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Jonathan Auf Null

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Laß mich Davids Glück erleben:

Gib mir einen Jonathan,

Der mir sein Herz möge geben,

Der auch, wenn nun jedermann

Mir nichts Gutes mehr will gönnen,

Sich nicht lasse von mir trennen,

Sondern fest in Wohl und Weh

Als ein Felsen bei mir steh.

Gerhardt, Paul

Episode 1

Jonathan wacht auf und blinzelt in die Sonne, die durch die großen Fenster scheint. Ein wohliges Gefühl durchströmt ihn, angestrahlt und gewärmt von den Sonnenstrahlen. Er atmet glücklich ein und aus, als er sie nebenan hört. Ihm wird bewusst, dass er im Süden an der Küste aufwacht und dass sie bei ihm ist. Das sind zwei gute Gründe, Glück zu empfinden, und der Tag ist noch jung. Stella hat die Vorhänge im Schlafzimmer etwas geöffnet, damit die Sonne ihn begrüßt, bevor sie ihn küsst. Sie mag es, wenn er sie morgens richtig wahrnimmt und ansieht. Schließlich braucht er morgens etwas mehr Zeit als sie, bis er ganz da ist. Ganz bei ihr ist. Gestern Abend sind sie zusammen ausgegangen und haben sich mit Freunden zum Lieblingsgericht in das Hafenrestaurant Pizzaiole eingefunden. Es gab Muscheln in der sagenhaften Frische, vom Koch mit Safran im Sud verfeinert und begleitet vom Roséwein der Domaine Chaussee. Danach haben sie noch einen Drink in der Strandbar von Jean-Luc eingenommen. Die Cocktails hatten verführerisch leicht geschmeckt, und doch entfalteten sie – wenn auch langsam – ihre anregende Wirkung. Die leichte Jazzmusik entspannte, sorgte für ein Gefühl von Zeitlosigkeit und fesselte so alle magisch an die Bar am Strand von Cavalaire-sur-Mer. Die Gespräche drehten sich nur beim Essen ein wenig um die Arbeit und die nunmehr seit Jahren diskutierten Finanznöte der Staaten, dann aber gingen sie humorvoll dazu über, sich in Leichtigkeit und Flirt gegenseitig zu necken, und so blieb es in der Bar. Alle waren gelöster Stimmung gewesen und genossen die gemeinsame Zeit. →→Es gibt nichts zu verbessern←←, dachte Jonathan und schaute Stella in die stählern grünblauen Augen, bevor er austrank und sie alle gemeinsam die Bar verließen.

Der Gedanke geht ihm durch den Kopf, als er jetzt wach wird, und dahinter schiebt sich der Impuls, dass es Zeit für einen guten frischen Kaffee ist. Stella ist schon in den Tag gestartet, weshalb der Duft von frischem Espresso schon durch die Räume schwebt. Sie steht in der großen offenen Küche an der Bar und genießt regungslos den Blick auf die weite Bucht. Die Küstenpromenade reiht die Palmen auf wie eine Perlenkette. Beide lieben diesen eher ruhigen Küstenteil von Südfrankreich. Die Häuser mit ihren kupferroten Dächern ragen zwischen den Palmen auf. Dann bewegt sich Stella und wendet sich mit schneller Drehung dem aufgeregten Geschehen auf dem TV-Monitor zu. Sie sieht sich normalerweise keine Nachrichten an. Diese Sendung scheint sie aber ganz in ihren Bann gezogen zu haben.

Jonathan liebt es, ihre anmutigen Bewegungen zu beobachten, und beobachtet sie durch die halb geöffnete Schlafzimmertür, setzt sich kurz entschlossen auf. Da ist etwas Neues, eine nervöse Spannung in der Luft. Irgendetwas stimmt nicht. Seine Sensitivität ist so ausgeprägt, dass Stella ihn gelegentlich neckt, er hätte geradezu weibliche Instinkte. →→Was geht da vor?←←, fragt er mit besorgtem Unterton. Sie antwortet, indem sie ihren eleganten Kimono etwas glatt streicht und ihn zu sich winkt. Als er hinter ihr steht, erfasst er auf dem Bildschirm die Unruhe der Nachrichtensprecherin. Im perfekt geplanten Outfit lässt die anmutige französische Moderatorin ihre Worte und Sätze völlig ungeplant, wie eine Naturquelle einen frischen Strom von Wasser, aus sich heraussprudeln. Sie spricht noch schneller als sonst, mal überholen ihre Gedanken scheinbar ihre Worte und umgekehrt. Im Hintergrund sind in kleinen eingeblendeten Fenstern Korrespondenten von den großen Finanzzentren der Erde zu sehen.

