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EINLEITUNG

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1. Die Bedeutung der Poetik.


Es gibt kein Werk gleich geringen Umfangs, das sich auch nur entfernt mit dem Einfluss messen kann, den die aristotelische Poetik Jahrhunderte lang ausgeübt hat. Freilich werden wir heute nicht mehr, wie einst Lessing, deren Lehren für ebenso unfehlbar halten wie die Elemente des Euklid. Im Gegenteil, man wird ohne weiteres zugeben müssen, dass für die Dramatiker der Gegenwart—das Epos kommt nicht in Betracht da es ganz in dem Roman aufgegangen ist—Aristoteles als literarischer Gesetzgeber ein völlig überwundener Standpunkt ist.

Andrerseits ist es aber nicht minder wahr, dass auch heute noch niemand der Kenntnis der Poetik schadlos entraten kann, der auch nur oberflächlich sich mit den Literaturen, namentlich Italiens, Frankreichs und Englands vom 16. bis etwa zur Mitte des 18. Jahrh., beschäftigen will. Und ebenso wenig darf der Ästhetiker, der literarische Kritiker oder Literarhistoriker an diesem Büchlein achtlos vorübergehen, sollen seine rein theoretischen Darlegungen über viele in das Gebiet der Dichtkunst einschlägige Probleme nicht von vornherein einer wichtigen Grundlage entbehren. Was vollends dem klassischen Philologen die Poetik des Aristoteles ist und stets sein wird, bedarf keines weiteren Wortes.


2. Die Poetik im Altertum.


Unter diesen Umständen mag es auf den ersten Blick sehr befremden, dass sich im Altertum selbst bisher keine sicheren Spuren einer aus erster Hand geschöpften Kenntnis, geschweige denn eines Einflusses der aristotelischen Poetik haben nachweisen lassen. Dagegen spricht auch nicht eine Anzahl direkter Zitate bei späten Erklärern des Aristoteles, zumal man nicht einmal ohne weiteres annehmen darf, dass jene Stellen nicht einfach den von ihnen ausgeschriebenen, älteren Quellen entlehnt sind.

Zur Erklärung dieser bemerkenswerten Tatsache mag vielleicht folgendes dienen. Zunächst scheint unsere Poetik überhaupt zuerst von Andronikos v. Rhodos, einem Zeitgenossen Ciceros, zusammen mit anderen Werken des Aristoteles in Rom herausgegeben worden zu sein. Horaz, bzw. sein viel älterer Gewährsmann, Neoptolemos v. Parion (c. 260 v. Chr.), zeigt trotz mancher sachlichen Übereinstimmungen keine direkte Benutzung der Schrift und dasselbe gilt von einem uns nur in Bruchstücken erhaltenen, umfangreichen Werke "Über die Dichtungen", dessen Verfasser Philodemos v. Gadara zum Freundeskreise des Horaz gehörte. Sodann brachten die Griechen der römischen Kaiserzeit der Poesie überhaupt nicht das geringste Interesse entgegen. Ist uns doch aus dieser ganzen Epoche keine einzige Tragödie auch nur dem Titel nach bekannt. An die Stelle der Komödie waren der dramatische, aber literarisch wertlose Mimus und der Pantomimus getreten und die wenigen uns meist erhaltenen Epen, wie die des Oppian, Quintus Smyrnaeus, Claudian, Kolluthos, Triphiodor, ja selbst des Nonnos, stammen aus sehr später Zeit und kommen als echte Kunstwerke überhaupt nicht in Betracht, wie sie denn auch von den Lehren des Aristoteles keinen Hauch verspüren lassen. Es darf daher nicht Wunder nehmen, dass eine wissenschaftliche Technik des Dramas und des Epos, wie unsere Poetik, keinerlei Beachtung fand oder finden konnte. Diese der Dichtkunst allenthalben entgegengebrachte Gleichgültigkeit wird es wohl auch zum Teil verschuldet haben, dass zahlreiche andere literargeschichtliche Werke des Aristoteles ganz verloren gingen. So vor allem die "Didaskalien", eine vollständige Liste aller in Athen aufgeführten Dramen, der reichhaltige Dialog "Über die Dichter" in 3 B., von dem uns noch einige Bruchstücke mannigfachen Inhalts erhalten sind, und die "Pragmateia (Untersuchung der Dichtkunst", in 2 B. In dieser wird Aristoteles das, was in dem unvollständig auf uns gekommenen Kollegienheft skizzenhaft entworfen oder zwecks weiterer mündlicher Ausführung nur angedeutet war, erschöpfend, wie wir es bei ihm gewohnt sind, behandelt haben. Unsere Poetik verdankt ihre Erhaltung wohl nur dem glücklichen Umstand, dass sie als Anhängsel der Rhetorik oder der Logik, die als Schulfächer sich stets eifriger Pflege erfreuten, betrachtet und so mit diesen Schriften vereint überliefert wurde.


