Читать книгу Karamell - Ein Pferdekrimi - Ariane Gilgenberg - Страница 11
Veilchens richtiger Riecher
ОглавлениеAls Luisa am nächsten Morgen von ihrer Mutter geweckt wurde, durchfuhr sie sofort ein bitteres Gefühl. Es brauchte eine Weile, bis ihr die Geschehnisse vom Vortag wieder vollständig ins Bewusstsein drangen. Dann lagen sie zentnerschwer auf ihrer Brust. Statt für die Schule aufzustehen, drehte sie sich einfach in ihrem Bett herum. Sie wollte wieder einschlafen und vergessen. Doch nach einigen Minuten kam ihre Mutter erneut ins Zimmer.
„Luisa, du musst aufstehen, sonst kommst du zu spät zur Schule.“
Luisa zog sich die Decke über beide Ohren und tat so, als ob sie nichts gehört hätte. Ihre Mutter setzte sich zu ihr und zog behutsam die Decke fort. Traurig drehte sich Luisa zu ihr um: „Mama, ich kann heute nicht zur Schule gehen.“
Ihre Mutter strich ihr sanft über die braunen Locken. „Ja, meine Kleine, dann schlaf noch ein bisschen, und nachher schauen wir zusammen in die Reiterzeitung.“
Nach einer Stunde kam Luisa in Bademantel und Hausschuhen in die Küche. Ihr Vater war bereits zur Arbeit gefahren und Neele in der Schule. Geschlafen hatte sie nicht mehr. Aber sie hatte viel nachgedacht.
Immer noch verunsichert sagte sie: „Mama, Neele darf Condor nur dann reiten, wenn ich dabei bin und sie muss genau das tun, was ich ihr sage.“
„Aber ja, natürlich. Du kennst Condor am besten. Neele wird dir dankbar sein, wenn du ihr so viel wie möglich hilfst und erklärst. Sie mag ihn sehr und will sicher alles richtig machen.“ Ihre Mutter schmunzelte. „Eigentlich mag sie alle Pferde, aber was vielleicht noch wichtiger ist, sie macht sich keinen Druck. Im Gegensatz zu dir, meine Kleine, du bist ungeduldig, willst mit dem Kopf durch die Wand. Und dann plagen dich plötzlich Selbstzweifel. Aber das zeigt natürlich auch deinen Eifer und deinen Willen voranzukommen. Das finde ich prima. Du bist mit ganz viel Herz dabei. Und diesen Eifer, den muss man unterstützen.“
„Ja?“, fragte Luisa und auf ihrem Gesicht erschien ein flüchtiges Lächeln. Ihre Mutter war ihr gar nicht böse? Und sie nahm sie sogar ernst. „Ich ... ich“, druckste sie, „ich werde mit Condor ganz viel ins Gelände gehen, damit er wieder glücklich wird. Er soll es doch gut haben. Und ich werde Neele helfen.“ Luisa setzte sich an den Küchentisch und nippte an einer Tasse Kakao.
„Hier, sieh mal.“ Ihre Mutter reichte einen Stapel Reiterzeitungen herüber. „Wenn du Lust hast, schauen wir zusammen die Annoncen durch.“
„Nehmt ihr mir Condor auch ganz bestimmt nicht weg? Auch Papa nicht?“
„Nein, du kannst dich hundertprozentig auf uns verlassen. Das weißt du doch.“
„Mmh“, murmelte Luisa. Sie überflog die Seiten und blätterte ein bisschen herum. „Da ist nichts, hab ich doch schon gesagt.“
„Ach, Luisa. Ich habe vorhin auch schon einmal einen Blick in die Zeitschriften geworfen. Guck doch mal richtig hin und dann kreuzt du die interessanten Inserate an. Hier ist ein Stift.“
Endlich las Luisa genauer in dem Anzeigenteil. Ihre Mutter schmierte ihr ein Brot mit Erdbeermarmelade und stellte es ihr vor die Nase. Aber Luisa schob es wieder weg. „Ich will nichts essen.“
„Beiß wenigstens einmal ab.“
Und während Luisa ganz allmählich das Marmeladenbrot mümmelte, erschien in den Magazinen ein Kreuz nach dem anderen.
„Da“, Luisa gab die Blätter zurück, „aber du musst bei den Leuten anrufen.“
Luisas Mutter wählte die erste Nummer – leider ohne Erfolg. „Na gut, dann probieren wir es bei dem Nächsten.“
Dort war keiner da und bei dem Übernächsten war das Pferd gerade verkauft. Luisa hatte noch drei weitere Annoncen angestrichen. Diese Telefonate dauerten zwar etwas länger, aber Luisas Mutter verdrehte jedes Mal die Augen.
