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27. November
ОглавлениеVorsichtig stieg Karin Ferber aus der Straßenbahn. Sie eilte die Straße hinunter und zog den Wohnungsschlüssel aus der Tasche. Sie tastete über den bröckligen Putz an der Wand neben dem Tor und fand den Lichtschalter. Sobald die Glühbirne, die nackt an einem kurzen Kabel hing, den Torweg erleuchtete, zuckte sie zurück. In dem schummrigen Licht sah es so aus, als ob zwischen den Mülltonnen vor ihr jemand auf dem Boden säße. Sie drehte sich mit einem Ruck um und lief fast in die Kneipe an der Ecke.
Obwohl Karin Ferber schon seit fast drei Monaten in dem Haus mit dem dunklen Torweg wohnte, war sie noch nie in dieser Kneipe gewesen. Drinnen roch es nach feuchter Wärme, nach Desinfektion und kaltem Rauch. Die Wände waren gelb und verräuchert. An der Decke hing eine Neonlampe, die an zwei Ketten befestigt war. Der dicke Wirt hinter dem Tresen musterte sie kurz und wandte sich wieder den beiden Männern zu, die an der Theke lehnten und über Fußball sprachen. Die Frau sah auf die Rücken der Männer und holte tief Luft, um aufkommende Hysterie zu unterdrücken.
"Ich glaube, ich habe eine Leiche entdeckt, in unserem Haus, im Durchgang. Es ist in der Nummer 20."
Die beiden Männer drehten sich zu ihr um und starrten sie wortlos an. Der eine, ein großer Dünner mit fettigem Haar und roten Äderchen auf den Wangen musterte sie von oben bis unten.
"Was haben Sie gesagt?"
"Ich glaube, ich habe eine Leiche entdeckt. Im Durchgang, in der Nummer 20."
Die beiden mussten sofort gegangen sein. Später erinnerte sie sich nur noch an eine Fliege, die gegen die dunkle Fensterscheibe flog. Der Wirt stellte eine Tasse Kaffee vor sie hin und rückte das Telefon auf der Theke zurecht.
Nach einer Viertelstunde kamen die beiden zurück. Sie wusste sofort, dass der dritte Mann, dem sie die Tür aufhielten, ein Polizist war. Diese Typen in Jeans und Windjacke kannte sie. Während sie ihm entgegen sah, lief in ihrem Kopf eine Schallplatte: Es ist nie vorbei. Er sah ihr mit diesem ernsten Polizistenblick in die Augen, um ihre Pupillenreaktion zu beobachten.
"Laagemann, Kriminalpolizei. Sie haben die Leiche gefunden?"
"Ich habe nur die Füße gesehen."
"Wohnen Sie in der Nummer 20?"
"Ja, seit elf Wochen."
Er holte einen Ausweis in einer kleinen Plastiktüte aus der Jackentasche und legte ihn vor sie hin.
"Kennen Sie die Frau?"
"Nein." Natürlich war sie es. Irgendwo im Kopf hatte sie es die ganze Zeit lang gewusst. Sie betrachtete das Foto gründlich.
"Nein, ich kenne die Frau nicht." Als sie es endlich wagte, den Kopf zu heben, und dem Polizisten wieder in die Augen zu sehen, war sie entschlossen zu schweigen.
Der Polizist hörte ihr konzentriert zu, als sie ihm berichtete, wie sie nach Hause gekommen war, im Durchgang das Licht angeschaltet und dann die Füße der Leiche entdeckt hatte. Sie war froh, die Wahrheit sagen zu können, Lügen lagen ihr nicht besonders.
"Bitte, kommen Sie morgen früh in unsere Dienststelle", er schob ihr eine Karte über die fleckige Tischplatte zu.
"Wir müssen Ihre Zeugenvernehmung protokollieren. Vielen Dank für Ihre Hilfe." Er erhob sich und wollte sich dem Wirt zuwenden. Aber etwas an der Art, wie sie ihn ansah, hielt ihn zurück.
"Ist da noch etwas, das Sie mir mitteilen möchten?"
"Nein, ich wollte nur fragen, ob die, äh, Frau schon abtransportiert worden ist oder ob sie noch im Durchgang liegt."
"Ehrlich gesagt, bin ich mir da nicht ganz sicher. Ich begleite Sie aber gern in Ihr Haus, wenn Sie das möchten."
"Ja, bitte, wenn es Ihnen nichts ausmacht."
Vor der Tür stand ein Leichenwagen. Zwei schoben gerade den geschlossenen Blechsarg hinein. Philipp Laagemann versuchte, nicht mehr an das verzerrte Gesicht zu denken und auch nicht an das Seidentuch um den Hals der Toten. Es sah sehr teuer aus, und sie hatte es sicher gemocht. Jetzt musste der Pathologe es für die Aservaten sichern. Der rote Bully von der Spurensicherung war so vor den Torweg geparkt, dass die Mülltonnen von seinen Frontscheinwerfern angeleuchtet wurden. Zusätzlich hatte der Polizeifotograf zwei riesige Scheinwerfer aufgestellt. Als Laagemann in den gleißend hellen Torweg einbiegen wollte, spürte er, wie die große Frau neben ihm zögerte.
