Читать книгу Die eine Seite der Liebe - Antje de la Porte - Страница 5
KAPITEL 1 Sturm
ОглавлениеPlötzlich wurde es finster.
Über die Autobahn fegte ein Sandsturm hinweg. Die Sichtweite betrug keine zehn Meter mehr und führte zu einer Massenkarambolage.
In den Nachrichten wurde später erklärt, Ursache dieses Phänomens sei das Tief »Elvira«. Der Orkan habe von den trockenen Feldern den Sand mit sich gerissen und den Himmel verdunkelt.
Erst zwei Stunden später regnete der Sand über Häusern, Gärten und Straßen ab.
Zuvor aber gab es auf der Autobahn viele Schwerverletzte.
»Ich weiß noch ganz genau, wie das im Krankenhaus war, als ich zu meinem täglichen Besuch kam und der Arzt mir sagte, Pit sei eine halbe Stunde zuvor gestorben.« Katja drehte in Gedanken eine Strähne ihres dunklen Haares um den linken Zeigefinger. Sie drückte sich in die Ecke der tiefen Ledercouch und blickte ihren Vater nicht an, während sie sprach, sondern sah sich am Muster des roten Täbris fest. Den Teppich hatte Pit vor Jahren einer Kollegin abgekauft, die ihren Hausstand bereits zwei Monate vor der Pensionierung quasi auflöste. Die seidigen, kleinen weißen Hasen, die in dem Täbris eingeknüpft worden waren, waren Katja zuvor nie aufgefallen. Wie oft man doch Dinge oder Menschen betrachtete, ohne sie wirklich zu sehen.
»Er war eine halbe Stunde zuvor gestorben«, fuhr sie fort ihrem Vater zu erzählen. Aber ebensogut hätte sie auch allein im Raum sein können. »Da hatte ich noch im Stau gesteckt, weil es an der Hauptstraße einen Wasserrohrbruch gegeben hatte. Ich wußte das nicht. Wenn ich an diesem verdammten Morgen den Verkehrsfunk gehört hätte, dann hätte ich es gewußt. Aber ich habe natürlich nicht damit gerechnet ... wie sollte ich auch ...« Katja griff zur Kaffeetasse. Sie haßte es, kalten Kaffee zu trinken, schmeckte aber ohnehin nichts. Ihre Stimmbänder verkrampften sich, und sie meinte, gleich Überhaupt keinen Ton mehr herauszubringen.
»Man habe versucht, mich telefonisch zu erreichen, sagten mir die Schwestern.«
»Mmh. Das tun sie immer zu spät. Das weiß ich noch.« Katjas Vater nickte in Erinnerungen an den Tod seiner ersten Frau, Katjas Mutter. Obwohl ihr Tod fast dreißig Jahre zurücklag, war die Erinnerung daran noch erstaunlich frisch. Er hatte sich nie wirklich von diesem Schock erholt und die fünfzehn Kilo, die er damals binnen kürzester Zeit verloren hatte, nicht wieder zugenommen.
»Er lag doch schon fünf Wochen im Koma! Alles war unverändert. Die Ärzte meinten, er würde wahrscheinlich noch lange in diesem Zustand bleiben. Wie kann er da so plötzlich sterben?« Sie sah ihren Vater kopfschüttelnd an. Konnte noch immer nicht verstehen, was geschehen war. »Es gibt doch genug Berichte über Menschen, die jahrelang im Koma gelegen haben und daraus wieder erwacht sind. Ich habe solche Berichte gelesen. Habe darüber Fernsehreportagen gesehen. Außerdem ist es ein beliebter Stoff bei Roman- und Drehbuchautoren. Ich kenne mich damit aus! Ich weiß, wovon ich rede! WIE KANN ER EINFACH STERBEN, PAPS! WIE KANN ER MIR DAS ANTUN?«
Sie hatte keine Tränen mehr, schluchzte heiser und trocken, was den Vater mehr schmerzte, als wäre sie tränenüberströmt in seinen Armen zusammengebrochen.
Robert Linde nahm seine älteste Tochter vorsichtig in die Arme, als wäre sie zerbrechlich. Etwas unbeholfen strich er sanft über ihren Kopf. Sie besaß die gleichen dunklen Naturlocken wie ihre Mutter. Auch hatte sie die gleichen graugrünen Augen, die, je nach Tageszeit oder Gemütslage, ihre Farbe zu verändern schienen. Mal überwog der graue Ton, mal der grüne. Wie sehr sie mit ihrer schmalen Figur, den Haaren und Augen ihrer Mutter glich, wurde ihm erst jetzt richtig bewußt, als Katja klein und nur noch ein Häufchen Elend war, also mehr ein Abbild ihres Vaters nach dem Tod seiner ersten Frau, und an seiner Schulter ruhte.
Er machte sich große Sorgen um seine Älteste. Ihr Selbstmordversuch vor vielen Jahren stand ihm noch so deutlich vor Augen, als wäre er erst vor ein paar Wochen geschehen. Auch damals war Pit der Auslöser gewesen, wenn auch auf andere Weise. Katja wurde mit dem Verlust ihres damaligen Freundes nicht fertig, der sich von ihr zu früh bedrängt fühlte und Abstand suchte, um sich darüber klarzuwerden, wie er seine Zukunft gestalten wollte und vor allem – mit wem. »Sie klammert«, hatte Pit dem Vater seiner Freundin erklärt. »Es kann doch nicht sein, daß Katja und ich zu siamesischen Zwillingen werden. Nie darf ich mehr ohne sie sein. Das macht mich verrückt!« Pit hatte verzweifelt geklungen. Er liebte Katja, aber mit ihrem Drang zu absoluter Nähe wurde er nicht fertig.
Katja hatte sich Tabletten besorgt. Es war nur einem glücklichen Zufall zu verdanken, daß ihr Selbstmordversuch rechtzeitig entdeckt worden war.
Und nun war es wieder geschehen: Pit hatte Katja verlassen. Für immer. Diesmal gab es für sie keine Möglichkeit, ihn zur Rückkehr zu zwingen. Wie würde Katja damit fertig werden? Das war die Frage, die Robert Linde Tag und Nacht beschäftigte und die er mit seiner zweiten Frau und mit Katjas Schwester Marlies diskutierte, seit er vom Tod seines Schwiegersohnes erfahren hatte.
