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Der Junge mit der Narbe
ОглавлениеStadt W. ist die Stadt von 1001 Merkwürdigkeiten. Dort kannst du selbst die unglaublichsten Geschichten erleben. Einige Tage Aufenthalt unter der Sonne in dem Lokal von Giacome Gianone reichen völlig aus, um beim Kaffeetrinken das Leben der unterschiedlichen Protagonisten dieser mittelgroßen bergischen Stadt kennenzulernen. Bei den Geschichten handelt es sich entweder um eine wahre Erzählung oder sie ist in eine Intrige verpackt, wobei weder die Eine, noch die Andere als zutreffend zu bezeichnen ist.
Doch in jedem Fall leben hier die Einwohner mit der Erwartung, dass etwas geschehen wird, damit sie unter den Anderen als etwas Besonderes gelten können. Vor dem Lokal ist es möglich, einige Male die gleichen Gesichter zu sehen, Menschen mit den gleichen Anzügen und Gehformen, die dir eine Begrüßung widmen oder wenigstens ein kleines Zeichen voller Höflichkeit und Affinität. Jemand, der aus einer anderen Stadt kommt, insbesondere die aus der Hauptstadt, könnte jene Geste als sehr wertvoll einschätzen. Ausreichend ist es, die Erscheinung eines einigermaßen Intellektuellen mitzubringen oder an dem Tisch von Jemandem mit Namen zu sitzen.
Nicht alle, die woanders herkommen, könnten das Interesse mitbringen, sich in die Erlebnisse der Menschen, mit denen keinerlei Verbindung besteht, rein zu versetzen. Wenn man neu in einer Stadt ankommt, orientiert man sich ohnehin als erstes an den logistischen Dingen, die den Beitrag dazu leisten, den Weg zum Hotel und zur Post nicht zu vergessen. In jedem Fall wäre es nicht empfehlenswert, in dieser etwas kleineren Großstadt, statt die Straße, die zum Hotel „Inter City“ führt, die andere zu nehmen und durch die Papagei Straße zu gehen, die dich ins nirgendwo führt.
Jedenfalls, da die Stadt ein kuscheliges Kultur- und Kunstleben betreibt, dort wo die Bibliothek sowohl von Schülern als auch von Bürgern genutzt wird, solltest du dich mit etwas außerhalb deines Zuständigkeitsgebietes beschäftigen, nur keine Bange, denn das wird hier irgendwie zum Beruf.
Hier wussten sie alle, dass sich Vera, Busch Breitfelders Tochter, in den Sohn des Polizeichefs verliebt hatte. Sie verlangten auch, die Wahrheit bekannt zu geben, wie es Nuria Zeynepe Idriza, die Brotverkäuferin, geschafft hatte, erst nach fünfzehn Jahren Ehe schwanger zu werden. Also, ob ihr Ehemann, Recep-Muharrem Avdylrrahman, sie geschwängert habe - allerdings über ihn wurde längst erzählt, dass er in diesem Aspekt nicht fähig sei - oder der Brotfahrer, Ehud Isidor Stern, mit dem sie sich in dem Laden eingeschlossen hatte, unter dem Vorwand: Den Tagesplan besser koordinieren zu wollen.
Es wird auch diskutiert, ob und wie sich die Beziehung zwischen der Schulleitung des Gymnasiums und dem Bildungschef entwickelt hätte. Das Verhältnis zwischen den Beiden war dermaßen kristallisiert, weil der Schulleiter im Fach Physik, der einzigen Tochter des Chefs eine Zwei gegeben hatte.
Über die Verhältnisse zwischen Giuseppe und Dutz Assimilchen diskutierte keiner. Die Zwei waren seit Ultimo miteinander verbunden und keiner von den Beiden wagte den Schritt sich zu verloben. Sie waren der Überzeugung, dass danach die Ehefrauen und Kinder die höchste Priorität hätten, und demzufolge ihre Freundschaft in Vergessenheit geriet.
Anders war der Stand der Dinge bei Flora und Mark. Für die ganze Stadt galten sie als Mann und Frau, nur sie lebten nicht zusammen. Marks Mutter hatte ihre Verwarnung ausgesprochen, dass nur erst wenn ihr Sarg abtransportiert werden würde, Frank Sprinters Tochter in ihrem Zuhause als Braut eintreffen dürfe. Sie hatte es so häufig zum Ausdruck gebracht, dass sie sich nicht einmal vorstellen konnte, seine Tochter durch ihre Tür rein zu lassen, während ihr Vater, Frank, mit seinem Sprinter von Tür zu Tür fuhr und die Toiletten und Abflüsse von den privaten Häusern reinigte. Der Mutter war die Tatsache gleichgültig, dass unter dem Klang ihres hartnäckigen Klaviers, Mark und Flora am Ende der Straße mit Küssen beschäftigt sein könnten. Dennoch, eine familiäre Beziehung, mit Frank, würde sie nie im Leben zulassen.
Mit Sicherheit in einer großen Stadt wie Berlin, würden solche Ereignisse spurlos in Vergessenheit geraten und kaum eine derartige Neugier auslösen. In W. aber, die sarkastisch auch als „Regenloch“ tituliert wird, dort wo häufig die Sonne mit dem Ritual der Ereignisse auf- und untergeht, haben sie einen besonderen Effekt.
Das Ganze lernte ich kennen, während ich einen Kaffee trank, den mir Busch ausgegeben hatte, ein Mitarbeiter unserer Zeitung. Nun hatte ich es geschafft, mir auch einige Gesichter einzuprägen.
Mark hatte eine schwarze Narbe an der Wange, und es war leicht, ihn nicht mit den Anderen zu verwechseln. Jedoch Ehud Isidor Stern hatte keine Besonderheit aufzuweisen. Schon möglich, dass er etwas Derartiges im Versteck hatte, abgesehen davon, dass Nuria Zeynepe Idriza sich beim Brote zählen so schlimm verzählt hatte. Während dessen spazierten Giuseppe und Dutz bis zum Sonnenuntergang ohne jegliche Gesellschaft. Und in der Zeit, wenn die Anderen nach Hause gingen, besetzten die Beiden den Tisch in Giacome Gianones Restaurant, denselben Tisch, wo sie schon seit fünfzehn Jahren getrunken haben.
Sicherlich gelang es mir nicht, schon am ersten Tag Vera mit dem Sohn des Polizeichefs zu sehen. So wie es aussah, warteten sie bis die Nacht sich breit machte, um sich endlich irgendwo am Rande hinter den Appartements zu treffen.
