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Kapitel 1

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Klaus-Dieter Becker richtete sich von seiner Couch auf und fuchtelte wild mit den Armen in der Luft herum. „Gott sei Dank, dass Sie da sind!“, stöhnte der blonde, etwas verschwitzt wirkende Mann, als er den Arzt sah, der zusammen mit seiner Frau herbei gestürmt kam.

„Schnell, Herr Doktor, Sie müssen etwas tun. Das Herz kann jeden Moment aussetzen!“, jammerte Schwanhilde und krampfte die Finger nervös ineinander.

„Nicht so stürmisch, gnädige Frau! Erst müssen wir die Formalitäten klären …“

„Welche Forma – Formalitäten? Mein Mann braucht dringend ärztliche Hilfe …“

„Alle meine Patienten brauchen dringend Hilfe. Sonst würden sie mich ja nicht rufen“, entgegnete der hagere Mann im weißen Kittel und strich sich über seine Stirnglatze.

„Aber wenn Sie sich nicht beeilen, kann es zu spät sein …“

„Es ist nie zu spät für ärztliche Hilfe, gute Frau. Schließlich bin ich hier der Fachmann und weiß am besten, wie es um meine Kunden steht. Oder haben Sie etwa Medizin studiert?“

„Nein, natürlich nicht“, gab Schwanhilde kleinlaut zu und wischte sich etwas verlegen über ihre bunt gemusterte Schürze.

„Und wieso denn nicht? Waren Sie etwa zu dumm dafür?“

„Ich bitte Sie, Herr Doktor! Wollen Sich mich beleidigen? Sehen Sie sich lieber meinen Mann an! Er macht es nicht mehr lange!“ Schwanhilde tastete nervös nach ihren tiefschwarzen Haaren, die zu einem Knödel gesponnen waren. Irgendwie sah die gute Frau wie eine Dorfschullehrerin vor 100 Jahren aus.

Klaus-Dieter Becker warf sich auf seiner Couch herum und röchelte beängstigend vor sich hin.

„Warum kümmern Sie sich nicht um meinen Mann? Er hat nur mehr wenige Augenblicke zu leben …“

„Keine Sorge, gute Frau. Herr Becker ist bei mir in besten Händen. Haben Sie seine E-Card zur Hand?“

„Na – natürlich!“, stotterte Schwanhilde, suchte mit fahrigen Händen in ihrer Tasche und brachte das gute Stück dann ans Tageslicht.

Der Arzt hatte unterdessen sein Notebook an die Steckdose angeschlossen, schob die E-Card hinein und starrte dann auf den Bildschirm. „Patient 94 Strich 82, Strich 504 heißt Klaus-Dieter Becker, wurde am 23. März 1971 in Düsseldorf geboren, ist verheiratet …“

Der blonde Mann auf der Couch warf sich herum und rief: „Worauf warten Sie denn so lange? Ich kann einfach nicht mehr …“

„Beruhigen Sie sich, Herr Becker“, meinte der hagere Doc. „Die meisten Menschen können viel länger, als sie denken.“ Dann las der glatzköpfige Mann weiter vor, was auf dem Bildschirm stand: „Ihr Mann arbeitet als freier Versicherungsmakler für die IEW Gesellschaft …“

„Ist das im Augenblick von Bedeutung, Herr Doktor? Es geht doch darum, das Leben meines Mannes zu retten.“ Schwanhilde schnappte nach Luft und fuhr sich mit der Zungenspitze über die spröden, aufgeplatzten Lippen, die schon lange keinen Pflegestift mehr gesehen hatten.

„Ich bin gerade dabei, gnädige Frau. Aber ohne entsprechende Daten kann ich nicht therapieren. Das wäre Kurpfuscherei – und für eine solche stehe ich nicht zur Verfügung. Ich sehe gerade, dass Ihr Mann nicht gerade der Gesündeste ist. Bisher registrierte Krankheiten: B 9674, R 9025 und F 2345. Ob sich da eine Therapie rentiert?“

„Aber das sind doch Kleinigkeiten, Herr Doktor!“, rief Schwanhilde. „Ein bisschen hoher Blutdruck, manchmal Probleme mit der Verdauung, nichts, worüber man sich aufregen müsste.“

Klaus-Dieter lallte unterdessen vor sich hin und schnitt recht eindeutige Grimassen.

