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Teufelsmoor
ОглавлениеNicht weit im Landesinnern, aber dennoch weit genug entfernt, vor dem blanken Hans geschützt, inmitten des Teufelsmoors lag Karlshöfen, ein kleines Dorf mit Kirche, Dorfplatz und wenigen Hütten und Häusern, umgeben von Feldern, Auen, feuchten Wiesen und eben dem Hochmoor, dem Teufelsmoor.
Zwar war Karlshöfen klein, aber dennoch gab es einen recht großen und ansehnlichen Hof mit Stallungen, Gesindehaus und einer großen Loodiele. Es war das Gehöft des wohlhabenden Bauern Fiete. Er war außerdem Händler, hatte eine große Anzahl Schafe, Schweine und Pferde, und zu seinem Gut gehörten ebenso mehrere Morgen Ackerland und Morgen des Teufelsmoors, wo er Torf stechen ließ.
Durch regen Handel mit Torf, Wolle und Getreide hatte er es zu einem sehr wohlhabenden Bauern und angesehenen Herrn gebracht. Bis weit ins Landesinnere und im Osten sogar bis Bouchstadhude hatte sein Wort großes Gewicht. Auch in der freien Reichsstadt Bremen oder sogar der Hammaburg war er ein angesehener Händler. Selten belieferte er sogar die Koggen der Kaufleute in Hammaburg, die die Waren wiederum weiter bis ins ferne russische Land verschiff-ten. Der alte Fiete war so angesehen und wohlhabend, dass er sicher bald auch in die Handelsgilde von Bremen aufgenommen werden würde. An Reichtum hatte er es jedenfalls schon sehr weit gebracht. Viele der anderen Händler rieten ihm, doch standesgemäß das kleine Dorf Karlshöfen zu verlassen und sich in einem der größeren Orte, wenn nicht sogar in der Stadt niederzulassen. Doch davon wollte der „alte Fiete“, wie er genannt wurde, nichts wissen. „Wie soll ich so weit ab noch den Hof und die Torfstecher kontrollieren?“, sagte er dann. Die Kontrolle hielt er stets für das Wichtigste. Er traute weder seinen leibeigenen Knechten noch sonst jemandem über den Weg. „Ohne Kontrolle betrügt einen die Welt.“ So war sein Leitspruch.
Niemand wusste mehr genau, warum er denn „der alte Fiete“ hieß. Alt war er beileibe noch nicht. Er war im besten Alter. Aber es war sein Ansehen und sein Wort, die zählten. Und das Wort von Jungen zählte bekanntlich nicht so viel wie von Alten.
Den Grundstein seines Wohlstands bildeten die Ackersleute und Mittellosen, die für eine Mahlzeit und auch ein paar Pfennige in den Torfgruben und in der Erntezeit auf dem Feld arbeiteten. Die Arbeit war hart und gerade in den Torfgruben nicht ungefährlich. Auch auf dem Feld erlaubte der alte Fiete keine Faulenzerei und langsame Arbeit. Aber solange sie bei ihm arbeiteten, hatten viele wenigstens einen Kanten Brot und ab und zu auch ein Stück Speck. Man konnte kein Fett auf die Rippen bekommen, aber es reichte aus, um den größten Hunger zu stillen. Auch gegen eine sehr kleine Bezahlung hatte niemand in dieser Gegend etwas einzuwenden.
Spendabel war er dennoch nicht. Kein Pfennig geschweige denn Taler wurde wahllos „verprasst“, wie er immer zu sagen pflegte. Wenn es allerdings seinem Ansehen nutzen konnte, spendete er auch gerne mal der Kirche. Den Bettlern und Landstreichern aber gab er keine Almosen. Sie konnten ihm nicht nutzen. Und wenn hinten im Garten das Obst an den Bäumen hing, so lugte er des Öfteren um das Haus oder aus der Pforte, dass auch ja kein Spitzbube sich über die Mauer und in den Garten stahl, um sich einen Apfel zu pflücken. Kein Knabe jedoch wagte sich über die Mauer.
Fehltritte oder gar ein freches Wort bestrafte er schnell und hart. Seine Knute war immer bereit.
Er hatte auch Gesinde, das schon viele Jahre für ihn arbeitete. Sie lebten in dem Gesindehaus bei den Stallungen.
Da war die Magd Ute. Sie hatte seiner Frau Isolde im Haushalt geholfen, bis diese an der Schwindsucht verstarb. Seitdem hielt sie Haus und Küche in Ordnung und war die gute Seele unter dem Dach. Sie holte auf dem Markt die Waren für den täglichen Gebrauch ein, wenn der alte Fiete sie nicht selbst produzierte. Sie war überaus fleißig, stets freundlich und eine fromme Kirchgängerin.
Und dann waren da drei Knechte. Peer und Sven waren schon über zwanzig, halfen bei der Ernte, im Hof und begleiteten den alten Fiete, wenn dieser wieder auf Handelsfahrt ging. Armin, der jüngste Knecht, musste alle Arbeit tun, die im Hof anfiel. Auch er half bei der Ernte, musste aber auch die Arbeiten verrichten, die die anderen Knechte nicht tun wollten.