3. Textgeschichte.


Die nachweisbar älteste Handschrift war ein in Unzialen ohne Worttrennung oder Interpunktion geschriebener mit zahlreichen Randbemerkungen versehener und spätestens dem 5./6. Jahrh. angehöriger Kodex, dem der Schluss der Poetik aber ebenfalls bereits abhandengekommen war. Im 9. Jahrh. wurde er von einem Nestorianischen Mönch wörtlich ins Syrische übersetzt. Diese Übertragung bildete ihrerseits die Vorlage für die arabische Übersetzung des Abu Bishar Matta (990—1037), die in einer arg verstümmelten und lückenhaften Pariser Hs des 11. Jahrh. erhalten ist. Aufs dem arabischen Text beruhte die jämmerlich verkürzte, zum Teil sinnlose Paraphrase des berühmten arabischen Gelehrten Averröes (1126 bis 1198), denn die orientalischen Übersetzer standen dem Inhalt der Poetik mit der denkbar tiefsten Verständnislosigkeit gegenüber. Eine genaue Untersuchung hat aber den unwiderleglichen Beweis erbracht, dass jene alte, griechische Hs einen weit vorzüglicheren Text darbot als die älteste uns erhaltene Hs, der Parisinus 1741 aus dem 10. Jahrh. und dass die bisher fast allgemein geltende Ansicht, dieser sei der Stammvater aller späteren, übrigens sehr zahlreichen Hss, den Tatsachen nicht entspricht.


4. Die Poetik in der Neuzeit.


Es ist ein seltsames Zusammentreffen, dass gerade um die Zeit, da die Hegemonie des Philosophen Aristoteles, der die Gedankenwelt des Mittelalters beherrscht hatte, sich ihrem Ende zuneigte, seine Poetik aus langer Vergessenheit im Abendlande wieder auftauchte und er nun alsbald als literarischer Diktator, gleichsam als Ersatz für das verlorene Reich, einen erneuten Siegeslauf antrat. Die Poetik erschien zuerst in einer wörtlichen lateinischen Übersetzung des Georgius Valla (1498), die editio princeps des Originals zehn Jahre später in einer Aldina. Den ersten Kommentar lieferte F. Robortelli (Florenz l548), dem innerhalb zwei Dezennien drei weitere gelehrte und umfangreiche Kommentare folgten: Madius (Venedig 1550), P. Victorius (Florenz 1560) und Castelvetro (Wien 1570). Bis etwa zur Wende des 18. Jahrh. waren bereits mehr als 100 Ausgaben und Übersetzungen erschienen—die Poetik wurde öfter als irgendein anderes Werk griechischer Prosa herausgegeben,—doch ist im Wesentlichen, weder in der Textkritik noch in der Erklärung, ein nennenswerter Fortschritt über die genannten Leistungen zu verzeichnen. Ein solcher trat erst mit den Arbeiten zweier Engländer, Twining (1789) und Tyrwhitt (1794) ein, während Lessing etwas früher in der Hamburgischen Dramaturgie (1767/8) das Studium der Poetik in Deutschland zu neuem Leben erweckte. Die erste deutsche Übersetzung von Curtius (1755) war nämlich als solche sehr kläglich ausgefallen und die ihr beigegebenen Abhandlungen waren ganz von Dacier (1692) abhängig und in Gottschedschem Geiste geschrieben Sie hat aber insofern ein gewisses historisches Interesse, weil sowohl Goethe wie Schiller die aristotelische Schrift aus ihr kennen lernte. Eine neue Epoche sowohl für die Textkritik wie für die Erklärung begann dann erst wieder mit Vahlen, der zuerst konsequent die Rezension auf die älteste Hs, den Parisinus 1741 (Ac), aufbaute und in seinen "Beiträgen zu Aristoteles Poetik" ("Wien 1865/6), einer der hervorragendsten hermeneutischen Leistungen unserer Wissenschaft, das Verständnis der Poetik mächtig förderte. Mehr negativ von Bedeutung war sodann die glänzende Abhandlung von J. Bernays (1857) über die Katharsis da sie der Ausgangspunkt einer gewaltigen Kontroverse wurde, die bis auf den heutigen Tag noch nicht zur Ruhe gekommen ist.