Es war mein erstes Mal, dass ich diese Stadt besuchte. Als Journalist, wäre ich in der Lage hunderte von Geschichten zu hören, überzeugt davon, dass ich morgen oder übermorgen, woher soll ich genau wissen wann, mir eine davon zu Gemüte führen und selber nutzen würde. Der Chef meiner Redaktion hatte insbesondere uns jungen Journalisten empfohlen, jedes Ereignis „anzuziehen“ - wie er sich ausdrückte -, weil ein Journalist im Leben mit einem Magneten oder einem Geheimagenten zu vergleichen ist.
Mit Busch, dem Mitarbeiter, wechselten wir vom Café aus in ein Restaurant, und dort hatte er eine nette Überraschung für mich uns vorbereitet. Von irgendwoher hatte er eine Forelle klargemacht und stellte sie vor uns hin.
„Es ist eine Seeforelle.“, sagte er zu mir. „Ich habe sie heute beim Angeln gesichert. Da ich Giacome gut kenne, überließ ich es ihm, sie hier im Lokal für uns zuzubereiten. Ich weiß, dass für euch Berliner, dies eher eine seltsame Sache ist.“
Busch schien sich äußerst gut mit dem Schnaps zu verstehen. Er trank mit Genuss und nicht wie in unserer Gegend mit einem Schluck. Dazu strahlte er Freude aus, beim Zuhören oder auch unterschiedliche Geschichten und Ereignisse zu erzählen. Jene Geschichten waren mit einer unendlichen Chronik zu identifizieren. Während den wenigen Stunden des Zusammenseins, die wir hatten, gleich wie das Skelett aus der Forelle, holte er das Skelett aus seiner eigenen Stadt raus.
Möglicherweise wegen des weiten Weges von Berlin aus, möglicherweise wegen der freigelassenen Dunstwölkchen und der Wärme des Lokals, formten meine Augen regelrechte Weite.
„Du bist müde.“, sagte er zu mir.
„Nein“, sagte ich, „dass mag nur so rüberkommen.“
Zwischenzeitlich ging die Tür des Restaurants auf und Flora und Mark traten ein. Sie setzten sich an ihren Tisch neben dem Fenster. In der Mitte des Tisches stand ein Strauß mit Rosen.
„Frau Duden ist angetan von Blumen.“, sagte Busch zu mir, überzeugt davon, dass mir die Rosen einen Eindruck beschert haben müssten. „Mark bringt sie täglich mit.“
Irgendwie wollten es meine Augen und landeten mit einem Blick auf die Beiden. Flora und auch Mark, voller Toleranz, widmeten mir eine Begrüßung und anschließend schauten sie einander in die Augen.
Flora musste immerschon hübsch gewesen sein, sehr hübsch. Selbst jetzt, während sie - laut Busch - auf die Vierzig zuging, strahlte sie eine auffallende Frische aus, wegen der auch eine Dreißigjährige neidisch werden könnte. Ihre Augen verfügten über eine besondere Lebendigkeit. Mark, mit dem Körper eines Leistungssportlers ausgestattet, ging sehr sparsam mit den Bewegungen um, die er machte. Er, ein Mensch, für den die gesamte Welt nur über einen Namen verfügte: Flora. Selbst wenn fast jeder sich bei ihm und Flora in Verbindung mit der banalen Geschichte der Ablehnung seiner Mutter vorstellig machte und ihn fragte, ob er sich dabei nicht wie eingeklemmt fühlte. Er war sich jedoch sicher, dass hinterher jeder von ihnen - wenn’s darum ging „das Menschlich sein“ zu definieren -, ihm recht geben würde.
„Wie alt ist diese Geschichte?“, fragte ich den Busch.
„Älter als zwanzig Jahre vielleicht. Mark hat Sport in dem Gymnasium unterrichtet, Flora war Schülerin in der Wirtschaftsschule. In einer Veranstaltung lernten sie sich kennen. Dort hatten sie einander das Wort gegeben. Doch Mark hat immer wieder gewartet. Erst als sie das Abitur abgeschlossen hatte, ging er zu seiner Mutter. Die Mutter, oder Frau Duden, wie sie alle nannten, ein äußerst sensibler Mensch, verlangte von ihrem Sohn ein Foto von ihr. Gleich als sie Flora sah, konnte sie sich vor lauter Freude nicht beherrschen. Floras Augen, voll mit Leben und Licht betankt, die Augenbrauen und die Löcher, die sich an ihren beiden Wangen formten, bescherten ihr eine selten begegnende Ausstrahlung. Als Frau Duden jedoch erfuhr wessen Tochter sie war, wurde sie wie ein graues Meer während der Flut.
Sie fühlte sich wie ein nichtakkordiertes Klavier und gab ihren Schwur ab, dass sie nie im Leben eine familiäre Beziehung mit Frank zu Stande kommen lassen würde. Mark, wie auch Flora, waren jung und widmeten derartiger wild-ausgesprochener Ablehnung keine besondere Aufmerksamkeit. Sie lebten mit den Küssen, die sie einander abends gaben, häufig unter dem Vordach von Marks Haus, häufig auch unter den Klängen einer Sonate, die zwischen den Fingern und der Seele von Marks Mutter, wie ein Wasserfall floss. Sie glaubten daran, dass eine empfindsame Seele, wie die ihre, eines Tages von ihrer unendlichen Liebe geknackt würde und, dass Frau Duden ihnen die Tür ihres Herzen aufmachen würde. Nun mal Frau Duden, von Natur aus eine strenge und seriöse Frau, lebte mit ihre Künstlerseele, die die von Beethoven, List und Strauß übertraf, und sie hatte kaum vor eine Beziehungsmissionarin zu werden und selbst mit einer „Etüde Funebre“ den Fäkaliensprinter von Frank, Floras Vater, zu begleiten. Sie spürte eine tiefe Enttäuschung, eine sehr tiefe, als sie daran denken musste, wessen Tochter Flora war. In welchem übermäßig vulgären Ambiente sie aufgewachsen und wie es möglich war, dass ihr Sohn hinter ihr her schlich. Vielleicht wollte Mark sich auch nicht so verhalten - wie es viele junge Leute taten -, und so das Herz seiner Mutter verletzen, indem er Flora als abgeschlossenen Akt mit nach Hause brachte. Nicht nur aufgrund seiner Bescheidenheit, sondern auch weil seine Mutter seit Jahren an einem kranken Herz litt, und er stets äußerst vorsichtig damit umging, um ihr keine harten Aufregungen zu bescheren.