Im Gegensatz zu den Ackersleuten arbeitete das Gesinde nicht in den Torfgruben. Der alte Fiete wollte es nicht zu Tode schinden, denn er brauchte Knechte, die länger auf dem Hof dienten als nur eine Saison.
Armin half, so viel er konnte. Manchmal begleitete er Ute auf den Markt in Beversate und half beim Tragen der Waren. Die Bewohner des Dorfes konnten ihn nicht recht leiden, denn er war nicht aus der Gegend, das wussten sie.
Martin war der Sohn des alten Fiete, etwas jünger als Armin und trieb auch gerne seine Streiche mit ihm. Eigentlich hatte Armin ihm nichts zu Leide getan, aber da der alte Fiete Armin auf dem Kieker hatte, tat er es seinem Vater nach.
Einmal hatte Armin ihm nach einer Boshaftigkeit eine Ohrfeige verpasst. Daraufhin hatte der alte Fiete ihn mit der Knute traktiert und ihn für drei Nächte zu den Schweinen in den Stall verbannt.
Woher er selbst stammte, das wusste Armin nicht. Er konnte sich nur an den Hof des alten Fiete erinnern. Dass er nicht aus Karlshöfen stammte, das wusste er. Seine Eltern hatte er nie kennen gelernt. Man hatte ihm gesagt, sie wären tot.
Wenn er sich von den schweren Gedanken erleichtern wollte, dann ging er hinaus in Feld und Flur, meist mit den Schafen auf den Weiden. Dann schnitzte er an seiner Hirtenflöte und versuchte, die Welt um sich zu vergessen.
Wieder einmal war Armin auf den Feldern und der alte Fiete konnte ihn nicht finden und rief nach ihm. Er konnte es nicht leiden, wenn er sah, dass Armin seinen eigenen Ge-danken nachhing und nicht arbeitete.
„Wo ist nur wieder dieser Armin? Immer, wenn man ihn braucht, ist er nicht zur Hand. Zum Kuckuck, wo steckt der Bengel nur? Er sollte längst da sein! Armin!“, rief der alte Fiete mit seiner lauten Stimme.
Er ging vom Schweinestall ins Haus und in die Küche.
„Steckt hier dieser Bengel?“, fragte er Ute, die sich am Gemüse zu schaffen machte. Doch ehe sie antworten konnte, öffnete sich die Hintertür und Armin kam mit zerzausten blonden Haaren in die Küche. Er hatte gerade die Schafe zurück auf den Hof getrieben.
„Da ist er ja.“
Fiete packte Armin am Schlafittchen. „Ein Tunichtgut bist du. Wenn man dich braucht, dann treibst du dich in der Gegend herum. Wozu gebe ich dir Obdach und eine Mahlzeit am Tag? Das musst du dir verdienen!“ Abschätzig sah er auf ihn herab. „Ich hätte damals auf den alten Radegast hören sollen.“
Armin wollte etwas entgegnen, doch der alte Fiete unterbrach ihn.
„Schweig still. Und jetzt geh Ute zur Hand und fege die Küche. Und wenn du fertig bist, dann kommst du in den Stall und putzt den Ferch.“
Damit ließ er ihn los, trat aus der Hintertür und warf sie hinter sich zu. Armin stand ein wenig unschlüssig in der Küche, griff schließlich den Besen in der Ecke und begann zu fegen.
„Was meint er damit, er hätte auf Radegast hören sollen, Ute?“
Ute saß auf einem Schemel unweit der Herdstelle.
„Als du damals zu uns kamst, warst du noch sehr klein. Keinen halben Lenz alt. Der Bruder Jakobus, der dich damals bei sich hatte, pochte eines Morgens an der Tür. Er bat den alten Fiete, sich um dich zu kümmern und dir ein Obdach zu geben.“
„Wieso war ich denn bei einem Mönch?“
„Er hatte dich aufgelesen weit im Osten bei den Slawen.“
„Komisch“, Armin hielt im Fegen inne, „daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Hatte er gesagt, wie er mich fand?“
„Ich weiß es nicht mehr genau, aber er sagte etwas davon, dass du in der Nähe einer brennenden Hütte lagst und bitterlich weintest.“
„Und meine Eltern?“
„Das weiß ich nicht mehr. Vielleicht weiß der alte Fiete mehr? Jedenfalls war da der Radegast. Du weißt schon, der alte Knauserer, der vor vielen Jahren von den Reitern zu Tode getrampelt wurde. Und dieser Radegast sagte zum Fiete, er solle sich nicht unglücklich machen und dich weggeben.“
Armin hielt in seiner Arbeit inne und dachte eine Weile nach.
„Jetzt feg‘ schon weiter. Die Küche sieht grauslich aus. Los, mach weiter. Sonst gibt’s was hinter die Ohren“, sagte Ute zwar streng, aber mit einem Zwinkern in den Augen.
Als Armin ausgekehrt hatte, trat er mit dem Unrat aus der Tür in den matschigen Hof. Es regnete.