Etwa gleichzeitig mit jenen vier großen italienischen Kommentatoren des 16. Jahrh. begann die literarische Kritik sich mit den Lehren der Schrift zu beschäftigen, wobei der Einfluss des Castelvetro besonders verhängnisvoll werden sollte, denn das berühmte Gesetz der "Drei Einheiten," der Handlung, der Zeit und des Ortes, von denen Aristoteles einzig und allein die erste kennt und fordert, beruht auf einem Missverständnis des Castelvetro. Sogenannte "Poetiken" sprangen vom 16. Jahrh. wie Pilze aus dein Boden. Samt und sonders nehmen sie zu den wirklichen, leider zu oft auch zu den vermeintlichen Lehren des Aristoteles Stellung und gar bald versuchten epische und dramatische Dichter, zuerst in Italien, dann in Frankreich jene Lehren praktisch zu verwerten. Unter den Kritikern und Verfassern von Lehrbüchern der Dichtkunst des 16. Jahrh. seien hier nur die einflussreichsten genannt, was aber keineswegs immer besondere Originalität oder Selbständigkeit voraussetzt: Minturno, De poeta (1559), J.C. Scaliger, Poetices libri VII (1561),[3] Sir Philip Sidney, Defense of Poesy (c. 1583, gedruckt 1595), Patrizzi, Della Poetica (1586), ein fanatischer Gegner des Aristoteles und seiner Poetik. Von Dichtern, die unter dem Einfluss des Aristoteles standen und in eigenen Abhandlungen oder auch in Einleitungen zu ihren Werken sich mit ihm auseinandersetzten, seien erwähnt: Trissino, dessen "Sophonisba" als die erste italienische Tragödie gilt (1555), Fracastoro, Naugerius sive de Poetica dialogus (1555), T. Tasso, Discorsi dell' Arte Poetica (1586), Jean de la Taille, Préface zu Saul (1572). Dieser und die früheren französischen Kritiker überhaupt wie Jodelle, der Verfasser der ersten französischen Tragödie, Cleopâtre (1552), Vauquelin de la Fresnaye, Art poetique (begonnen 1574, gedruckt 1605), Ronsard und die anderen Mitglieder der Pléiade, sie alle beschäftigten sich mehr oder weniger eingehend mit den aristotelischen Lehrsätzen, aber sie verdankten deren Kenntnis, wie es scheint, meist nicht dem Original, sondern den Arbeiten ihrer italienischen Vorgänger. Dies änderte sich erst im 17. Jahrh., als der heftige Streit um die "Regeln" in den Mittelpunkt des literarischen Interesses trat. Mairet, der die erste "regelrechte" Tragödie, "Sophonisbe", (1629) verfasste, kannte die Poetik aus erster Hand, wie er selbst in der Vorrede zu "Silvanire" (1626) bezeugt, und dies gilt natürlich auch von den Führern in der Cid-Kontroverse (1636—1640), wie Chapelain und Hedelin d'Aubignac. Corneille selbst aber scheint sie erst am Ende seiner dramatischen Laufbahn aus erster Hand kennen gelernt zu haben, obwohl er in einigen früheren Vorreden zu seinen Dramen wiederholt auf Aristoteles Bezug nimmt. In seinen drei "Discours" macht er sodann den freilich vergeblichen Versuch nachzuweisen, dass seine Tragödien den Lehren der Poetik allenthalben entsprechen.