„Wollen die mich alle für blöd verkaufen?“, entrüstete sie sich. „Ich habe zwar nicht allzu viel Pferdeverstand, aber das ist wahrlich abenteuerlich. Was die Leute einem alles aufzuschwatzen versuchen! Entweder ist das Pferd zu teuer, zu alt, zu jung oder es ist so billig, dass man schon fühlen kann, dass hier etwas nicht stimmt.“
„Wundert mich nicht“, konterte Luisa.
„Und stell dir vor, bei dem letzten Telefonat wollte mir einer ein Pferd anbieten, das wahre Häuser springen soll, natürlich für ganz wenig Geld. Purer Unsinn ist das. So ein Pferd würde niemand verkaufen.“
„Mama, wer sich ein neues Pferd kaufen wollte, der hat das bereits im Winter getan.“
„Warum?“
„Dann ist genug Zeit, um sich auf die Turniere vorzubereiten.“
„Ja, du hast recht. Ich muss zugeben, dass ich mir die Pferdesuche einfacher vorgestellt habe. In mir wächst das Gefühl, dass immer mehr Leute einen hereinlegen wollen.“ Sie seufzte und setzte sich Teewasser auf.
Luisa marschierte mit ihrem Kakao und der Reiterzeitung auf die Terrasse vors Haus und setzte sich auf einen Gartenstuhl. In dem angrenzenden Steingarten blühten die ersten Frühjahrsblumen in einem kräftigen Gelb. Ihr zarter Duft betörte Luisas Sinne. Der Wind strich ihr sanft über das Gesicht. Luisa dachte über die Telefonate nach. Es gab so viele Pferde. Es musste doch möglich sein, wenigstens zwei oder drei zu finden, die eventuell infrage kamen. Auch um diese Jahreszeit.
Der Wind zupfte an den Seiten der Reiterzeitung. Plötzlich kroch Veilchen, der Kater der Falkenbergs, aus dem Blumenbeet hervor. Er schaute mit großen, runden Augen zu Luisa hoch und hüpfte auf ihren Schoß.
„Veilchen, du kleiner Moppel, du zeigst mir jetzt die richtige Telefonnummer.“ Sie hielt ihm die Anzeigen vor die Nase. Er rieb inbrünstig seinen Kopf an den Blattseiten und war damit höchst zufrieden. „Also das Lesen hat auch schon einmal besser geklappt.“ Luisa gab ihm einen Kuss. Dann wanderten ihre Augen wieder zum Magazin.
Plötzlich entdeckte sie die schmale, unscheinbare Anzeige Sportpferde Langen. „Sportpferde Langen?“, überlegte sie. „Da könnten wir auch anrufen. Die Pferde werden hübsch teuer sein, wenn da Sportpferde steht.“
„Aber nachfragen könnte Mama mal“, klärte sie Veilchen auf.
„Was könnte ich“, rief ihre Mutter von drinnen.
„Ich glaube, ich habe etwas gefunden.“ Luisa setzte Veilchen auf den Boden, der beleidigt von dannen zog, und ging zurück ins Haus. Sie setzte sich an den Esstisch in der Küche. „Mama, hast du diese Anzeige schon gesehen? Veilchen hat sie gefunden.“
Ihre Mutter stellte die heiße Teetasse beiseite und schaute neugierig auf die Annonce. „Nein, die habe ich übersehen. Gib her, wir rufen gleich dort an.“ Luisas Mutter wählte die Telefonnummer des Pferdehofs Langen. Luisa hielt ihr Ohr mit an den Hörer. Am anderen Ende der Leitung meldete sich die Stallbesitzerin. Sie hatte eine freundliche Stimme, wirkte gar nicht eingebildet und so fasste Luisas Mutter Mut, nach einem Jugendpferd zu fragen.
„Guten Tag Frau Langen, hier spricht Anna Falkenberg. Ich rufe an, um nach einem Pferd für unsere Tochter zu fragen. Sie reitet jetzt seit vier Jahren und ist zwölf Jahre alt.“
„Aha, das hört sich gut an. Suchen Sie ein Dressurpferd oder ein Springpferd?“, fragte Frau Langen.