Nun so, auf die leise Art, waren einige Jahre vergangen. Mark und Flora versteckten sich danach nicht mehr vor den Augen der Stadt, wie vorher. Bis eines Tages erzählt wurde, dass Flora zu einem Fortbildungskurs nach Köln gegangen war und sie für einige Monate keiner gesehen hatte. Mark fehlte am Samstag und Sonntag in der Stadt, und alle wussten, dass er nach Köln gefahren war, um Flora zu treffen.
Doch warum Flora nicht in ihr eigenes Haus zurückgekommen war, den Grund dafür hat keiner so richtig mitbekommen. Eine Frau, namens Aroma, von Natur aus sehr fleißig und als Quatschkünstlerin bekannt, sagte, dass ihr Vater Flora aus dem Haus geworfen hätte. Sie sollte entweder Mark heiraten oder sein Haus nicht mehr betreten. Ein Anderer hätte Flora aus der Kölner Geburtsklinik kommen sehen. Ein Weiterer hat gesagt, dass sie unter einer Krankheit leide und sie wollten dies der Stadt verheimlichen … Doch, in jedem Fall, das waren nur Desinformationen und davon hat es einige gegeben, keine davon traf zu …
So bis an dem Tag, als sie mit Mark auf den Straßen der Stadt gesehen wurde, war sie noch viel hübscher als vorher. Ihr Gesicht wirkte noch femininer und strahlte derartiges Licht und Leben aus, sodass selbst wenn du ein alter Mann gewesen wärest, würde sie dich jung machen.
Frau Duden war nicht zu brechen, auch selbst nicht als Floras Vater, Frank, starb, obwohl ein enger Freund der Familie, Tom Dick, spontan ein derartiges Gespräch eröffnete:
„Frau Emma“, sagte er ihr wie gewöhnlich, dabei nannte er ihren Vornamen, „ist etwa die Zeit gekommen, wo Sie die Grenze ihres Willens überspringen, um das zu akzeptieren was Sie bis gestern abgelehnt haben …“
Sie roch worauf er hinaus wollte und hob ihre rechte Augenbraue, völlig überrascht von demjenigen, von dem sie dachte, er sei auf ihrer Seite, der sich aber offensichtlich gegen sie stellte.
„Ich verstehe dich dieses Mal nicht, Herr Tom.“
Tom, als Sohn eines alten Händlers, hatte schon in seiner Jugend viel von der Welt gesehen, wie auch Frau Emma. Insbesondere die Stadt Wien, die Hauptstadt der Herren Europas, hatte ihn schon länger für sich gewonnen. Er war behindert, da er einen Arm hinter einem Zug in dem Bergwerk verloren hatte, in dem er während seiner Knastzeit arbeitete. Also, weil er sich kaum mit anderer Arbeit beschäftigte, außer mit Lesen, hatte er alle Zeit der Welt vorbei zu kommen, um mit Frau Duden zu diskutieren und dabei jeden Abend klassische Musikstücke zu hören, die ihm die Seele jünger machten. Davon abgesehen glaubte Frau Duden, dass in Tom ein wahrer Familienfreund steckte, mit dem sie sich nicht nur auf einer gesellschaftlichen Ebene verbunden fühlte. Für sie war das von sehr großer Bedeutung, und sie hatten bei sehr verschiedenen Dingen eine identische Denkweise. Beide waren in einem fortgeschrittenen Alter und geprägt von den Ereignissen von gestern, sodass, wenn du ihre Gespräche hören würdest, du davon überzeugt wärst, dass es darin kaum das Heute und auch nicht das Morgen gibt. Die einzige Verbindung die Frau Duden mit dem Heute hatte, war der Klavierkurs, den sie den beiden Töchtern des Doktor Christs kostenlos gab, weil deren Großvater ein Ass-Anwalt in Wien war.
„Es sind so viele Jahre vergangen, Frau Emma, und die Jahre tun ihr Ding. Sie ist mittlerweile über dreißig. Mark sowieso …“
Frau Duden erwartete kaum einen derartigen Schlag von Tom.
Eine Hälfte ihres Lebens hatte sie verloren, seitdem Mark mit Franks Tochter zusammen gekommen war, und jetzt war sie dabei ihren alten Freund, Tom, ganz zu verlieren.
Aus einer kleinen Tasche ihres Hemdes holte sie die Packung heraus und steckte sich zügig eine „Ramipril“ Tablette in den Mund. Tom, der über ihre Herzunruhen sehr gut Bescheid wusste, wurde plötzlich kreideblass, sodass jetzt Frau Duden, eine ganz andere Unruhe spürte: Ob Herr Tom, etwa dort, bewusstlos liegen bliebe.
„Nimm du auch eine, Herr Tom …“
Der Andere, wie ein kleines Kind, steckte eine „Ramipril“ Tablette in den Mund, davon überzeugt, dass er das auch brauchte.
Er schaute der Dame in die Augen und sagte mit Mühe:
„Verzeihen Sie mir, Frau Emma …“
Die Dame, die sehr selten solche hohen Wellen ausprobierte, fand nicht mal ein Wort um ihm Antwort zu geben, sondern wandte sich langsam dem Klavier zu, machte dessen Deckel hoch und fing an „die Mondsonate“ zu spielen.
*
Jemand trat stürmisch in das Restaurant ein und ich stellte, auf der Stelle, die Verbindung her. Das war Tom Dick, der Mensch mit einem Arm. Vielleicht wollte Busch sagen, dass es einer der schönsten Zufälle oder Wunder der Stadt war, als er ohne einen Blick auf die anderen Menschen zu werfen, auch selbst ohne „Guten Abend“ zu sagen, sich zu Mark und Flora begab. Tom sprach flüchtig mit Mark. Mark stand ohne Höflichkeiten auf, flüsterte seiner Geliebten schnell etwas zu und verließ das Restaurant wie bei einer Flucht. Hinter ihm, mit großer Eile, ging auch Flora raus. Herr Tom Dick jedoch ging wegen seines Alters wesentlich langsamer und war sehr außer Atem.
„Weil Frau Duden krank ist!“, sagte Busch.
„Weil …“, wiederholte ich.
Der Kellner hatte mit der Reinigung begonnen, und das bedeutete, dass wir uns auch beeilen mussten.
