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Unerwarteter Besuch

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Unerwarteter Besuch

„Morgen kommt Albert wieder in die Schule!“, verkündete die Lehrerin und schlug ihre Hände erfreut gegeneinander. „Ich hoffe, dass ihr ihm helft, möglichst schnell wieder in den Schulalltag hineinzufinden. Zwei von euch haben sich übrigens bereit erklärt, Albert beim Nachlernen des Unterrichtsstoffes zu helfen. Das finde ich super!“, fügte Frau Nemetz noch hinzu und deutete auf Tobias und Noa. „Die beiden werden sich ganz speziell um Albert kümmern!“

Am nächsten Tag wurde der Junge, der viele Wochen krank gewesen war, aufs herzlichste begrüßt. Nur Jan hielt sich zurück und blickte etwas verächtlich auf die schmale Gestalt seines Mitschülers, der ein scheues Lächeln auf sein eingefallenes Gesicht zauberte. Jan war das genaue Gegenteil: groß, kräftig, vor Gesundheit strotzend. Der Junge war felsenfest davon überzeugt, dass er sich von keiner Krankheit unterkriegen lassen würde. Albert wirkte auf Jan wie ein Gespenst, das gerade aus dem Grab gestiegen war.

Als der Junge dann an Jan vorbeiging, murmelte dieser spöttisch. „Hallo, Glatzkopf! Wo hast du denn deine blonde Mähne gelassen?“

Alberts Gesicht versteinerte. Er fuhr sich instinktiv über seinen Kopf, dem die schöne Haarpracht durch die vielen Chemotherapien abhanden gekommen war. „Wird schon wieder nachwachsen!“, flüsterte der Junge und ging unsicheren Schrittes auf seinen Platz. Mit zittrigen Händen packte er seine Schultasche aus und richtete die Hefte und Bücher für die erste Stunde her.

„Du bist ja ein richtiger Tattergreis geworden!“, spottete Jan und packte seinen Mitschüler grob am Oberarm. „Von deinen Muskeln kann man auch nicht mehr viel spüren. Du warst einmal ein richtiger Kerl, mit dem man herumbalgen konnte.“

„Das geht jetzt nicht mehr“, antwortete Albert. „Ich habe fast die Hälfte meines Körpergewichts verloren, aber die Ärzte haben mein Leben gerettet. Nur das zählt für mich. Kannst du das verstehen, Jan?“

Der Junge murmelte etwas Undeutliches vor sich hin und verzog sich dann in seine Bankreihe.

Als dann wenig später die Lehrerin erschien, bekam Albert die Gelegenheit, sich vor der ganzen Klasse für die Anteilnahme seiner Mitschüler und für die Besuche im Krankenhaus zu bedanken.“

„Fast alle haben gezeigt, dass ich ihnen nicht gleichgültig bin“, begann der Junge zu sprechen, „und es hat mich riesig gefreut, wenn jemand von euch angerufen oder mich im Krankenhaus besucht hat. Vielen Dank auch für die kleinen Geschenke, die ihr mir gegeben habt. In meiner gesundheitlichen Verfassung war ich für jedes tröstende Wort dankbar. Ihr habt sicher auch dazu beigetragen – jedenfalls die meisten von euch“, korrigierte sich Albert und warf einen traurigen Blick auf seinen Mitschüler Jan, „dass ich wieder in die Schule gehen kann und mir die Ärzte eine gute Chance geben, dass ich die Krankheit endgültig besiegen kann. Ich danke euch für alles!“ Danach kehrte Albert auf seinen Platz zurück, begleitet vom Applaus seiner Mitschüler. Nur Jan blickte starr vor sich hin und hob nicht seine Hände.

***

Zwei Monate später, einen Tag vor dem Heiligen Abend: Dichte Schneeflocken fielen vom Himmel herab und legten sich auf die große Panoramascheibe des Krankenzimmers, in dem Jan neben drei anderen Jungen in seinem Bett lag und dem Schneetreiben zuschaute. Jan war an einer gutartigen Geschwulst in seinem Magen operiert worden und musste über die Feiertage im Krankenhaus bleiben. Sein kantiges, sonnengebräuntes Gesicht wirkte fahl und eingefallen und sein sportlich gestählter Körper hatte viel von seiner Kraft verloren. Jan dachte wehmütig an die Zeit zurück, als er stolz auf seine überschäumenden Kräfte sein konnte und er der Meinung war, dass ihm nichts und niemand etwas anhaben konnte. Dann eines Tages die Schmerzen im Bauch … die Untersuchungen … und das Urteil. Für Jan war eine Welt zusammengebrochen. Eine Welt, die er bislang immer besiegt hatte. Doch nun hatte ihm sein Körper einen Strich durch seine Rechnung gemacht.

Der Junge blickte hinaus auf die Straße, sah die vielen Lichter der Fahrzeuge und die vielen Menschen, die hastig hin und her liefen - mit riesigen Geschenkpaketen in den Händen. In diesem Jahr würde Jan zum ersten Mal Weihnachten nicht im vertrauten Kreis seiner Eltern und Verwandten verbringen, sondern hier in diesem Krankenhaus. Hoffentlich nicht einsam … Nein, Jan war sicher, dass seine Mutter ihn bald besuchen kommen würde.

Und schon klopfte es an der Tür. Jan fuhr in seinem Bett auf und starrte auf den Besucher. Niemand anderer als sein Mitschüler Albert stand auf der Schwelle, wischte sich die glitzernden Schneeflocken aus dem Gesicht und kam dann zögernd näher. In der Hand hielt der Junge ein kleines Päckchen, liebevoll in buntes Papier eingewickelt.

„Du!“, entfuhr es dem Jungen, der völlig überrascht war.

„Ja, ich bin’s“, lächelte Albert und legte sein Geschenk auf die Bettdecke. „Ich wollte einmal nachschauen, wie es dir denn so geht, Albert. Wir vermissen dich alle in der Schule …“

„Mich -?“, dehnte Jan, den die leisen Worte seines Mitschülers sehr beschämten.

„Ja natürlich dich“, wiederholte Albert und blickte Jan tief in die Augen. Der Junge spürte plötzlich, wie etwas in seinem Inneren zerriss. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und dann ergoss sich ein wahrer Sturzbach über die Wangen des Kranken, der plötzlich spürte, dass etwas Wundersames mit ihm geschah. Unter heftigem Schluchzen stieß Jan dann hervor: „Aber – aber ich habe dich – niemals – niemals im Krankenhaus besucht, Albert …“

„Das macht nichts, Jan“, tröstete der Junge seinen Mitschüler. „Wirst sicher deine Gründe gehabt haben. Ich bin dir deswegen keineswegs böse …“

„Ich – ich …“

„Nur ruhig, Jan, alles ist gut. Leg dich entspannt zurück und atme tief durch. Morgen ist ja der Heilige Abend, wie du weißt, und da dachte ich mir, ich sollte dir eine kleine Freude machen. Wenn man den ganzen Tag in seinem Bett liegt, vergeht die Zeit ja überhaupt nicht …“

Im Kopf von Jan drehte sich alles. Er konnte es einfach nicht fassen, dass ausgerechnet Albert Interesse an seinem Schicksal zeigte. Langsam beruhigte sich der Junge und ein entspanntes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Im schwachen Licht der Notbeleuchtung kam es ihm so vor, als würde sich das Christkind selbst über sein Lager beugen …

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