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4. Staat, Gesetz, Zwang im Dienste des sittlichen Lebens

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Inhaltsverzeichnis

Wenn wir nun so über diese Dinge und über die sittlichen Beschaffenheiten, wenn wir auch über die sittlichen Gemeinschaften und über die Lustgefühle in großen Umrissen zwar, aber ausreichend gehandelt haben, dürfen wir uns dabei beruhigen, daß wir nunmehr mit unserem Vorhaben ans Ende gelangt sind? Oder ist nicht vielmehr, wie man zu sagen pflegt, in den Fragen des praktischen Lebens das Ziel nicht bloß dies, daß man das einzelne zu betrachten und zu erkennen, sondern vielmehr daß man das Erkannte auch handelnd zu bewähren vermöge? Wo es sich um die sittliche Gesinnung handelt, da ist es mit dem bloßen Wissen nicht getan: man muß auch versuchen es innezuhaben und auszuüben, oder wenn es andere Wege für uns gibt um tüchtig zu werden, so muß man diese benutzen. Wären Abhandlungen ausreichend, um die Menschen zur rechten Gesinnung umzubilden, so würden sie nach dem Ausspruch des Theognis reichen und großen Lohn einbringen, und das mit vollem Recht: es wäre die dringendste Pflicht, sich mit solchen zu versehen. Aber leider, man beobachtet wohl, wie sie junge Leute von edler Anlage anzutreiben und anzufeuern und ein edles, in Wahrheit zur Freude an allem Schönen geneigtes Gemüt unwandelbar im Guten zu befestigen die Kraft besitzen, daß sie aber die Masse zu edler Gesinnung zu erheben nicht imstande sind. Denn die Masse der Menschen ist so geartet, daß sie sich nicht von zarter Scheu bestimmen läßt, sondern von der Furcht, und schlechter Handlungen sich enthält nicht weil sie schimpflich sind, sondern weil sie Strafe eintragen. Indem sie ihren Affekten nachleben, jagen sie den ihrem Geschmack zusagenden Lüsten nach und den Mitteln dieser teilhaftig zu werden, und meiden die dem gegenüberstehenden Quellen der Unlust; von dem aber was edel und in Wahrheit köstlich ist haben sie keine Ahnung, weil sie es nie gekostet haben. Welche Belehrung wäre vermögend, derartige Leute umzubilden? Es ist nicht möglich oder doch nicht leicht, was von Alters her im Charakter tief eingewurzelt ist, durch Belehrung zu beseitigen. Wir dürfen schon von Glück reden, wenn wir da wo alle Vorbedingungen gegeben sind, die für die Erzeugung der rechten Gesinnung nach allgemeiner Ansicht entscheidend sind, von der sittlichen Charakterbeschaffenheit wenigstens einen Teil gewinnen.

Sittliche Tüchtigkeit erlangt man nach der einen Ansicht durch Naturanlage, nach der anderen durch Gewöhnung, nach der dritten durch Unterweisung. Was nun die Naturanlage anbetrifft, so ist es offenbar, daß sie nicht in unserer Macht liegt, sondern daß sie durch eine Art von göttlicher Gnade den in Wahrheit Gesegneten zuteil wird. Belehrung aber und Unterweisung hat keineswegs auf alle den genügenden Einfluß; es muß vielmehr die Seele des zu Unterrichtenden schon vorher durch Gewöhnung so weit vorbereitet worden sein, daß das Gefühlsleben in Zuneigung und Abneigung edel gestimmt ist, gleichsam wie ein Acker, der bestimmt ist den aufgenommenen Samen zur Entwicklung zubringen. Denn ein Mensch, der seinen Affekten folgt, wird auf das Wort der Ermahnung nicht achten; er wird es nicht einmal verstehen. Wie soll einer imstande sein, einen solchen Menschen durch Worte anderen Sinnes zu machen? Überhaupt darf man annehmen, daß der Affekt nicht der Belehrung weicht, sondern nur dem Zwange. Es muß also schon zuvor eine Gemütsart vorhanden sein, die irgendwie der sittlichen Gesinnung verwandt ist: Liebe zum Edlen und Widerwille gegen das Gemeine.