Es gab viele Möglichkeiten, sich umzubringen. Wenn Katja unglücklich genug war, würde sie es wieder versuchen. Sie würde sich fragen, für wen sie weiterleben sollte. Sie und Pit hatten keine Kinder. Für wen also? Für den Job? Für den von Pit so innig geliebten Hund – seinen Chow-Chow »Amigo«? Absurd, würde sie sagen und wieder Tabletten nehmen, sich vor den Zug werfen, mit dem Auto gegen einen Brückenpfeiler fahren – was und wie auch immer. Sie würde es tun. Da war er sich ganz sicher. Und es stand für ihn fest, daß er alles versuchen würde, um das zu verhindern.
»Ich habe mit Marlies gesprochen«, sagte Robert. »Sie ist arbeitslos, und in ihrer Beziehung zu Klaus stimmt einiges nicht. Wenn sie auch noch nicht recht mit der Sprache rausrückt – ich merke es trotzdem. Sie stecken in einer Krise.«
Er holte tief Luft, fuhr sich mit beiden Händen durch sein graues Haar, weil er Angst vor Katjas Reaktion hatte, wenn er ihr gleich sagen würde, was er mit Marlies verabredet hatte. Katja und ihre jüngere Schwester Marlies verstanden sich nicht besonders. Wie würde seine Älteste also reagieren, wenn er ihr sagte, was er und Marlies planten?
Er holte noch einmal tief Luft. »Marlies wird mit Lisa für eine Weile bei dir bleiben. Sie kann dir bei allem helfen, was jetzt so anfällt.«
»Aha«, war alles, was Katja darauf sagte.
Hatte sie überhaupt zugehört? »Hast du gehört, was ich gesagt habe?« fragte er sicherheitshalber nach. Doch seine Tochter war in Gedanken schon wieder bei ihrem verstorbenen Mann.
»Der Arzt im Krankenhaus hat mich mitfühlend angesehen und gefragt, ob er etwas für mich tun könne. Mir zum Beispiel ein Beruhigungsmittel geben. Ich glaube, ich habe seine Hand, die er fürsorglich auf meinen Unterarm gelegt hatte, schroff abgeschüttelt und bin in Pits Zimmer gerannt. Dort lag er unter der weißen Bettdecke, als ob er schliefe. Sie hatten ihn von allen Apparaten und Schläuchen befreit. Sein Gesicht war so schmal und klein geworden, beinahe wie das eines Kindes. Er hatte sich in den vergangenen Wochen, die er dort im Krankenhaus lag, verkleinert – war immer mehr geschrumpft, um sich so – vielleicht unbemerkt – davonzuschleichen. Natürlich ist das alles Unsinn. Aber ich habe das trotzdem ein paarmal gedacht. Ist ihm ja auch gelungen. Irgendwie.« Sie nickte wie zur Bestätigung ihrer Worte vor sich hin, sah ihren Vater nicht an, blickte weiter auf den Teppich.
»Eine Schwester brachte mir ein Glas Orangensaft und schloß dann leise die Tür hinter sich. Ich war dankbar dafür, daß man mich eine Weile mit Pit alleine ließ. Später kam ein Pastor und brabbelte ein paar ›tröstende Worte‹, die mich sowieso nicht erreichten. Wie soll mich ein mir wildfremder Mensch über den größten Verlust meines Lebens trösten, nur aufgrund der Tatsache, daß er Pastor ist und salbungsvolle Glaubensfloskeln herunterbetet? Das ist doch der totale Schwachsinn!« Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Die Kirche und Pastoren und Pfarrer waren ihr seit langem ein Dorn im Auge. »Ich wollte keinen Trost! Schon gar nicht von einem Pastor. Warum immer gleich trösten? Erst einmal muß man trauern. Richtig trauern: schluchzen, weinen, toben, meinetwegen auch irgend etwas gegen die Wand knallen, weil der Schmerz einen innerlich zerreißt und man verrückt wird. Wenn nicht etwas anderes zu Bruch geht, dann zerbricht einem das Herz. Nicht in saubere zwei Teile, sondern in viele tausend spitze Splitter. So ist das nämlich. Was soll ich da mit diesem Mist, von wegen Trost spenden. Daß ich nicht lache! Die haben doch alle keine Ahnung. Die doch nicht!«
Robert Linde wußte darauf nichts zu sagen. Die Gefühle seiner Tochter waren ihm wohlvertraut. Er hatte sie vor langer Zeit selbst erfahren. Ja. Sie hatte recht. Genau so fühlte man, wenn man das Liebste auf der Welt verlor. Besonders schlimm war es, wenn man mit zwei kleinen Kindern und einem Säugling allein zurückblieb.
»Mein Körper funktionierte einfach weiter. Erstaunlich. Ich mußte dringend zur Toilette. Ich war durstig und hungrig. Meine Körperfunktionen blieben dieselben. Auch nach Pits Tod. Als wäre nichts Besonderes geschehen.
Auch gestern, bei der Beerdigung, war das so. Ich hatte Hunger und Durst. Ich habe sogar daran gedacht, mich nachzuschminken, weil die Tränen die wasserfeste Wimperntusche doch zum Laufen brachten. Vielleicht weine ich ja jetzt Säure? Die Spuren in meinem Gesicht brannten jedenfalls so. Später redete ich mit den Trauergästen, sogar mit dem Pastor. Euch zuliebe.
Ich habe mit Lisa im Garten Ball gespielt. Und am Ende der Trauerfeier verabschiedete ich mich liebenswürdig von allen an der Haustür. Ich habe mich tapfer gehalten, findest du nicht auch, Paps?« Katja hob den Kopf, den sie wieder an die Schulter des Vaters gelegt hatte, und sah zu ihm auf. Als er nickte, lehnte sie sich wieder an ihn und sprach weiter.
»Erst dann ging ich allein hinauf in Pits Arbeitszimmer, wo ich Amigo auf dem alten Sofa liegend vorfand. Amigo hob nicht den Kopf, sondern blinzelte mich nur aus seinen asiatischen Augen an. Ich setzte mich neben ihn und streichelte seine dicke rotbraune Mähne.