„Mäßigen Sie sich ein bisschen!“, mahnte der Experte im weißen Mantel. „Wir sind hier nicht in einem Zoo!“

Und an die Frau gewandt: „Und wie sieht's mit den Versicherungen aus, Frau Becker?“

„Mein Mann ist versichert, wie Sie sehen!“

„Aber nur staatlich. Wieder einer, der die billige Tour reitet. Eine Schande ist das! Nicht einmal auf die Versicherungsvertreter kann man sich mehr verlassen. Ihr Mann verdient doch sicher einen Haufen Moos?“

„Aber wir haben hohe Schulden, Herr Doktor. Allein dieses Haus ist mit 400 000 Euro belastet“, jammerte Schwanhilde und blickte voller Mitleid auf ihren Mann, der leise vor sich hin stöhnte.

„Dann frage ich Sie, Frau Becker, was wohl wichtiger ist, ein Haus in die Landschaft klotzen oder eine ordentliche Krankenversicherung abschließen. Na, was ist Ihre Meinung?“

„Natürlich ist eine gute Krankenversicherung sehr wichtig. Aber die Prämien sind ja unverschämt hoch.“

„Sie geizen bei den Sozialausgaben und hoffen darauf, im Ernstfall einen Arzt zu finden, der seine Kunst zu einem Schnäppchenpreis verkauft?“, fragte der Glatzköpfige verärgert.

„Ich – ich habe nicht gewusst …“

„Kein Arzt bricht in Freudentränen aus, wenn er einen Patienten vor sich hat, der nur zum Mindesttarif versichert ist. Schließlich müssen wir auch von etwas leben und können nicht jeden Tag unter der Brücke schlafen.“

„Alles schön und gut, Herr Doktor, aber glauben Sie nicht, dass es langsam an der Zeit wäre, sich um meinen Mann zu kümmern. Ich habe das Gefühl, sein letztes Stündlein hat geschlagen …“

„Dann haben wir ja noch genügend Zeit. Eine ganze Stunde brauche ich sicher nicht zur Behandlung“, entgegnete der Mann hinter dem Notebook, erhob sich dann mit zeitlupenartigen Bewegungen und beugte sich zu seinem Patienten herab. „Der Blutdruck ist viel zu hoch. Wahrscheinlich säuft Ihr Mann mehr, als ihm guttut!“

„Aber ich bitte Sie, Herr Doktor!“

„Nur keine falsche Scham, Frau Becker. Mir kann man nichts vormachen. Ich kenne meine Kunden wie kaum ein Zweiter. Also hat es keinen Zweck, mir Sand in die Augen streuen zu wollen. Ihr Mann verschlingt sicher alles, was ihm schmeckt, und hat noch nie etwas von strenger Diät gehört.“

„Gehört schon, Herr Doktor. Aber bis jetzt hatte er keinen Grund …“

„Dafür hat er jetzt ein ganzes Paket von Gründen. Sein Bauch ist viel zu dick, und vor lauter Fett spüre ich nicht einmal seine wichtigen Organe. Wie soll ich unter diesen Umständen therapieren?“

„Das überlasse ich ganz Ihnen, Herr Doktor. Nur bitte retten Sie meinen Mann! Für ein Begräbnis ist es noch viel zu früh – und außerdem fehlt uns das nötige Geld.“

„Damit sind wir wieder beim Thema, gnädige Frau. Geld regiert die Welt. Wie wollen Sie bei einer derart miesen Versicherungsvariante dem Teufel von der Schippe springen?“

„In Zukunft werden wir daran was ändern, Herr Doktor. Aber tun Sie jetzt bitte alles, damit ich meinen geliebten Mann wieder in die Arme schließen kann.“

„Nur nicht zu fest, Frau Becker. Ihr Mann ist schließlich nicht mehr der Jüngste!“

„Aber er ist doch erst 43!“

„Eben! In diesem Alter vertragen die Männer nicht mehr allzu viel. Überhaupt, wenn sie so dick sind!“

„Mein Mann ist nicht dick, nur etwas kräftig gebaut!“, korrigierte Schwanhilde den Arzt und fuhr sich wieder über die bunte Schürze, die schon lange keine Waschmaschine von innen gesehen hatte.