„Ein Springpferd soll es sein, das A bis L Parcours bewältigen kann. Das Pferd sollte auf jeden Fall über einen Meter kommen können. Es kann auch noch ein jüngeres Pferd sein, das noch etwas lernen will. Nur ganz roh sollte der Vierbeiner nicht sein.“
„Ja, ich verstehe. Es ist immer wichtig, dass der Käufer uns detaillierte Angaben zu seinen Wünschen machen kann. Umso besser können wir das richtige Pferd für ihn finden. Kommen Sie zu uns, vielleicht am nächsten Wochenende. Wir haben einige Pferde zur Auswahl.“
„Tatsächlich?“ Luisas Mutter war überrascht.
Luisa bekam glühende Wangen. Das hatte Veilchen prima gemacht.
„Sie hätten wirklich ein passendes Pferd für uns?“, fragte Frau Falkenberg. „Was kosten die Pferde bei Ihnen?“
„Ach, kommen Sie zuerst einmal her und schauen Sie sich unsere Verkaufspferde an. Über den Preis werden wir uns schon einig werden.“
Solche Antworten liebte sie gar nicht. Ob man sich wirklich über den Preis einig würde, dachte Luisas Mutter. Aber die Aussicht, gleich mehrere Jugendpferde zur Auswahl zu haben, klang vielversprechend. Und so fuhr die ganze Familie Falkenberg am darauffolgenden Wochenende zum Reiterhof Langen.
***
Das letzte Wegstück schlängelte sich durch Felder, Wiesen und Wälder. Fast hatten sie den Eindruck, im Niemandsland angekommen zu sein. Doch dann öffnete sich der Wald und gab den Blick frei auf eine großartige herrschaftliche Anlage aus mehreren alten Fachwerkgebäuden.
Herr Falkenberg fuhr im Schritttempo in den gepflegten Innenhof. Überall standen hübsch arrangierte Blumentöpfe herum, aus denen die bunten Frühjahrsblumen üppig hervorquollen. Luisa hielt vor Staunen den Atem an. So prachtvoll und schön hatte sie sich einen Reiterhof immer vorgestellt, aber noch nie einen in Wirklichkeit gesehen. Hier konnten nur die besten Pferde stehen, da war sie sich sicher.
Die Falkenbergs wurden gleich freundlich von zwei schwarzen Kätzchen mit weißen Pfoten begrüßt. Sie saßen adrett auf einer Holzbank vor der Haustür und genossen die spärlichen Sonnenstrahlen. Neele und Luisa strichen ihnen zärtlich über das Fell. Sie antworteten mit einem behaglichen Schnurren.
Aus dem Haus tönte lautes Hundegebell. Kurz darauf erschienen Vater und Sohn Langen in Begleitung ihrer Labradorhündin, die die Katzen umgehend von ihrer Sonnenbank verjagte. Vater Langen war ein sympathischer, etwas untersetzter, mittelgroßer Mann um die Fünfzig. Sein Sohn Tim war Mitte zwanzig. Er überragte seinen Vater um mindestens einen Kopf.
Herr Langen reichte Luisa die Hand. „Du bist also die Springreiterin?“
„Ja, nein“, antwortete Luisa verlegen. „Ich möchte einmal eine gute Springreiterin werden.“
„Das ist sehr schön. Und wer so große Pläne hat, der braucht ein gutes Springpferd, nicht wahr?“
Luisa nickte schüchtern. „Mmh.“
„Dann werden wir gleich im Stall schauen, was wir für dich haben“, sagte Herr Langen freundlich. „Und du bist die kleine Schwester“, wollte er von Neele wissen. „Reitest du auch?“
„Ja, ich reite ein Pony.“
„Und was machst du damit? Gehst du auch auf Turniere?“
„Ja, Topsi ist ein Dressurpony. Springen kann er auch. Aber er traut sich manchmal nicht richtig, besonders wenn er über Planken springen soll.“
„Na, da habe ich ja zwei ganz erfahrene Reiterinnen hier“, lobte der Stallbesitzer.
Nachdem Herr Langen auch die Eltern Falkenberg begrüßt hatte, ging er voran in den Stall, ein altes Bruchsteingebäude, und hielt vor der dritten Box auf der linken Seite an.