Der Mann des Senders CNN aus New York ist der Nächste, der zu Wort kommt. Die Grafik der Kurse braucht im Grunde keine Erläuterung. Jonathan ist schlagartig hellwach. Die Linie ist rot und fällt steil ab wie ein Pfeil, der in den Boden geschossen wird. Alle Aktien, ohne Ausnahme, sind nahezu auf null gefallen – an allen Börsen der Welt, zur selben Zeit. Alle Währungen, Rohstoffe, Edelmetalle, Aktien, Fonds, Unternehmens- wie auch die Staatsanleihen sind auf einen Schlag im Prinzip wertlos. Als direkte Konsequenz sind die Banken auf der ganzen Welt zahlungsunfähig geworden. Das System ist zusammengebrochen. Darauf ist so niemand vorbereitet gewesen. Die Welt ist ratlos und fassungslos. Jedenfalls scheint das in den Medien so zu sein. Das Geld ist tot.

Die sogenannten Finanzexperten übertreffen sich gegenseitig mit Erklärungen, die in geschliffenen Worten darlegen, wie es dazu gekommen ist: Ein bedeutender Gemeinschafts-Fonds ist durch die eingetretene Zahlungsunfähigkeit einer darin enthaltenen Staatsanleihe zusammengebrochen und wertlos eingestuft worden. Er gehört einer bekannten Großbank, in Deutschland zwar ansässig, wo man sich in der Chefetage bemüht, einen seriösen Eindruck zu vermitteln, doch wird ihre zuletzt stark dominierende Investmentsparte jedoch von London aus geleitet, und der Leiter der Investmentsparte hat im Alleingang zusammen mit dem Finanzminister Italiens ein höchst riskantes Geschäft am Markt platziert. Keiner hat davon gewusst, und niemand hätte davon erfahren, wenn am nächsten Morgen der Kurs des Yen gefallen wäre. Italiens Staatsdefizit wäre über Nacht um ein Drittel kleiner gewesen, und der Leiter der Investmentsparte hätte sich als Genie quasi gottgleich den Einzug in den Himmel der Londoner City gesichert, was ihm unvorstellbaren Reichtum eingebracht hätte. Das würde ihm ermöglichen, mit den ganz Großen der Branche richtig großes Geld zu machen, wie es im engsten Zirkel heißt. Die höchsten Kreise der Finanzwelt sprachen ab und an schon von ihm, doch mit diesem Coup hätten sie sich um ihn gerissen. Das Problem ist nun, dass der Kurs des Yen leicht gestiegen ist, statt zu fallen, denn der Sprecher der japanischen Atombehörde hat Entwarnung für das Gebiet außerhalb des Sicherheitskreises von Fukushima gemeldet. Seine gut bezahlte Quelle aus dem Ministerium in Tokio hatte ihm das anders vorhergesagt. Er ist sich seiner Sache so sicher gewesen, beflügelt von dem Wunsch, es nach ganz oben zu schaffen. Der Schock sitzt tief. Sein Coup ist geplatzt, die Verbindlichkeiten beziffern sich auf über eine Billion Euro, und das kann weder die Großbank noch der italienische Staat ausgleichen. Die Bank und Italien selbst sind über Nacht bankrottgegangen. Die französische Moderatorin erklärt den Fernsehzuschauern in anmutiger geschliffener Sprache, dass diese Bank an fast allen europäischen Staaten massiv Besitzanteile gehalten habe und dass durch die undurchschaubaren Finanzverflechtungen mit dem Niedergang der Bank und Italiens erst Europa, dann die USA und nun auch ganz Asien finanziell in den Ruin gerissen worden seien. Das alles sei innerhalb von wenigen Stunden passiert. Die echte Ursache reicht viel weiter zurück. Die Staaten der Welt sind seit den ersten Tagen der Könige und Monarchen traditionell chronisch überschuldet, verschlingen die Ausgaben der Staats- und Kriegsführung doch mehr, als zur Verfügung steht, sodass sogar die zukünftigen Steuern ausgegeben sind, bevor sie erhoben werden. Das funktioniert auch, solange dem Staat und seiner Leistungsfähigkeit vertraut wird, während allerlei Kunstgriffe der Regierungen und Banken verschleiern, wie