Dem Hund ging es wie mir. Als ich ihn daran erinnerte, daß er noch nichts gefressen hatte, und ihm sein Futter ins Arbeitszimmer hinauftrug, fraß er. Zwar nicht mit Appetit, aber er fraß die Schüssel leer. Danach schlappte er aus einer zweiten Schüssel Wasser und legte sich dann wieder auf das Sofa.
Wir funktionierten. Wir waren bemüht, um unsere Trauer möglichst wenig Aufhebens zu machen. Dennoch trauern wir um Pit. Und wir fragen uns, wie unser Leben ohne ihn weitergehen soll.«
Einen Augenblick schwiegen Vater und Tochter. Vom Garten drangen Marlies’ und Lisas Stimmen ins Haus.
»Hast du gehört, was ich vorhin gesagt habe?« fing Robert wieder an. »Marlies wird mit ihrer Tochter eine Weile bei dir bleiben. Sie kann ja im Gartenhaus wohnen. Ich halte das für das beste.«
Katja fuhr abrupt hoch. »Um Gottes willen. Spinnt ihr? Nur über meine Leiche! Marlies und ich, wir brauchen doch nur fünfzehn Minuten im selben Raum zu sein, schon kriegen wir uns in die Haare. Sie kann hier nicht wohnen. Auf gar keinen Fall!«
Katja regte sich noch eine Weile vergeblich auf und diskutierte mit Vater, Schwester und Stiefmutter. Die Familie verfuhr seit Jahren in diesen und ähnlichen Situationen nach der Taktik: “Steter Tropfen höhlt den Stein.« Niemand kann ständig einen gleichbleibend harten oder sturen Widerstand leisten.
Eigentlich für keinen der Beteiligten überraschend verließ am Ende die Familienübermacht siegreich das Feld. Marlies und Lisa blieben in Bad Altensee, um Katja in den kommenden Wochen zu helfen.
Am Ausgang der Diskussionen hatten offensichtlich keinerlei ernstzunehmende Zweifel bestanden. Im Kofferraum von Marlies’ kleinem Wagen waren, neben üblichem Gepäck, ein kleines Klapp-Fahrrad und Lisas gesamte Spielsachen zur Beerdigung nach Bad Altensee mit angereist.
Die Vögel zwitscherten seit dem Morgengrauen. Katja hörte ihnen gern zu. Sie mochte vor allem die Amseln. Als kleines Mädchen hatte sie eine Amsel aus dem Maul einer Katze gerettet und den Vogel gesundgepflegt. Der Katze hielt sie einen Vortrag, der das Tier wenig beeindruckte. Was willst du? Das ist nun einmal Katzenart, schien sie zu sagen und stieg weiter den Vögeln nach.
Katjas Art war es, kranke Tiere gesundzupflegen, bis sie sie wieder, so sie dorthin gehörten, in die Freiheit entließ. An einigen hing sie jedoch so sehr, daß es aller Überredungskünste bedurfte, bis sie dem Tier endlich die Freiheit zurückgab.
Katja streckte sich im Bett und gähnte herzhaft. Die blaugestreifte Bettwäsche schmiegte sich um ihren Körper. Der Preis für die Bettwäsche hatte Pit damals, im Wäschegeschäft, die Sprache verschlagen. Aber Katja wollte sie unbedingt haben.
»Dann aber bitte von deinem Geld. Ich bezahle die bestimmt nicht.«
Warum bloß erinnerte sie sich heute morgen ausgerechnet an den Streit um die Bettwäsche? Das war unfair, wie ihr schien. Pit konnte sich nicht mehr verteidigen, konnte nichts mehr richtigstellen. Sie wollte sich doch nur an die schönen Momente erinnern.
Die Kleine von gegenüber übte sich wieder im Klavierspiel. Der Klang drang durch das geöffnete Fenster herein, perlte über die blaugestreifte Bettwäsche auf den Dielenfußboden hinab und bildete dort kleine Pfützen.
»Ich habe noch nicht herausgefunden, wie das Stück heißt, das sie immer wieder spielt«, murmelte Katja, als läge ihr Mann neben ihr im Bett und hörte ihr zu. »Das Stück paßt gut zu einem milden Frühlingsmorgen. Es ist nicht besonders schwer zu spielen. Eine leichte, beschwingte Komposition, die etwas von einem altmodischen Kinderlied hat. Findest du nicht? Wenn ich die Kleine das nächste Mal auf der Straße treffe, werde ich sie nach dem Titel des Musikstücks fragen. Vielleicht weiß sie ihn.« Sie reckte sich unter der Decke und fügte gähnend hinzu: »Obwohl es eigentlich nicht wichtig ist, zu wissen, wie ein Musikstück heißt, das die Nachbarstochter an milden Frühlingsmorgen spielt.« Resignation mischte sich in ihren Ton. Schon hörte sie Pit murren. Er mochte es nicht, wenn sie so sprach.
»Du hast recht. Wenn ich wieder damit anfange, ist mir bald nichts wichtig, und ich versinke erneut in Lethargie. Wie vor ein paar Wochen. Dann kommen die Gedanken an meinen Tod wieder, und ich beginne mich erneut zu fragen, warum und wofür ich überhaupt noch lebe. Aber so ganz unschuldig bist du schließlich nicht daran. Wir haben keine Kinder. Dabei habe ich mir so sehnsüchtig eine Tochter gewünscht. Es gibt natürlich unseren Amigo. Aber für einen Rassehund würde sich bestimmt ein neuer Besitzer finden, wenn auch ich nicht mehr für ihn da wäre. Amigo würde sich schon an eine neue Familie gewöhnen.«
Pits Murren wurde heftiger.
»Nun schimpf nicht gleich. Ich tue mir ja nichts an und bleibe bei deinem Hund. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich bleibe bei dem Hund, und ich schlucke keine Tabletten! Versprochen.«
»Tante Katja, bist du wach?« Lisa sah durch den Spalt der Schlafzimmertür herein.