„Hier, Luisa“, lächelte er und schob die Boxentür auf, „diesen Fuchswallach kann ich mir ausgesprochen gut für dich vorstellen. Er ist ein richtiges Jugendpferd. Nicht zu groß und nicht zu klein. Sehr umgänglich und freundlich.“
Luisa war sofort hingerissen. „Ist der süß!“ Mit großen Augen und gespitzten Ohren sah der Fuchs neugierig zu ihr herunter. Er tauchte seine weiche Nase ganz zärtlich in ihre Haare und schnüffelte auch an der Jacke herum. Besonders an den Jackentaschen versuchte er zu ergründen, ob sich da nicht vielleicht ein Leckerli versteckt hielt.
„Ja, den möchte ich gerne einmal reiten.“ Luisas Augen glänzten und ihr Herz klopfte heftig. Der Senior gab ihr das Halfter. Bereitwillig senkte der Fuchs seinen Kopf und Luisa konnte es ihm leicht anziehen. Anschließend holte Herr Langen das Pferd aus der Box und führte es zum Putzplatz. Luisa und Neele bekamen Striegel, Bürste und Hufkratzer in die Hände gedrückt. Während Neele sich sofort an die Arbeit machte, stand Luisa einen Moment lang wie angewurzelt vor dem Fuchs. Er war so unglaublich schön. Sein Fell hatte einen goldenen Glanz, ganz anders als bei anderen Füchsen. Und der hübsche kleine Kopf mit den riesigen schwarzen Augen und die zierlichen Hufe. Er sah aus wie ein Vollblüter! Ihr Vater riss sie aus den Gedanken.
„Herr Langen, wie alt ist das Pferd? Wo kommt es her und welche Prüfungen ist es schon gegangen?“
„Das Pferd ist erst vor wenigen Tagen aus Russland hierher gekommen“, berichtete der Reitstallbesitzer. „Es ist ein Budjonny. So heißt die russische Rasse. Es ist sechs Jahre alt, hat hier seine deutschen Papiere bekommen und ist auch hier geimpft worden. Bei uns ist das Pferd noch auf keinem Turnier gewesen.“
„Noch auf keinem Turnier gewesen?“, wiederholte Frau Falkenberg ungläubig. Schon ging ihre gute Laune auf Talfahrt. Viele Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Die weite Anfahrt für ein Pferd, das nichts konnte? Sollten sie wieder bei null beginnen? Aber er war doch schon sechs Jahre alt. „Sie wissen gar nichts von ihm?“ Luisas Mutter ereiferte sich und ihre Stimme wurde ein wenig schrill. „Herr Langen, wir haben zu Hause ein junges Springpferd, auf das wir alle Hoffnungen gesetzt hatten. Zunächst schien es auch gar nicht so schlecht. Dann merkten wir immer mehr, dass ihm einfach der Mut fehlt.“
„Ja, und Condor, also mein Pferd“, bekräftigte Luisa, „springt über keinen Wassergraben und hat Angst vor blauen Hindernissen.“
„Da kann ich dich beruhigen“, erwiderte Herr Langen freundlich. „Der Fuchs hat in Russland eine konsequente Ausbildung genossen und hier hat er sich auch nicht dumm angestellt. Mein Sohn Tim wird ihn nächstes Wochenende zum ersten Mal bei einem Hallenturnier vorstellen. Dort ist viel zu sehen. Es hängen eine Menge Spiegel an der Wand. Die Zuschauertribüne ist ganz nah am Parcours und die Gastronomie ist auch noch in der Halle. Wenn er dort gut springt, gibt es nirgendwo Probleme.“
„Welche Prüfung wird der Russe dort gehen?“, hakte Herr Falkenberg nach.
„Ein Springen der Klasse L“, antwortete Herr Langen. „Es wird gut ausgebaut sein. Das heißt, dass die Sprünge garantiert ein Meter zwanzig hoch sind.“
Luisa war beeindruckt. So hoch konnte er springen? Ob sie das mit dem Fuchs auch schaffen würde? Sie wurde immer aufgeregter. Wie sich das wohl anfühlen würde?
Ganz in Gedanken putzte sie permanent die gleiche Stelle an seinem Kopf und Neele stupste sie an. „Hallo, kratzt du mal die Hufe aus?“
Luisa riss sich zusammen. Kurz darauf war der Fuchs fertig. Tim brachte den Sattel und die Trense. „Ich werde euch den Fuchs zuerst vorreiten, damit ihr ihn unter dem Sattel ansehen könnt. Danach kannst du ihn reiten, Luisa.“
Alle marschierten zur Reithalle. Dort standen bereits ein paar Sprünge, die das Pferd später bewältigen sollte. Nach ein paar Schrittrunden zum Warmwerden fing Tim an zu traben und galoppierte den Russen.