„Die meisten Lokale hier machen um 21.00 Uhr zu.“, erklärte mir Busch. „Aber, wenn du möchtest, ist es kein Problem, dann bleiben wir solange du willst.“
In der Tat, spürte ich das Bedürfnis, mich ins Bett zu legen.
Auf dem Weg zum Hotel war der Krankenwagen zu sehen, wie er mit hoher Geschwindigkeit die Straße passierte und in Richtung Teschestraße fuhr, dort wo Frau Duden ihr Haus hatte.
An dem kommenden Tag starb Frau Duden. Diese Nachricht bekam ich mit, gleich als ich zur Rezeption hinabstieg. Der Mitarbeiter an der Rezeption, überzeugt davon, dass ich seit gestern viele Ereignisse seiner Stadt mitbekommen hätte, erzählte mir mit Aufmerksamkeit sogar, dass ihre Beerdigungszeremonie an dem kommenden Tag stattfinden wird. Als ob ich als Gast in der Stadt eine Verpflichtung empfände, dort hinzugehen, damit ich mein Beileid aussprechen könnte.
Den Morgenkaffee trank ich mit Busch zusammen. Jetzt war es eindeutig zu begreifen, dass die Anwesenden über Frau Duden diskutierten. Sie bewunderten sie, umso mehr aber ihr Klavier, über das behauptet wurde, ins vergangene Jahrhundert zu gehören.
Sollte es in Wien angeboten werden, mit dem magischen Klang und der künstlerischen Ausstattung, würde dessen Hersteller inzwischen, als Gegenwert, seine gesamte Fabrik eintauschen, laut Aussage eines bekannten Jazzmusikers.
Vielleicht hatte das, was Busch mir gestern Abend über Mark und Flora erzählt hatte, sowie über Frau Duden und Herrn Tom Dick, mich in eine tiefe Überlegung hineinversetzt. Ich war dabei, in meinen Gedanken eine Reportage zu skizzieren. Doch zunächst ließ ich diesen Gedanken fallen, weil unser Chef „derartigen Steinbruch“, wie er es nannte, nicht akzeptierte, obwohl andere Zeitungen ihn für maßgeschnitten hielten. Unsere seriöse Zeitung war damit nicht zu identifizieren. Ich wollte jedoch unbedingt etwas mehr erfahren und fragte Busch gleich nach dem Kaffee stürmisch danach:
„Sollten wir doch hingehen, um unser Beileid auszusprechen?“
Busch erzählte mir, dass er sogar mit der Absicht gekommen sei. Da am vergangenen Abend, bei der warmen Begrüßung, die wir von Mark und Flora beim Spazieren und dann auch im Restaurant erhalten hatten, wir fast dazu verpflichtet wären, einen Beileidsbesuch zu machen.
Die Teschestraße war eine Straße, die mit Straßen der Stadt vergleichbar war. Mit Appartements in vier- und fünfstöckigen Häusern, fast gleich verteilt ausgestattet. Mit Kiosken, sowie auch hier und da einem Lokal und mit Menschen, die jeweils ihren eigenen Beschäftigungen nachgingen. Die Straße hatte nur ihren besonderen Namen, da es Gerüchte gab, die Sippe Tesche habe sich von dort aus losbewegt. Auch führte die Straße nirgend wohin, weil sie am Haus der Frau Duden endete.
Das Haus wirkte wie eine Villa, die mit einer modernen Architektur gebaut war. Seit dem Tod des Hausherren vor einigen Jahren, als Mark noch ein Schüler war, fehlte dem Garten eine pflegende Hand. Die Bäume waren schief und streuten ohne System vor sich her, an einigem Krautgewächs war eindeutig zu merken, dass hier seit Jahren kein Meister tätig gewesen war. Der Blick des Betrachters fiel sofort auf die Blumen. Das Klavier und die Blumen waren Frau Dudens Lebenspassion.
In dem Raum, gegenüber vom Hauseingang, warteten Mark und Flora und zwei weitere Frauen, mit Sicherheit Toms Familienangehörige. Laut Busch, der mir auf dem Weg erzählte, hatte Frau Duden keine Angehörigen in dieser Stadt, aber möglicherweise könnten später ein paar Verwandte aus Düsseldorf kommen.
Um die Wahrheit zu sagen, auf dem Weg zu Frau Dudens Haus, wurde der Gedanke wie ein Lichtstrahl in mir wach, dass sich jemand über ihren Tod freuen könnte, und dieser Mensch wäre Flora. Denn es wäre bestimmt nicht lustig, deine jungen Jahre auf der Straße zu verplempern, vierzig Jahre alt zu werden, und noch immer keinen Menschen zu haben, der dich mit Ehefrau oder Mutter anspricht.
Doch während den wenigen Minuten meines Aufenthaltes dort, spürte ich wie ich mich getäuscht hatte.
Flora flossen die Tränen während Mark sprach und dabei der Name von Frau Duden genannt wurde.
„Vielleicht wenn ich nicht in diesem Kreis wäre, hätte sie länger gelebt!“, sagte Flora und ihr flossen die Tränen erneut.
Mark schaute sie gefühlvoll an, da er ihre Seele gut kannte und er war sich sicher, dass sie nie etwas tun würde, wenn ihre Seele das nicht zugelassen hätte.
Einer erzählte uns, dass sie unter dem Schlafkissen von Frau Duden Floras erstes Foto gefunden hätten, das der Sohn ihr mitgebracht hatte, um sie kennen zu lernen.
So wurde, an diesem Tag und am folgenden, Frau Duden zum Hauptthema jeden Gespräches. Am nächsten Tag musste ich nach Berlin zurückkehren.
*
Nach drei Jahren, war ich erneut geschäftlich in der Stadt W.
Als ich dort in einen Linienbus eingestiegen war, tauchten vor meinen Augen Mark und Flora auf und auch sie, die ich nie gesehen hatte, Frau Duden. Ich dachte, mit Sicherheit würde das Paar mittlerweile um ein Kind reicher sein, und von großer Bedeutung wäre es gewesen, sollte es ein Mädchen sein und die Beiden hätten ihr den Namen der Großmutter gegeben, Emma. Ich war nahezu ungeduldig, endlich die Stadt zu erreichen und wie vor drei Jahren, den Mitarbeiter der Zeitung, Busch, zu treffen, um von ihm alles zu erfahren.
