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Schule – oder die tägliche Dosis Horror

Ich musste mein Leben lang immer kämpfen, habe immer Gegenwind bekommen. Das ist das zentrale Thema meines Lebens.

Ich wurde in einer sehr toleranten Familie groß, in der es keine typischen Rollenbilder, à la „typisch Mann, typisch Frau“ gab oder auch den Klassiker „Das tut man nicht, das gehört sich nicht, das will die Gesellschaft nicht“. Meine Eltern waren liberal in jeder Hinsicht. So tauchte auch das erste Mal erst im Kindergarten das diffuse Gefühl auf, dass ich irgendwie anders als die anderen war. Ich spielte viel in der Puppenecke, mehr als mit Autos. Ich handelte instinktiv. Und es war einfach mehr die Puppenecke, mit Schminken und allem Drum und Dran. Das wurde jetzt nicht offen thematisiert, aber ich spürte die Blicke der Erzieherinnen, die befremdet wirkten, das Getuschel. Als Kind macht man sich noch keine Gedanken darüber, denn ich hatte meinen elterlichen Hafen und wurde auch im Kindergarten nicht reglementiert. Aber dann begann die Schulzeit und gleichzeitig eine lange Zeit der Anfeindungen, Vorurteile, Diskriminierung und Polarisation.

Wenige können sich an ihre erste Klasse erinnern. Ich kann es, denn ich hatte eine äußerst ehrgeizige, junge Lehrerin, die eine perfekt gedrillte Klasse vorzeigen wollte. Das Dumme war nur, dass ich eine Konzentrationsschwäche hatte. Eine Vorstufe von ADHS. Ich war wild. Und ich konnte bis zur zweiten oder dritten Klasse nicht lesen. Das drückte den Schnitt und die Laune der Lehrerin gewaltig. Sie ließ mich extra vorlesen und machte dabei eine abwertende Handbewegung, nach dem Motto: „Das kann der ja eh nicht.“ Das machte mich so fertig, dass ich das auch in meiner Therapie, die ich mit 24 Jahren begann, aufarbeitete. Es hing mir einfach nach. Es verursachte eine Angst in mir, eine Urangst, dass ich es nicht schaffen würde, mein Leben nicht schaffen würde. Unglaublich, dass sich so jemand Pädagoge nennen darf und auf Kinder losgelassen wird. Was das mit den armen Seelen macht. Ich musste nach der ersten Klasse nicht weiter leiden, denn ich durfte die Schule wechseln und konnte endlich aufatmen. Dieses Mal hatte ich eine mitfühlende, empathische Lehrerin und eine Lehrkraft, die für mich da war und meine Bedürfnisse abfragte. Nach zwei Jahren war die Lese- und Rechtschreibschwäche bewältigt und fortan kein Thema mehr. Zum Glück. Ich will nicht wissen, wie das mit der anderen Lehrerin ausgegangen wäre.

Aber ich stellte leider schon früh fest, dass ich mehr kämpfen musste als die anderen Kinder, denen zum Teil alles zuflog. Für mich war es anstrengend, ich musste viel Kraft aufwenden. Ich konnte meine Kindheit nicht so genießen wie ein Kind mit einem normalen Lernpensum. Bei mir gab es immer noch eine Schippe drauf. Niemand zwang mich dazu. Es war gewissermaßen mein Wille, der mir diese Schippe spendierte. Mein Wille, der sagte: „Du schaffst das. Du lernst lesen. Du kannst sehr wohl mit den anderen Kindern mithalten.“ Der schlimmste Moment damals war, als zur Debatte stand, dass ich auf eine Sonderschule gehen sollte. Der Name ist ja schon Programm: Sonder-Schule. Ich wollte nichts Besonderes sein, wollte einfach sein wie die anderen auch. Meine Eltern verstanden meine Not. Sie unterstützten mich und gemeinsam bekamen wir es ja auch letztendlich hin.

Das zum Thema Lernen. Kaum hatte ich dieses Problem bewältigt, ging es an einer anderen Stelle los.