Im Schweinestall war bereits ein Wanderknecht zugange. Fiete stand daneben.
„Das hat aber gedauert. Hast du etwa wieder mit Ute geschwatzt? Du sollst arbeiten und nicht schwatzen wie ein altes Weib. So“, er packte Armin am Arm. „Dort, der Schweineferch. Den machst du jetzt sauber. Und wage gar nicht auch nur einen Krumen Dreck zurückzulassen.“
Er stiefelte mit dem Knecht hinaus und ließ Armin mit den Schweinen und dem Ferch alleine zurück.
Am Abend saß Armin mit Ute und den Knechten Peer und Sven im Gesindehaus beim Abendbrot.
„Morgen sollen die Schafe wieder auf die Weide“, sagte Sven. „Du wirst mit ihnen hinausgehen, Armin. Nimm dir deinen Umhang mit und einen Stecken. Du bleibst über Nacht draußen. Ich bringe dir am Abend einen Kanten Brot und etwas zu trinken. Übermorgen Abend kommst du wieder.“
„Wo soll ich denn die Schafe hüten?“
„Auf der Wiese am Moor. Nicht weit von den Torfgruben. Du weißt schon. Und pass gut auf. Lass sie nicht zu weit ins Moor, sonst holt sie die Moorhexe. Und lass dich nicht wieder von Bellyn umrennen.“
Peer und Sven grinsten.
Es war keine besondere Arbeit. Armin hatte schon oft die Nacht auf der Weide verbracht. Hoffentlich regnete es nicht. Der April schien diesmal wärmer und trockener zu sein. Eine Moorhexe hatte er noch nicht gesehen. Vielleicht war es nur eine Mär, aber genau wissen konnte es niemand. Schon häufig waren Knechte, Bürger, Frauen und Kinder im Teufelsmoor verschwunden. Und niemand hatte sie je wiedergesehen.
„Ihr sollt nicht über die Moorhexe spotten.“ Ute hatte das Wort ergriffen. Sie stand mit ernster Miene vor dem Ofen und hatte sich zu den Knechten umgedreht.
„Ach Ute, verschone uns mit dieser Mär“, entgegnete Sven.
„Es ist keine Mär. In diesem Moor geschehen Dinge, die niemand erklären kann.“
„Wovon sprichst du?“, fragte Peer.
„Kennt ihr die alte Magdalena nicht?“
„Die alte Magd, die manchmal sonntags um Almosen bettelt? Aber was hat die mit der Moorhexe zu tun?“
Ute setzte sich an den Tisch. „Sie ist noch lange nicht so alt, wie sie scheint. Aber es ist der Gram, der ihr keine Ruhe lässt. Sie hatte einst eine Tochter, die Gretel. Es war ein hübsches Mädchen. Alle mochten es. Sie war stets zu allen gut und höflich. Zu Hause ging sie der Mutter zur Hand.
Eines Tages sollte sie wieder die Gänse hüten. Unten an der Wiese beim Moor…Man hat sie nie wieder gesehen. Als es dunkel ward, zogen die Knechte und Bauern aus um sie zu suchen. Sie fanden nur die Gänse. Sie hockten dicht beisammen unter einer Birke. Von Gretel fehlte jede Spur. Auch ihre Lieblingsgans Adelheid fehlte. Am nächsten Tag suchte man erneut und fand ihre Fußspuren im Morast. Sie führten direkt ins Moor.“
„Und wer sagt dir, dass es die Moorhexe war?“
„Es heißt, dass Magdalena immer und immer wieder zum Moor ging, um Gretel zu suchen. Und eines Nachts erschien ihr Gretel am Rande des Moores als Geist. Es war die arme Seele des lieben Mädchens. Der Geist erzählte, dass die Moorhexe sie geholt habe.“
„So kommt die Moorhexe aus dem Moor und holt sich die Menschen?“, wollte Sven wissen.
„Nein. Sie schickt ihre Irrlichter aus. Sie führen die verlorenen Seelen und Verirrten tiefer und tiefer ins Moor. Ein jeder glaubt, den richtigen Weg zu finden und wird ins Verderben geführt. Und wenn die Lichter sie in den Morast geführt haben, dann zieht die Moorhexe ihre Opfer in die Tiefe. Niemand kann ihr entkommen.“
„Genug mit deiner Mär, Ute. Lasst uns schlafen gehen. Morgen wird wieder ein schwerer Tag“, sagte Peer bestimmt.
Am nächsten Tag zog Armin mit den Schafen ins Moor. Er dachte eine Weile an die Moorhexe und das Mädchen. Ob es nur eine Mär war, wie Peer sagte, oder ob wirklich eine Hexe im Moor wohnte, war ihm nicht klar. Doch die alte Magdalena, die kannte er, auch wenn er noch nie mit ihr gesprochen hatte.
