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Realität und empirische Relativität
ОглавлениеDas reale Universum ist vergleichbar einem Computerbildschirm. Die Hardwarestruktur dahinter, die für den Betrachter unzugänglich ist, bestimmt die Möglichkeiten der Darstellungen. Die Software stellt die Naturgesetze dar und steuert die Strukturen der Hardware, so dass sichtbare und flüchtige Muster auf dem Bildschirm erscheinen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob dieser Bildschirm im individuellen Bewusstsein als Innenwelt oder in der Außenwelt gedacht wird. Der Betrachter kann allein aus der Fülle der Darstellungen Vermutungen über die Substanzen, Strukturen und die Funktionsweise der Hardware anstellen, genau so wie der Naturwissenschaftler es tut, z.B. der Physiker anhand der Spuren im Detektor des Teilchenbeschleunigers über das Higgsboson. Eine Menge von Betrachtern kann sich mittels der Sprache verständigen, welche Darstellungen von allen Betrachtern gleichermaßen beobachtet werden und daher mit allgemein geltenden Begriffen belegt werden können. Die Begriffe repräsentieren bereits konstruktive Deutungen der gemeinsamen und vorgängigen Beobachtungen und Erkenntnisse. Kein Beobachter kann wissen, was genau die übrigen Beobachter sehen, sondern kann nur die eigenen Beobachtungen mit den für ihn bereits verfügbaren Begriffen vergleichen und die Deutungen anpassen, denn die Konfiguration für die Hardware und Software der Beobachter selber als deutendes Bewusstsein ist nicht vollständig gleich. Die empirische Adäquatheit zeigt sich in den gemeinsamen Begriffen, Vorstellungen, Deutungen und Überzeugungen der Beobachter.
Zwischen den Objekten, die mit den natürlichen Sinnen beobachtbar sind und den Objekten, die nur mit technischen Instrumenten beobachtbar sind, besteht kein prinzipieller Unterschied bezüglich ihrer ontologischen Existenz. Alle Objekte sind Deutungen des Verstandes, in der Form sprachlicher Begriffe, sei es aus unmittelbarer, sinnlicher Erfahrung oder aus wissenschaftlicher Untersuchung mit raffinierten Instrumenten. Die ontologische Existenz kann nur aus ihrer epistemischen, temporären Existenz hypothetisch gefolgert werden. Die epistemische Existenz gründet auf den raum-zeitlich gebundenen Wechselwirkungen der Objekte mit der Umwelt und letztlich mit den Detektoren der Wissenschaft und über geeignete Transformationen, wie über Bildschirme, mit den Sinnen der Wissenschaftler. Je vielfältiger die Wechselwirkungen der Objekte sind, desto zuverlässiger wird die Annahme und Bestimmung ihrer Existenz und ihrer Eigenschaften. Die visuelle Wahrnehmung in Verbindung mit taktiler Empfindung liefert die höchste Überzeugungskraft, besonders bei einer Vielzahl von Beobachtern oder Beobachtungen ohne gegenteilige Erfahrungen. Je komplexer die Objekte auf Grund ihrer Begriffsbestimmung sind, je höher also auch der Aggregationsgrad, desto wandelbarer und desto unbestimmter wird ihre aktuelle Zusammensetzung und ihr Verhalten als Darstellungen auf dem Bildschirm der Welt, desto vielseitiger sind auch die Wechselbeziehungen mit unterschiedlichen Beobachtern als subjektive Phänomene. Auch hierbei ist Zirkularität inkauf zu nehmen, denn die Komplexität kann erst retrospektiv aus den vielfältigen Wechselbeziehungen erschlossen werden.