"Kommen Sie, der weiße VW vor der Tür hat sie abgeholt." Er berührte sie sanft am Oberarm und ging weiter. Als seine Assistentin ihn ansprechen wollte, nickte er ihr kurz zu: gleich. Er schob die stille Frau in den dunklen Hof hinter dem Torweg. Der Hof war nur wenig ausgeleuchtet. Trotzdem sah Philipp Laagemann den gestreuten Weg, der quer über den schmutzig grauen Hof zur Eingangstür des Hinterhauses führte. Es war sehr niedrig, nur zwei Stockwerke. Offensichtlich war es vor dem Krieg höher gewesen, nach oben hin schloss es mit einem Dachprovisorium ab. Der Putz war stellenweise abgeplatzt, die Ziegel darunter waren von der Feuchtigkeit in den Mauern abgerundet. Philipp Laagemann wohnte selbst in einem unsanierten Haus, aber dies hier war schon im Zerfallsstadium. Im Stillen fragte er sich, wieso eine Frau, wie die, die jetzt vor ihm die schwere Haustür aufschob, in so ein Haus eingezogen war. Im Hausflur roch es feucht und modrig. Auch hier war die Beleuchtung eher sparsam. Auf den Treppenabsätzen waren Außentoiletten eingebaut. Die Frau wohnte im zweiten Stock, schweigend schloss sie eine frisch gestrichene hellgrüne Tür auf und schaltete das Licht im Flur ein. Er blieb an der Wohnungstür stehen und blickte sie an. Sie hielt ihren dunkelgrauen Wintermantel mit blaugefrorenen Fingern vor der Brust zusammen und sah zu Boden. Sie sah aus wie höchstens Mitte dreißig, aber etwas sagte ihm, dass sie etwa in seinem Alter war, so um die vierzig. Ihre halblangen Haare waren ebenso schwarz wie seine eigenen.
"Brauchen Sie noch etwas?"
Sie sah auf, schlafen würde sie heute Nacht sicher kaum.
"Nein. Danke, dass Sie mit hochgekommen sind."
"Keine Ursache. Wir sehen uns morgen früh im Präsidium, gegen zehn?"
"Ja, ich werde da sein."
"Gute Nacht“, er wandte sich ab und ging die ausgetretene Treppe hinunter. Als er wieder in den Hof hinaustrat, sah er vor dem hell erleuchteten Hintergrund des Torweges mit den Mülltonnen eine ziemlich große Ratte mit einem langen dünnen Schwanz über den Hof laufen und durch den brüchigen Zaun nach links im dunklen Nachbarhof verschwinden. Er schüttelte sich und ging zu seinen Kollegen. Die Leute von der Spurensicherung schienen fast fertig zu sein. Eigentlich mochte er jetzt nichts fragen, er wollte nach Hause und in Ruhe nachdenken. Vorher musste er jedoch noch mit Katja Stolzenburg, seiner Assistentin sprechen, die im Torweg ungeduldig auf ihn gewartet hatte. Sie war vierunddreißig, untersetzt und eine ehemalige Crossläuferin. Er fühlte sich von rothaarigen Frauen nicht angezogen, aber einige seiner Kollegen ließen deutliches Interesse erkennen. Katja trug trotz der Minusgrade nur eine Jeansjacke, hatte sich aber wenigstens einen Schal umgebunden. Da sie bisher nicht krank gewesen war, hielt er sich mit väterlichen Bemerkungen zurück.
"Was haben wir denn schon über die Dame?"
Irritiert sah sie ihn an und dann auf einen Zettel, den sie in der Hand hielt.
"Das Opfer hieß Ina Berg, war einundzwanzig Jahre alt und Studentin an der Humboldt-Universität. Dem Anschein nach wurde sie von hinten niedergeschlagen und anschließend erwürgt. Ob sie sich gewehrt hat, ist nicht ganz klar, da müssen wir auf den Bericht warten. Die ungefähre Todeszeit lag etwa zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Uhr. Genaueres wollte Rieger noch nicht sagen. Er entschuldigt sich übrigens. Er wollte sich noch heute Abend mit der Dame befassen und hat sie gleich in seinen Keller bringen lassen."
Professor Rieger, der Gerichtsmediziner, nahm seine Arbeit sehr genau. Er hatte Rückgrat und ließ sich halbe Berichte oder gar Vermutungen auch nicht unter Drohungen entlocken, solange er noch irgendwelche Zweifel hegte. Das machte ihn leider zum langsamsten Gerichtsmediziner Berlins. Laagemann mochte ihn und arbeitete gut mit ihm zusammen. Er nickte Katja zu und sah auf die Uhr. Es war schon nach Mitternacht.
"Weißt du was, Katja, wir fahren jetzt beide nach Hause und schlafen uns aus. Morgen früh um neun treffen wir uns im Präsidium und besprechen das weitere Vorgehen. Sag bitte auch Kolbe und Barthels Bescheid. Ich kann dich zu Hause absetzen." Sie stiegen in seinen grünen Ford Escort ein. Er startete und lenkte den Kombi sanft aus der Parklücke. Katja saß schweigsam neben ihm. Als er nach rechts in die Niederbarnimstraße einbog, sah er aus den Augenwinkeln, dass sie offensichtlich etwas sagen wollte.