Nach einer Weile rief Herr Langen seinem Sohn zu: „Tim, zeigst du den Falkenbergs seinen schönen Trab?“
An der langen Seite setzte Tim zum starken Trab an.
„Toll“, bestätigte Frau Falkenberg, „wie der die Beine schmeißt. Wenn er genauso gut springt, wie er sich bewegt, dann müssen wir uns wohl einig werden.“
„Was heißt das, Mama? Was heißt einig werden?“, flüsterte Neele.
„Na, vielleicht werden wir ihn kaufen“, flüsterte ihre Mutter zurück.
„Ob der uns über den Tisch hauen will?“, fragte Neele jetzt noch leiser.
Ihre Mutter lachte: „Das heißt über den Tisch ziehen. Auf mich macht die Familie Langen einen sehr ehrlichen Eindruck. Was meinst du?“
„Ich weiß nicht.“ Neele zuckte mit den Schultern.
Es war ein frischer Apriltag und durch das lange Stehen in der Reithalle froren ihnen die Füße allmählich ein.
„Ist dir kalt?“, erkundigte sich Frau Falkenberg bei ihrer Tochter.
Luisa winkte ab. „Nein“, erklärte sie unwirsch. Sie hatte nur Augen für den Fuchs und fieberte danach, ihn selbst reiten zu können. Tim Langen sprang mit ihm jetzt über ein niedriges Kreuz, einen kleinen Steilsprung und einen Oxer, also einen Hochweitsprung. Der Fuchs war willig. Er hatte Freude am Springen. Das schien sicher.
„Jetzt bist du an der Reihe, Luisa. Willst du ihn ausprobieren?“, fragte Tim freundlich.
„Mmh.“ Luisa schluckte und nickte.
Sie war kaum fähig, etwas zu sagen, so aufgeregt war sie. Ihr Gesicht glühte und bevor sie aufstieg, zog sie sich schnell die Jacke aus. Die Steigbügel wurden etwas kürzer geschnallt und schon saß sie im Sattel. Nach ein paar Schrittrunden fing sie an zu traben. Tim Langen gab ihr ein paar Tipps und nach einiger Zeit schaffte es Luisa, den Fuchs an den Zügel zu reiten. Schließlich galoppierte sie mit ihm durch die Halle.
Nach einer Weile fragte Tim: „Wie fühlst du dich auf ihm?“
„Gut“, war die knappe Antwort.
„Ich will ihn auch mal reiten“, maunzte Neele.
„Ja, später“, bremste ihre Mutter. „Wir suchen ein Pferd für Luisa. Du hast zu Hause den Topsi.“
Luisas Vater marschierte in die Mitte der Reithalle und sah seine Tochter an: „Hast du ein sicheres Gefühl auf dem Pferd? Meinst du, du kannst ein paar Sprünge mit ihm wagen?“
„Ja“, war wieder die sparsame Antwort. Luisa war hoch konzentriert. Sie wollte bloß keinen Fehler machen. Die vielen Fragen waren ihr zu viel.
„Also dann können wir loslegen“, meinte Tim. „Komm mal zu mir. Siehst du das Kreuz dort? Das reitest du von hier aus an und springst darüber. Das machst du noch einmal und dann springst du das Kreuz zweimal von der anderen Seite.“
Luisa fing an zu galoppieren.
„Nimm die Zügel kürzer“, rief Tim. „Ja, so ist es gut. Und halte deine Schenkel ruhig am Pferd. Versuche, weniger mit den Unterschenkeln zu klopfen. Ja, so ist es besser. Nicht so einfach bei ihm, nicht wahr?“
„Mmh.“ Mehr brachte Luisa nicht heraus. Doch den Fuchs störten die klopfenden Unterschenkel nicht. Er ließ sich nicht irritieren, zog an und setzte sicher und elegant über das Kreuz. Luisa wiederholte die Übung und parierte ihn durch. Sie strahlte. Endlich! Dann wurde Luisa jedoch wieder ernst. Über ein Kreuz springen, das konnte auch ihr Schimmel.
„Kann ich mit dem Fuchs auch höhere Hindernisse anreiten?“, fragte Luisa.