Nun ist es schwer, von Jugend an die rechte Anleitung zur sittlichen Gesinnung zu genießen, wenn man nicht unter der Herrschaft von Gesetzen aufwächst, die eben diese Bedeutung haben. Denn die Masse empfindet keine Neigung zu einem Leben der Selbstbeherrschung und Charakterfestigkeit, und ganz besonders gilt das von der Jugend. Darum wird es erforderlich, daß die Aufzucht und daß das Studium durch Gesetze fest geordnet werde. Denn was völlig in die Gewohnheit übergegangen ist, das wird nicht mehr als beschwerlich empfunden. Aber es ist nicht ausreichend, daß die Menschen, solange sie noch jung sind, die rechte Zucht und Sorgfalt genießen; sondern da es erforderlich ist, daß sie auch noch wenn sie zu Männern geworden sind eben diese Studien und Gewöhnungen pflegen, so werden gesetzliche Anordnungen auch zu diesem Behufe und damit überhaupt für das ganze Leben nötig sein. Denn die Masse unterwirft sich eher dem Zwange als der Belehrung, eher der Strafe als dem Gebot der Ehre. Darum sind manche der Meinung, der Gesetzgeber müsse einerseits zu sittlicher Gesinnung ermahnen und antreiben durch Berufung auf den Wert des Guten selber; die durch Gewöhnung zum Rechten Vorgebildeten würden darauf hören; für die Ungehorsamen und für die von Natur niedriger Gearteten dagegen müsse er Züchtigungen und Strafen darauf setzen und die Unheilbaren gänzlich aus dem Staate beseitigen. Der rechtlich Gesinnte, der für das Edle lebt, werde der Belehrung gehorchen; der niedrig Gesinnte, der nur die Lust als Motiv kennt, werde durch den Schmerz in Zucht gehalten, wie ein Tier im Joch. Und darum, meinen sie, müssen die angedrohten Übel von der Art sein, daß sie zu den Lüsten, an denen die Menschen sich befriedigen, den schärfsten Gegensatz bilden.

Ist es nun, wie wir dargelegt haben, erforderlich, daß wer zum Guten gebildet werden soll, in edlem Sinne erzogen und gewöhnt werde, daß er dann so in löblichen Beschäftigungen weiterlebe und weder willig noch wider Willen niedere Handlungen begehe, so wird dies am ehesten dann der Fall sein, wenn man unter einer vernünftigen, mit physischer Gewalt ausgerüsteten Ordnung lebt. Dem Gebote des Vaters steht solche Gewalt und solcher Zwang nicht zur Seite, überhaupt nicht dem Gebote eines einzelnen Menschen, er müßte denn etwa ein Herrscher sein oder sonst eine ähnliche Stellung einnehmen. Das Gesetz des Staates dagegen besitzt diese zwingende Gewalt, während es zugleich einen Ausdruck der Einsicht und der Vernunft darstellt. Menschen, die sich den Begierden anderer in den Weg stellen, machen sich verhaßt, auch wenn sie recht daran tun; das Gesetz dagegen wird nicht als etwas Widerwärtiges empfunden, wenn es das Vernünftige anbefiehlt.

Nur in dem lakedämonischen Staatswesen oder doch in ganz wenigen außerdem wie es scheint hat der Gesetzgeber auf die Erziehung und die Beschäftigungen der Staatsangehörigen solche Fürsorge verwandt; in den meisten Staaten hat man sich um dergleichen ganz und gar nicht bekümmert, und jeder lebt nach seinem Belieben, indem er nach Art der Kyklopen über seine Frau und Kinder herrscht. Das Beste wäre es ja nun, wenn die Sorge dafür zur Sache der Gemeinschaft und wenn sie verständig betrieben würde; es käme nur darauf an, daß sich dies ins Werk setzen ließe. Findet solche Fürsorge durch die Gemeinschaft aber nicht statt, so müßte man doch wohl annehmen, daß es eines jeden einzelnen Pflicht wäre, für seine eigenen Kinder und für seine Freunde die Mittel der Erziehung zur sittlichen Gesinnung aufzubringen oder dies sich doch zum Zweck zu setzen. Nach dem was wir bemerkt haben sollte man indessen annehmen, daß derjenige der das Amt des Gesetzgebers übernimmt, dazu im höheren Grade imstande ist. Denn die Fürsorge der Staatsgemeinschaft drückt sich offenbar in den Gesetzen aus, und die vernünftige Fürsorge tut es in wertvollen Gesetzen.