"Sprich es aus."
Sie zuckte zusammen. "Ich habe nur darüber nachgedacht, warum die Frau hingesetzt wurde. Normalerweise hätte man sie doch einfach auf den Boden fallen lassen können. Als ob der Täter ihr nicht noch mehr wehtun wollte. Das ist einfach absurd, oder?"
Laagemann ließ den Wagen vorsichtig vor ihrem Haus ausrollen. Er war nicht sicher, ob hier gestreut war. Er blies in seine frostklammen Hände, das Lenkrad war sehr kalt gewesen. Er fand eher seltsam, dass in dieser vergessenen, halb verfallenen Ecke von Berlin jemand wie die große Frau wohnte. Auf dem Schild an ihrer Tür hatte Ferber gestanden, kein Vorname. Der Gedanke an sie ließ ihn nicht los.
"Ja, vielleicht. Kann aber auch sein, dass sie einfach so an der Wand herunter gerutscht ist. Ich schlage vor, wir unterhalten uns weiter darüber, sobald wir den Obduktionsbericht haben. Wenn du morgen ins Büro kommst, versuch bitte, Verwandte der Toten ausfindig zu machen. Wir müssen sie so schnell wie möglich informieren." Die Besatzung des Funkstreifenwagens, die er nach dem Auffinden der Leiche zu der Adresse aus dem Ausweis geschickt hatte, hatte festgestellt, dass die junge Frau offenbar allein gelebt hatte.
"Gute Nacht." Katja verzog müde das Gesicht. "Ich hoffe, ich träume nicht von diesen Mülltonnen. Danke fürs Bringen."
Als er seine Haustür aufschloß, knurrte sein Magen. Missmutig suchte er im Dunkeln nach dem Lichtschalter hinter der Tür. Er seufzte, es war schon fast eins. Bevor er jetzt etwas gegessen hatte und im Bett lag, würde es zwei Uhr oder später sein. Morgen früh würde er gegen sieben Uhr aufstehen müssen. Völlig unpassend für seinen Beruf war Philipp Laagemann ein Mensch, der jede Nacht acht Stunden Schlaf brauchte und der nur am Tag zu Höchstform auflief. Er stieg langsam die Treppe hoch. Seine Wohnung war eine Altbauwohnung mit hohen Decken. In seinem großen Wohnzimmer stand der Schreibtisch. Das Schlafzimmer war ein schmaler Schlauch, und dann war da noch das Kinderzimmer, in dem sein Sohn Jonas wohnte, wenn er ihn an den Wochenenden besuchte. Die Küche war klein, die Küchenmöbel hatte er bei Ikea gekauft. Philipp hängte seine Jacke an die altmodische Garderobe aus Gusseisen, die sein Vater vor vielen Jahren gebaut hatte, und nahm dann den Ausweis der Toten mit in die Küche. Er holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, schmierte sich vier Stullen mit pommerscher Leberwurst und schnitt eine junge Zwiebel darauf. Den Teller nahm er mit ins Wohnzimmer. Er schaltete den Fernseher ein und ließ sich auf seinen hellbraunen Fernsehsessel sinken. Mit hoch gelegten Beinen begann er, gemächlich zu kauen. Dabei dachte er nach. Hatte die große Frau die Tote wirklich nicht gekannt? Als die Ferber ihm in der Kneipe gegenüber gesessen und den Ausweis angesehen hatte, war ihm einen Moment lang der Gedanke gekommen, dass sie die Frau zu kennen schien. Er erhob sich mühsam aus seinem Sessel und holte sich einen Block und einen Stift vom Schreibtisch. Wer war die Tote? Er sah auf den Ausweis, den er auf den Wohnzimmertisch gelegt hatte. Sie hieß Ina Berg und sah sehr jung aus, laut Ausweis war sie erst vor Kurzem einundzwanzig Jahre alt geworden. Sie lebte allein und hatte offensichtlich auch keine Kinder, zumindest hatte die Besatzung des Funkstreifenwagens in ihrer Wohnung nichts gesehen, was darauf hätte schließen lassen. Es gab kein Auto, das auf sie zugelassen war. Wie war sie also in die Brückenstraße, in den Torweg mit den Mülltonnen gekommen? Und vor allem warum? Er rieb sich den Schädel und schaltete den Fernseher aus, in dem eine Talkshow lief. Dann öffnete er das Fenster und sah auf die dunkle Straße hinunter. Es gab fast keinen Verkehr mehr, nur vom nahe gelegenen S-Bahnhof war das Bremsgeräusch einer einfahrenden S-Bahn zu hören. Wahrscheinlich die Letzte für heute. Die Nachtluft war eisig geworden. Er schloss das Fenster wieder und zog die Jalousie herunter. Vor dem Einschlafen dachte er noch einmal ganz fest an den Platz, an dem er nach langer Parkplatzsuche seinen Ford abgestellt hatte, sonst würde er sich morgen früh nur schwer daran erinnern können.