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Begegnung im Regen

„Ach bitte, wie heißt die Haltestelle, an der dieser mächtige Eisenbahnviadukt die Straße überquert?“ Amanda umklammert die Haltestange hinter dem Sitz des Busfahrers. Dennoch hat sie Mühe, sich in dem schwankenden Fahrzeug aufrecht zu halten. Die schmale Fahrbahn, die hier auf beiden Seiten von schroffen Felswänden gesäumt wird, ist unzählige Male geflickt worden und der Bus holpert über sich aneinanderreihende Schlaglöcher durch das enge Tal.

Der betagte Fahrer lässt sich Zeit mit der Antwort. Angestrengt versucht er, durch die verstaubte Scheibe den Blickkontakt zur hitzeflirrenden Straße zu halten. Amanda glaubt schon, er habe sie nicht verstanden.

„Die, wo oben die Burg steht?“, fragt er schließlich.

„Ja, die.“

„Wiesberg.“

„Danke.“ Amanda sucht ihren Platz auf. Im Vorbeifahren bemerkt sie einen Hobbyladen, der auch Malutensilien in seiner Auslage hat. Sie, die Malerin, ist seit einigen Tagen auf der Suche nach geeignetem Papier für ihre Landschaftsaquarelle. Hierfür verwendet sie eine besonders grobe Oberflächenstruktur. Vielleicht wird sie auf dem Rückweg hier aussteigen.

Das Ortsschild taucht am Straßenrand auf. Eine kleine Gemeinde im Tiroler Paznauntal. Amanda schaut fasziniert nach vorn. Über der Straße wölbt sich majestätisch der aus Feldsteinen gefügte Viadukt. Flankiert von der trutzigen Burg überspannt er neben der Fahrbahn auch die wild schäumende Trisanna, die sich unmittelbar danach mit der ebenso wilden Rosanna aus dem Stanzertal zur Sanna vereint. Gerade überquert ein von mehreren Elektroloks gezogener Güterzug das Monument und passiert anschließend die Burg. Amanda nimmt die Kulisse in sich auf. Auf ihrem Bild wird eine Dampflok den Zug ziehen. Der Bus hält an und entlässt sie.

Irritiert hebt sie den Blick. An dem gigantischen schneebedeckten Felsmassiv hinter dem Viadukt, das sie vor ein paar Minuten noch bewundert hat, haben sich Nebelfetzen verfangen, die den Himmel schnell in wolkiges Grau hüllen. Es beginnt zu nieseln. Amanda überlegt, was sie tun soll.

Das Vorhaben, jetzt eine Skizze von der Burg und dem Viadukt anzufertigen, muss sie aufgeben. Ratlos sieht sie sich um. Die Feuchtigkeit lässt ihre Jacke kalt am Körper kleben und fernes Grollen kündigt ein Gewitter an.

Amanda sieht sich nach einem Unterstand um, doch die wenigen Häuser sehen durchweg verlassen aus. Wahrscheinlich sind die Bewohner zur Arbeit. Unsicher blickt sie zur Burg hinauf. Das jahrhundertealte Massiv hebt sich schwarz vom violett unterlaufenen Himmel ab. Die roten Sommerblumen an den Fenstern wollen nicht zu der düsteren Atmosphäre passen.

Amanda erkennt geöffnete Fenster. Die Eigentümer müssen zuhause sein. Sie ringt mit sich, während die umliegenden Gesteinswände den rollenden Donner vielfach verstärken, wird ihr klar, dass sie hier unmöglich stehen bleiben kann. Zudem reizt sie das geheimnisvolle Gemäuer. Vielleicht erfährt sie von den Bewohnern etwas über die Burg und deren Geschichte. Für die Ausstrahlung ihres Bildes wäre das wichtig.

Amanda nimmt den Pfad, der sich in engen Kurven nach oben schlängelt. Es gießt inzwischen in Strömen, das Gewitter scheint sich unmittelbar über dem Ort zu entladen.

Trutzig erhebt sich das alte Bauwerk vor Amanda. Ein erneuter Donner prallt von den regendunklen Burgmauern ab, um sich hundertfach an den Felswänden ringsum zu brechen. Amanda rennt die letzten Schritte auf das offene Burgtor zu. Nur noch wenige Schritte, der Weg verschwindet hinter der Pforte unter dichten Baumkronen.

Ein Schild zwingt sie zum Stehenbleiben.

„Privatweg!

Durchgang und Durchfahrt bei Strafe verboten!