Der fiktive Bildschirm zeigt alle Objekte, die ohne Intervention eines Beobachters als Erscheinungen dargestellt und wahrnehmbar sind. Die klassische Naturwissenschaft geht stillschweigend von der Erfahrung aus, dass die Objekte unabhängig von der Beobachtung existieren und durch die Beobachtung nicht verändert oder beeinflusst werden. Wie Niels Bohr (1885-1962) zeigen konnte, gilt diese Bedingung nicht für die Welt der Quanten. Er schrieb:
Der Hauptunterschied zwischen der Untersuchung von Phänomenen in der klassischen Physik und in der Quantenphysik ist [. . . ], daß in der ersteren die Wechselwirkung zwischen den Objekten und den Meßgeräten außer acht gelassen oder kompensiert werden kann, während in der letzteren diese Wechselwirkung einen integrierenden Bestandteil der Phänomene bildet.
Diskontinuität, Ganzheitlichkeit, Indeterminiertheit, Superposition, Interferenz, Nichtlokalität, Verschränkung, Komplementarität und Unbestimmtheit kennzeichnen die Quantenphysik. Sie erfordert Instrumentarien, um die Quanten zu gezielt beobachtbarem und messbarem Verhalten anzuregen, da ihre Existenz sich ausschließlich in den zu beobachtenden, zueinander jeweils komplementären Zustandsattributen offenbart, also beispielsweise Ort und Impuls. Quanten geben erst in Interaktion mit dem spezifischen Instrumentarium die spezifische Information preis, die der Beobachter anstrebt. Die Grenze zwischen Objekt und Beobachter wird verschoben, indem das Objekt nun das zur Beobachtung notwendige Instrumentarium einschließt, weil gewissermaßen verschiedene Spezialbildschirme für komplementäre Attribute zur Auswahl verfügbar sind. Das Instrumentarium bestimmt, ob beim Doppelspaltexperiment ein Streifenmuster oder ein Leuchtfleck beobachtet wird, ob Wellen- oder Teilchenphänomene beobachtet werden, je nachdem, welcher Bildschirm gewählt wurde. Dabei wird nichts über die Realität der Objekte selber ausgesagt, sondern nur über die Erscheinungen der Wechselwirkung, denn sie sind weder Teilchen noch Welle. Deshalb ist in der Quantenphysik das Instrumentarium als Teil des Phänomens zu sehen. Keine Versuchsanordnung kann in einem Schritt den vollständigen Zustand eines Quantensystems erfassen. Die reine Objektivität der klassischen Physik wird ersetzt durch die instrumentelle Objektivität in ihrer Ganzheitlichkeit von Subjekt und Objekt. Es ist jedoch keine Subjektivität im üblichen Sinn, die auch die Situation und Motivation des Beobachters sowie seine Deutungen umfassen würde, wie hin und wieder irrtümlich angenommen wird. Insbesondere wirkt der Beobachter mittels des Bewusstseins nicht auf das Verhalten der Quanten, sondern auf das objektive Design und Resultat des Experiments.
Zurück zur gewöhnlichen Erfahrungswelt. Man kann also die subjektiv beobachteten Darstellungen auf dem Bildschirm nur einander gegenseitig verständlich machen, d.h. objektivieren und bei späteren Beobachtungen bestätigen oder modifizieren und veränderten Bedingungen anpassen. Im Gedächtnis bleiben Wahrnehmungen und Empfindungen als gedankliche Vorstellungen, verknüpft mit den zugehörigen Begriffen. Das heißt, die Begriffe symbolisieren die bewussten Vorstellungen von den Dingen der Außenwelt. Man kann sich rote Tomaten vorstellen, wobei das Rot der vorgestellten Tomaten viel weniger differenziert ist als die fein abgestuften Rottöne der tatsächlich sichtbaren Tomaten. Der Dualismus besteht folglich nicht zwischen Realismus und Relativismus der Erscheinungen, sondern ausschließlich zwischen Objektivismus kollektiver Wahrnehmungen und Subjektivismus individueller Vorstellungen. Kein Beobachter kann jemals hinter den Bildschirm schauen, um die essenziellen Eigenschaften der Hardware, die "Dinge-an-sich" zu prüfen, sondern nur von der Gesamtheit der Erscheinungen hypothetisch auf Strukturen und Mechanismen einer fiktiven Hardware schließen, den physikalischen Teilchen und den Naturgesetzen.