„Ja, natürlich, aber du sollst dich zuerst einmal in seinen Bewegungsablauf einfühlen. Jetzt reitest du über den kleinen Steilsprung und später über den Oxer. Bei dem Oxer muss sich das Pferd mehr strecken. Hier springt er nicht nur nach oben, wie bei dem Steilsprung, sondern auch weit. Anschließend werde ich die Hindernisse höher machen.“
Luisa absolvierte den kleinen Parcours reibungslos. Loch um Loch legte Tim die Stangen höher und schließlich waren sie bei einem guten Meter angelangt. Gelang es Luisa nicht, die Sprünge ganz passend anzureiten, streckte sich der Fuchs ein wenig oder legte noch einen zusätzlichen kleinen Galoppsprung ein.
„Das klappt ja fabelhaft“, kommentierte Tim den Ritt.
Wieder strahlte Luisa. Und wieder schlug ihr Herz schneller. Mit dem Fuchs ging alles so leicht. Sie fühlte sich schon so sicher auf ihm. Und er guckte so aufmerksam und immer waren die Ohren neugierig nach vorne gerichtet. Es war einfach himmlisch. Doch dann keimten plötzlich Zweifel in ihr. „Was passiert, wenn ich den Sprung einmal nicht richtig treffe? Oder ich ihn in den Sprung hineinsetze. Wird er dann überhaupt noch springen?“ Ihr Herz zog sich zusammen und sie bekam eine trockene Kehle. Sofort musste sie an Carola Park denken. Dieser Person würde sie nie wieder ein Pferd überlassen. Sie richtete sich entschlossen auf, drückte ihren Rücken durch. „Ich schaffe das, ich schaffe das!“
„Mama, ich will ihn auch mal reiten“, drängelte Neele jetzt lauter.
„Später, Neele, später“, beschwichtigte Frau Falkenberg ihre kleine Tochter.
„Mir ist aber kalt und es ist langweilig.“
„Du musst noch ein bisschen warten, Neele.“
Als hätte Herr Langen Luisas Gedanken gelesen, erklärte er: „Natürlich kann es vorkommen, dass du den Sprung nicht richtig triffst. Doch das sollte bei keinem Pferd zu häufig passieren. Deshalb musst du Reitstunden nehmen. Bei wem nimmst du Unterricht?“
„Wir haben vor ein paar Wochen einen guten Trainer gefunden, er ist jung und reitet richtig schwere Springen. Er erklärt viel und der Unterricht macht immer Spaß. Er heißt Toni. Toni Berggraf.“
„Ich glaube, ich habe von ihm schon etwas gehört“, überlegte Herr Langen.
Tim fragte: „Luisa, möchtest du noch irgendetwas ausprobieren?“
„Ach, ich glaube, ich habe ihn lange genug gequält“, lachte Luisa verlegen, beugte sich vornüber und umarmte den Fuchs.
Sofort rief Neele: „Ich will ihn reiten, ich will ihn reiten!“
„Wenn deine Eltern nichts dagegen haben, dann kannst du mit ihm eine Schrittrunde gehen“, unterstützte sie Herr Langen.
„Meinen Sie, der Fuchs ist brav genug für unsere Jüngste?“, fragte Frau Falkenberg. „Sie ist erst zehn Jahre alt.“
„Ja, der Russe ist ein sehr braves Pferd. Manchmal ist er ein bisschen zappelig. Das liegt an seiner Vollblutlinie. Brav ist er trotzdem. Und sie wissen ja, Vollblüter gehen für ihren Reiter durch dick und dünn.“
„Okay, Neele, dein Vater hebt dich auf den Fuchs“, rief Tim ihr zu.
Luisas Vater stand noch immer in der Mitte der Reithalle. Neele lief im Renngalopp zu ihm. „Langsam Neele, langsam. Erschrick mir nicht das Pferd.“ Luisa sprang von dem Fuchs herunter. Die Bügel wurden kürzer geschnallt und schon saß Neele hoch zu Ross. Luisa beäugte eifersüchtig ihre Schwester. Das passte ihr gar nicht, dass sie jetzt auch noch auf dem Fuchs saß. Zuerst ging Neele ein paar Runden im Schritt, fing dann selbstständig an zu traben und versuchte auch zu galoppieren.
„He, Neele, es war von einer Schrittrunde die Rede“, rief ihr Vater.
„Ach, er ist doch ganz lieb“, entgegnete sie freudig.
Tim, der sah, dass sich Neele auf dem Fuchs sehr wohlfühlte, fragte: „Willst du auch ein bisschen springen?“
Neele nickte und nachdem sie über ein paar auf dem Boden liegende Stangen getrabt war, überwand sie kleine Hindernisse in Form einer Acht. Sie konnte gar nicht damit aufhören. Immer wieder drehte sie die gleiche Runde und strahlte völlig unbekümmert ihre Zuschauer an.