Die Sonne wärmte das Land, der letzte Nebel verzog sich und die Tiere trotteten brav dahin. Sie kannten den Weg so gut wie Armin und so dauerte es nicht lange, bis sie das weite Feld mit dem Heidekraut erreichten. Armin ließ die Tiere gewähren. Dann und wann zählte er sie und trieb das eine oder andere Schaf wieder zum Rest, wenn es sich zu weit dem sumpfigen Morast näherte. Das Wetter war schön und er biss in den Apfel, den Ute ihm vor seinem Aufbruch aus der Apfelmiete zugesteckt hatte. Er schnitzte an seiner Schäferflöte weiter, was viel Sorgfalt und Mühe erforderte. Schon zweimal war ihm das Stück Holz zerbrochen. Aber diesmal schien es ein besseres Holz zu sein.
Gegen Abend zogen ein paar Wolken auf und es frischte auf.
Wo bloß Sven blieb, dachte Armin. Er hatte Hunger. Hoffentlich hatte er ihn nicht vergessen.
Doch da sah er auch schon eine Gestalt die Wiese daher schlendern. Endlich, dachte Armin und ging ihr ein paar Schritte entgegen. Aber er erkannte schnell, dass es nicht Sven, sondern Martin war. Armin stutzte. Was mochte der Bursche nur wollen?
„Oh, hallo Armin. Da bist du ja endlich. Hast Dich ja weit hinaus getraut“, sagte Martin mit spitzfindigen Unterton.
„Hier am Moor ist das Gras satter. Was willst du denn hier?“
„Ich wollte nur nach dem Rechten gucken.“
Armin schaute an Martin vorbei in die Richtung, aus der Sven kommen musste.
„Nach wem schaust du denn?“
„Ich schaue nach Sven, er wollte mir das Essen bringen.“
„Sven wird nicht kommen“, sagte Martin herablassend.
„Wieso?“
„Er musste meinem Vater und Peer beim Karren helfen.“
„Aber er wollte mir doch zu essen bringen.“
„Bist du etwa hungrig? Siehst gar nicht so mager aus.“
Armin beachtete ihn nicht. Er wollte keinen Streit. Als Leibeigener würde er gegenüber Martin sowieso das Nachsehen haben.
„Ich habe Sven gesagt, er könne mir die Zehrung geben und ich würde zu dir hinauskommen.“
Armin war überrascht. So viel Freundlichkeit kannte er von Martin nicht.
„Leider war der Weg so lang. Ich glaube, es ist fast nichts übriggeblieben.“ Er zog einen angebissenen kleinen Kanten hervor und steckte den Rest auch noch in den Mund.
„Ich konnte ja nicht wissen, dass du so weit im Morast bist“, sagte er mit vollem Mund. „War sowieso nicht so viel. Und du hast ja noch den Wasserschlauch.“ Er warf ihn Armin vor die Füße.
Armin schäumte vor Wut und ballte beide Fäuste. Was sollte er nun essen?
„Willst du mich schon wieder schlagen, Armin“, fragte er mit Blick auf die Fäuste. „Hat dir die Tracht Prügel neulich nicht gereicht?“
Er sah Armin herausfordernd an. Der zwang sich aber zur Ruhe.
„Verschwinde, Martin. Lass mich in Ruhe.“
„Mach ich doch. Oder nicht?“
Er ging auf ihn zu und sah Armin tief in seine blauen Augen. Plötzlich machte er eine ruckartige Bewegung und schubste Armin in eine Pfütze.
Armin konnte sich nun nicht mehr im Zaum halten. Er sprang auf und schlug Martin mit dem Stock in die Seite. Doch Martin entging dem Hieb und schlug Armin den Stock aus der Hand, und schon rollten sich beide über den Boden.
Irgendwann riss sich Martin los. Er griff nach dem Wasserschlauch und brachte vollkommen außer Atem etwas Abstand zwischen sich und Armin.
„Ich glaube nicht, dass du dir das Wasser jetzt auch noch verdient hast.“
Er trank einen Schluck während Armin auf ihn zukam.
„Gib mir das Wasser und verschwinde.“
„Du musst dir das Wasser schon holen.“
Und je näher Armin kam, desto weiter wich Martin zurück.
„Pass auf, hinter dir!“, rief Armin. Martin war gefährlich nah an einen Pfuhl geraten, der nicht nur nach einer Pfütze aussah.
„Pah, was soll das denn werden? Glaubst du, du könntest mich täuschen?“
Doch da stolperte Martin und fiel in den Pfuhl.
Wütend sprang er auf und stand bis zu den Knien im Morast. Er fluchte und wollte wieder auf die Grassode zurück, bekam aber seine Füße nicht aus dem sumpfigen Untergrund. Das Moor hatte ihn gefangen und hielt ihn fest. Langsam begann er einzusinken.
Panisch ruderte er mit den Armen. „Armin, schnell! Hilf mir!“
Einen kurzen Augenblick zögerte Armin, doch dann versuchte er, Martins Arm zu erlangen. Vergebens. Der Junge sank tiefer. Schon war seine Lende verschwunden.
Armin griff nach seinem Stock und hielt ihn Martin entgegen. Er packte ihn, und langsam schaffte er es auf trockenen Boden.
Verdreckt, verschlammt und außer Atem hockte Martin auf dem Gras und versuchte sich aufzurichten.