Einen solchen "Strukturenrealismus", eine Variante des wissenschaftlichen Realismus, vertritt der britische Wissenschaftstheoretiker John Worrall (*1946). Strukturen sind Elemente einer Menge sowie Relationen zwischen den Elementen, oder in der Physik Objekte und ihre gegenseitigen Wirkungen als Beziehungen. Die Welt wird als Gesamtheit der Strukturen selbst nicht erkennbarer Objekte und ihren erkennbaren Beziehungen zueinander gedeutet und als real angenommen. Das tatsächliche, substanzielle Sein und Wesen des Bildschirms selber und seiner funktionalen Hardware und Software dahinter bleiben spekulative Metaphysik.
Man kann (oder muss) also drei Welten voneinander unterscheiden:
- die Welt der elementaren und fiktiven, nicht erkennbaren Dinge-an-sich,
- die von den Objekten ausgehenden Erscheinungen der Welt und
- die von den Subjekten wahrgenommene Welt der Phänomene.
Da die Welt der Phänomene eine Teilmenge der Welt der Erscheinungen ist, weil die Menge der wahrnehmenden Subjekte und ihrer Sinnesvermögen sehr begrenzt ist, kann die Welt der Phänomene aus der Sicht der Subjekte kausal nicht geschlossen sein. Das heißt, es sind wahrnehmbare Erscheinungen als Phänomene möglich, deren Kausalität nicht vollständig erkennbar ist. Ein beliebtes Beispiel dafür sind die sogenannten Nahtoderfahrungen mit einem Jenseits, aber auch das Bewusstsein selbst. Es sind aber keine Wahrnehmungen möglich, die nicht als Erscheinungen von Materie oder Energie existent sind. Folglich wäre es sinnlos, danach zu suchen oder deren Existenz zu behaupten, zumal eine Existenz ohne erkennbare Eigenschaften ohne Bedeutung wäre.
Die modernen Deutungen der Materie sind nicht mehr mit dem Verständnis von Materie im 19.Jhdt. vergleichbar. Die Kräfte der Physik haben unterschiedliche Reichweiten und unterschiedliche Stärken. Die anziehende Gravitation ist eine schwache Kraft mit großer Reichweite, die schwache und starke Kernkraft, die sowohl anziehend als auch abstoßend wirken, sind sehr starke Kräfte mit sehr kurzer Reichweite. Kumulative Überlagerungen der symmetrisch wechselwirkenden Kräfte erzeugen dadurch eine riesige Vielfalt an Aggregaten als Objekte und Strukturen der Physik mit entsprechend unterschiedlichen Eigenschaften, Effekten und Erscheinungsformen. Die Überlagerung und konträre Wirkung von Anziehung und Abstoßung bringt durch die Bildung von Gleichgewichtszuständen stabile, persistente und trotzdem variable Strukturen hervor, auf unterschiedlichen Ebenen von Komplexität, so dass dadurch die makroskopischen, langlebigen und wahrnehmbaren Objekte und die Phänomene der Welt entstehen können. Komplexität bedeutet hohe Diversität, Variabilität und Relationalität von Elementen und Strukturen. Kompliziertheit im Unterschied dazu bezieht sich auf Prozesse oder Vorgänge mit einer Vielzahl von Variablen, nichtlinearen Abhängigkeiten und Rückwirkungen.