„Jetzt hat der arme Kerl aber genug getan“, sagte Frau Falkenberg. „Reite ihn bitte trocken! Er ist ganz verschwitzt.“
Auch Vater und Sohn Langen freuten sich über die gelungenen Ritte.
„Unser Lehrmädchen hat inzwischen ein zweites Pferd fertig gemacht, das infrage kommen könnte“, wandte sich Herr Langen an Luisa. „Willst du es reiten? Dann hast du einen Vergleich.“
Luisa war verwirrt. Noch ein Pferd? Sie hatte sich bereits entschieden. Eigentlich wollte sie jetzt kein anderes Pferd mehr reiten, sondern den Fuchs absatteln und in seine Box bringen und einfach noch ein bisschen bei ihm sein.
„Dieser Braune ist aus einer Holsteiner Zucht“, erklärte Herr Langen. „Sechsjährig. Er hat mit Tim schon einige Turniererfahrungen gesammelt. Der Wallach ist ein mutiges, unerschrockenes Pferd.“
„Das hört sich gut an“, bestätigte Herr Falkenberg. „Bei dem wissen Sie, wie er sich auf dem Turnier verhält. Ich vermute, dass er teurer ist als der Fuchs.“
„Ja, das hat natürlich auch seinen Preis.“
Tim Langen ritt den Braunen vor. Luisa bemühte sich, ein wenig Interesse für ihn aufzubringen. Doch für sie waren die Würfel bereits gefallen. Sie wollte den Fuchs haben. Wie er wohl hieß? Er musste jedenfalls einen besonders hübschen Namen bekommen, weil er so unglaublich hübsch war. Nachher würde sie auf jeden Fall noch einmal zu ihm gehen und ihn streicheln.
Noch in Gedanken setzte sie sich auf das andere Pferd. Aber sofort fühlte sie sich unwohl. Er hatte einen breiten, groben Hals, sein Schritt war holprig und die Fellfarbe matt. Dieses Pferd wollte sie nicht reiten. Hilfe suchend sah sie zu ihrer Mutter, die ihr jedoch nur aufmunternd zunickte. Luisa versuchte ihr Bestes zu geben, doch sie war verkrampft.
Zunächst ging noch alles gut. Aber dann heizte sich das Tier zunehmend auf, es wurde immer schneller. Den Braunen störten die klopfenden Unterschenkel seiner Reiterin. Auch ihre Hände waren unruhig. Das Pferd war irritiert. Vater und Sohn Langen hatten alle Mühe, ihn mit ihren Stimmen zu beruhigen. Sie gaben Luisa viele Hinweise. Doch die Unruhe wuchs und das Mädchen wurde immer unsicherer.
Ängstlich beobachtete Luisas Mutter das Schauspiel von der Bande aus. „Thomas“, flüsterte sie, „müssen wir hier nicht mal eingreifen? Ich mag mir das gar nicht ansehen.“
„Ach, wartʼs ab. Die Langens kennen sich aus. Die wissen, was sie tun.“
Luisa nahm allen Mut zusammen, ritt die Sprünge an und da passierte es. Sie kam unpassend an, setzte das Pferd in einen Sprung hinein, eine Stange zerbrach und Luisa fiel herunter. Ihre Mutter hielt sich vor Schreck die Augen zu. Ihr Vater kam sofort angerannt.
„Hast du dir wehgetan? Hast du dich verletzt?“ Luisa schaute ihn benommen an, schüttelte dann aber den Kopf. Er reichte ihr die Hand und zog sie hoch. Mit wackeligen Beinen stand sie neben ihrem Vater. Derweil rannte das Pferd eine Runde nach der anderen wild in der Halle herum, machte Bocksprünge und die Zügel zerrissen.
„Ich habe doch geahnt, dass das nicht gut geht“, murmelte Frau Falkenberg.
Nach vielem guten Zureden gelang es Vater und Sohn Langen, den Braunen wieder einzufangen. Erst danach hatte auch Herr Langen Zeit, Luisa zu fragen, ob sie sich wehgetan hätte.
Sie lächelte schwach. „Ach, es geht schon, aber die zerbrochene Stange und die zerrissenen Zügel, das tut mir sehr leid. Ich glaube, ich werde nie eine gute Reiterin.“ Erneut kam die Unsicherheit in ihr hoch. Da sah man es wieder. Vielleicht wäre ihr Schimmel mit einem anderen Reiter doch ein gutes Springpferd geworden.