es wirklich um die Finanzen bestellt ist. Bereits im 17. Jahrhundert wurde in Europa der erste Fonds aufgelegt, der sich aus den zukünftigen Steuereinnahmen deckte. Seit jeher ist es leider die Ausnahme statt die Regel, dass Staaten mehr einnehmen, als sie ausgeben. In unserer Zeit kommen die Undurchsichtigkeit der komplexen Finanzbeziehungen in den Märkten, die Schnelligkeit der Informationsübermittlung und die starke Rolle der handelnden Banken hinzu. Als in unseren Tagen das Land Frankreich angeblich aus Versehen von einer Bewertungsstelle in der Kreditwürdigkeit für zwei lange Stunden herabgestuft wurde, erbebte sofort die Börse. Das war zwar schnell geklärt, aber es zeigte doch die wahre Machtverteilung und Gefährlichkeit der Struktur. Es gab eine Zeit, als die Politik noch in persönlichen Runden von Staatsmännern das Vertrauen wiederherstellen und tragende Lösungen finden konnte, doch mit der Schnelllebigkeit der Finanzmärkte, die die Staatsausgaben finanzieren, wurden die Regierungen zu Getriebenen. In einer Sekunde kann heute das wertvollste Gut zerstört werden, nämlich das Vertrauen in die Partnerstaaten, das Vertrauen, dass in der Zukunft die Probleme gelöst werden. Niemand weiß, wie es weitergehen soll, denn die demokratischen Prozesse sind langatmig, während die Börsen und Bürger eine sofortige Beruhigung bräuchten. Die führenden Politiker und Theoretiker streiten sich doch schon seit Jahren ohne Ergebnis. Die namhaften Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger hatten sich zuletzt im Februar am Bodensee versammelt und wieder mit widersprüchlichen abgehobenen Theorien einen Kongress zur anhaltenden Finanzkrise beendet. →→Die Politik ist gefordert←←, endet die Moderatorin im Fernsehen. Der Sender unterbricht die Sondersendung und spielt Werbefilme ein. Ein wettergegerbtes sonnig-sympathisches Gesicht lobt vor einem idyllischen Bauernhof die Vorzüge eines Camemberts. Stella und Jonathan sehen sich an. Er hebt die Augenbrauen, und sie schließt für einen Moment lächelnd die Augen.

Jonathan nippt an seinem Espresso und schaut Stella an: →→Jetzt ist der Neubeginn möglich.←← Stella fasst Jonathans Hand. Der Atem von Jonathan geht in ihrem Rhythmus, fest und ruhig. Eine innere Ruhe, die sich sehr tief und echt anfühlt, hat die beiden erfasst. Keine Spur von Panik oder Angst. Ganz im Gegenteil zu der Moderatorin im Fernsehen, die fragt: →→Was wird jetzt passieren? Krieg und Elend, wie alle Wirtschaftsexperten fürchten, oder etwas Gutes und Besseres? Die Menschen haben unerwartet praktische Probleme zu lösen, während die Politiker in allen Ländern wahrscheinlich weiter so tun, als wären sie allein mit ihrer Partei in der Lage, der Situation Herr zu werden.←← Die Sondersendung geht weiter und schaltet nach Asien. Zwischen den Negativschlagzeilen bahnt sich eine positive Meldung ihren Weg: →→Mitten im finanziellen Weltuntergang strahlt das Königreich Bhutan glückliche Gelassenheit aus.←← Der Auslandskorrespondent aus Asien berichtet: →→In Bhutan herrscht zwar große Armut und doch mehr Glück als sonst auf der Welt. Das Glück ist als höchstes Ziel in der Verfassung verankert.←← Stella sieht sich bestätigt und lächelt Jonathan an. →→Siehst du?←← Jonathan stimmt ihr herzlich zu, doch gehen seine Gedanken in die Praxis. Er sieht sie an und meint: →→Die Menschen haben Einkäufe zu machen, Lebensmittel, Getränke, Babynahrung, brauchen Dienstleistungen. Denk an die alten Menschen, die Pflege brauchen und Medikamente! Wie sollen die und wir jetzt bezahlen?←← Stella zieht ihn dicht an sich heran und drückt ihre vollen Lippen auf seinen Mund. →→Mit Naturalien.←←