Da das Universum nicht statisch ist, als wenn es sich in einem ausgeschalteten Zustand befände, sondern dynamisch sich unentwegt ausdehnt und die Teile gemäß den vom Beobachter erkannten Naturgesetzen der Entropie folgen, so wie auch der Beobachter selber, werden ständig Darstellungen mit kürzerer oder längerer Dauer auf dem Bildschirm erscheinen. Aus diesen dynamischen Darstellungen, aus den invarianten, wiederholbaren Formen, Figuren, Gestalten, Mustern und ihren Relationen und Verhaltensweisen zueinander müssen die Naturwissenschaftler mittels Abstraktion, Aggregation und Approximation die Erkenntnisse als universalisierte und idealisierte Naturgesetze erraten, erschließen oder ableiten. Dabei muss bereits das Erkennen der elementaren Formen auf tiefere Erkenntnisleistungen der Sinnesorgane rückgeführt werden, auf das Vergleichen von Sinneseindrücken mit inneren Repräsentationen oder Vorstellungen. Deutlich zu unterscheiden ist zwischen dem funktionalen Verstehen und dem phänomenalen Verstehen von Beobachtungen oder Gegebenheiten. Die Sinnesorgane selber stellen bereits Formen bereit, oder sind durch Formen vorgeprägt, die kybernetisch als repräsentierende Schablonen und selektierende Filter für Wahrnehmungen dienen und allen bewussten Erfahrungen voraus gehen. Ebenso bilden Raum und Zeit elementare Ordnungskategorien des bewussten Erlebens, entstanden aus frühen, unbewussten Empfindungen und Erfahrungen mit der eigenen Leiblichkeit.
Es versteht sich fast von selbst, dass aus bloßen Erscheinungen keine realen Kausalitäten abgeleitet werden können. Die logische Schlussfolgerung daraus ist, dass ultimative Ursachen des Weltgeschehens unerkennbar sind und es immer bleiben. Kausalität ist somit eine hypothetische Annahme, eine regulative Idee oder ein gedankliches Hilfskonstrukt, wie Hume und Kant schrieben. Auch andere Forscher haben darüber sinniert, wie Ernst Mach, der die Ursache-Wirkungs-Relation als Funktionalität im mathematischen Sinn verstand. In der mathematischen Funktion oder Gleichung steht die Wirkung auf der linken Seite und die Ursachen als Variable auf der rechten Seite. Auch Raum und Zeit können darin als Variable auftreten, weil die Funktionalität über die strukturelle Kausalität hinaus die dynamische Kausalität beschreibt. Der Physiologe Max Verworn (1863-1921) hat Ursachen als erfüllbare Bedingungen ihrer Wirkung verstanden, die Kausalität als Konditionalität. Bemerkenswert dabei ist, dass viele Ursachen in der realen und komplexen Welt latent immer vorhanden sind, wie die erwähnte Schwerkraft, aber einen Auslöser benötigen, um tatsächlich wirksam oder wahrnehmbar zu werden. Ein Gebäude bricht zusammen, wenn ein Erdbeben als auslösende Bedingung die Schwerkraft zur Wirkung kommen lässt. Bedingungen allein sind jedoch nicht hinreichend, weil sie nur die Möglichkeit eines Ereignisses bestimmen können. In der Gesamtheit aller Bedingungen steckt die universelle Multikausalität allen Weltgeschehens, wie im Zusammenwirken aller physikalischen Kräfte, die durch antagonistische Wirkungen scheinbar und temporär stabile Gleichgewichtszustände entstehen lassen. Die Konditionalität ist charakteristisch für die biologische Welt.
Eine Erscheinung kann als physikalisch oder als natürlich gedeutet werden, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Die Erscheinung muss von mehreren Personen wiederholt, regelmäßig oder auf Abruf in ähnlicher oder gleicher Form wahrgenommen werden.
Die Erscheinung muss prinzipiell für alle gesunden Menschen wahrnehmbar sein.
Die Erscheinung tritt nicht spontan und zufällig, sondern nur in bestimmten Situationen, unter bestimmten Bedingungen oder als Folge eines bestimmten Ereignisses auf.
Die Erscheinung muss mit bekannten Gegenständen, Ereignissen und Gesetzen der Natur vergleichbar oder verträglich sein.