Ich zog mich schon immer gerne bunt und auffällig an. In der dritten, vierten Klasse bekam ich dann schon blöde Sprüche ab. Mindestens zweimal am Tag wurde ich angepöbelt. In NRW ticken die Uhren noch anders. Ich stamme aus Mönchengladbach, einer tranigen Kleinstadt. Transsexuelle wurden da überhaupt nicht thematisiert. Heute hat sich das Blatt gewendet, dank der besseren Vernetzung outen sich einfach mehr, beziehungsweise man bekommt es jetzt mit. Es ist nicht so, dass es urplötzlich nur noch Transsexuelle gibt. Die gab es schon immer. Es ist ein gutes Zeichen, dass sich mehr Leute trauen, darüber zu sprechen. Aber zurück zum Horror der damaligen Zeit. Das Martyrium fing für mich erst richtig in der fünften Klasse an. Ich wechselte auf eine Gesamtschule, vermied aus den schon benannten Gründen des persönlichen Ehrgeizes, auf eine Hauptschule zu gehen. Die Klasse an sich war echt cool. Es gab vier 5. Klassen. Ich glaube rückblickend, die beste erwischt zu haben. Sie war bunt, voller Künstler und die Lehrer waren echt toll. Den krassen Gegensatz dazu bildete die Parallelklasse. Sie war bevölkert von bulligen, primitiven Kerlen mit genau einem Weltbild und Scheuklappen für andere Wege. Der Krieg begann und sollte die nächsten sechs Jahre andauern. Das tägliche Programm bestand daraus, dass sie vor mir auf den Boden spuckten und „Schwuchtel“ skandierten. Ich bekam im Laufe der Zeit Todesangst. Ich fürchtete körperliche Angriffe, mied sogar das Jungenklo aus Angst dort von ihnen angegriffen zu werden.


Meine wilden Mädchen – uns konnte keiner was!

Zum Glück gab es meine Freundinnen. Ich kam bei Mädchen schon immer gut an. In der Clique, mit der ich meistens unterwegs war, waren auch einige kampferprobte Amazonen, die durchaus in der Lage waren die Primitivos der Parallelklasse auf den Topf zu setzen.

Allerdings gab es ein Stück meines täglichen Weges, den ich alleine bewältigen musste. Und zwar fuhr ich mit einer anderen Buslinie als die Mädchen, versuchte so oft wie möglich das Fahrrad zu nehmen, um dieser Falle zu entkommen. Trotzdem zeigte mir das Schicksal eine lange Nase. Ich saß vorne im Bus, also nicht bei den Coolen auf der Rückbank. Einer von besagten Coolen holte mich eines Tages nach hinten in die „Business Class“ und haute mir was auf die Glocke. Da ging etwas in mir kaputt. Es war nicht der körperliche Schmerz, es war meine Seele, die zutiefst erschüttert war. Verprügelt zu werden wegen nichts, das ist nicht nachvollziehbar. Ich heulte zwei Wochen durch. Ich suchte mir fortan noch akribischer Wege, den Brutalos auszuweichen. Warum ich die Lehrer und meine Eltern nicht einweihte? Vielleicht, weil ich es alleine schaffen wollte. Ich wollte sie nicht belasten und irgendwie wollte ich auch kein Opfer sein. Ich rappelte mich also hoch und dann knallte ich völlig durch.



Mein Look wurde zur Rebellion an die Hater und zeigte:

Ich bin hier nicht das Opfer!

Sie nannten mich Schwuchtel, gut, dann sollten sie auch Schwuchtel bekommen. Ich machte mich zurecht und sah aus wie Bill von Tokio Hotel. Schwarze Haare, bis zur Decke toupiert, schwarze Augen und geschminkt. Und nein, ich konnte damals noch nicht schminken, war mir aber egal. Ich wollte in keine Norm passen, wollte einfach rausstechen. Die Hassattacken wurden größer, aber ich konnte nicht anders. Ich gebe mich nicht auf, verbiege mich nicht für andere. Ich bin ich. Wenn ich heute diese Fotos von damals betrachte, dann denke ich: Oh mein Gott! Schrecklich! Ein bisschen stolz bin ich aber auch, denn ich habe mich gewehrt.

Ich war vierzehn und hatte meine erste Depression. Meine Eltern erkannten das nicht. Sechs Wochen schloss ich mich nur in meinem Zimmer ein. Ich fühlte mich unwohl, weinte fast nur. Eigentlich wäre es damals schon Zeit für einen Psychologen gewesen. Ich versteckte meinen Zustand vor meinen Eltern. Ich schauspielerte schon damals ganz gut. Sie stellten keine Fragen mehr. Es war schlicht und ergreifend auch nicht verbreitet, dieses Krankheitsbild. Depression war etwas, weswegen man „sich nicht anstellen sollte“. Das Glück im Unglück war, dass ich viele soziale Kontakte hatte. Meine Clique in Oberhausen, die aus bunten Menschen bestand, die geschminkt waren, künstlerisch veranlagt. Ich verbrachte die Wochenenden in Oberhausen bei ihnen, war also nie auf mich selbst zurückgeworfen. Und doch ließ ich mich immer mal für eine Woche krankschreiben. Ich hatte Bauchschmerzen, in Wirklichkeit Depressionen und absolut keine Kraft, in die Schule zu gehen. Meine Energie wurde davon aufgezehrt, täglich etwas darzustellen, ein Bild zu vermitteln und dafür Gegenwind und Ablehnung zu bekommen. Das erschöpfte mich zusehends. Jugendliche drücken sich ja auch meist noch nicht so konkret aus, belassen die Beschreibung ihres seelischen Zustandes bei ein paar oberflächlichen Äußerungen. Klar, ich hätte mich bei meinen Mädels in der Schule ausheulen können, aber ich tat es nicht.