„Du Schuft, wolltest mich wohl verrecken lassen, was?“
„Ich hab dir doch geholfen. Du wärst sonst versunken.“
„Und wie ich aussehe. Vollkommen verdreckt. Du Tunichtgut wirst dir was anhören dürfen, wenn du nach Hause kommst.“
„Und wenn ich nicht komme?“
Martin kam wieder gefährlich nah an Armin heran und funkelte ihn an.
„Das wagst du nicht. Du bist Leibeigener, schon vergessen? Wenn du dich von dannen machst, wird mein Vater dich suchen. Und dann gnade dir Gott. Sie werden dich mit Hunden jagen, wie einen angeflickten Keiler. Und keiner hier wird es wagen, dir zu helfen.“
Er warf Armin den halbleeren Wasserschlauch vor die Füße und ging davon.
Armin hob den Schlauch auf, trank einen Schluck und sah ihm nach. Er hatte Recht. Die Chancen, von hier fortzukommen, standen schlecht. Zu groß war der Einfluss des alten Fiete in dieser Gegend. Und wo sollte er auch hin? Wahrscheinlich würde überall dasselbe auf ihn warten.
Er verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr an eine Flucht und wandte sich wieder den Schafen zu.
Pflückebeutel aber hatte alles gesehen und flog von der nahestehenden Birke davon. Die Jungen hatten ihn nicht bemerkt.
Am nächsten Nachmittag trieb Armin die Herde wieder nach Hause. Sein Magen knurrte. Doch dass Martin ihm sein Essen vorenthalten hatte, wollte er sich nicht anmerken lassen. So klein wollte er sich nicht machen.
Im Hof angelangt, sperrte er die Herde in den Stall. Es dunkelte bereits und im Gesindehaus stand der alte Fiete im Raum.
„Da bist du ja endlich“, sagte er mit drohender Stimme und ging langsam auf ihn zu. „Wie kannst du es wagen, Martin in den Sumpf zu stoßen? Was fällt dir ein? Du bist Leibeigener und kannst froh sein, dass ich dir Obdach gebe.“
Noch ehe Armin etwas entgegnen konnte holte der alte Fiete seine Knute hervor und ließ sie auf ihn niedergehen. Armin wich langsam zurück.
„Martin hatte mein Essen gegessen und mein Wasser getrunken.“
„Schweig! Immer wieder diese Ausreden und Lügen.“
Er hob die Knute erneut. Armin duckte sich und der Schlag traf ihn auf dem Rücken. Er biss die Zähne zusammen und wollte keine Schwäche zeigen.
Doch schon ließ der Alte ab und zog ihn am Ohr empor.
„Los, heute Nacht wirst du draußen schlafen.“
Und während er Armin nach draußen zerrte, wandte er sich an Ute.
„Wage es nicht, ihm auch nur einen Kanten zu bringen. Das Essen hat er sich nicht verdient.“
Im Hof standen Peer, Sven und Martin.
„Damit du ein bisschen über deine Taten nachdenken kannst, wirst du heute Canis Gesellschaft leisten. Los, bindet ihn an der Hütte fest. Nehmt ruhig die Kette.“
Sie banden ihn an die Hütte und ließen ihn allein zurück. Der Hofhund Canis schnupperte an ihm und wedelte erfreut mit dem Schwanz. Er war ein guter Wachhund und überaus scharf. Kein Fremder durfte es wagen, auch nur in seine Reichweite zu kommen. Aber Armin kannte er. Wie auch alle anderen auf dem Hof. Und so freute er sich über die nächtliche Gesellschaft.
„Sei bloß artig heute Nacht“, sagte er zu dem Tier.
Die Nacht wurde kalt und feucht. Armin fror und kroch mit Canis zusammen in die Hütte. Es stank nach Hund, aber es war immerhin besser als im Freien. Er versuchte, sich so gut es ging an Canis zu schmiegen. Der ließ ihn gewähren. Viel schlief Armin nicht. Hunger und Kälte plagten ihn.
Er würde fortlaufen. Eines Tages würde er fortlaufen. Überall würde es besser sein als hier. Lange konnte er das nicht mehr aushalten. Lieber auf der Flucht, als wie ein Hund angekettet. Sollten sie ihn doch suchen. Was konnte schon passieren?
Als der Hahn auf dem Misthaufen krähte, zitterte Armin am ganzen Leib. Er stank nach Hund und es juckte ihn. Wahrscheinlich hatte er sich auch noch Flöhe geholt. Hoffentlich wurde es ein schöner Tag, dann konnte er sich ein bisschen wärmen.
„Los, komm raus“, raunte es auch schon vor der Hütte.
Er kroch hinaus und sah die aufgehende Sonne. Martin stand auf dem Hof.
„Na, gut geschlafen?“, frotzelte er.
Armin war steif und schwieg. Seine Faust aber ballte sich an seiner Hosennaht.
Martin trat ganz dicht an ihn heran.