Ob die Erscheinung mit den Sinnen direkt oder über technische Hilfsmittel wahrgenommen werden kann, ist dabei unerheblich. Neuartige Phänomene, insbesondere in der Folge neuartiger technischer Hilfsmittel, können die Naturwissenschaft zu neuen Erkenntnissen bringen, oder können bisherige Erkenntnisse korrigieren. Über der gesamten Naturwissenschaft schweben die Erhaltungssätze der Physik, ohne deren fundamentale Gültigkeit die Erscheinungen der Natur nur Zufallscharakter und das Weltgeschehen keine Menschen und kein Bewusstsein hervorgebracht hätte. Ohne die Erhaltungssätze hätten mathematische Gleichungen zur Beschreibung der Natur keine Aussagekraft und wären gar nicht erst entstanden.
Weißes Licht ist ein alltägliches und universell bekanntes Phänomen. Das phänomenale Verstehen von Farben gehört zu den ersten Erfahrungen des Lebens und die zugehörigen Begriffe zu den ersten Wörtern im Verlauf des kindlichen Spracherwerbs. In der Schule lernt man, dass weißes Licht durch Mischung aller Regenbogenfarben entsteht. Licht wird von den Sinnesnerven der Augen aufgenommen und im Nervensystem verarbeitet. Farben existieren als irreduzibles Phänomen allein in unserer Innenwelt. Sie sind entscheidend für das Erkennen von Objekten anhand von unterschiedlich farbigen Konturen und Flächen. Sicher kann man herausfinden, welche Areale des Gehirns aktiv sind, welche Vorgänge sich abspielen im Verlauf der Wahrnehmung einer roten Tomate, bzw. Licht eines bestimmten Spektralbereichs. Im orbitofrontalen Kortex des Gehirns über den Augenhöhlen laufen alle Sinnesmodalitäten aus vorgeschalteten Sinnesarealen sowie aus der Amygdala, dem emotionalen Zentrum, zusammen. Somit ist der orbitofrontale Kortex der erste Kandidat für den Sitz von Bewusstseinsfunktionen. Warum das Licht eines Gegenstandes aber als spezifische Farbe empfunden wird, das zeigt sich nicht in elektrischen, chemischen oder physikalischen Objekten, Signalen oder Messwerten, sondern ist das ungelöste Rätsel des Bewusstseins.
Im Gegensatz zu Farben ist ein Auto ein Objekt in der Außenwelt, das aus Einzelteilen oder Bauelementen zusammengesetzt ist und entsprechend wieder in die Einzelteile zerlegt und darauf reduziert werden kann, indem das Auto nicht als aggregiertes, komplexes Objekt, sondern als Struktur der Einzelteile mit geringerer Komplexität beschrieben wird. Als menschgemachtes Objekt sollen die Einzelteile bestimmte Funktionen erfüllen, so dass die Zweckmäßigkeit des Gesamtobjektes erreicht wird. Natürliche Objekte dagegen unterliegen keiner Zwecksetzung, ihre Einzelteile gehorchen allein den physikalischen Kausalitäten. Das gilt auch für lebende Organismen einschließlich des menschlichen Gehirns als Träger des Bewusstseins. Die Segregation und die Reduktion auf Einzelteile oder Bauelemente kann beliebig fortgeführt werden, über mehrere Aggregationsstufen, jedoch ist die Reduktion einer Metallschraube auf ihre ununterscheidbaren Moleküle oder Atome nicht mehr sinnvoll, weil sie zum funktionalen Verstehen der Schraube und des Autos nichts mehr beiträgt. Spezifische Form und Verhalten des Bauelements verschwinden bzw. entstehen als Emergenz auf dieser Ebene der Komplexität. Natürlich könnte die Wahl eines anderen Metalls, eventuell einer Legierung, bei gleicher Funktion die Verhaltenseigenschaften verändern. Das wäre für die Synthese oder Konstruktion verbesserter Objekte von Bedeutung.