Engländern wurde die Poetik durch die Italiener und Franzosen vermittelt, doch spielte sie bei ihnen nie eine so große Rolle, und auch diese beschränkte sich fast ausschließlich auf jene drei "Einheiten." Dass Shakespeare diese kannte, geht aus der Ansprache an die Schauspieler im Hamlet, den Prologen zu Heinrich V. und dem "Chorus" der Zeit im Wintermärchen (IV1) hervor. Da er sich sonst ihnen gegenüber noch weit gleichgültiger verhält als seine dramatischen Zeitgenossen (ein Marlow, Jonson, Greene, Beaumont und Fletcher), so möchte ich doch hier nicht unterlassen, wenigstens auf eine interessante Tatsache hinzuweisen, weil sie bisher m.W. nicht beobachtet worden ist. Die beiden letzten [4] Dramen aus seiner Feder sind das "Wintermärchen" und der "Sturm." Während nun in dem ersteren die "Einheiten" weit gröblicher verletzt werden als in irgend einem anderen Stücke, hat er diese im "Sturm" und in ihm allein so streng wie nur irgend möglich durchgeführt. Sollte er damit haben zeigen wollen, dass für den wahren Dramatiker die Einhaltung oder die Vernachlässigung der Regeln," soweit die Wirkung in Betracht kommt, gleichgültig ist? Um die Mitte des 17. Jahrh. haben dann Milton, in der Einleitung zu seiner Tragödie "Samson Agonistes" (1671), und insbesondere Dryden, namentlich in seinem "Essay über dramatische Poesie" (1668), der aristotelischen Poetik ein besonderes Interesse zugewandt, letzterer allerdings ganz unter dem Einfluss von Corneille Rapin, de Bossu und Boileau.

Die Beschäftigung mit unserer Poetik in Deutschland beginnt, wie erwähnt, mit Lessing. Goethe und durch ihn veranlasst auch Schiller (nach 1797) haben sich lebhaft mit ihr befasst. In ihrem Gedankenaustausch über die Schrift spiegelt sich die Eigenart der beiden Dichterfürsten in charakteristischer Weise wieder, doch hat man die Empfindung, dass in diesem Briefwechsel Schiller durchaus der Gebende ist. Noch wenige Jahre (1826) vor seinem Tode ist Goethe in seiner ganz kurzen "Nachlese zur Poetik" nochmals auf den Gegenstand zurückgekommen, worin er, wohl durch seine künstlerische Weltanschauung verleitet, eine ganz falsche Übersetzung des Schlusses der Tragödiendefinition gibt.

Im 19. Jahrh. ist es, von der mächtigen Wirkung der bereits erwähnten Abhandlung von Bernays abgesehen, vor allem die Ästhetik, die sich allenthalben mit unserer Poetik auseinandersetzt, so E. Müller, Vischer, Volkelt, Günther, Walter, W. Dilthey, Lippe, Bosanquet, Nietzsche, Baumgart und Carrière, um nur diese zu nennen. In den Hauptfragen wie über den Ursprung der Poesie, den Begriff des Kunstschönen, den Endzweck der Dichtung, sind manche dieser Forscher zwar zu neuen und eigenartigen aber im Großen und Ganzen keineswegs einwandfreieren oder sichereren Ergebnissen gelangt, als sie schon in den kurzen, fast ohne Begründung hingeworfenen Lehrsätzen des Aristoteles uns vorliegen.


