Читать книгу Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst - Aristoteles - Страница 45
a) Gerechte und ungerechte Gesinnung
ОглавлениеBei der Frage nach dem Begriff der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit gilt es zu untersuchen, auf welchem Gebiete diese Handlungsweisen sich bewegen, in welchem Sinne die Gerechtigkeit eine Mitte bezeichnet, und welches die Abweichungen sind, zwischen denen das Gerechte in der Mitte liegt. Der Gang unserer Untersuchung wird derselbe sein wie in den vorhergehenden Ausführungen. Wir sehen tatsächlich, daß jedermann als Gerechtigkeit diejenige Charaktereigenschaft zu bezeichnen gesonnen ist, infolge deren man sich zur Ausübung dessen was gerecht ist eignet, im Handeln Gerechtigkeit übt und einen auf das Gerechte gerichteten Willen hat. Das Gleich gilt von der Ungerechtigkeit; durch sie geschieht es, daß man ungerecht handelt und daß der Wille auf das Ungerechte gerichtet ist. Das soll denn auch für unsere Untersuchung, zunächst als ungefähre Andeutung, die Grundlage bilden.
Es hat mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und geistigen Vermögen nicht dieselbe Bewandtnis wie mit fest gewordenen Gesinnungen. Von dem Vermögen wie von der Wissenschaft gilt der Satz, daß sie beide Glieder des Gegensatzes zugleich betreffen; das tut die befestigte Beschaffenheit nicht. Indem sie das eine Glied des Gegensatzes festhält, ist ihr das Gegenteil fremd. So bewirkt die Gesundheit nicht was ihr entgegengesetzt, sondern nur das was gesund ist. Man nennt ein Gehen gesund, wenn einer geht wie ein Gesunder. Die eine von zwei entgegengesetzten Beschaffenheiten kann wohl bisweilen vermittels ihres Gegensatzes erkannt werden; bisweilen werden die Beschaffenheiten aber auch aus dem erkannt, was ihrem Begriffe untergeordnet ist. Ist es klar, was eine gute Körperkonstitution ist, so wird daraus auch klar, was eine schlechte Körperkonstitution ist, und ebenso erkennt man die gute Körperkonstitution auch aus dem was zu ihr gehört, und umgekehrt das letztere aus jener. Wenn eine gute Konstitution Straffheit der Muskulatur bedeutet, so wird notwendig Schlaffheit der Muskulatur eine schlechte Konstitution bedeuten, und das was eine gute Konstitution bewirken soll, muß die Eigenschaft haben, die Straffheit der Muskeln zu fördern. In der Regel folgt dann auch, daß jedesmal wenn das eine Glied des Gegensatzes in mehreren Bedeutungen ausgesagt wird, ebenso auch das andere Glied mehrere Bedeutungen hat; hat z.B. »gerecht« mehrere Bedeutungen, so gilt dasselbe auch von »ungerecht« und »Ungerechtigkeit«.
Nun steht es wirklich so, daß Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit mehrere Bedeutungen hat; nur, weil die verschiedenen Bedeutungen desselben Wortes einander nahe verwandt sind, verbirgt sich die Vieldeutigkeit und liegt nicht so offen auf der Hand, wie da wo die Bedeutungen weiter voneinander entfernt sind. Ein starker Unterschied ist einer, der schon in der äußeren Gestalt hervortritt; so ist es wenn das Wort »Schlüssel« gleichmäßig gebraucht wird vom Schlüsselbein am Halsansatz der Tiere wie von dem Mittel, mit dem man eine Tür verschließt.
Nun sei es ausgemacht, in wie vielen Bedeutungen das Wort »ungerecht« gebraucht wird: als ungerecht gilt 1. wer das Gesetz verletzt, ferner 2. wer für sich begehrt was zu viel ist, und somit ein Feind der Gleichheit ist. Dann ergibt sich daraus, daß gerecht heißen wird der der das Gesetz beobachtet und der der die Gleichheit wahrt. Demnach ist das Gerechte das dem Gesetze und das der Gleichheit Entsprechende, das Ungerechte das dem Gesetze und das der Gleichheit Zuwiderlaufende. Da nun der Ungerechte für sich zu viel begehrt, so wird es sich dabei um die Güter handeln, nicht um alle, sondern um die, von denen das äußere Glück und Unglück der Menschen abhängt, um Güter also, die an und für sich immer Güter sind, wenn sie es auch nicht immer sind für die bestimmte Person. Das nun sind die Dinge, die die Menschen sich wünschen und denen sie nachjagen. So sollte es allerdings nicht sein. Man sollte wünschen, daß das was an und für sich ein Gut ist auch für uns ein Gut wäre, und in diesem Sinne anstreben was für uns ein Gut ist.