Der Tag war herrlich, wie auch jeder andere Frühlingstag. In den umliegenden Feldern wurde gearbeitet. Ich aber - der Ich dienstlich für die Zeitung unterwegs war - interessierte mich nicht so sehr für die Tagesarbeit. Jene Aufgabe möchte der Chef der Grünen für sich rekultivieren, und die anderen freiwilligen Korrespondenten. In meiner optischen Linse war die Seele der einfachen Menschen, obwohl ich schon immer gespürt hatte, dass in einer Zeitung nicht alles gesagt werden konnte. Gewöhnlich, was ich dort nicht unterbringen konnte, schrieb ich in meine Erzählungen, die ich abends in meiner Wohnung verfasste.
Also wusste ich, dass mir irgendwo eine nicht abgeschlossene Erzählung geblieben war, der ich ohne sie beendet zu haben, bereits den Titel gegeben hatte: „Frau Duden“. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb ich, sobald ich in den Linienbus eingestiegen war, die realen Protagonisten vor meinen Augen hatte, doch auch die aus meinen Phantasien, um die ich rundum kreierte.
Der Linienbus gehörte nicht zu den neuen Modellen, dennoch tat der Fahrer alles, um mich auf einem der vorderen Sitze unterzubringen, sobald er erfuhr, dass ich Journalist war. Schon möglich, um mir damit eine Art „Kommodität“ gestalten zu wollen, hielt er für mich sogar den Nebensitz frei.
Während der Fahrt, als sich jemand dort hinsetzen wollte, argumentierte der Fahrer spontan, der Sitz sei für den Gutachter reserviert, der feststellen würde, ob sein Bus noch fahrtüchtig sei und der würde während der Fahrt dazusteigen.
„Sie wurde von mir erfunden, die Geschichte mit dem Gutachter.“, sagte der Fahrer, nachdem wir die ersten einhundert Meter gefahren waren. Damit wollte er mir wohl klar machen, dass er den Platz für mich freihielt, um mich nicht mit einem weiteren Fahrgast zu belästigen.
„᾿Bruder‘(! ...), der vermeintliche Gutachter taucht kaum auf.“, beschwerte sich einer der Fahrgäste. Derselbe sagte, dass er von Übelkeit heimgesucht wird, wenn er stehen müsse.
Zwischenzeitlich stand ich kurz davor, dem Fahrer zu sagen, den Sitz jenem Fahrgast anzubieten, als plötzlich zwischen den Haltestellen auf dem Weg jemand stand und mit Gesten ums Anhalten bat.
Der Fahrer machte eine Ausnahme und hielt an! Ein junger Mann, mit einer Narbe an der rechten Wange, stieg ein. Irgendwie, sobald ich denjenigen sah, tauchte auf einmal in meiner Erinnerung Mark auf, Frau Dudens Sohn, mit der charakteristischen Narbe, die ihn unvergesslich machte.
„Wie geht es, Freund?“, fragte der Junge mit einer Art Naivität, die dir bestätigte, dass du es mit jemandem zu tun hattest, der nicht allzu oft aus dem Haus kam, um sich auf eine Reise zu begeben.
„Aus der Stadt W. kommst du?“, fragte ich ihn.
„Nein“, antwortete er mir, „doch um etwas zu erledigen bin ich in die Stadt W. gekommen.“
Ich schaute ihn prüfend an.
„Und du“, fragte er mich, „woher kommst du?“
„Aus Berlin bin ich.“, war meine Antwort.
„Lehrer sind Sie?“, fragte erneut der junge Mann, und schaute auf mein Buch, das ich gerade aufgeschlagen hatte.
„Als Lehrer hatte ich die Universität abgeschlossen, doch arbeite ich als Journalist.“
„Einmal haben sie auch über mich geschrieben.“, meinte der Junge und atmete tief ein. „Schon möglich, dass du es gelesen hast: ᾿Der Junge mit der Narbe‘.“
In der Tat erinnerte ich mich an die Schrift und die Diskussion, die der Artikel in unserer Redaktion ausgelöst hatte. Unabhängig davon, dass jener bei der „Allgemeinen“ veröffentlicht wurde. Der Redaktionschef war baff, dass Menschen etikettiert werden durften, sowohl in den Titeln, als auch in der Schrift. Gerd, der Vizechef, fügte hinzu, dass es nicht seriös wäre, der Erzählung einen derartigen Titel zu geben, wie: „Behinderter, der den Normen entspricht“, oder „Blinder, der sich selbst gefunden hat“.
„Hast du jemanden in W.?“, fragte ich ihn.
Der Junge wirkte plötzlich mitgenommen, doch gleich beherrschte er sich wieder.
„Wie soll ich sagen … Ich bin einfach so hier wegen einer Sache. Es ist das erste Mal für mich und ich kenne keinen hier.“
„Dann wirst du in einem Hotel buchen müssen?“, fragte ich ihn weiter, überzeugt davon, dass er sich auch so verhalten würde.
„Doch, doch.“, antwortete er mir. „Möglicherweise wird mein Aufenthalt sich um einen weiteren Tag verlängern.“
Der Bus hatte letztendlich nicht mehr mit den ausgebesserten Schlaglöchern zu tun und so schüttelte er uns nicht mehr so sehr.
„Hast du Eltern?“, fragte ich ihn.
„Ja.“, antwortete er kurz und bündig. „Ich habe Mutter und Vater.“
„Sie arbeiten, sicherlich.“, fragte und bejahte ich, abgesehen von dem Alter des jungen Mannes mit der Narbe.
„Ah, nein.“, sagte er und atmete erneut tief ein. „Sie sind in Rente.“
Danach floss unser Gespräch leichter über mehrere Tagesprobleme, über die Sportsphäre und eher weniger über Themen des Kunst- und Kulturlebens. Der Junge mit der Narbe lebte in einem Dorf. Vor kurzem hatte er seinen Wehrdienst in einer Panzerbrigade beendet und jetzt arbeitete er als Traktorfahrer und Erntehelfer. Diese Kontinuität, wie es scheint, könnte den Korrespondenten der „Allgemeinen“ beeinflusst haben über ihn zu schreiben. Denn, wäre der einmalige Titel nicht gewesen, wäre der Text an dem Tag danach schon vergessen.
Es war nur logisch, dass wir beide uns an das Hotel „Inter City“ wandten, das ich bereits gut kannte und damit der Junge sich ebenfalls ein Zimmer mieten konnte.
„Wie heißt du?“, fragte ich ihn.