Ob diese Gesetze geschrieben oder nicht geschrieben sind, das macht, scheint es, keinen Unterschied, auch nicht ob es einer ist oder ob es viele sind, die durch sie erzogen werden sollen, ebensowenig wie es in der Musik, in der Gymnastik und den anderen Bildungsfächern einen Unterschied macht. Denn wie im Staate Gesetz und Sitte, so übt im Hauswesen die väterliche Ermahnung und der Brauch seine Macht, ja sie leisten es in noch höherem Maße auf Grund der Blutsverwandtschaft und der empfangenen Erweise von liebevoller Gesinnung. Hier ist die Liebe und der Gehorsam durch den natürlichen Zusammenhang das selbstverständlich Vorausgegebene. Hier sind denn auch die Erziehungsmittel je nach der Individualität verschieden, ganz anders als es in der Staatsgemeinschaft der Fall ist. Es ist damit wie in der Medizin. Im allgemeinen ist für den Fieberkranken Ruhe und Enthaltung von Speisen das Zuträgliche, aber im einzelnen Fall doch wieder nicht; und der Fechtmeister schreibt doch wohl auch nicht allen gleichmäßig dieselben Übungen vor. Es ist doch wirklich so, daß man das dem Individuum Angemessene genauer trifft, wenn man dem einzelnen besonders seine Sorgfalt zuwendet, und daß der einzelne auf diese Weise besser erlangt was ihm zuträglich ist. Andererseits wird der Arzt, der Turnlehrer und jeder andere seine Anordnungen für den einzelnen richtiger treffen, wenn er die allgemeine Regel darüber kennt, was allen oder was den Menschen von bestimmter Beschaffenheit taugt; denn die Wissenschaft heißt es handelt vom Allgemeinen, und so ist es. Gleichwohl hindert natürlich nichts, daß man auch für einen einzelnen einmal die richtigen Anordnungen treffe, auch wenn man nicht im Besitze der Wissenschaft ist, vorausgesetzt nur daß man aufmerksam beobachtet hat, was erfahrungsmäßig bei dem einzelnen vorkommt, wie man ja auch wohl sieht, daß mancher als sein eigener Arzt am vorzüglichsten ist, während er einem anderen zu helfen nicht imstande wäre. Nichtsdestoweniger möchte man doch wohl annehmen, daß demjenigen der in einem Fach geschickt oder kundig werden will, zu raten sei, daß er auf das Allgemeine hinsteuere und dieses soweit als möglich zu erkennen trachte. Denn wie gesagt, um das Allgemeine dreht sich die Wissenschaft.

So wird denn auch derjenige, der die Menschen, seien es viele, seien es wenige, durch seine Veranstaltungen besser zu machen die Absicht hat, versuchen müssen, sich die Eigenschaften des Gesetzgebers anzueignen, wenn es wahr ist, daß Menschen durch Gesetze zur Tüchtigkeit angeleitet werden können. Denn einen beliebigen oder diesen gegebenen Menschen in die rechte Verfassung zu versetzen, das vermag nicht der erste beste, sondern wenn irgend jemand, nur ein Kundiger, wie es in der Medizin und überall da der Fall ist, wo es sich um kluge Veranstaltung und einsichtiges Urteil handelt.

Wäre es nun danach unsere Aufgabe zu untersuchen, auf welchem Wege und durch welche Mittel einer die Eigenschaften eines Gesetzgebers erwirbt? Etwa nach dem Gleichnis auf anderen Gebieten durch die in Staatsgeschäften Tätigen? Denn die Tätigkeit des Gesetzgebers gehört ja, wie sich gezeigt hat, ins Gebiet der Staatskunst. Oder sollte bei der Staatskunst nicht augenscheinlich das gleiche gelten wie bei den übrigen Wissenschaften und Fähigkeiten? Hier überall sieht man, wie dieselben Männer eben die Kunst auf andere übertragen, die sie selbst ausüben; so die Ärzte und die Maler. Dagegen sind es die Sophisten, die sich anheischig machen die Staatskunst zu lehren, und doch ist keiner von ihnen wirklich in den Geschäften bewandert. Bewandert darin sind nur die in den Staatsgeschäften Geübten, und diese werden augenscheinlich in ihrer Tätigkeit mehr durch angeborene Fähigkeit und durch Erfahrung geleitet als durch wissenschaftliche Reflexion. Wenigstens sieht man nicht, daß sie über dergleichen Gegenstände schreiben oder reden; und doch wäre dies ohne Zweifel eine verdienstlichere Beschäftigung, als Reden aufzuzeichnen, die vor Gericht oder in der Volksversammlung gehalten werden. Aber man merkt auch nichts davon, daß sie ihre eigenen Söhne oder sonst jemand von ihren Freunden zu bedeutenden Staatsmännern herangebildet hätten. Und doch würden sie es aller Wahrscheinlichkeit nach tun, wenn sie dazu imstande wären. Denn dem Staate könnten sie gar nichts Besseres hinterlassen, und keine andere Fähigkeit würde ihnen als persönlicher Besitz lieber oder als Besitz ihrer lieben Freunde wünschenswerter erscheinen als die, Staatsmänner ausbilden zu können. Und wirklich möchte man glauben, daß es auf die Erfahrung nicht wenig für diesen Zweck ankomme; sonst würde man nicht durch die Übung in Staatsgeschäften zum Staatsmann werden. Darum darf man der Ansicht sein, daß diejenigen, die nach Verständnis der Aufgaben der Staatskunst streben, auf die Erfahrung angewiesen sind.