5. Die Quellen der Poetik.


Originalität ist ein rein relativer Begriff, ja in einem gewissen Sinne gibt es eine solche überhaupt nicht, ist doch jeder Denker ein Erbe der Vergangenheit[5] und irgendwie von Vorgängern, wenn nicht direkt abhängig, so doch, und zwar oft unbewusst, beeinflusst. Andrerseits steckt nicht minder häufig in der Art, wie ein Forscher den ihm vorliegenden Stoff verarbeitet, in der Beleuchtung, in die er ihn rückt, in dem Zusammenhang in den er ihn einreiht oder, falls er sich mit ihm im Widerspruch befindet, in der Begründung seines entgegengesetzten Standpunkts ein ebenso hoher Grad von Selbständigkeit und Originalität als in dem ganz Neuen, das er im Übrigen bringen mag. So ist denn zweifellos auch die Poetik des Aristoteles nicht wie Athene in voller Rüstung aus dem Haupte des Zeus entsprungen, auch er hat, und zwar nachweisbar, eine umfangreiche Literatur über seinen Gegenstand, vor allem in den Schriften der Sophisten, schon vorgefunden und soweit zweckdienlich verwertet oder auch zu widerlegen sich veranlasst gefühlt. Gegen das Verdammungsurteil, das Platon gegen das Epos und Drama geschleudert hat, bildet die Poetik als Ganzes gleichsam einen stillschweigenden Protest, der in einer Anzahl Stellen sogar deutlich und greifbar hervortritt, obwohl er den Namen seines Lehrers niemals nennt. Dass einzelne Gedankengänge Platons über die Dichtkunst auf Aristoteles eingewirkt, seinen Theorien eine gewisse Richtung gegeben und ihn bewogen haben zu ihm seinerseits Stellung zu nehmen, ist fast selbstverständlich und allgemein anerkannt.