Als sie unter die Dusche geht, öffnet er sein iPad, um nach den neuesten Nachrichten zu schauen. Er sieht eine neue E-Mail und lächelt. Es ist die größte E-Mail- Aussendung, die das Internet je gesehen hat. Alle bekannten E-Mail-Adressen des Planeten sind im Verteiler erfasst worden. Es ist eine Mail, die zudem jeder weiterleitet, der sie bekommen hat. Viele Menschen bekommen sie so mehrfach. Der Inhalt der Botschaft lautet: →→Bleibt ruhig! Vertraut darauf, dass für alles gesorgt ist und alles in der Zukunft einen Sinn ergibt! Vertraut euren Nächsten! Tauscht Arbeit und Waren miteinander! Notiert euch alles, was ihr kauft und tauscht! Jeder wird einen angemessenen Wert dafür bekommen. Verkauft und kauft weiter untereinander, tut es fair miteinander! Maßvoll und überlegt! Unterschreibt euch das Versprechen, die Ware oder Arbeit sobald wie möglich angemessen auszugleichen! Die alte Demokratie ist in den Griff der Finanzwirtschaft geraten und hat versagt. Die Welt braucht jetzt dich und deine Mitarbeit. Jeder ist gefordert, bei der positiven Gestaltung der neuen Zeit mitzuwirken. Fürchte dich nicht. Es ist schwer, aber lass deinen Egoismus nicht über dein Herz siegen. Jetzt bist du mit deinen wahren Qualitäten gefragt. Denkt an das Allgemeinwohl, es ist unser Wohl und unsere Zukunft. Die Zukunft liegt jetzt in unseren Händen. Die Katastrophe hat sie den Händen der Kapitalisten und Politiker entrissen, um sie in unsere Hände zu legen. Die Vermögen und die Schulden sind gelöscht, denn das alte Geld hat keinen Wert mehr. Macht die Verbundenheit zum höchsten Wert. Wir werden ein neues System erfinden. Eine neue Währung. Wir erfinden uns neu. Die Banken haben versagt. Die Politik hat versagt. Jetzt zählt jeder Einzelne. Stellt den Egoismus zurück und haltet zusammen. Helft euch, so gut ihr könnt. In sieben Tagen präsentieren wir ein neues System. Wir werden uns selbst organisieren und neu erfinden. Ohne Banken, ohne Parteien und ohne Machtkämpfe. Vertraut auf das Gute in euch und in den anderen. Das ist der Schlüssel. Lasst es uns versuchen, und lasst es uns tun. Hört den Politikern nicht zu, ignoriert sie und ignoriert die Banken. Wandelt eure Angst in Sparsamkeit und in bewussten Konsum. Eine Woche mit Konsumverzicht wird heilsam sein. In sieben Tagen melden wir uns wieder. Gebt es weiter an alle.←←

Stella, die mittlerweile hinter ihm steht, liest das Ende der E-Mail laut vor: →→Wir haben für den Moment kein Geld mehr, das wir einsetzen können, doch unsere Liebe, unser Mitgefühl und unsere Lebenskraft werden uns weiterbringen. Ihr müsst nur daran glauben. Haltet zusammen. Bestehlt euch nicht gegenseitig. Schützt euch vor Räubern, aber vermeidet jede Gewalt, auch gegen Banker und Politiker. Alles wird sich finden. In sieben Tagen werden wir der Welt ein neues, schönes Gesicht geben.←← Jonathan schaut Stella abwartend an. Sie lächelt ihn an: →→Magst du Baguettes holen?←← Jonathan geht gespannt zu Fuß aus dem Haus.

Jonathan Auf Null

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