legte sie vor Nille auf den Tisch. Wortlos schaute sich Heiko Stück für Stück an. Dann seine gleichgültige Reaktion. „Na und? Ist das alles, womit Sie mir imponieren wollen?“

„Ich glaube, Herr Nille, nach den Telefonaten, die wir beide gemeinsam in den letzten Wochen geführt haben, dienen diese Fotos nur als illustrative Untermalung, nicht wahr? Im Gegensatz zu den Polizei- und Steuerfahndern wissen wir, wie Sie ihren Handel treiben. Ich hatte Ihnen schon einige Namen Ihrer Zulieferer und Abnehmer genannt und könnte die Liste beliebig komplettieren. Ich gehöre nicht zu der Sorte Leute, die gerne ihr Geld mit Handarbeiten verdienen. Nach unseren Erkenntnissen liegt Ihr inoffizielles Einkommen um das Vierfache höher als Ihr offizielles. Insgesamt machen Sie im Jahr reale eine Million Euro Gewinn, von denen Sie nur 200.000 versteuern. Mit unseren Einblicken wäre es uns ein Leichtes, Sie aus dem Markt zu drücken und selber die Sache in die Hand zu nehmen. Aber das wäre ja mit Arbeit verbunden, und die scheue ich wie die Pest. So dachte ich mir bis gestern noch, ein Schweigegeld für mein Wissen von 600.000 Mücken pro Jahr käme Ihnen entgegen. 200.000 Euro Schwarzgeld für Sie ist doch auch noch Anreiz genug, weiterzumachen. Sie scheinen ja alles auf die hohe Kante zu legen. Aber nun nach Frau Jahns Tod sind die Karten anders gemischt und mein Trumpf ist noch stechender geworden. Trotzdem will ich meine Fingerchen nicht mit Arbeit besudeln.“

Bezengo hielt inne, um Heikos Spannung zusätzlich zu steigern. Der wirkte zwar verwirrt, keinesfalls aber angeschlagen. „Haben Sie etwas mit Angelas Ermordung zu tun?“

„Ich nicht, Herr Nille. Mir ist aber bewusst, dass Sie etwas damit zu tun haben könnten. Der Herr Steiner hält Sie ja auch nicht gerade für unverdächtig. Wollen Sie vielleicht etwas trinken, Herr Nille?“

Heiko hätte liebend gern abgelehnt, aber das hätte nur Bezengos Annahme, er sei eingeschüchtert, zusätzlich genährt. „Wenn Sie spendieren, bitte einen Courvoisier.“

Bezengo rief dem Wirt zu, zwei Gläser Courvoisier zu bringen und wandte sich wieder Nille zu. „Machen wir es kurz. Sie sitzen in der Tinte, wenn wir dem Herrn Kommissar gewisse Informationen zukommen lassen. Man wird Ihre Geschäfte viel genauer unter die Lupe nehmen, als das bisher der Fall war, und man wird Ansätze dafür finden, dass Sie allen Grund hatten, Angela Jahn aus dem Verkehr zu ziehen.“

„Das habe ich aber nicht getan,“ protestierte Heiko.

„Sie wissen das, und ich weiß es. Aber Harald Steiner will einen Mörder fassen, in diesem Fall auch dessen Auftraggeber. Er wird sich auf Sie fixieren und Ihr Business ins Wanken bringen und vielleicht sogar zerstören. Das liegt nun wirklich nicht in meinem und noch weniger in Ihrem Interesse. Faktisch habe ich es in der Hand, Sie für alle Zeiten zu ruinieren. Ich weiß so viel über Ihre Geschäftsgebaren, dass ich in aller Ruhe zusehen könnte, wie Ihre Firma von den Behörden hochgenommen wird, um dann an Ihrer Stelle in die neue Marktlücke zu springen. Ich bin aber kein Unmensch, Herr Nille. Leben und leben lassen ist meine Devise. Wie wäre es, wenn wir Ihre Firma übernehmen und Sie als unseren Filialleiter engagieren? Fixum 100.000 Netto im Jahr und bei Erfolg 150.000 unterm Tisch. Unsere Gegenleistungen wären: keine gefacelifteten Informationen an die Bullerei und rechtzeitiges Eingreifen und Umstrukturieren, wenn Kripo oder Finanzamt Ihnen auf die Schliche zu kommen drohen. Ist das ein Angebot?“

Bezengos Sarkasmus beeindruckte Heiko nun doch. Ihm blieb förmlich die Spucke weg. Er nahm einen Schluck aus dem inzwischen vor ihm stehenden Cognacschwenker und dachte nach. Sein Erpresser ließ ihm die nötige Zeit, sich seiner Situation bewusst zu werden, und blätterte, Gleichgültigkeit demonstrierend, die Zeitung, die er anfangs weggelegt hatte, wieder auf. Nach allem, was der Mann ihm in den letzten Wochen am Telefon gesagt hatte, bluffte er nicht. Er hatte ihm genau zu erzählen gewusst, über welche Kanäle die Autos und die Ersatzteile besorgt und über welche sie in den Handel gebracht worden waren. Heiko konnte das System Nille nicht kurzfristig ändern. Das war klar. Aber er hatte ja an diesem Nachmittag seine Eingebung gehabt, woher dieser Bezengo an seine Informationen gekommen war. Bezengo saß somit für eine gewisse Dauer am längeren Hebel, aber das war ein Hebel, den man irgendwann überlisten konnte. Zudem war klar, dem Kerl ging es nur um Geld. Das hatte er immer wieder betont. Heiko überflog gedanklich auch die für ihn aus dem „Angebot“ resultierenden Konsequenzen. Wenn er akzeptierte, hatte er auf genügend Rücklagen Zugriff, seinen bisherigen Lebensstandard aufrecht zu erhalten. Der wirklich gefährliche Eckpunkt war der vermeintliche Nachweis, den dieser Scharlatan zu haben behauptete, ihm die Mittäterschaft an Angelas Tod in die Schuhe schieben zu können. Aus was sollte dieser Beweis denn resultieren? Warum ihn nicht gleich selber fragen? Das tat er nun auch, und Bezengo legte die Zeitung wieder zur Seite.

„Ach, Herr Nille, im Mordfall Angela Jahn gibt es einen, der die Tat ausgeführt hat. Glauben Sie mir, dessen Identität wird nicht ewig geheim bleiben, aber die deutsche Polizei wird seiner vielleicht nie habhaft werden, was nicht bedeuten soll, man werde auch nicht die Wohnung ausfindig machen können, in der er während seines Verbleibs in unserem schönen Land gelebt hat. Ist die einmal aufgespürt, lassen sich auch Leute aufspüren, die etwas zu diesem Mann zu erzählen haben.“

Dummes Mädchen, schlaues Mädchen - Ein Fall für Harald Steiner

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