Stattdessen wurde ich immer lauter. Ich übertönte meinen Zustand. Ich wurde gewissermaßen unerträglich in meiner Extrovertiertheit. Ich war lustig und unterhielt die Leute. Bist du laut und stark, überlebst du. So lautete die schlichte Gleichung. Ja, ich überlebte. Aber ich machte so viel Lärm, dass ich meine innere Stimme überhörte. Viele Leute wundern sich, dass ich als Kind noch nicht merkte, transgender zu sein. Ja, das ist richtig und wohl meiner extrovertierten Art geschuldet. Ich war zum Beispiel in der Theater AG. An eine Begebenheit erinnere ich mich nur zu gut und noch heute macht sie mich unglaublich stolz. Wir hatten eine Aufführung und normalerweise benahmen sich auch alle, wenn jemand auf der Bühne stand. Bei mir war das natürlich nicht der Fall. Ich stand auf der Bühne und hörte jemanden aus der hinteren Reihe in der Mensa „Schwuchtel“ schreien. Das machte mich sauer. Also griff ich kurzerhand nach meiner Wasserflasche, ging während der Aufführung von der Bühne und schüttete dem Typ das Wasser über den Kopf. Meine Lehrerin kam hinterher zu mir und sagte mir, dass sie es super gefunden habe, dass ich den Kerl in seine Schranken gewiesen hatte. Eine Teilschuld gebe ich mir auch. Ich holte mir keine Hilfe, wuppte das alles alleine.

Einen Trost im lebensfeindlichen Alltag gab es für mich dann doch noch. Und zwar prägten mich zwei Frauen ganz besonders, Sarah Connor und Jeanette Biedermann. Ich wollte schon immer so sein wie sie. Zum einen ist das eine tolle Frau. Ein Mal traf ich sie persönlich. Außerdem kommentierte sie mein Outing-Foto mit „du bist wunderschön“. Das bedeutet mir viel, weil ich mich im Alltag öfter super hässlich finde. Ich wollte schon damals unbewusst immer so aussehen wie die beiden. Dies begriff ich aber erst Jahre später. Sie gaben mir Kraft und ich konnte mich, wenn ich ihre Musik hörte oder Interviews schaute, aus meiner schlimmen Welt wegträumen. Es hört sich krass an, aber hätte ich diese Personen und ihre Musik nicht gehabt, hätte ich meinen schlimmen Alltag nicht überstanden. Deshalb bedeuten sie mir heute noch viel. Irgendwie sehe ich nach meinen Operationen auch mittlerweile wie eine Mischung der beiden aus – woran das wohl liegen mag. Zum anderen ist das Jeanette Biedermann, zu der ich mehr Kontakt hatte als zu Sarah Connor.


Ich mit meiner unbewussten Inspiration und größtem Vorbild Sarah Connor.


Sarah Connor:

Mein Kraftgeber in dieser ganzen Zeit voller Mobbing.

Zurück zu Jeanette: Ich schwänzte ab und an die Schule und fuhr zum Flughafen. Dort traf ich mich mit einer Fangruppe. Das war meine persönliche Auszeit. Wir warteten auf sie, voller Vorfreude. Jeanette Biedermann nahm sich immer eine Viertelstunde Zeit, um mit uns zu plaudern, für Fotos zu posieren. Es war immer sehr nett. Ich fuhr zu jedem Konzert. Sie ist eine Konstante in meinem Leben, begleitet mich schon seit meiner Kindheit. Wir sprachen in der Zeit am Flughafen nicht nur über Belangloses. Sie hörte zu, nahm sich Zeit. Und so kam es, dass ich auch von meinen Problemen in der Schule erzählte. Für Jeanette Biedermann waren das ein paar Minuten, für uns war es ein völliges Abschalten. Es war eine eigene Welt. Diese Treffen und die Konzerte gaben mir Kraft, den Alltag zu überleben. Ja, im übertragenen Sinn hat sie mir das Leben gerettet. Sie weiß gar nicht, wie wichtig sie für mich war.