Achtung - scharfe Hunde.“

„Scharfe Hunde“, sinniert Amanda. Die Bewohner werden doch wohl nicht ihre Hunde auf sie hetzen, nur weil sie um einen Unterschlupf bittet! Geschickt sucht sie sich einen Weg zwischen den Pfützen.

„Ich dachte immer, die hatten schon im Mittelalter überall Pflasterstraßen!“, schimpft sie laut, während das Wasser in ihre Schuhe dringt.

Plötzlich vernimmt Amanda ein heiseres Röcheln. Ihr Blick erfasst einen dunklen Trenchcoat, flankiert von zwei wild an der Leine reißenden Dobermännern. Amanda hat keine Angst vor Hunden. Aber diese hier sind zweifellos darin geübt, ihr Revier zu verteidigen. In Amandas Nacken richtet sich jedes einzelne Haar auf.

„Was wollen Sie?“, herrscht der Mann sie an. Seine Augen verschwimmen hinter rechteckigen Brillengläsern, auf denen sich die Regentropfen sammeln. Amanda erholt sich nur langsam von dem Schreck. Noch immer atemlos zeigt sie mit der Hand nach oben. Wie um ihre Geste zu unterstreichen, verschluckt ein ohrenbetäubender Donner jedes weitere Geräusch, während ein Blitz die schwarze Silhouette der Burg gespenstisch hervortreten lässt.

„Ich ... wollte fragen, ob ich mich bei Ihnen unterstellen kann.“ Amanda muss unwillkürlich an das Märchen von der Prinzessin auf der Erbse denken. Nur hatte die wohl einen herzlicheren Empfang.

„Können Sie nicht lesen?“, wird sie angefahren.

„Doch, aber ...“

„Also. Machen Sie, dass Sie fortkommen, sonst lasse ich die Hunde los.“

Amanda erblasst. Langsam bewegt sie sich rückwärts. Was, wenn dieser Kerl tatsächlich seine Bestien auf sie hetzt? Sie versucht, in seinem Gesicht zu lesen, doch der Hut und der hochgestellte Mantelkragen verdecken seine Züge. Lediglich ein paar buschige Brauen über dem Brillenrand kann Amanda erkennen, den Rest verspiegeln die Gläser.

„Wird´s bald?“

„Ich gehe ja, aber halten Sie Ihre Hunde fest.“

Raues Lachen. Amanda rennt um ihr Leben. Mehrmals strauchelt sie auf dem steil abfallenden Geröllweg, rappelt sich jedoch immer wieder auf; ständig das Hecheln der Hunde im Ohr. Schließlich erreicht sie die Bushaltestelle unten an der Landstraße. Atemlos klammert sie sich an das Haltestellenschild. Der Bus zurück fährt erst in einer Stunde. Vergeblich sucht sie nach einer geschützten Stelle. Das Bushäuschen ist schmutzig und zugig, denn irgendwer hat die Scheiben zerschlagen und das Dach leckt. Angst und Kälte treiben Amanda weiter. Sie schlägt die Kapuze ihrer Jacke hoch und läuft los. Vielleicht schafft sie es ja bis zur nächsten Haltestelle. Autos mit erleuchteten Scheinwerfern kommen Amanda entgegen, bespritzen ihre Hosen bis über die Knie. Das Leder ihrer Mokassins ist längst durchgeweicht.

Endlich entdeckt sie auf der linken Straßenseite eine überdachte Holzbrücke. Erschöpft lässt sie sich auf die Holzplanken fallen. Sie versucht, sich in ihre Jacke zu schmiegen. Doch der Stoff trieft vor Nässe und sie kann nicht verhindern, dass ihre Zähne aufeinander schlagen.

Ratlos blickt Amanda nach oben. Feiner Niesel legt sich auf ihr Gesicht. Sie vermag nicht zu sagen, ob es der Regen ist, der über die Brüstung spritzt oder die Gischt des tobenden Gebirgsbaches unter ihr, die durch die breiten Ritzen der Holzplanken stiebt.

„Na, auch auf der Flucht vor dem Wetter?“ Ein junger Mann lässt sich direkt neben Amanda auf den Planken nieder. Er mag Anfang Zwanzig sein, wie sie selbst. Seine Jacke hat durch den Regen eine undefinierbare Farbe angenommen, scheint aber aus teurem Material zu sein, ebenso wie die dunkle Hose und die Lederschuhe.

Amanda sieht ihn überrascht an. Feine Tröpfchen sammeln sich auf seinem Gesicht, rinnen ihm über die Wangen und das Kinn am Hals hinab, wo sie im Ausschnitt seines Shirts versickern.