Gegen eine rein reduktionistische und nomothetische Naturwissenschaft, die jedem funktionalen Verstehen vorausgeht, wendet sich auch die Wissenschaftstheoretikerin Nancy Cartwright (*1943), eine Vertreterin des Entitätenrealismus. Ihrer Meinung nach gibt es keine absoluten oder starren Ordnungsstrukturen, wie sie in Naturgesetzen angenommen und beschrieben werden. Vielmehr sei die Welt "gefleckt", also vielfältig in ihren kausalen Beziehungen und ihren Phänomenen. Naturgesetze sind immer ceteris-paribus-Gesetze, gelten nur unter Beachtung bestimmter "Reinheitsbedingungen", auch in der Physik, wo das gerne unterschlagen wird. Der wesentliche Aspekt dabei ist, dass Naturgesetze schon unter ceteris-paribus-Bedingungen zustande kommen, weil die zu Grunde liegenden Beobachtungstatsachen nur unter solchen Bedingungen gewonnen werden können.
Beispielsweise ist die Uhr als Zeitmesser selbst ein technisch-physikalisches System, das nicht über der Physik schwebt, sondern als Generator von Referenzereignissen – das Uhrwerk - rekursiv in sie eingebunden ist und nur sich selbst messen kann. Cartwright unterscheidet fundamentale Gesetze mit Erklärungswert, aber zu ungunsten empirischer Adäquatheit, von phänomenologischen, beschreibenden Gesetzen ohne Erklärungsinhalt. Fundamentale Gesetze haben annähernd Gültigkeit für Modelle von Laborphänomenen oder extremen Phänomenen, wie sie in der Sonne singulär vorkommen, aber nicht in der Lebenswelt. Die phänomenale Realität ist immer eine Überlagerung verschiedener fundamentaler Naturgesetze, die sich in ihren Wirkungen verstärken oder auch neutralisieren können. Schwerkraft und Trägheitskraft können ein dynamisches Gleichgewicht bilden und somit andere Phänomene hervorbringen als bei Einzelbetrachtung. Deshalb haben phänomenologische Gesetze den Charakter von Naturregeln, die auch Abweichungen und Ausnahmen zulassen. Die fundamentalen Naturgesetze können also weder die phänomenale Realität noch die Realität als „wahre Natur“ beschreiben, denn die Natur dieser Naturgesetze existiert einfach nicht. Dennoch haben Naturgesetze die unverzichtbare Eigenschaft, innerhalb ihres Gültigkeitsbereiches gegenüber Raum und Zeit, oder besser der Raumzeit, invariant zu sein.
Das Gedankenexperiment „Gehirn im Tank“ fällt bei näherer Betrachtung in sich zusammen. Der Simulationscomputer müsste nicht nur über unendliches Wissen verfügen, er müsste obendrein von einem Gehirn gebaut sein. Es gäbe also noch ein zweites Gehirn, das seinerseits nicht im Tank ist und mit dem Gehirn im Tank kommunizieren könnte. Es könnte dem Gehirn im Tank mitteilen „du bist ein Gehirn im Tank“. Gäbe es außerhalb des Tanks kein Gehirn, dann könnte das Gehirn im Tank nicht erkennen, dass es im Tank wäre, bzw. es wäre völlig irrelevant, weil es keinen Vergleich hätte. Erst seit Astronauten im Weltraum denkbar und möglich sind, macht es Sinn, zwischen Menschen auf der Erde und Menschen im Weltraum zu unterscheiden.