„Ja, Armin. Nur zu. Hebst du auch nur einmal die Hand, dann schlägt dich mein Vater tot, das schwör‘ ich Dir.“
Der alte Fiete kam dazu.
„So, ist der Tunichtgut endlich erwacht. Bindet ihn los“, sagte er zu Sven und Peer, die ebenfalls auf den Hof getreten waren.
„Du wirst heute mit den Wanderknechten hinaus ins Moor gehen und Torf stechen. Da kannst du dich wenigstens nützlich machen.“
Armin hatte noch nicht im Moor gearbeitet. Er hatte den alten Fiete bisher nur begleitet, wenn er den getrockneten Torf gen Bremen oder Bouchstadhude gebracht hatte.
Er wusste, dass das Torfstechen keine leichte Arbeit war. Sein Magen knurrte. Doch bevor er etwas sagen konnte, schnitt ihm Fiete das Wort ab als habe er geahnt, was er wollte.
„Wozu willst du was zu essen haben? Das musst du dir erst verdienen. Ansgar…!“, rief er.
Ansgar war der Vorarbeiter der Moorknechte. Er kam auf den Hof.
„Ansgar, nimm Armin mit. Er wird heute im Moor arbeiten. Du wirst schon eine Verwendung finden. Und achte ja darauf, dass er nicht zu lahm ist.“
„Jawohl, Herr.“
Eigentlich war Ansgar ein tüchtiger und gerechter Bursche. Aber Fiete ließ sich allzu gerne selbst auf dem Moor blicken. Und wenn etwas nicht nach seinem Sinne war, so ließ er es als erstes den Vorarbeiter spüren. Das wusste Ans-gar, denn schon einmal hatte er von Fiete die Knute bekommen. Und nur weil es keinen besseren Ersatz für Ansgar gab, konnte er als Vorarbeiter weiter dienen.
Ansgar packte Armin an der Schulter und zog ihn mit sich.
„Nun los, Armin. So arg ist es auch nicht. Andere würden sich freuen, wenn sie diese Arbeit hätten und nicht betteln müssten.“
Es war eine unsagbare Plackerei. Zunächst arbeitete Armin in den Torfgruben. Tief unten hob er den dunklen Torf nach oben. Und weil er schon lange keinen Bissen mehr gegessen hatte, schwanden ihm schnell die Kräfte. Seine Kleider waren durchnässt und die Kälte des Torfschlamms kroch ihm in alle Glieder. Mit klammen Fingern schaffte er Torfsode um Torfsode aus der Grube.
Am späten Vormittag wollte er eine kleine Rast einlegen, als er in der Grube die Stimme des alten Fiete hörte. Jetzt würde er keine Blöße zeigen, dachte er wütend. Dem alten Fiete wollte er keinen Vorwand geben.
Und tatsächlich trat dieser an die Grube.
„So, da unten schuftet er also. Naja, das geht ja gerade noch so.“
Neben ihm stand Martin und grinste herab. Armin sah ihn mit verdreckten Kleidern und verdrecktem Gesicht an. So sollte ihn Martin nicht noch einmal sehen.
Gegen Mittag wurde es zwar wärmer und es regnete auch nicht, aber Armin war durch den Morast durchnässt und zitterte am ganzen Leib. Auch die körperliche Arbeit konnte ihn nur wenig wärmen. Er hatte Hunger. Seit drei Tagen hatte er nichts gegessen.
Die kurze Mittagsrast gab ihm die Gelegenheit, sich auszuruhen. Begierig schaute er auf die Mahlzeiten der anderen Torfknechte, fragte aber nicht nach einem Bissen. Noch konnte er durchhalten.
Der Tag schien endlos zu sein. Armin stach immer weiter in den Morast, um die Soden zu lösen. Am Anfang hing er seinen Gedanken nach, doch mit der Eintönigkeit der harten Arbeit schwieg er nicht nur äußerlich. Mechanisch arbeitete er vor sich hin. Irgendwann musste der Tag zu Ende gehen.
Und dann spürte er beim Stechen in den Torf einen Wider-stand. Wahrscheinlich wieder ein Stück Holz oder eine alte Wurzel, dachte er.
Vorsichtig versuchte er mit den Händen in den Spalt zu fassen und mit der Hand das Stück Holz freizulegen und herauszuziehen. Doch er fühlte noch etwas anderes. Etwas Weiches, Kaltes und dann spürte er mit den Fingern eine Art Band um das Weiche. Schnell grub er mit den Händen weiter und plötzlich löste sich aus dem Morast eine Hand. Erschrocken trat er einen Schritt zurück. Ansgar kam gerade vorbei und sah Armin an.
„Hier, hier ist eine Hand“, stammelte Armin.
Ansgar schwang sich in die Grube und schaute genauer hin.
„Beim Allmächtigen“, flüsterte er. „Los, pack mit an!“
Sie gruben mit ihren Händen weiter. Schon kam ein Arm zu Tage.
„Herrgott im Himmel“, sagte ein Knecht, der ihnen über die Schulter zusah. „Kommt alle her, hier ist ein Leichnam im Moor!“
Die Torfstecher ließen ihre Arbeit liegen und eilten herbei.