Wenn aber neuerdings in einem geistvollen und formvollendeten Buche,[6] das sich nicht nur an fachkundige Leser wendet, der Versuch gemacht worden ist, dem Verfasser der Poetik jede Originalität abzusprechen und sie zu einem bloßen Echo platonischer Gedanken herabzusetzen, so muss gegen diese tendenziöse Entstellung des wirklichen Tatbestandes der schärfste Einspruch erhoben werden. Die Widerlegung dieser Verirrung eines sonst trefflichen Gelehrten im Einzelnen kann hier nicht unternommen werden, ich muss mich damit bescheiden, auf einige wenige Punkte aufmerksam zu machen, die aber allein schon genügen dürften, die angewandte Beweisführung in ein grelles Licht zu setzen und den Versuch selbst ad absurdum zu führen. Angesichts seiner unten[5b] zitierten, durch nichts gemilderten Behauptungen ist die Beobachtung geradezu verblüffend, dass diese sich, soweit das Verhältnis des Aristoteles zu Platon überhaupt in Frage kommen könnte, so gut wie ausschließlich auf eine Anzahl Lehrsätze und Gedanken der ersten sechs Kapitel beschränken! Sodann ist zu bemerken, dass Platon sich zwar mehr oder minder ausführlich über Zweck, Wirkung, Charakter und Ursprung der Dichtung ausgesprochen hat, dass aber von einer Technik der Dichtkunst—und das ist doch wohl unsere Poetik—sich schlechterdings nichts findet, was dem Aristoteles als Grundlage oder Quelle der Erkenntnis hätte dienen können. Selbst die platonische Auffassung der nachahmenden Tätigkeit des Künstlers (Mimesis) weicht durch ihre Verknüpfung mit der Ideenlehre von der des Aristoteles sehr erheblich ab. Und dasselbe gilt von einer großen Anzahl gelegentlicher Äußerungen, wie über die furcht- und mitleiderregende Wirkung der Tragödie, über den Unterschied zwischen dem Drama und dem Epos, über die der Dichtung zugrundeliegenden Ursachen und über den Dithyrambus als nicht mimetische Darstellung. Und selbst bei diesen Fragen ergibt oft die Art der Betrachtung, dass Platon sie nicht zuerst aufgeworfen, sondern zu anderweitig bereits erörterten literarischen Problemen seinerseits, sei es zustimmend, sei es ablehnend, Stellung nimmt. Mit welchen Gewaltmitteln die Abhängigkeit des Aristoteles von Platon glaubhaft gemacht werden soll, dafür sei wenigstens ein besonders krasses Beispiel angeführt. Mit der dem Aristoteles eigenen analytischen Schärfe werden die Unterschiede In der nachahmenden Darstellung aller musischen Künste festgestellt, nämlich in den Mitteln, den Gegenständen und der Art und Weise (c. 1), eine Einteilung, die sich auch für die sechs Teile einer kunstgerechten Tragödie bewährt (c. 6). Diese tief durchdachte Unterscheidung soll nun nicht nur sachlich, sondern sogar im Wortlaut dem Platon entnommen sein. In der Rep. III 392c schließt nämlich Sokrates eine längere Erörterung darüber, dass in seinem Idealstaate nur Spezialisten als Lehrer Zulass haben sollten, mit folgenden Worten: "Wir sind nun, was die musische Bildung anbelangt, völlig zu Ende gekommen und haben angegeben, was ausgesprochen werden soll und wie." Inhaltlich haben, wie man sieht, diese Worte, wie auch der ganze Zusammenhang mit der aristotelischen Betrachtung auch nicht das mindeste gemein und auch abgesehen davon, fehlt noch fatalerweise das dritte Glied—die Mittel! Aber durch solche Kleinigkeiten lässt sich Finsler seine Kreise nicht stören. Aristoteles wird wiederholt beschuldigt auch die einfachsten Redewendungen, wo der Gedanke sich griechisch kaum anders hätte ausdrücken lassen, dem Platon entlehnt zu haben. So z.B. dass die Dichter Handelnde nachahmen (Rep. 10, 603°), obwohl gerade dieser Gedanke gar nicht einmal platonischen Ursprungs sein dürfte, denn Aristoteles sagt ausdrücklich, dass bei der Ableitung des Wortes "Drama", von der bei Platon nirgends die Rede ist, "einige" auf eben jene Tatsache sich berufen hätten.

Die Behauptung einer durchgängigen, fast sklavischen Abhängigkeit des Aristoteles von Platon hält demnach vor einer unbefangenen und vorurteilslosen Prüfung nicht Stand. Ein Einfluss des Lehrers auf seinen Schüler in dem oben angedeuteten Sinne soll darum keineswegs in Abrede gestellt werden, aber soweit die uns vorliegenden Lehren der Poetik in Betracht kommen, hätte ihr Verfasser keinerlei Veranlassung gehabt, einem "Pereant qui ante nos nostra dixerunt" Ausdruck zu geben.

Während uns Platons Werke vollständig zum Vergleich vorliegen, sind die sonstigen Vorgänger des Aristoteles gänzlich verschollen und selbst Schriften wie die eines Demokrites "Über die Dichtung" und "Über Rhythmen und Harmonie" oder des Sophisten Hippias "Über Musik" und "Über Rhythmen und Harmonien", die auf ähnliche Erörterungen allenfalls schließen ließen, sind für uns nur leere Titel. Dass aber eine reiche fachmännische Literatur, die, wie gesagt hauptsächlich aus sophistischen Kreisen stammte, dem Aristoteles zur Verfügung stand, beweisen allein die Frösche des Aristophanes (405), die bereits eine staunenswerte, allgemeine Kenntnis über die Technik des Dramas von Seiten des athenischen Theaterpublikums zur notwendigen Voraussetzung haben.