Nicht immer allerdings ist es das größere Teil, was der ungerechte Mensch für sich begehrt; sondern bei dem was an und für sich ein Übel ist, nimmt er das kleinere Teil für sich in Anspruch. Indessen, da das geringere Übel in gewissem Sinne gleichfalls als ein Gutes erscheint, das selbstsüchtige Streben aber das Gute begehrt, so stellt er sich eben darin als einer dar, der zu viel für sich beansprucht. Und so ist er ein Gegner der Gleichheit, / denn das ist der umfassendere und allgemeine Begriff, [und ein Gesetzesverächter: denn dies, sich gegen das Gesetz und gegen die Gleichheit vergehen, umfaßt alle Ungerechtigkeit und ist in aller Ungerechtigkeit das Gemeinsame].
Da nun der Ungesetzliche ein Ungerechter und der Gesetzestreue ein Gerechter war, so ergibt sich, daß alles was gesetzlich ist, in gewissem Sinne auch gerecht ist. Die von der Gesetzgebung getroffenen Bestimmungen sind gesetzliche Bestimmungen, und jede einzelne derselben nennt man gerecht. Die Gesetze geben nun ihre Bestimmungen über alle möglichen Angelegenheiten und zielen damit entweder auf das Gemeinwohl für alle oder bloß für die Aristokraten oder für die Machthaber, sei es mit Rücksicht auf ihre persönlichen Vorzüge oder sonst aus anderen derartigen Rücksichten. So nennt man denn gerecht in einem Sinne dasjenige was in der staatlichen Gemeinschaft die Glückseligkeit und ihre Bestandteile hervorbringt und erhält. Das Gesetz gebietet aber auch, das Benehmen eines tapferen Mannes innezuhalten, z.B. seinen Posten nicht zu verlassen, nicht zu fliehen, nicht die Waffen fortzuwerfen, und ebenso das Benehmen des wohlgesitteten Mannes zu wahren, wie nicht Unzucht und nicht Gewalt zu üben, oder das Benehmen des Mannes von gesetztem Charakter, wie andere nicht zu schlagen noch zu beleidigen, und das gleiche gilt in bezug auf die anderen Formen der Sittlichkeit und der Unsittlichkeit. Das eine gebietet, das andere verbietet das Gesetz, und zwar sofern es richtig verfährt in richtiger, sofern es mit weniger Verständnis abgefaßt ist, in minder angemessener Weise.
Die Gerechtigkeit nun so aufgefaßt ist vollendete Sittlichkeit überhaupt, allerdings nicht Sittlichkeit schlechthin, sondern Sittlichkeit wie sie sich in dem Verkehr mit anderen Menschen erweist. Aus diesem Grunde gilt denn auch die Gerechtigkeit manchmal für die wichtigste aller Formen des sittlichen Lebens und weder Abendstern noch Morgenstern für so bewundernswürdig wie sie. Im Sprichwort heißt es: »In der Gerechtigkeit ist jegliche Tugend enthalten.« Sie ist die am meisten vollkommene Form der Sittlichkeit, weil sie die Äußerung vollkommen sittlicher Willensrichtung ist. Vollkommen aber ist sie, weil wer sie besitzt, auch den anderen gegenüber und nicht bloß in bezug auf sich selbst seinen sittlichen Charakter zu bewähren vermag. Denn es gibt viele Menschen, die ihre sittliche Gesinnung wohl in der Behandlung ihrer persönlichen Angelegenheiten zu erweisen vermögen, dagegen es nicht vermögen in ihren Beziehungen zu anderen Menschen. Darum ist das Wort des Bias so treffend: »Gib einem ein Amt; so wird sich zeigen, was an dem Manne ist.« Denn wer ein Amt verwaltet, der tut es eben in bezug auf andere und in der menschlichen Gemeinschaft. Aus eben demselben Gründe meint man, daß die Gerechtigkeit allein unter allen Formen der Sittlichkeit ein Vorteil für andere ist, weil sie in bezug auf andere geübt wird; denn sie tut, was anderen zugute kommt, sei es dem Herrscher oder den Mitbürgern. Der Verwerflichste nun ist der, der ebenso im Verhältnis zu sich selbst wie in dem zu den Freunden unsittlich verfährt; der Beste aber ist nicht der, der eine sittliche Haltung sich selbst, sondern der sie anderen gegenüber bewahrt; denn hier liegt die Schwierigkeit der Aufgabe. Die Gerechtigkeit in diesem Sinne ist nicht ein Bestandteil der Sittlichkeit, sondern die ganze Sittlichkeit, recht tun über haupt, und die Ungerechtigkeit als ihr Gegensatz ist nicht ein Bestandteil der Unsittlichkeit, sondern die ganze Unsittlichkeit. Welcher Unterschied aber zwischen der Sittlichkeit und der Gerechtigkeit in diesem Sinne noch bestehen bleibt, das läßt sich aus dem oben Bemerkten ersehen. Sie ist mit ihr identisch, aber die Beziehung in der sie aufgefaßt wird ist nicht dieselbe. Sittlichkeit, sofern sie in bezug auf andere geübt wird, ist Gerechtigkeit; sofern sie befestigte Gesinnung mit diesem Inhalt ist, ist sie Sittlichkeit ohne weiteren Zusatz.