Armin und Ansgar zogen einen leblosen Körper in einem linnenen Kleid aus dem Morast. Die Füße waren nackt und der Körper samt den langen Haaren schien unversehrt.
„Was gibt es hier zu Glotzen? Ihr sollt arbeiten und nicht nutzlos herumstehen“, polterte von ferne die Stimme des alten Fiete. Er war erneut aufgetaucht.
„Sie haben einen Toten gefunden“, rief jemand. Der Alte bahnte sich den Weg durch die Knechte, bis er an der Grube stand.
„Los, gebt mir mal einen Eimer Wasser!“, forderte Ansgar.
Er wurde ihm gereicht und Ansgar spülte den verschmierten Kopf und das Gesicht des leblosen Körpers frei. Zum Vorschein kam ein mädchenhaftes Gesicht, vielleicht zwölf Jahre alt.
Ein Murmeln und Raunen ging durch die Menge. Die Mützen wurden vom Kopf genommen.
„Herrgott erbarme Dich. Das ist doch die Gretel“, sagte einer.
„Erzähl nicht, du Dummerjan. Gretel ist seit vielen Jahren tot. Diese hier ist aber bestimmt erst seit kurzem tot, so wie sie aussieht.“
Der alte Fiete trat etwas näher. „Es stimmt. Es ist tatsächlich Gretel“, murmelte er vor sich hin.
„Aber mein Herr, sie ist ja kaum entstellt. Kaum ein Haar fehlt. Wie kann die Gretel nach all den Jahren so aussehen, als sei sie erst gestern gestorben?“
„Das ist das Werk der Moorhexe“, ein alter Knecht mit Bart war hervorgetreten. „Die Moorhexe treibt ihr Unwesen und zieht Unschuldige in ihren Bann. Und als Untote Geister schickt sie sie dann über das Moor.“
Unruhe kam auf. Auch der alte Fiete bemerkte das Unbehagen der Arbeiter. Er wollte schnell etwas dagegen tun, um nicht Aberglauben und eventuell Arbeitsverweigerung aufkommen zu lassen.
„Schwatzt nicht. Los, hebt sie heraus aus der Grube und ladet sie auf den Karren! Wir bringen sie ins Dorf. Soll die alte Magdalena sagen, ob das die Gretel ist. Und der Rest von euch, marsch, wieder an die Arbeit!“
Das tote Mädchen wurde auf einen Karren geladen und ins Dorf gebracht.
Es stellte sich heraus, dass es tatsächlich die Gretel war. Auch wenn die alte Magdalena sich weigerte, es anzuerkennen. Da das Mädchen seit fast zwanzig Jahren tot war, aber immer noch wie die junge Gretel aussah, meinte die Alte, die Moorhexe hätte ihre Gretel verflucht. Trotzdem wurde die Leiche des Mädchens am nächsten Tag im Gottesacker bestattet.
Magdalena zog sich noch mehr in sich zurück. Nur wenige Wochen nach der Bestattung fand man sie schließlich tot in ihrer Kammer. Die Gewissheit über den Verbleib ihrer Tochter und die Angst vor der Moorhexe hatten ihr den letzten Lebenswillen geraubt. So wurde auch wenig später die alte Magdalena neben ihrer Tochter beigesetzt.
Trotz des Totenfundes kehrte Armin erleichtert aus dem Moor zurück. Er grübelte noch lange über die Tote nach und wusste nicht recht, ob er an die Moorhexe glauben sollte oder nicht. Er kam ausgezehrt und ermattet auf den Hof. Seine Kleidung war vom Torf und Schweiß verkrustet. Er wusch sich am Brunnen beim Gesindehaus und als er endlich eintreten durfte, dunkelte es bereits. Seine Ration schlang er am Gesindetisch hastig hinunter. Zorn und Grimm sprachen aus seinen Augen. Seine Glieder schrien nach Ruhe und er konnte sich nur noch mit Mühe am Tisch halten.
„Ich habe es euch gesagt, die Moorhexe hat die arme Gretel geholt“, sagte Ute zu den Knechten am Tisch.
Alle blieben stumm. Der Totenfund war doch sehr erschreckend gewesen.
„Vielleicht war es auch gar nicht die Gretel“, entgegnete Peer.
„Schwatz nicht“, erwiderte Ute. „Ich habe Gretel gekannt. Und dieses tote Mädchen ist die Gretel.“
Draußen waren Sturm und Gewitter aufgezogen, ungewöhnlich für die Jahreszeit. Der Wind zerrte an den Pforten und Reetdächern.
„Was für ein Unwetter. Heute Mittag sah es noch gar nicht danach aus.“
Das Donnergrollen erscholl unheimlich.
Peer schimpfte: „Jetzt friert es nochmal. Die Bäume sind noch nicht richtig ergrünt.“
„Fast so wie damals“, warf Ute ein.