Glücklicherweise gibt unsere Poetik selbst uns noch wertvolle Andeutungen über frühere Schriftsteller auf diesem Gebiete, denn an nicht weniger als 12 bezw. 13 Stellen beruft sich Aristoteles ausdrücklich auf Vorgänger und zwar fünfmal mit Namennennung (Protagoras, Hippias von Thasos, Eukleides, Glaukon und Ariphrades). Bei vier von diesen handelt es sich meist um Einzelheiten in betreff des Versbaues und des Sprachgebrauchs, bei Glaukon dagegen um eine von ihm unter Zustimmung des Verfassers gegeißelte falsche Methode zahlreicher, literarischer Kritiker, die für uns zwar namenlos sind, deren Existenz aber eben durch jenen Ausfall erwiesen wird. Wichtiger für die Quellenfrage sind die übrigen Stellen, aus denen man seltsamerweise bisher nicht die Konsequenzen gezogen hat, sondern sich damit begnügte, sie als gleichsam isolierte Äußerungen zu betrachten, die Aristoteles nur erwähnt, um sie abzuweisen. Mit dem Motiv mag es seine Richtigkeit haben, entspricht es doch durchaus der antiken Zitiermethode, auf einen Vorgänger nur dann anzuspielen, und zwar meist unter dem Deckmantel des Plurals ("einige behaupten, man sagt" u.ä.), wenn man ihn bekämpfen oder widerlegen will. Sobald wir uns aber die Umgebung, in der die betreffenden Stellen[7] stehen, genauer ansehen, ergibt sich sofort dass es sich unmöglich nur um gelegentliche Urteile handelte, sondern dass diese nur in ausführlichen Untersuchungen über alle in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Fragen abgegeben sein konnten. Die Namen der Verfasser, wie die Titel ihrer Werke, sind wie gesagt, sämtlich verloren, es sei denn, dass wir in dem Bericht über die Ansprüche der Dorer auf die Erfindung der Komödie (c. 3) mit großer Wahrscheinlichkeit die Chronica des Dieuchidas von Megara, eines älteren Zeitgenossen des Aristoteles, vermuten können.

Auch in anderen Partien der Poetik werden wir literarische Vermittler voraussetzen müssen. So insbesondere über die Entwicklungsgeschichte des Dramas (c. 4). Ja, in einer Kleinigkeit den cyprischen Dialekt betreffend (c. 21, 3), dessen Kenntnis man doch nicht ohne weiteres dem Aristoteles wird zutrauen wollen, dürfte vielleicht der einmal als Verfasser cyprischer Glossen zitierte Glaukon aus bisher unbestimmter Zeit sein Gewährsmann gewesen sein, falls nicht etwa eine Reminiszenz aus Herodot (5, 9) vorliegt. Ein ähnliches, kretisches Glossarium wird auch wohl die Quelle für c. 25, 10 gewesen sein. Und so mag Aristoteles noch mehr Einzelheiten, auch der Theorie und Technik der Dichtkunst, seinen Vorgängern verdanken als wir jetzt nachweisen oder vermuten können.

Aber so mannigfach auch immer diese Anregungen gewesen sein mögen und so viel positives Wissen Aristoteles von früheren Forschern übernommen haben mag, so trägt dennoch selbst unser unvollständiges Kollegienheft allenthalben den echten Stempel seines Geistes unverkennbar an der Stirn. Es enthält aber überdies so zahlreiche geistreiche Gedanken und Lehrsätze von ewiger Gültigkeit, dass wir die Poetik auch fernerhin als ein Meisterwerk auf diesem Gebiete und als ein köstliches Vermächtnis eines der größten Geistesheroen der Menschheit werden einschätzen dürfen.

Über die Dichtkunst beim Aristoteles

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