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Mein Cousin Albert

(1957)

Mein Cousin Albert und ich sind 1945 geboren, er ist allerdings ein halbes Jahr älter als ich, was sich im Laufe unseres Heranwachsens immer wieder bemerkbar machte. Wir haben beide französische Mütter und deutsche Väter, allerdings bin ich im Kraichgau als Deutscher, er in Colmar als Franzose aufgewachsen.

Wenn ich in den Sommerferien mit meiner Mutter zu den Großeltern nach Colmar kam, war Albert mein Spielkamerad, der mich schon früh mit den Mädchen in der Umgebung bekannt machte. Aber wir spielten nicht nur „Dokterles“, sondern warfen und rollten „Stinzer“, wie die „Klicker“ oder „Murmeln“ im Elsass genannt werden, bewunderten die historischen Kanonen im Park bei dem nahe gelegenen Stadion und kauften uns, wenn wir ein paar Sous (Münzen) hatten, Bärendreck, eine kaugummiartige Form von Lakritze. Von ihm erfuhr ich, dass auf der roten Bahn um das Fußballfeld Radrennen stattfinden. Damals zeigte sich schon, dass es für ihn, neben den Mädchen, noch eine Leidenschaft gab: das Radfahren.

Als ich so zwölf Jahre alt war, durfte ich alleine ins Elsass fahren. Albert lebte jetzt in seiner neuen Familie mit einem Stiefvater und drei kleinen Schwestern.

Eines Tages beschlossen wir, mit den Fahrrädern einen Ausflug nach Buhl, einem kleinen Ort am Fuß des elsässischen Belchen, zu machen, um dort unseren Onkel Antoine zu besuchen. Auf dem Heimweg wollten wir dann in Voeglingshofen beim Pfedri, wie der Bruder unseres Großvaters von allen genannt wurde, vorbeifahren. Wir waren morgens spät dran, weil Albert zuerst die Bremsen und Lichter unserer Räder überprüfte. Er reparierte überhaupt gerne, obwohl ich nicht weiß, was es da immer zu reparieren gab. Auf jeden Fall kamen wir gerade rechtzeitig zum Mittagessen nach Buhl. Statt uns zu begrüßen, fragte meine Tante Yolande mit hochrotem Gesicht, wo denn der Rest der Familie sei. Ich hatte ihr nämlich eine Postkarte geschickt, auf der kurz und bündig stand: „Ich bin bei Albert in Ferien, wir kommen am Dienstag zum Mittagessen.“

Nachdem sie sich vom ersten Schock erholt hatte, trug sie auf. Das üppige, dreigängige Menü war für elf Personen gerechnet, mit Onkel, Tante und den beiden Cousinen waren wir aber nur sechs. Albert und ich gaben uns redlich Mühe, trotzdem blieb die Hälfte übrig. Meine Tante, die sich kaum am Tischgespräch beteiligt hatte, warf die Reste wütend in den Mülleimer. Mein zaghafter Hinweis, dass es schade um das schöne Essen sei und man das doch aufwärmen könne, quittierte sie mit der kurz angebundenen Bemerkung, dass sie das letzte Mal für mich gekocht hätte.

Den Onkel konnte das Ganze wie üblich nicht erschüttern. Er war froh, wieder einmal Zuhörer für seine Heldentaten aus dem Krieg zu haben, in dem er das Vaterland mal auf der deutschen, mal auf der französischen Seite verteidigt hatte, allerdings jeweils in der Armeeküche. Sein Lieblingsthema waren die Mädchen, die er dabei kennengelernt hatte. Die Tante brummte dann nur: „Buwe, ihr müsst net alles glüwe.“

Obwohl unser Zeitplan schon ziemlich durcheinander war, fuhren wir auf dem Heimweg nach Voeglingshofen, das am Hang der Vogesen idyllisch in die Weinberge eingebettet ist.

Nach einem mühsamen Aufstieg von der Route Nationale zu dem Winzerdorf durften wir am großen runden Tisch Platz nehmen. Es wurde extra für uns eine Flasche Wein aufgemacht und die Tante buk Eier mit Speck. Nachdem uns der Pfedri die grünlichen Stielgläser mit Weißwein gefüllt hatte, fühlten wir uns richtig erwachsen. Während es draußen allmählich dunkel wurde, gingen wir nach dem Essen noch mit in den Keller, wo er uns den Wein direkt vom Fass probieren ließ. Das gab uns den Rest. Benommen taumelten wir irgendwann an die frische Luft. Der Onkel mit seinem derben Humor lachte nicht weniger als Albert und ich. Leicht schwankend bestiegen wir die Fahrräder und fuhren die steile und kurvenreiche Straße hinunter zur Nationalstraße. Auf dieser großen Verbindungsstraße von Mulhouse nach Colmar fuhr Albert voraus, weil an seinem Fahrrad nur das Vorderlicht, bei mir nur das Rücklicht funktionierte. „Was hat der heute Morgen nur so lange repariert“, ging es mir durch den vernebelten Kopf.

Spät abends warteten Alberts aufgeregte Eltern auf uns. Ich wurde gleich ins Bett geschickt, Albert bekam den Hintern versohlt. Als er endlich in die Mansarde hochkam, lachte er und meinte, er hätte gar nichts gespürt. Aus Wut über die Bestrafung und da wir in der Hektik vergessen hatten, auf die Toilette zu gehen, erleichterten wir uns auf dem Speicher beim Wettpinkeln auf alte Koffer.

Eines Nachmittags gingen wir auf die Foire aux Vins in der Altstadt von Colmar, auch heute noch das größte Weinfest im Elsass. Wir kosteten am Weinbrunnen von allen Sorten. Ausnahmsweise hatten wir genug Geld, da mir meine Eltern etwas „für alle Fälle“ mitgegeben hatten. Die Bedienung schenkte uns ein, ohne nach dem Alter zu fragen. Wenn sich zwei junge Burschen amüsieren wollten, hatte außer den eigenen Eltern damals niemand etwas dagegen. Der Wein verlieh mir ungeahnte Kräfte und ich vermöbelte auf dem Heimweg einen harmlosen elsässischen Jungen, der mir nichts getan hatte. Ich bereue es heute noch.

In den folgenden Jahren kam Albert in den Ferien zu mir nach Dielheim und wir besuchten das Winzerfest in Wiesloch. Inzwischen war er im Radsportverein und legte die 230 Kilometer mit seinem Rennrad in sieben Stunden zurück. Wein und Mädchen gab es in Wiesloch auch und er war immer auf der Suche. Ich wusste manchmal nicht so recht, ob ich ihn für seine Courage bewundern sollte, oft war es nur peinlich. Er ging rund um den Autoscooter von einem Mädchen zum nächsten, bis eine mitfuhr, die er dann kurze Zeit später hinter dem Zelt abknutschte.

Na ja, ich lernte viel von Albert, auf gewissen Gebieten, aber irgendwann wusste ich dann selbst Bescheid. Und Albert war von einem Tag auf den anderen ruhiger geworden, als er Michèle kennen lernte, die ihn an die Kette legte. Nun produzierte er ganz seriös und legal Babys. Von einem machte er mich zum Paten. Für meine Freunde, mit denen ich manchmal ins Elsass komme, verkörpert Albert elsässische Lebensfreude. Sie erinnern sich vor allem an seine Witze, die man aber nur erträgt, wenn man genug getrunken hat.

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