Ich fand ein Foto aus jener Zeit wieder, da war ich Vierzehn. Meine Güte, das ist so lange her. Übrigens war in meiner ersten WG in Berlin eine Frau, die ebenfalls Jeanette-Fan war. Wie hatten uns von diversen Konzerten gekannt.

Es gab eine Phase, da hatte sich Jeanette Biedermann die Haare ganz blond gefärbt. Das war in und ich tat es ihr nach. Schon damals hat mein Unterbewusstsein offenbar schon laut gerufen, doch mein Verstand schlief noch. Rückblickend weiß ich, warum sie mich so inspirierte.


Am Fenster mit Jeanette Biedermann – ich fand immer einen Weg, sie zu treffen. Ich hatte schon immer einen starken Willen, wenn ich was wollte. Sie gab mir die Kraft, die tägliche Dosis Mobbing durchzustehen.

Ein Erlebnis im Zusammenhang mit Jeanette Biedermann möchte ich euch nicht vorenthalten. Für eines unserer Fantreffen hatte ich mir eine Zugverbindung herausgesucht, die ich unglücklicherweise auf dem Schreibtisch hatte liegen lassen. Meine Mutter fand sie und fuhr zur Haltestelle, wo ich gerade in den Bus steigen wollte, der nicht in Richtung Schule, sondern an den Bahnhof fuhr. Meine Mutter stürmte den Busbahnsteig heran und brüllte: „Du willst Schule schwänzen!“

Ich brüllte zurück: „Ja, ich weiß. Ich muss aber zu Jeanette“, und stieg ein. Der Bus fuhr ab. Ein Blick aus dem Fenster zeigte mir meine Mutter, die immer kleiner wurde – aber nichtsdestotrotz stinksauer auf mich war.

Ein weiteres Mal Schule schwänzen, diesmal jedoch mit dem Einverständnis meiner Mutter, bleibt mir sicher für immer im Gedächtnis. Das war im Jahr 2006. Ich fuhr mit meiner Freundin Jenni zur Verleihung des Echo nach Berlin.

Es war so spannend. Wir kamen morgens an der Messe an und warteten unter dem überdachten Bereich am roten Teppich, dort, wo die Promis aus den Autos steigen würden. Es war bitterkalt und anscheinend taten wir einem älteren Paar leid, denn sie schenkten uns Tickets für die Show drin. Einfach so.


Jeanette nahm sich immer etwas Zeit für uns Fans! Und fragte, wie es uns ging! Diese Treffen waren für sie nur eine kleine Geste – für mich war es damals der einzige Ausweg aus einer trostlosen Welt! Danke dafür!

Einige Stunden später, als sich die Hallen schon gut gefüllt hatten, lief Vera Int-Veen an uns vorbei. Ich kannte sie aus „Helfer mit Herz“ und rief ihr zu: „Wenn du ein Helfer mit Herz bist, bringst du uns in die After-Show Party.“ Vera lief weiter, versprach aber wiederzukommen. Natürlich würde sie das nicht. Ich verfluchte mein Schlappmaul. Doch nach fünf Minuten war Vera Int-Veen wieder da, in der Hand hielt sie zwei VIP-Tickets. Einfach so. Als ich auf dieser Party war, habe ich mich das erste Mal frei gefühlt und nicht fehl am Platz. Alle Mobbing-Attacken der letzten Jahre waren vergessen. Ich wusste, hier gehöre ich hin, und hier kriegt mich keiner mehr weg.

Vera hat mit ihrer für sie vermutlich kleinen Geste mein Leben verändert und mich befreit. Aus jahrelangem Mobbing und Unterdrückung des eigenen Ichs. Deshalb möchte ich mich unbekannterweise bei ihr bedanken.

Sie ist für mich eine Frau, die auch abseits des Rampenlichts ein Herz hat. Deshalb ist es mir heute umso wichtiger, im Alltag ein guter Mensch zu sein, weil eine kleine Geste für andere manchmal die Welt bedeuten kann.

Wir genossen die Show und noch mehr die Party im Anschluss. Was war das aufregend! Das Schicksal wollte es, dass ich 2017 erneut bei der Echo-Verleihung war, dieses Mal als geladener Gast im Rahmen der DSDS-Teilnahme. Genau 11 Jahre nachdem Vera mir die Tür zur Zukunft geöffnet hatte. Für mich bedeutete es den Anfang des Weges, den ich unbedingt weiter gehen wollte. Und noch eines stellte ich fest: Berlin war eine geile Stadt!

Zum Glück endet alles irgendwann, auch meine schreckliche Schulzeit. Eines war mir immer klar gewesen: Ich musste aus Mönchengladbach raus. Berlin sollte mein Ziel sein.

Hässliche Modetranse

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