Ihre Nichte war sehr aufgeweckt und fragte jedem Löcher in den Bauch. Tante Katja dies – Tante Katja das. Katja hatte sie schon einige Male gebeten, sie nicht Tante zu nennen. Katja würde genügen. Aber Lisa sagte weiter Tante zu ihr. Wahrscheinlich sah sie in den Augen eines vierjährigen Mädchens eben wie eine ›Tante‹ aus. Sie drehte den Kopf zu Pits Seite des Ehebetts und bewegte tonlos die Lippen: »Ich bin keine Tante. Ich bin auch nur noch sehr selten eine Schwester. Schon gar keine gute. Kaum einmal Tochter. Ich bin Witwe. Ich bin traurig. Ich bin leer. Ich bin beinahe schon tot. Ich bin allein. Nicht wirklich einsam. Denn ich spüre dich noch in meiner Nähe. Aber allein bin ich dennoch.
Ich bin keine Tante Katja! Warum begreift das Kind das nicht?«
»Tante Katja – bist du jetzt wach?« Lisa stand vor dem Bett, die kleinen Hände in die Taille gestemmt - ein Abbild ihrer Mutter. Sie trug noch ihr kiwigrünes Nachthemd, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Warum kaufte Marlies die Sachen stets zu groß? Das konnte man doch nicht jedesmal mit »Hineinwachsen« entschuldigen. Die Kleine sollte auch passende Kleider besitzen. Wer wußte denn, ob sie jemals in zu große Kleider hineinwachsen würde? Okay, okay – so etwas sollte man nicht denken. Aber Katja dachte nun mal so. Warum verschlossen die anderen immer die Augen vor Schicksalsschlägen, bis die urgewaltig über sie hereinbrachen? Der Mensch mußte mit Schicksalsschlägen rechnen. Täglich. Stündlich. Das Schicksal war allgegenwärtig. Wie Gott – wenn man an seine Existenz und Macht glaubte. Beweise für die Existenz des Schicksals fanden sich jedenfalls überall.
»Mmh. Ich bin wach. Das siehst du doch.« Obwohl Katjas Ton nicht besonders freundlich war, schlug sie einladend die Bettdecke zurück und rückte ein Stückchen zur Seite. Schwupp, lag Lisa neben ihr und kuschelte sich an sie.
Lisa schmuste morgens gern mit ihrer Tante, wobei sie ihren dunklen Lockenkopf dicht an Katjas Nase hielt, so daß die den »unverkennbaren Lisageruch« wahrnahm. Aprikosenshampoo und Lisas Schweiß vermischten sich im Haar des Kindes. Katja mochte diesen Geruch, obwohl er sie an nichts erinnerte. Sonst mochte sie Gerüche nur, die eine Erinnerung in ihr wachriefen. Der Lisageruch war für sie neu. Sie mochte ihn trotzdem.
»Wollen wir noch ’n bißchen schlafen?« Lisa drehte ihr Gesicht herum und schielte Katja aus zwei Zentimeter Entfernung an.
»Wir können es ja mal versuchen. Bis die Mama uns zum Frühstück ruft. Ja?«
Lisa nickte zustimmend und drückte sich noch fester an ihre Tante.
Die Kleine fühlt sich hier sicher, dachte Katja. Sie meint, ich könne sie beschützen.
Wahrscheinlich meint sie das nicht so konkret. Obwohl ich natürlich nicht genau weiß, ob ein vierjähriges Mädchen nicht doch darüber nachdenkt, wie ein Erwachsener es beschützen kann. Ich weiß aber, daß ich Lisa nicht beschützen kann. Nicht wirklich.
Vor dem Nachbarsjungen, der sie verprügeln will, weil sie ihn mit frechen Sprüchen provoziert – ja, vor dem könnte ich sie beschützen. Vorausgesetzt, ich käme hinzu, wenn sie sich gerade stritten. Aber vor dem, was das Leben tatsächlich ausmacht, davor kann ich sie nicht beschützen. Nicht wirklich. Niemand kann das.
Nichte und Tante lagen im Bett und hörten durch das geöffnete Fenster die Kleine von drüben auf dem Klavier klimpern. Sie hatte offenbar keine Lust mehr und hackte nun wild auf den Tasten herum, bis die Mutter ein Machtwort sprach und laut schimpfend das Fenster schloß. Danach hörte man nur noch Vogelgezwitscher und ab und zu ein vorbeifahrendes Auto.
Kurz darauf schlich schon der nächste Gast ins Schlafzimmer.
Amigo legte seinen dicken, fuchsroten Kopf auf das Bett und sah Katja aus sanften, braunen Augen an. Es hatte eine Weile gedauert, bis er Katja als Ersatz für Pit akzeptierte. Eigentlich war sie seine Futterlieferantin und die Ersatzbegleiterin auf den Spaziergängen. Amigo war zuallererst Pits Hund. Und er trauerte sehr um seinen Herrn. Die gemeinsame Trauer war es schließlich, so meinte Katja, die sie beide zueinander führte. Nun hing er in einer Weise an ihr, die Katja sich damit erklärte, daß sie sein letztes Verbindungsglied zu seinem toten Herrn war. Sie hatte Pit geliebt. Und Amigo hatte Pit geliebt. Das verband. Sie sahen einander in die Augen und wußten ganz genau, was sie voneinander zu erwarten hatten.
Amigo duldete Lisa im Haus. Marlies jedoch ignorierte er standhaft, als wartete er, wie Katja, auf den Tag, an dem sie endlich wieder abreiste.
Amigo schnaufte Katja fordernd an. Dem Schnaufen fügte er beim zweiten Mal einen leise fiependen Ton hinzu. Wenn seine Schnauze so auf der Bettkante auflag, wirkte sie noch breiter. Ein Hund zum Schmusen und Knutschen. In diesen Momenten legte er alles Majestätische und Erhabene ab, wurde zu einem liebebedürftigen Chow, der gestreichelt werden wollte.
Katja langte vorsichtig über Lisa hinweg, um die weiche Stelle zwischen seinen braunen Katzenohren zu streicheln. Er ließ es mit genußvoll geschlossenen Augen geschehen.