„Flober.“, antwortete er und ich zuckte zusammen. „Flober Marsch.“
„Und du?“
„Skipetar Sotti.“, antwortete ich und gab ihm die Hand.
Mein Hotelzimmer war schön, möglicherweise war es das gleiche Zimmer, in dem ich vor drei Jahren übernachtet hatte. Auch das Zimmer von Flober war gemütlich eingerichtet.
Da die Reise nach W. nicht von kurzer Dauer war, spürte ich die Notwendigkeit sobald wie möglich Mittag zu essen.
„Flober“, sagte ich, „willst du Mittag essen?“
„Ja.“, antwortete er, und wie ein treues Lamm folgte er mir. Dennoch war ich dabei, ihn wie einen Reisebegleiter und Kumpel zu betrachten.
Das Restaurant war das Gleiche: Mit den Tischbezügen und mit dem Standardwandfarbton und durch die Bilder aufgefrischt. Der einzige Unterschied waren die Menükarten auf den Tischen und die Baumwollgardinen. Aus der Anlage erreichte uns eine klassische Musik und ab und an war das Klappern der Deckel der Kochtöpfe und der Pfannen aus der Küche minimal zu hören.
Es war zu erkennen, dass Flober selten in einem Restaurant war und er bevorzugte das gleiche Menü zu kosten, was ich bestellt hatte.
Während der Junge, wie jeder neuankommende Besucher, sich bemühte, mit dem Restaurant vertraut zu werden, landeten meine Augen auf dem Tisch am Fenster, dort wo - wie damals auch -, ein Blumenstrauß stand. Es war der Tisch vom Mark und Flora.
Ich war mir sicher, dass sie nicht mehr hierhin kommen werden, weil die Beiden jetzt ein richtiges Paar sein mussten. Sie hatten ihr Zuhause und hierher kämen sie höchstens, um sich an ihre jungen Zeiten zu erinnern.
„Flober, du hast einen sehr interessanten Namen.“, sagte ich ihm. „Wie es scheint, waren deine Eltern große Sympathisanten des Gustave Flaubert, von der ᾿Frau Bovary‘.“, fügte ich hinzu, überzeugt davon, dass jemand mit dem großen französischen Schriftsteller sympathisierte und ihm dessen Nachnamen als Vorname gewidmet hatte.
„Ah, nein Skipetar“, sagte er und schien dabei zu überlegen, „viele Menschen haben das Gleiche behauptet. Doch weder Mutter, noch Vater sind belesen. Sie sind ganz einfache Menschen, Landarbeiter.“
„Nun dann, woher?“, bestand ich darauf, obwohl mir im Klaren war, dass ich meine Art der Fragestellung damit übertraf.
„Prost, zum Wohl!“, wünschte er mir und trank gleich darauf sein Bierglas mit einem Schluck aus.
Als ob der Instinkt des Journalisten sprach und sagte, dass hier etwas nicht stimmte, dass der Junge eine Sorge hatte, die sich in seiner Brust wie ein Fadenknäuel wickelte. Ich schaute ihn an, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Dabei kam er mir mal wie ein reifer Mann und mal wie ein kleines Kind vor.
Ich begriff, dass er mir keine Antwort geben wollte und ich versuchte, nicht mehr seinen Verstand zu belasten.
Der Junge aß mit Eile und so, ohne zu sprechen, trank er auch das nächste Bierglas leer.
Er sagte zu mir, dass er nun seinen Freund von der Bundeswehr treffen müsse, zahlte den Kellner und ging fort.
In der Zeit, als er rausgegangen war, traf der Zeitungsmitarbeiter, Busch, ein. Ihm ging es mittlerweile ausgezeichnet: Er wurde zum Chef der Grünen ernannt und hatte dennoch einen teuren Dieselwagen, sodass wir uns öfters in Berlin trafen.
„Verzeih mir, es hat sich etwas in die Länge gezogen“, sagte er, „weil der Sekretär nach mir verlangte, hatte ich keine andere Wahl.“
Wir begannen mit dem gemeinsamen Gespräch. Busch hatte den Schatten eines Eminenten gewonnen. Ohne irgendeine Verbindung, während des Gesprächs, nannte er die Führungsreihen des Bezirks und den Ereignissen der Stadt hatte er irgendwie ein Kreuz vermacht. Das war ein Zeichen der Emanzipation, doch auf der anderen Seite, erkannte ich auch ein Rennen hinter den Ziffern, des Kollegen X und Y, her. Bei denen ich nichts besonders sehen konnte, außer dem Platz auf ihrem Stuhl. Rein zufällig hatte sich ergeben, solchen Parteimitgliedern der Politikebene zu begegnen und mit ihnen über unterschiedliche Probleme zu kommunizieren. Ich wusste wie viel Wert deren Haut hatte.
Jemand grüßte ihn und Busch antwortete mit der gleichen Geste. Doch zwischenzeitlich blieben seine Augen auf den Tisch am Fenster gerichtet.
„Den Tisch haben Mark und Flora für heute Abend reserviert.“, sagte Busch und erzählte mir, dass jetzt, wenn Mark Blumen auf den Tisch stellte, alle wussten, dass sie an diesem Abend dort essen werden.
„Sie leben wie an dem ersten Tag, als die Liebe stark gefunkt hatte.“, fügte Busch hinzu. „Obwohl sie sich an die bekanntesten Gynäkologen, sogar auch in Düsseldorf, wandten, blieben sie kinderlos.“, sagte er, überzeugt davon, dass ich die Geschichte frisch in meiner Erinnerung hatte, ebenso auch Frau Duden.
„Das tut mir leid.“
„Der ganzen Stadt tut es leid.“, vervollständigte er. „Wie sollst du es sagen: Es ist kaum möglich, zwei gute Dinge zusammen zu bringen. Mark hat nun die Stelle als Trainer des Fußballvereins und deren finanzielle Lage ist so berauschend gestaltet, dass man nur neidisch drum sein kann. Es wird behauptet, dass Frau Duden auch in Wien Reichtum besaß.“
Beide waren wir der gleichen Meinung, dass ihnen, Mark und Flora, der aller größte Reichtum fehlt: Ein Kind. Knapp eine Million hatte ihnen ein Einheimischer, aus Deutschland, für das Klavier angeboten. Seitdem Flora in das Haus gekommen war, wirkt es jünger, und keiner von denjenigen, die dort ein- und ausgingen, glaubten, dass es noch ein gepflegteres Haus in ganz W. gäbe. Den Garten hatten sie an einen bekannten Fruchtkünstler zur Pflege anvertraut und jetzt gleicht er einem botanischen Garten. Der Weg aber vom Eingangstor bis zur Haustreppe hin, bewahrte die Tradition der Frau Duden und war mit zahlreichen Blumen geschmückt. Bei der Selektion, wenn die Stadt hohe Persönlichkeiten erwartete, kamen sie sogar hierher, um frische Blumen abzuholen.