„Papperlapapp“, beschwichtigte Herr Langen, „der Braune ist einfach nicht das richtige Pferd für dich.“
Herr Langen war so nett. Wenn sie ihm nur glauben könnte. Sie nahm ihre Reitkappe ab und strich sich ihre braunen Locken aus dem Gesicht. Dann klopfte sie den Sand von der dunklen Reithose ab und lief geknickt zu ihrer Mutter. „Ach Mama, wenn mir das auch mit dem Fuchs passiert? Was ist dann? Muss ich dann mit dem Reiten aufhören?“
„Also Luisa, zum einen hat es eben mit dem Fuchs sehr gut geklappt. Ihn haben deine unruhigen Schenkel nicht gestört. Zum anderen kennst du beide Pferde gerade mal ein paar Minuten. Es wird eine Weile dauern, bis ihr euch zusammengerauft habt. Dabei wird es auch Tiefpunkte und Rückschläge geben. Schließlich bist du kein Profi und schon auf dem Pferderücken geboren worden.“
„Mama, was ist ein Profi?“, wollte Neele wissen.
„Das sind die Leute, die den Reitsport zu ihrem Beruf gemacht haben. Das heißt, sie verdienen ihr Geld damit.“
„Das will ich auch machen. Dann kann ich jeden Tag bei den Pferden sein und muss nicht in die doofe Schule.“ Vor lauter Freude über diese Aussicht hopste Neele im Kreis herum. „Ich werde Profi, ich werde Profi“, sang sie.
Luisa schnauzte Neele an: „Jetzt hör auf mit dieser blöden Singerei. Du bist noch viel zu klein.“
Neele streckte ihrer Schwester die Zunge heraus. „Olle Zicke!“
„Na, na ihr beiden, nun benehmt euch mal. Wir sind hier nicht zu Hause“, tadelte ihre Mutter.
Tim Langen versorgte den Braunen und brachte ihn in die Box. Zum Glück war auch er unverletzt geblieben.
Herr Falkenberg wandte sich an den Stallbesitzer: „Ich glaube, Luisa hat der russische Fuchs sehr gut gefallen. Sie ist mit ihm gut zurechtgekommen. Ich denke, das Pferd kommt in die engere Auswahl. Was glauben Sie, wie hoch er mit einem erfahrenen Reiter springen kann?“
„Schwer zu sagen.“ Herr Langen verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere. „Also“, er zögerte, „ein gut ausgebautes L oder vielleicht ein leichtes M, so etwa ein Meter zwanzig, das wird er schaffen. Ja, so schätze ich die Sache ein.“
„Gut, wir würden uns gerne den Fuchs auf dem Turnier nächste Woche ansehen. Um welche Uhrzeit ist die Prüfung?“
Herr Langen rief seinem Sohn zu: „Tim, wann ist das Springen nächstes Wochenende?“
„Es beginnt um 11.00 Uhr und findet hier in der Nähe statt, auf Gut Felsenhof.“
Herr Falkenberg sah in die Gesichter seiner Familie und besonders in das von Luisa. „Wir werden da sein, nicht wahr?“
Luisa umarmte ihn. „Ja, Papa, ja.“ Der Sturz mit dem Braunen war vergessen und ihr blasses Gesicht hatte wieder Farbe.
Schnell rannte Luisa noch einmal zu dem Goldfuchs. Er lag jetzt in seiner Box und schlief. Nachdem sie einige Minuten vor ihm gestanden hatte, hob er den Kopf. Luisa betete ihn an. „Du bist so ein süßer Kerl. Ich habe dich jetzt schon ganz lieb. Magst du mich auch?“
Der Russe spitzte die Ohren, hörte aufmerksam auf Luisas Worte. Doch dann überkam ihn die Müdigkeit und er legte seinen Kopf auf das Stroh, holte einmal tief Luft und schlief wieder ein. Die beiden Familien verabschiedeten sich voneinander. Luisa sah beim Händeschütteln fest in das freundliche Gesicht von Herrn Langen.
„Bitte verkaufen Sie das Pferd nicht an jemand anderen. Ich möchte ihn so gerne haben.“
„So, wie du mich ansiehst, könnte ich das gar nicht. Aber auch sonst bieten wir nicht einem Kunden ein Pferd an und verkaufen es drei Tage später an andere Leute. Dann käme keiner mehr zu uns.“