»Das Frühstück ist fertig. Kommt ihr runter?« Marlies hatte sich unbemerkt herangeschlichen und blickte nun strafend auf Amigo. Sie mochte es nicht, wenn der Hund im Schlafzimmer war. Tiere hatten nach ihrer Meinung im Garten, bestenfalls noch im Flur oder Keller zu sein.
»Dies ist immer noch mein Haus, in dem du dich anzupassen hast. Wir benötigen deine Hilfe nicht. Wenn es dir also hier nicht gefällt, kannst du gern sofort wieder abreisen! Ich halte dich nicht.« Aber so unverblümt sich Katja auch ausdrückte und gab - sie erreichte damit nichts. Marlies und Lisa blieben. Trotz der manchmal vergifteten Stimmung, die meistens von Katja ausging.
Seit einem Vierteljahr lebten die beiden in dem kleinen Anbau am Haus, den Pit und Katja als Gästezimmer eingerichtet hatten, weil ein eigenes kleines Duschbad daran anschloß.
Einmal kam Lisas Vater Klaus zu Besuch. Katja ließ die Familie allein und ging mit Amigo drei Stunden spazieren. Anschließend setzte sie sich in der Fußgängerzone in ein Café mit Rüschenstores an den Fenstern und beobachtete die vorbeischlendernden Passanten. Es hat etwas für sich, in einem Kurort zu wohnen, dachte sie damals, die Menschen haben mehr Zeit und verlieben sich hier öfter als in anderen Städten. Garantie gibt es hier aber auf die Liebe ebensowenig wie in der restlichen Welt.
Als Katja zurückkam, war Klaus bereits wieder abgefahren, und Marlies wollte nicht darüber reden, was zwischen ihnen vorgefallen war oder auch nicht. Lisa saß mit ihrer Puppe im Arm weinend im Garten.
Katja machte sich Gedanken darüber, ob Marlies jemals wieder abreisen würde. Einmal träumte sie sogar, Marlies hätte die restlichen Schulden, die noch auf dem Haus lasteten, bei der Bank abgelöst und sich so ein Teilrecht am Haus und am Leben der Schwester erkauft. Vielleicht hatte sie sich schon um einen Kindergartenplatz für Lisa bemüht und nur vergessen, es ihr zu sagen? Wie sie ihr auch nichts von ihrem Aushilfsjob in der Buchhandlung sagte, bis sie eines Morgens beim Frühstück damit herausrückte, Katja müsse sich bitte dreimal in der Woche halbtags um Lisa kümmern, weil sie inzwischen einen Job angenommen habe. Peng. So einfach war das also.
Warum war für Katja selbst das Leben bloß so schwierig?
Katjas hatte sich angewöhnt, nur noch einen Tag nach dem anderen zu leben, als würde sie auf schwankendem Boden behutsam einen Fuß vor den anderen setzen. So ließ sie nur noch ein Gefühl nach dem anderen zu, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, um nicht von der Gefühlssintflut fortgeschwemmt zu werden, die mit Pits Tod den Sinn aus ihrem Leben gerissen hatte. Die ganze Zeit über war sie sich jedoch des Donnergrollens bewußt, das irgendwo dort hinten im Kopf lauerte. Das Gewitter konnte jeden Moment wieder heranrollen. Der Blitz würde sie erneut treffen. Dann wäre sie nicht mehr fähig, die banalsten Dinge zu tun. Als hätte sie die Alzheimerkrankheit, würde sie nicht mehr wissen, wie man Kaffee kochte, wie man einkaufte, sich duschte, Auto fuhr – wie man mit dem Übersetzen von Romanen seinen Lebensunterhalt verdiente. Das war ihr Beruf. Sie übersetzte Geschichten, die anderen Menschen, meist amerikanischen Frauen, eingefallen waren. Aber sie war momentan nicht fähig, ihr eigenes Leben, ihre eigene Geschichte zu leben. Ihre eigene Geschichte war der Film, der auf einer großen Kinoleinwand ablief und sie nicht wirklich betraf.
Ihre Therapeutin riet ihr, sich in die hinterste Reihe zu setzen und sich von dort ihr Leben anzusehen. Als Katja das nicht möglich war, sagte sie: »Setzen Sie sich oben auf die Leinwand und schau’n Sie von dort zur hintersten Reihe im Zuschauerraum. Sehen Sie sich jetzt ganz hinten sitzen, wie Sie sich Ihr Leben auf der Leinwand anschauen?«
Das gelang Katja. Aber war das tatsächlich ihr Leben, das sie sich ansah?
Nun ging sie vorsichtig und sparsam mit sich und dem Leben um, damit es ihr nicht über den Kopf wuchs, damit die Schlingwurzeln des Lebens nicht noch einmal ihr Herz sprengten.
Sie mußte sich schützen. Vor dem Leben. Vor den Menschen. Und ganz besonders vor der Liebe mußte sie sich schützen. Die Liebe in ihr hatte sich verkapselt, wie ein großer Tumor. Es gab sie noch, die Liebe, aber sie konnte ihr nicht mehr gefährlich werden, weil sie in einem Kokon eingesponnen war, aus dem sie nicht herauskonnte. Es konnte aber auch nichts zu ihr hindurchdringen. Katja hatte Pit zu sehr geliebt, um auch nur den Gedanken zu ertragen, noch einmal, jenseits von Pit, mit der Liebe in Berührung zu kommen. Das war doch sehr simpel und ganz einfach zu verstehen. Warum also begriff es ihre Familie nicht? Warum wollten die Freunde, die ihr geblieben waren, das nicht verstehen?
Auf dem Weg in die Küche warf Katja einen Blick auf Pits Foto, das auf dem kleinen Sideboard im Wohnzimmer stand. Es war im letzten Spätsommer aufgenommen worden, als sie noch nichts von seiner Erkrankung gewußt hatten und ein gemeinsames Leben bis ins hohe Alter planten.