„Ich bin Krispin“, sagt er und reicht Amanda die Hand. Er ist braun gebrannt, schwarze Locken ringeln sich bis auf seine Schultern. Seine dunklen Augen blicken Amanda warm und herzlich an. Zaghaft nennt sie ihren Namen.

„Du siehst aus, als wollte Dir jemand ans Leder“, bemerkt Krispin.

„Wenn Du wüsstest! Ich war bei der Burg und wollte mich unterstellen. Aber ich wurde behandelt, wie eine Schwerverbrecherin.“

„Ich weiß, was Du meinst.“ Krispin legt seinen Arm um Amandas Schulter. Sie kuschelt sich an seinen warmen Körper und atmet irritiert seinen Duft ein, eine Mischung aus Rasierwasser, Leder und Mann.

„Bist Du hier groß geworden?“

„Kann man so sagen.“ Er macht eine Pause, scheint sich zu erinnern. „Sie haben nicht viel Glück gehabt, die da oben“, beginnt er, während er sanft mit dem Daumen Amandas Wange streichelt. „Sie bekamen lange keine Kinder, obwohl sie sich ein ganzes Schloss voll gewünscht hatten. Dann endlich, als sie die Hoffnung schon aufgegeben hatten, brachte die Frau einen Sohn zur Welt. Die beiden waren zu dem Zeitpunkt schon über vierzig. Natürlich waren sie überglücklich. Sie vergötterten den Jungen und es gab kaum einen Wunsch, den sie ihm nicht erfüllten. Und wie alle älteren Eltern behüteten auch sie ihr Kind mehr als andere.“ Krispin sieht ihr in die Augen, „Er hatte nicht viele Kontakte im Tal und zu Mädchen gleich gar nicht. Eines Tages, er war gerade einundzwanzig geworden, gab es ein Gewitter, so wie heute. Eine junge Touristin bat um Schutz und selbstverständlich bat man sie herein. Die von der Burg waren bekannt für ihre Gastfreundschaft und so blieb die junge Frau. Der Sohn der Herrschaften verliebte sich in dieses Mädchen. Seine Eltern jedoch hatten andere Pläne.“

„Es klingt, als wärst Du dabei gewesen.“

„Tja, irgendwie waren wir alle dabei.“ Krispin atmet tief ein. „Sicher hatten seine Eltern ihre Gründe, vielleicht hatten sie auch Erkundigungen eingezogen. Auf jeden Fall stellte sich heraus, dass das Mädchen von mehreren Polizeidienststellen gesucht wurde. Es gab einen dramatischen Abschied, als die Eltern das Mädchen fort schickten und noch eine, mindestens ebenso dramatische Szene, als der junge Burgherr den Eltern seine Meinung zu ihrem Verhalten sagte. Er ging nach dem Streit ins Tal, wo er sich in Gesellschaft einiger Jungen aus der Umgebung betrank. Dabei schloss er auch die Wette ab, dass er es schafft, auf dem Heimweg zum Schloss auf dem Brückengeländer den Viadukt zu überqueren.“

„Über 120 Meter und in 90 Metern Höhe?“

„Ja. Er hatte die Flüsse schon hinter sich, als er fehltrat und vor den Augen seiner Freunde auf die Straße stürzte. Seitdem bleibt die Burg für Fremde verschlossen.“

„Mein Gott. Die armen Leute.“

Krispin sieht Amanda in die Augen.

„Ich wusste, Du würdest es verstehen.“

Er erhebt sich und hilft ihr auf.

„Der Regen hat aufgehört.“

Amanda blickt auf die Uhr.

„Ich muss mich beeilen“, sagt sie. „Wenn ich renne, schaffe ich es rechtzeitig zur Haltestelle.“

„Ich muss da entlang“, Krispin zeigt in die andere Richtung. Er nimmt Amanda in die Arme und küsst sie sanft auf den Mund. Dann geht er.

Amanda läuft los. Unter dem Viadukt fällt ihr am Straßenrand ein unscheinbares schmiedeeisernes Kreuz auf. Sie liest die Jahreszahlen.

1975 bis 1996.

'Auf dem Kreuz stand `Krispin`, erinnert sie sich später im Bus, als ihre Sachen zu trocknen beginnen.

„Ciao, Krispin“, sagt sie leise und der alte Busfahrer nickt.

Anmerkung: Auch wenn die romantische Kulisse der Erzählung mit der im Paznauntal übereinstimmt; Personen und Inhalt sind frei erfunden.

Das beschriebene Unwetter führte im August 2005 in seinem weiteren Verlauf zu einem Hochwasser, dem unter anderem auch der beschriebene Straßenabschnitt und das Kreuz zum Opfer fielen.

Nebelbraut

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