Den Sophisten, die sich dazu anheischig machen, fehlt deshalb offenbar nicht weniger als alles, um zu Lehrern der Staatskunst tauglich zu sein. Sie wissen überhaupt nicht was die Eigentümlichkeit derselben ist, noch um welche Fragen sie sich dreht. Sonst würden sie sie nicht mit der Rhetorik auf gleiche Linie stellen oder gar sie ihr unterordnen, noch würden sie sich der Meinung hingeben, es sei eine leichte Sache Gesetze zu geben; man brauche ja nur die Gesetze zusammenzustellen, die sich allgemeiner Billigung erfreuen, und die besten auszuwählen. Als ob nicht gerade zu solcher Auswahl das gründlichste Verständnis erforderlich und das richtige Urteil die Hauptsache wäre! Es ist hier gerade wie im Urteil über Kunstwerke. Richtig über jede Leistung urteilt der Erfahrene, der weiß, durch welche Mittel und auf welche Weise sie vollbracht wird und wie alles einzelne zueinander stimmt. Wer keine Erfahrung hat, der muß sich schon zufrieden geben, wenn ihm nur das eine nicht entgeht, ob die Leistung im ganzen wohl oder übel hergestellt ist, wie bei einem Werke der Malerei, Die Gesetze aber stellen doch auch nur Leistungen der Staatskunst dar. Wie soll also einer auf Grund einer Sammlung derselben ein rechter Gesetzgeber werden oder beurteilen können, welche die besten sind? Wird man doch augenscheinlich auch kein geschickter Arzt bloß auf Grund von Lehrbüchern. Und doch versuchen diese letzteren wenigstens nicht nur die Kurmittel anzugeben, sondern auch zu zeigen, wie die einzelnen Patienten geheilt werden können und wie man sie kurieren muß, indem sie die besonderen leiblichen Dispositionen unterscheiden. Es ist ganz glaublich, daß dem Erfahrenen dergleichen zustatten kommen mag; aber wer keine Einsicht in die Sache hat, dem kann es nichts nützen. Das gleiche ist der Fall mit den Zusammenstellungen von Gesetzen und Staatsverfassungen. Wer imstande ist der Sache auf den Grund zu sehen und zu beurteilen, was angemessen, was das Gegenteil ist, und wie das eine zum andern paßt, den kann es wesentlich fördern. Wer aber ohne eingehende Vertrautheit mit dem Gegenstande dergleichen studiert, der kommt zu keinem richtigen Urteil, es sei denn durch puren Zufall; nur vielleicht empfänglicher für die richtige Einsicht in die betreffenden Fragen mag er dadurch werden.

Unsere Vorgänger haben die Fragen, die mit der Gesetzgebung zusammenhangen, unerledigt gelassen; es wird also wohl das beste sein, wir nehmen die Sache selber in die Hand, und damit auch überhaupt die Probleme des Staatslebens, um nach dem Maß unserer Kräfte die Wissenschaft von den menschlichen Dingen zum Abschluß zu bringen. Wir wollen zu nächst versuchen näher an das heranzutreten, was etwa ältere Denker über den Gegenstand im einzelnen Treffendes vorgebracht haben, um sodann auf Grund einer Zusammenstellung von Staatsverfassungen auszumachen, welche Ursachen das Gedeihen, welche das Verderben von Staaten im allgemeinen und von den Arten der Verfassung im besonderen bewirken und aus welchen Gründen sich das Staatsleben hier glücklich, dort unglücklich gestaltet. Wenn wir darüber ins Klare gelangt sind, werden wir besser ersehen können, sowohl welche Verfassung die beste sei, als auch wie jede einzelne geordnet sein und welche Gesetze und Bräuche in ihr herrschen müßten. Und so schicken wir uns denn an zu dieser weiteren Untersuchung.

Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst

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