Auf dem Foto lachte Pit in die Kamera. Er trug ein weißes T-Shirt, das seine braune Haut besonders dunkel aussehen ließ. Seine kurzen Haare waren von der Sonne weißblond gebleicht. Hinter ihm war die Ostsee, auf der sie mit Freunden gesegelt waren, zu ahnen. Aber Katja sah nur seine lachenden Augen, die zärtlich in die Kamera blickten, weil sie es war, die ihn fotografierte. Es war sein »Katjablick«, mit dem er auf dem Foto lächelte. So sah er nur sie an. Jetzt tat ihr sein Blick weh. Und dennoch sah sie das Foto wenigstens einmal am Tag an. Sie kratzte den Schorf von der Wunde und streute noch Salz drauf. Sie wußte, sie sollte es nicht tun, damit die Wunde endlich heilen konnte. Sie tat es doch, immer wieder, und sie genoß es, das Blut hervorquellen zu sehen.
»Was hast du heute vor?« Am Frühstückstisch sah Marlies die Schwester fragend an, während sie in Gedanken die Milch über Lisas Cornflakes goß.
Katja ahnte, was gleich geschehen würde. Und richtig: Schon begann Lisa zu toben. Neuerdings bestand sie darauf, selbst die Milch über die Cornflakes zu gießen, weil sie ja schon ein großes Mädchen war. Marlies’ Erklärung, die Milchtüte sei noch zu voll, als daß Lisa sie hätte halten können, ließ die Kleine nicht als Entschuldigung gelten und schrie weiter, daß man meinte, im Schrank würden die Gläser zerspringen. Ungerührt schob Marlies Lisa die kleine Schale rüber und fragte ihre Schwester erneut: »Was hast du für Pläne?«
Katjas Gesicht wurde zur Maske. Am liebsten wüßte sie über jede einzelne Minute in meinem Leben Bescheid, dachte sie. Und sagte dann laut: »Ich muß arbeiten. Der Abgabetermin rückt immer näher, und ich bin mit dieser verflixten Übersetzung total im Verzug.«
»Hast du nicht einen Zahnarzttermin?« Marlies rührte Lisas Cornflakes um. Sie sah die Schwester nicht an, während sie fortfuhr: »Du hast doch schon letztes Mal den Termin abgesagt. Ich finde es einfach lächerlich, solche Angst vorm Zahnarzt zu haben.«
»Mein Zahnarzttermin ist erst morgen. Und außerdem ist es mir völlig egal, was du lächerlich findest und was nicht.« Katja stand abrupt auf. Der Küchenstuhl kippte hintenüber und wäre auf Amigo gefallen, wenn der nicht durch sein schnelles Aufspringen den Stuhl im Fallen gestoppt hätte. »Jetzt gehe ich mit dem Hund spazieren. Danach findest du mich am Schreibtisch, wenn du etwas von mir willst.«
»Deinen ironischen Tonfall ... Ja? Also, den kannst du dir ruhig verkneifen. Schließlich meine ich es ...« Die letzten Worte sprach Marlies nicht mehr aus, weil hinter Katja und Amigo die Haustür krachend ins Schloß fiel.
»Jetzt iß endlich diese verdammten Cornflakes und hör mit dem Geheule auf! Das ist ja nicht auszuhalten!« fauchte Marlies und blitzte Lisa an, als wollte sie ihren Worten gleich noch mit einer Ohrfeige Nachdruck verleihen. Das war allerdings nur eine Drohung, die sie niemals wahrmachen würde, was Lisa wußte. So schob die Kleine trotzig provozierend, mit vorgeschobener Unterlippe, ganz langsam die Müslischale beiseite und verschränkte die Ärmchen vor der Brust.
Und es passierte nichts.
Marlies war mit ihren Gedanken bei ihrer Schwester, den ständigen Streitereien zwischen ihnen beiden und den Problemen mit Klaus. Nicht nur seine und somit auch ihre Geldschwierigkeiten wuchsen sich immer mehr aus. Zur Zeit war ihr Leben wirklich nicht gerade leicht. Sie wußte nicht, wohin das noch führen würde. Und dann hatte sie auch noch Katja im Schlepptau, weil Paps sich das so ausgedacht hatte.
Katja hörte draußen, auf der Straße, Pits Stimme, die sie ironisch fragte: »Fühlst du dich jetzt besser? Wenn die Haustür ins Schloß fällt und die Tiffanyscheiben in der Tür fast zersplittern? Ist das irgendwie befreiend für dich?«
»Ja! Das war fällig.« Katja atmete erleichtert tief durch. »Weißt du etwa nicht mehr, wie schön es in unserem Haus war? Nur du und ich.
My home is my castle. Heute teile ich es mit einigen Gespenstern. Und nicht alle wurden von mir eingeladen.«
Pit antwortete ihr nicht mehr. Aber das war ihr in diesem Moment auch egal.
Nach ihrer Hochzeit wohnten Katja und Pit in einer kleinen Mansardenwohnung in Bad Altensee, die Pit schon während seiner Referendarzeit gemietet hatte. Katja machte daraus ein Schmuckkästchen. Pit war währenddessen beruflich sehr eingespannt und beschränkte sich darauf, den Wänden mit der Bohrmaschine Wunden zuzufügen, die mit Gips und Dübeln gestopft wurden, um schließlich hinter Bildern, Hängeschränken und unendlich vielen Bücherregalen zu verschwinden.
Dann erbte Pit von seinem Großvater zweihunderttausend Mark. Der alte Mann hatte es der ungeliebten Familie noch im Tode »gezeigt« und seinem Lieblingsenkel den Löwenanteil seines Vermögens vermacht.
Das junge Paar plante, mit dem Geld ein Häuschen im Grünen zu kaufen, doch es wurde ein altes Fachwerkhaus daraus, das trotz Modernisierung seinen ursprünglichen Charme bewahrte.
Das Haus blickte aus vielen kleinen Sprossenfenstern auf eine ruhige Seitenstraße am Ortsausgang. Hinter dem Haus, von der Straße nicht zu sehen, war ein kleiner Flachdachanbau, in dem sich die Vorbesitzerin eine Töpferwerkstatt eingerichtet hatte. Für Katja und Pit stand sofort fest, daß dies ein Gästezimmer werden würde. Damals hatten sie noch viele Freunde, die gern auch einmal länger zu Besuch kamen.
Mit den Jahren wurden es weniger Freunde und seltenere Besuche.