Das Gedankenexperiment zeigt einerseits, dass der Skeptizismus, wie er in der beschriebenen Zirkularität der Naturwissenschaft zum Ausdruck kommt, prinzipiell nicht zu widerlegen ist, wenn das Experiment wie gedacht ausgeführt werden könnte, andererseits aber, dass er durch pragmatische Argumente zu neutralisieren ist. Der Mensch kann guten Gewissens sagen: „ich weiß, dass da draußen eine Welt ist, die ich wahrnehmen kann, mit der ich kommunizieren und in Interaktion treten kann“. Diese Welt ist keine existenzielle Täuschung und keine Illusion, weil sie nach aller Voraussicht auch morgen noch vorhanden sein wird, weil sie nicht plötzlich verschwinden oder in anderer Form erscheinen wird. Diese Welt ist ohne Lücken, sowohl räumlich als auch zeitlich; es gibt eine synchrone und eine diachrone Kontinuität der Erscheinungen. Was mich täuschen kann, das sind meine Sinneseindrücke, meine Deutungen der Sinneseindrücke, die Bedeutungen meiner Begriffe, meine Schlussfolgerungen und Vorhersagen. Die Konsistenz der bekannten Naturgesetze über Zeit und Raum, ihre Widerspruchsfreiheit und Kohärenz untereinander, die Funktionalität des Gehirns in Verbindung mit dem Leib als erfahrendes Subjekt, die Vielfalt und Redundanz der Wahrnehmungen, die Bestätigung durch wiederholte Erfahrungen über Jahrtausende, sowie die Kommunikation mit anderen Subjekten über gemeinsame Wahrnehmungen können die subjektiven Täuschungen oder Irrtümer auf ein unbedeutendes Maß minimieren, so dass Vorstellungen und Überzeugungen als Wissen über diese Welt pragmatisch gerechtfertigt werden können. Es besteht also kein Anlass zu einer pessimistischen Skepsis. Insbesondere die kreative Gestaltung und Herstellung zweckmäßiger Gegenstände und von Kunstobjekten bestätigt die Gemeinsamkeit und die Zuverlässigkeit, die empirische Adäquatheit der menschlichen Sinnesvermögen und der Vorstellungen im Bewusstsein.
Damit kann auch die Existenz von fiktiven Dingen-an-sich außerhalb des Subjekts, im Sinne von Kants transzendentalem Idealismus, ontologisch und epistemologisch gerechtfertigt werden. Die Signale, die von unseren Sinnen empfangen werden, sind nicht die Dinge selbst, sogar dann, wenn wir sie anfassen können. Die Dinge-an-sich können mit Aussendung von Signalen an erkennende Subjekte ihre variablen Eigenschaften als Zustand, nicht aber ihre wesenhaften, existenziellen Eigenschaften ändern, ohne ihr Sein oder ihre Wesenheit zu ändern. Durch Absorption oder Emission eines Photons kann ein Elektron-an-sich seinen energetischen Zustand ändern, aber nicht seine Ruhemasse und elektrische Ladung als identifizierende Eigenschaften und damit nicht seine Existenz. Das Elektron kann als Erscheinungsform beliebig oft beobachtet werden, an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Zuständen, abgesehen von den Eigenheiten der Quantenphysik. Ein Elektron kann aber nicht aus dem Nichts erscheinen, oder im Nichts verschwinden, außer virtuell durch Paarbildung. Von der Erscheinung, also von den empfangenen Signalen, kann weder empirisch noch epistemisch auf wesenhafte Eigenschaften der Dinge-an-sich rückgeschlossen werden. Die Signale von den Objekten erlauben nur eine unvollständige Erkenntnis, denn sie bilden keine reale Repräsentation des Objekts und übertragen keine Bedeutung; diese wird ihnen erst vom Forscher im Rahmen von Modellen und Theorien zugewiesen. Analoge Beispiele dafür aus der Lebenswirklichkeit sind spiegelnde Oberflächen, die ihre wahren Eigenschaften verhüllen. Ein Teilchen, das sich wie ein Elektron verhalten würde, aber eine zusätzliche Eigenschaft hätte, wäre vom Elektron nicht unterscheidbar. Die moderne Naturwissenschaft ist ein Behaviorismus der Natur und bestätigt Kants Sicht der Dinge-an-sich, oder der „Masse ohne Materie“, der Wirkungen ohne Wesen. Letzteres bleibt der Spekulation oder der Metaphysik vorbehalten, wie z.B. das Wesen und das Geschehen in schwarzen Löchern.