„Ihr Mann sollte nur jeden zweiten Tag essen – und da nur einige Haferkörnchen mit lauwarmem Wasser.“

„Klaus-Dieter bevorzugt aber ein Gläschen Bier. Abends, wenn …“

„Das kann Ihr werter Gatte von heute an vergessen. Bier treibt den Blutdruck in die Höhe und vergiftet die Leber. Wollen Sie schon demnächst in schwarze Klamotten schlüpfen?“

„Na – natürlich nicht“, stotterte Schwanhilde, griff gedankenversunken wieder in ihre Haarpracht und löste unbewusst den Knoten, sodass die Haare wie ein Vorhang herunterfielen und ihr blasses Gesicht umrahmten.

„Ich – ich muss das Ganze erst verdauen, Herr Doktor. Bis jetzt hat noch kein Arzt so eindeutig mit mir gesprochen.“

„Das glaube ich Ihnen, Frau Becker. Bei so einer miesen Versicherung gibt’s normalerweise keine Ratschläge auf Krankenschein. Nur weil ich heute meinen großzügigen Tag habe, weihe ich Sie in Geheimnisse ein, die normalerweise nur den Privatpatienten vorbehalten sind. Aber jetzt haben wir genug gesprochen, Frau Becker. Es wird Zeit, dass ich mein ärztliches Wissen in die Tat umsetze.“

Und mit Schwung pflanzte der gute Mann die dicke Nadel in den Allerwertesten seines Patienten, der gellend aufschrie. „Ich will noch nicht sterben! Zu Hilfe!“

„Sterben wollen wir alle nicht und trotzdem muss irgendwann mal Schluss sein, Patient 94, Strich 82, Strich 504, sonst würde die Erde überquellen! Aber diese Spritze wird Sie vorübergehend von Ihren Schmerzen befreien, Herr Becker, aber beklagen Sie sich nicht über die Nebenwirkungen. Sie müssen in den nächsten Tagen mit etwas Übelkeit rechnen, aber alles kann man im Leben nun mal selten haben. Die billigsten Versicherungen ranschleppen und dann einen 1a-Service verlangen, das passt irgendwie nicht zusammen. Finden Sie nicht auch?“

„Ich – ich …“ Klaus-Dieter hielt sich die schmerzende Stelle und blickte mit flackernden Augen auf den Weißbekittelten.

Dieser zog eine zweite Spritze auf und verabreichte seinem Patienten die volle Ladung.

„Mir – mir ist so furchtbar schlecht!“, klagte Klaus-Dieter, doch der Doc lächelte nur freundlich. „Das ist ein gutes Zeichen, Herr Becker. Sie sprechen auf die Spritze an, was man nicht von jedermann behaupten kann. Auf diese Weise erspare ich Ihnen den Umstieg auf ein viel besseres Präparat, das Sie dann aus eigener Tasche zahlen müssten. Sie scheinen noch einmal Glück gehabt zu haben.“

„Ich bin so verdammt müde!“, röchelte der Patient, und der Doc sagte: „Ausgezeichnet. Dann schlafen Sie doch endlich ein. Dieses Gejammer ist ja nicht zum Aushalten.“

Klaus-Dieter rollte sich wie ein Igel zusammen, und wenig später schnarchte der gute Mann vor sich hin, dass es eine wahre Freude war.

„Mein Mann wird doch hoffentlich wieder aufwachen?“, vergewisserte sich Schwanhilde und runzelte besorgt ihre Stirn.

„Das lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, Frau Becker. In der Medizin gibt es keine hundertprozentigen Prognosen. Wir können immer nur das Beste hoffen und das Schlimmste befürchten. Dann bleibt man emotional im gesunden Gleichgewicht. Mehr kann ich im Augenblick für Ihren Herrn Gemahl nicht tun, Frau Becker. Ich hoffe, Sie waren mit meiner Arbeit zufrieden und zeigen sich beim Trinkgeld nicht von der knausrigen Seite. Schließlich ist das Leben heutzutage kein Zuckerschlecken mehr und jeder muss sehen, wie er durchkommt.“

Mit einer leichten Verbeugung und einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen verabschiedete sich der hagere Mann, packte seine Sachen zusammen und marschierte aus dem Haus.

Der Sensenmann kann warten

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