Inzwischen trafen in dem Lokal Giuseppe und Dutz ein und - unerhört leise -, besetzten sie ihren Tisch und führten ein Gespräch fort, das mit Sicherheit noch nicht zu Ende war. Zu Recht hatte Busch mir mal erzählt, dass ihre Stadt, die Stadt von 1001 Merkwürdigkeiten sei.
Nach den beiden Freunden traf Mark in dem Restaurant ein. Außerhalb seiner Natur, ohne zu grüßen wie gewöhnlich, warf er einen Blick durch das Lokal und, weil - wie es schien - er den Gesuchten nicht sehen konnte, wandte er sich an den Kellner. Mark sprach flüchtig mit ihm und danach wandte er seine Schritte in Richtung auf unseren Tisch.
„Manchmal kann man seinen Augen nicht trauen.“, richtete er den Satz an mich, sobald er mir die Hand gab. „Ich war auf der Suche nach einem Jungen, mit einer Narbe an der Wange, und sie sagten zu mir, dass Sie …“
„Aha, Flober.“, intervenierte ich. „Doch kurz zuvor, nachdem er gegessen hatte, ging er um einen Freund aus der Bundeswehr zu treffen mit dem er als Soldat zusammen gedient hatte.“
Es war zu erkennen, dass Mark wegen einer Sache beunruhigt war, da sobald ich diesen Namen nannte, sein Gesicht rot wie Paprika wurde.
„Jedenfalls hat er ein Zimmer in demselben Hotel - wie ich auch - gemietet und …“
„Nein, nein“, unterbrach er mich mit einer unerklärlichen Eile, „ich werde ihn selber finden.“, und sobald er mir die Hand gab, ging er sehr flott raus.
„Es wird erzählt, dass ein Fußballer aus Wenden für unseren Verein spielen wird.“, erklärte Busch mir.
Welch eine Koinzidenz! Ein Fußballer, in seinem Verein, namens Flober! In dem Verein von Frau Dudens Sohn. Ich weiß nicht, doch dieses Ereignis zeigte mir eine andere Richtung auf. Während der wenigen Minuten Fahrt mit Flober, war ich mir sicher, dass hier nicht von einem Fußballer die Rede war, unabhängig davon, dass er nicht wenige Sportkenntnisse hatte.
Busch bat mich um Erlaubnis sich zu entfernen. Jetzt, als Chef der Grünen, hatte er nicht so viel Freizeit, wie vorher, und das begriff ich.
Ich bestellte noch einen Kaffee und einfach so meditierte ich. Giuseppe und Dutz führten die Diskussion fort. Keiner wusste worüber. Der Kellner räumte die Teller vom Nachbartisch, ansonsten herrschte auf der Straße ein unmöglich lautes Geräusch eines kaputten Auspuffs.
Vor meine Augen tauchten Flober, danach Mark und Flora und irgendwo auch Frau Duden auf. Die letzte hatte ich nie gesehen, doch ich kreierte sie wie eine Frau unter den ersten Klavierspielerinnen, die ich gewöhnlich in den Filmen mit der Thematik aus dem letzten Jahrhundert gesehen hatte.
Ich entsann mich, als Flora so plötzlich wegen einem „Kurs“ fortgegangen ist und für einige Monate in Köln war. Zu der Zeit soll sie kaum nach W. gekommen sein.
Ich erinnerte mich an das verbreitete Gerücht über die Beiden, wie Flora in einer regnerischen Nacht gesehen wurde, als sie aus einer Kölner Geburtsklinik kam. So, um die Zeit tot zu schlagen, schrieb ich auf dem Zettel mit Rechnung, den der Kellner mir mitgebracht hatte: Flober, Mark, Flora.
Sie erweckten in mir einen identischen Klang. Es war modern zu der Zeit, dass Eltern, mit den Buchstaben von ihren beiden Namen, derartige Namen kreierten, die sie ihren Kindern widmeten, meistens sehr schöne Namen, manchmal sogar auch unsympathische.
Ich schrieb erneut: Flober, Mark, Flora. Danach tauschte ich die Reihenfolge: Flora, Mark. Ich blätterte das Grammatikblatt aus meinem Intellekt auf und formte neu: Flo-ra, Ma-rk, Flo-ber. So vollbrachte ich die Zusammenführung der ersten Buchstaben und spürte, dass ich vor einer bitteren Realität stand: Flo-ber, Flober. Das künftige Kind dürfte nicht Flohmarkt, sondern Berti heißen.
Sobald ich mich in meinem Hotelzimmer befand, war ich davon überzeugt, dass ich gleich ein bisschen Schlaf benötigen würde, weil ich von der Reise müde geworden war. Dennoch fand ich keine Ruhe. Als ich zu der Überzeugung gekommen war, dass es zwischen Flober, Mark und Flora eine Verbindung gäbe und … Vielleicht befanden wir uns kurz vor einem Ereignis, das die gesamte Stadt beschäftigen würde.
Es war eine Angewohnheit von mir, dass ich den Raum nicht abschloss, wenn ich mich im Hotel ein wenig schlafen legte. Ich wusste außerdem, dass mich hier niemand beklauen würde. Was sollte man mir auch schon klauen, einen Notizblock?
Flober war in der Zeit gekommen, als der Schlaf meine Augen schwer gemacht hatte. Er klopfte die ganze Zeit an die Tür und ich hatte ihn kaum gehört. Möglicherweise hätte ich auch noch weitere zwei Stunden so verbracht, wenn mich nicht sein Klopfen und sein Weinen geweckt hätten.
„Flober!“, sagte ich zu ihm. „Was hast du denn?“
Doch er weinte ununterbrochen, sodass er mir keine Antwort geben konnte.
„Beherrsch dich.“, sagte ich zu ihm. „Jetzt bist du ein Mann und musst fähig sein, es zu verkraften.“
Aufgrund meiner Worte staunte er.