Zum Haus gehörte ein kleiner Garten, der im Stil eines Bauerngartens angelegt war. Als die beiden das Haus zum ersten Mal besichtigten, stand alles in voller Blüte. Calendula, Rittersporn, Rosen, Lavendel blühten zwischen Zwiebeln, Kohl und Möhren. Die Gemüse- und Blumenbeete wurden von niedrigen Buchsbaumhecken umschlossen. Der Garten wurde von einer mannshohen roten Sandsteinmauer begrenzt, die grüne Mooshäubchen trug.
Katja, die Romantikerin, war von all dem entzückt. Ihr Herz raste vor Furcht, Pit würde nicht genauso empfinden und wäre nicht bereit, seine Erbschaft hier zu investieren. Nie zuvor hatte sie verstanden, was gemeint war, wenn sie hörte oder las, jemand habe sein Herz an ein Haus verloren – an ein Cottage, eine alte Mühle, einen halb verfallenen Kuhstall. Nun wußte sie, was diese Menschen fühlten, und glaubte, ihr Herz würde brechen, wenn sie und Pit nicht das verzauberte Fachwerkhaus erstanden. Was ahnte sie damals schon von dem Schmerz, dem Verlust, den ein Menschenherz fühlte und dennoch weiterschlug, scheinbar davon unberührt. Es kam nur ab und zu kurz aus dem Takt, jedoch nie lange genug, um vor allem Schmerz fliehen zu können.
Sie schlenderten gemeinsam durch die leeren Räume und richteten sie in Gedanken bereits ein.
Sie öffneten die Sprossenfenster und blickten vom ersten Stock in den sonnenbeschienenen Garten. Pit nahm seine Frau in die Arme und küßte sie auf den Scheitel.
»Ein verzaubertes Haus. Ich glaube, es ist ein guter Ort, um unsere Kinder aufwachsen zu sehen. Wir sollten es kaufen, oder?«
Katja hatte vor Aufregung nichts sagen können, war ihm um den Hals gefallen und hatte ihn sprachlos geküßt.
Sie wünschte sich so sehr eine Tochter. Pit jedoch war bisher nicht dazu bereit gewesen, ernsthaft über eine Familie nachzudenken. Und jetzt das? Erst würden sie das Haus kaufen und dann, wenn alles eingerichtet war ... eine Familie gründen.
Sie kauften Hals über Kopf, wie die Eltern meinten, das Haus in der »Himmelspforte«. Die Straße war nach dem früheren Bürgermeister Hugo Himmel benannt worden. Man hatte aber wohl auch der Tatsache Rechnung getragen, daß sie einen Hügel hinaufführte, an den der alte Stadtpark angrenzte.
Katja ließ gleich nach dem Umzug wie berauscht vor Glück Briefpapier und Visitenkarten mit ihrer neuen Anschrift »Himmelspforte 8« drucken. Die Adresse war ein gutes Omen, fand sie.
Amigo stellte sich mühsam darauf ein, den morgendlichen Spaziergang mit Katja zu machen. Er war mit seinen drei Jahren, Menschenjahren, eingefahren wie ein alter Beamter nach dreißig Jahren Dienst. Den Morgenspaziergang hatte er stets mit Pit gemacht, der dem Hund vorausjoggte, manchmal im Rückwärtsgang, um zu sehen, wo Amigo abblieb, wenn der einen Abstecher auf einer Kaninchenfährte unternahm oder auf den Spuren einer läufigen Hündin lustwandelte.
Katja war später, im Laufe des Vormittags, für die kurze Runde zuständig, während Pit in der Schule war. Auch den Nachmittagsgang erledigte der Hund mit ihr. Den ausgedehnten Abendspaziergang machte er wieder mit Pit oder aber mit Pit und Katja gemeinsam.
Nun stand ihm ausschließlich Katja als Begleiterin zur Verfügung, was ihn anfangs mehrmals täglich an seinen schmerzlichen Verlust erinnerte.
Vom morgendlichen Joggen konnte nun keine Rede mehr sein. Katja, die stets Probleme hatte, morgens in Gang zu kommen, schlurfte mit ihm durch den waldähnlichen Park, der nur zehn Minuten vom Haus entfernt begann. Nun wurden sie also jeden Morgen von hyperaktiven Joggern und Walkern, manche in Begleitung ihrer ebenfalls trainierten Hunde, locker überholt. Zwar vermißte Amigo nicht wirklich das Joggen, schließlich legte er mit Katja kein anderes Tempo vor als zu Zeiten seines Herrn. Aber er fühlte sich von Katja beobachtet, da sie fast immer mit ihm auf gleicher Höhe blieb.
Ein Chow-Chow geht stets ökonomisch mit seinen Kräften um. Er ist ein eher ruhiger, besonnener, zum Philosophieren neigender Vertreter seiner Art, der keine Affinität zu übertrieben sportlichen Aktivitäten verspürt. Dennoch ist er, außerhalb seiner Meditations- und Ruhestunden, an seiner Umwelt schnüffelnd interessiert. Er liest an Bäumen und Sträuchern die Post und die Morgenzeitung.
Amigo fühlte sich dabei von Katja gestört.
Katja, die das durchaus bemerkte, glaubte, der Hund habe das Gefühl, sie würde ihm morgens beim Zeitunglesen über die Schulter schauen und ihn nach dem Sport- oder Kulturteil fragen. Wer teilte schon gern seine Zeitung mit jemandem, wenn es sich vermeiden ließ?
Katja stand am Grab ihres Mannes und blickte sinnend auf dessen Hund, der sich, einem Bettvorleger gleich, vor den großen Findling legte, der auf der rechten Grabseite ruhte und Katja gewöhnlich als Sitzplatz diente.
Amigo klappte seine Beine nach hinten weg, was ihm das Aussehen einer kleinen Robbe verlieh. Auf dem Friedhof verhielt sich der Hund stets ruhig und wohlerzogen. Er lief nicht fort und bellte nicht. Letzteres tat er ohnehin nur sehr selten. Wenn sich spät abends noch etwas vorm Haus rührte, zum Beispiel. Dann schnaubte er erst warnend, und kurz darauf erklang sein tiefes Woff, Woff. Chows bellen nie Wau, sondern Woff, hatte Pit ihr erklärt. Sie waren eben besondere Hunde und ihm darum so lieb gewesen.