„Das kann ich nicht. Du kannst dir kaum vorstellen, was mir passiert ist.“, fügte er hinzu, mit der Naivität eines ehrlichen Jungen. „Von dem Augenblick an, als ich von zu Hause aus losgefahren bin, um hierher zu kommen, spürte ich, dass es so kommen müsste … Vielleicht hätte ich nicht kommen sollen … Selbst wäre ich nicht gekommen … Es ist sehr hart …“
Ich bot ihm eine Zigarette an und er zündete sie an.
„Heute traf ich meine wahren Eltern!“, sagte er mit einem triumphalen Gefühl, das seiner Reife entsprach.
„Flora und Mark.“, vervollständigte ich.
Flober war sprachlos.
„Wie?! Du weißt es?! ... Ich kann es kaum glauben, mein Freund Skipetar …“
Er war nun mit einem total besiegten Soldaten zu vergleichen.
„Schau.“, sagte er zu mir und holte einen Brief raus. „Der Vater und die Mutter schrieben mir und sandten einen Brief, sofort nach dem sie den Artikel „Der Junge mit der Narbe“ gelesen hatten. Der Name, das Alter und die Narbe auf der Wange stimmten vollständig überein. Doch auf keinen Fall konnten sie in den kleinen Ort kommen, wo ich wohne. Die Mutter war krank, außerdem die Narbe meines leiblichen Vaters auf der Wange, identisch mit meiner, hätten möglicherweise Probleme für meine Eltern auslösen können und Neugier in dem Dorf erweckt.“
Ich zog tief an meiner Zigarette und Flober auch.
„Die Mutter, vor lauter Freude, konnte sich kaum beherrschen. Sie küsste mich, streichelte mich, als ob ich ein Kindergarten Bub wäre. Sie weinte. Sie weinten beide gemeinsam.“
„Sie erklärten mir, sie hätten mich nie verlassen. Nie. Da sie mich einmal im Monat besuchen kamen, bis ich ein Jahr alt wurde … Bis an dem Tag, als die Jugendamtszuständige zu ihnen sagte, dass ich nicht mehr leben würde … Ich begreife nicht, wie so etwas zu Stande gekommen ist, es ist aber passiert …“
„Mit Sicherheit hat jemand interveniert und jemanden bestochen. Du möchtest es mir verzeihen, aber deine Adoptiveltern könnten eine Rolle dabei gespielt haben.“, sagte ich zu ihm.
„So könnte es möglicherweise auch gewesen sein.“, gab er zu.
Flober sprach und ich spürte, dass dieses Ereignis ihn reifer und männlicher gemacht hatte. Mir kam es so vor, als ob er, der total besiegte Soldat, jetzt zwischen zwei Liebesgefechten stünde.
„Vielleicht bin ich noch zu jung, um eine derartige Geschichte verkraften zu können.“, sagte er.
„Nein, Flober, nein. Du hast sie wie ein wahrer Mann verkraftet. Das erste Gefecht hast du gewonnen …“
„Ich weiß.“, unterbrach er mich. „Ich weiß, dass noch zusätzliche Sorgen hinzukommen und du wirst fragen: Nun was wirst du jetzt machen? Wirst du hier leben, zusammen mit den Beiden, die dich gezeugt haben, in der einmaligen Villa? Zwischen den tausend guten Dingen, oder wirst du in das Dorf zurückkehren, um mit den zwei alten Leuten zu leben, die ihr Leben für dich dahin gegeben haben?“
„Vielleicht würde ich das auch selber sagen.“
Flober streckte sich und schaute mir direkt in die Augen:
„Ich kam hierher um dich zu treffen. Denn, wäre ich nicht gekommen, würde ich mich unwohl fühlen. Ich kam um dir zu sagen, dass ich heute nicht im Hotel sondern bei Flora und Mark übernachten werde. Mein Vater, Mark, wartet auf mich am Hoteleingang.“
Ich ging hinter ihnen auch raus. Ich spazierte durch die Straßen, der nicht allzu großen Stadt, mit meiner Überzeugung, dass alle über das wundervolle Ereignis des Jungen mit der Narbe diskutierten. Ich weiß nicht wieso, aber meine Beine führten mich in Richtung Teschestraße, zu Frau Dudens Haus. Ich sah Herrn Tom, der gerade dort herauskam.
Vielleicht bei dem Spaziergang durch die Straßen, war die Zeit so schnell vergangen, dass meine Beine mich direkt zum Restaurant hinführten um Abend zu essen.
Das ungewöhnliche Ereignis hatte die Tische mit Gästen gefüllt, wie selten zuvor, und es gab keinen einzigen freien Platz. Menschenleer war nur der Tisch, mit den Blumen, von Mark und Flora. Ich ging zu dem Tisch und setzte mich dorthin. Alle richteten die Blicke auf mich, aber da sie wussten, dass ich nicht von hier war, sagte niemand ein Wort.
*
Die Arbeit als Journalist führt mich häufig in die Stadt W. Ich habe dort jetzt, außer Busch, reichlich Freunde und Bekannte. Sie kennen mich und ich kenne sie. Einige von ihnen wissen, dass ich Schriftsteller bin und wir diskutieren häufig über Literatur. Doch Sie, liebe Leserinnen und Leser, sind daran nicht besonders interessiert. Sie wollen mit Sicherheit wissen, wie es Flober ergangen ist.
Jemand könnte meinen, dass Flober keinen Grund hatte, seine wahren Eltern abzulehnen, weil sie keine Schuld an dem hatten, was geschehen war und sie ihn in keinem Augenblick verlassen hatten.
Die zwei guten alten Menschen auch nicht, die Flober zwischen wer weiß wie vielen Sorgen großzogen. Mit Flora und Mark erwartete ihn ein wohlhabendes Leben, das selten jemand haben dürfte. Mit den guten alten Menschen in dem Dorf, das laute Lärmen der Traktoren, Tag und Nacht, ein durchschnittliches Leben insofern.
Da aber irgendwo, neben einem Zaun oder neben einem alten Kamin, gab es ein Mädchen, das auf ihn wartete …
Ich habe sie letztes Jahr getroffen, auch dieses Jahr. Ich weiß alles was danach passiert ist. Doch dieses Mal habe ich mich entschlossen, Ihnen nicht zu erzählen, welchen Lauf die Dinge nahmen, nachdem Flober mitbekommen hatte, wer seine wahre Mutter und sein wahrer Vater waren.
DE-Wuppertal 2018