Als sie sich auf dem Stein niederließ, spürte sie seine Wärme. Obwohl es noch früh am Morgen war, hatte der Findling sich bereits erwärmt. In Gedanken führte sie nun einen stummen Dialog mit ihrem Mann. Pit antwortete ihr. Sie hörte ganz deutlich, wie er mit ihr sprach.
So fühlte sie sich ihm noch näher, obwohl ihr das kaum noch möglich schien. Er machte auch nach seinem Tod noch den wesentlichen Teil ihres Lebens aus. Er hatte sie halb zurückgelassen. Vielleicht sogar nur zu einem Viertel. Es verwunderte Katja, daß niemand das zu bemerken schien.
»Vielleicht gelingt mir die Täuschung so gut, weil ich lange Zeit wie ein Roboter oder ein Zombie funktioniert habe. Ich aß, redete, bewegte mich, arbeitete sogar. Aber ich tat es seelenlos. Und niemand bemerkte das.«
Amigo blickte kurz zu ihr auf. Mit wem sprach sie? Schnaufend legte er dann seinen Kopf zurück auf die dicken Pfoten.
Auf dem Rückweg vom Friedhof trafen sie wieder auf Miss Molly. Katja hatte ihr diesen Namen gegeben, weil alles an ihr rund war. Die Figur, das Gesicht, sogar ihr altmodischer Haarknoten.
Obwohl Miss Molly jedesmal, wenn sie ihr begegneten, dunkle Kleidung trug, umgab sie scheinbar ein helles Licht. Es schien Katja stets, als würde Miss Molly sich in einem silbrighellen Schein bewegen, der sie umgab wie Sonnenlicht, das über heißem Asphalt flirrte. Sie fragte sich, ob auch andere dies bemerkten oder ob sie sich das einbildete. Alles war sehr ungewöhnlich. Und so war auch Miss Molly. Sie trug immer dieselben Dinge in ihren beiden Einkaufsnetzen mit sich: Konservenpfirsiche, Vollmilchtüten, zwei Pakete Brot, einen Beutel rotbackige Äpfel, eine Handvoll Bananen und ein Stück Butter. Wahrscheinlich waren dies ihre üblichen Grundnahrungsmittel, anders ließ es sich für Katja nicht erklären. Hatte sie niemals Appetit auf etwas anderes? Benötigte sie niemals Putzmittel, Seife und Toilettenpapier?
»Guten Morgen. Wie geht es Ihnen beiden heute?« Miss Molly strahlte und beugte sich zu Amigo hinunter, um über seinen Kopf zu streicheln. Amigo ignorierte ihren freundschaftlichen Antrag hochmütig. Er bandelte ja nicht mit jedem an. Auch nicht mit netten alten Damen.
»Uns geht es gut. Danke. Und Ihnen?«
»Oh, man darf nicht klagen. Es geht mir den Umständen entsprechend.«
Katja, die »die Umstände« nicht kannte, fragte auch nie danach. Alte Menschen neigten zu einem mehrstündigen Exkurs, wenn man sie nach Gesundheit und den »Umständen« fragte. Sie glaubte nicht, daß sie die interessierten, und beließ es daher bei ein paar höflichen Floskeln. Was ging sie die alte Frau an? Natürlich konnte sie ein bißchen nett zu ihr sein. Aber darüber hinaus hatte sie genug eigene Probleme.
»Ist es nicht wieder ein wunderschöner Tag?« wollte Miss Molly wissen.
Überrascht sah Katja zum Himmel hinauf, der sich kitschigblau und wolkenlos über ihnen wölbte. Erstaunt nahm sie den vollen, runden Duft eines üppigen Blumenbuketts wahr, das sie alle drei einhüllte. »Ja«, bestätigte sie und hielt die Nase schnuppernd in die Luft, »es ist ein wunderschöner Tag.«
»Sie waren auf dem Friedhof.« Miss Molly stellte das fest. Ihre Stimme hob sich nicht fragend.
»Mmh. War ich. Ich habe das Grab meines Mannes besucht.«
»Das dachte ich mir schon. Wie geht es ihm denn?«
Die Frage verwirrte Katja. Im Bruchteil einer Sekunde schoß es ihr durch den Kopf, daß alte Menschen eben oft wunderlich wurden. Besonders, wenn sie ihren Lebenspartner verloren. Sie gingen auf den Friedhof und sprachen dort mit den Verstorbenen, als könnten die ihnen antworten. Dann lief es Katja eiskalt den Rücken herunter. Genau das tat sie selbst doch auch!
»Danke. Ich glaube, es geht ihm ebenfalls den Umständen entsprechend«, murmelte sie und wandte sich zum Gehen, als Miss Molly von dieser Antwort keineswegs beeindruckt schien. »Entschuldigen Sie mich bitte. Aber zu Hause wartet noch so viel Arbeit auf mich.« Sie ging rasch weiter, drehte sich aber nach einigen Schritten noch einmal nach Miss Molly um. Doch die war wie vom Erdboden verschluckt. Nur das silbrige Licht waberte einen kurzen Moment über dem Straßenasphalt, wo die kleine Frau eben noch gestanden hatte.
Wahrscheinlich wohnt die alte Dame in einem der kleinen Häuser, die verstreut entlang der Straße stehen, beruhigte sich Katja.
Zwischen den Häusern klafften Lücken. Die verbliebenen Gebäude in der Straße waren ausnahmslos alte Einfamilienhäuser. Die ursprünglichen Besitzer waren meist verstorben, sozusagen auf die andere Straßenseite hinübergewechselt.
Die Kinder oder Enkelkinder verkauften die geerbten Immobilien, weil sie zu altmodisch und zu klein waren oder weil ein großer Bauträger ein lukratives Angebot unterbreitete. So fanden sich in Straßen wie dieser immer häufiger Schilder, die den Bau von vier bis acht Komfort-Eigentumswohnungen in ruhiger Toplage ankündigten.
Für die Miss Mollys und ihre Häuschen war kein Platz mehr auf dieser Welt.