„Was meinst du jetzt wieder mit damals?“, fragte Sven. „Meinst du, als die Gretel verschwand?“
„Nein. Dereinst kam in einer solchen Nacht der Blanke Hans und spülte die Dörfer davon.“
Armin horchte müde auf. Wenn Geschichten erzählt wurden, war er immer stets hellwach, auch wenn ihm beinahe die Augen zufielen. Auch Sven und Peer sahen sie stumm an. Wer wusste schon, ob an den Geschichten nicht etwas Wahres dran war?
„Unzählige ertranken damals oder wurden vom Blanken Hans davon gerissen.“
„Erzähl‘ keine Lügenmärchen, Ute!“, erwiderte Peer.
Doch Ute fuhr fort. Die Kerze flackerte leicht.
„Nur ein Knabe konnte sich vor den tosenden Gewalten in Sicherheit bringen.“
Ute beugte sich verschwörerisch vor. „Man sagt, er sei zwei Tage vorher zum Schafehüten auf den Wiesen gewesen. Und während er sich bei den Schafen die Zeit vertrieb, kam Merkenau dahergeflogen. Merkenau warnte ihn, dass der Blanke Hans kommen würde. Da lief der Knabe zurück ins Dorf und warnte auch die Bewohner. Er hatte es dabei so eilig, dass er die Schafe vergaß.“
„Und dann?“
„Als er ins Dorf kam und den Leuten vom Blanken Hans berichtete, da verhöhnten sie ihn. Sie lachten über ihn, denn am Himmel waren keine Wolken zu sehen und die Sonne schien kräftig und warm. Sein Herr schlug mit der Gerte auf ihn ein, denn er hatte die Schafe vergessen. Er hieb so fest, dass sein Nacken blutig und geschunden wurde.
So eilte der Knabe zurück, um die Schafe zu holen. Zwei aber hatten sich im Moor verlaufen und er fand sie nicht mehr. Er kehrte nur noch mit vier Tieren zurück. Und sein Herr verdrosch ihn erneut.“
„Und kam dann die Flut am nächsten Tag?“
„Nein.“
„So hatte er Unrecht. Merkenau hatte ihn getäuscht. Was für ein fade Geschichte!“
„Der Knabe wurde den ganzen Tag verhöhnt. Die Kinder trieben Schabernack mit ihm. Da wurde er sehr zornig und wollte sich rächen. Er lief in den nahen Wald. Dort sprach er erneut mit Merkenau und den anderen Tieren. Er warnte sie, so dass sie fortliefen. Wenn die Menschen ihn so verhöhnten, so sollten sich wenigstens die Tiere retten.“
Sie hielt kurz inne und sah Armin tief in die Augen: „Und dann rief er den Blanken Hans.“
Armin sah sie gebannt an. „Erzähl weiter, Ute, was dann?“
„In der nächsten Nacht kam der Blanke Hans. Es war furchtbar. Er riss das ganze Dorf mit sich. Alles raffte er dahin. Das Vieh, die Häuser, die Menschen…Und als er sich wieder zurückzog, kamen die Bewohner der anderen Dörfer, die verschont blieben, um zu sehen, was geworden war. Sie fanden alle tot. Die Menschen waren im Schlaf ertrunken. Das Vieh war dahingerafft, die Ernte vernichtet. Eine Mutter, so heißt es, habe versucht, ihr Kind zu retten, und hielt es in die Höhe. Doch auch sie wurde mitgerissen und ertränkt. Viele Leiber hatte der Blanke Hans mit sich genommen. Einige fand man Tage später im Watt. Alles war vernichtet. Unzählige Menschen starben. Gott sei ihrer Seelen gnädig. Der Knabe hatte sich furchtbar gerächt.“
Ute bekreuzigte sich.
„Was ist aus ihm geworden?“, fragte Armin.
„Man fand ihn in einem Baum unweit des Dorfes. Er hatte sich gerettet. Merkenau saß neben ihm auf einem Ast und krächzte höhnisch. Man holte den Knaben herunter. Doch er war starr vor Kälte und Entsetzen.“
„Nur er hatte überlebt?“
„Ja. Komisch, nicht wahr? Man fragte ihn, wie er sich retten konnte, und warum er den anderen nicht geholfen habe. Aber er schwieg. Er sprach keinen Ton. Merkenau saß derweil immer noch im Baum und krächzte…Da kam aber ein Mädchen. Es war am Tag zuvor dem Knaben nachgeschlichen, weil es wissen wollte, was er im Wald trieb. Sie hatte ihn mit Merkenau im Wald sprechen hören. Er hatte sie nicht bemerkt und den Blanken Hans aus Wut über seinen Fehler heraufbeschworen und das ganze Dorf vernichtet.“
„Er hat den Blanken Hans gerufen?“
„Ja.“
„Was geschah mit ihm?“
„Man wollte ihn bestrafen. Er sollte wegen des Teufelswerks auf dem Scheiterhaufen brennen. Offensichtlich hatte er teuflische Kräfte, denn er konnte mit den Tieren sprechen und den Blanken Hans heraufbeschwören. Aber bevor man ihn mitnehmen konnte, riss er sich los und rannte davon.“
Stille trat ein. Nur die Wachskerze auf dem Tisch flackerte geheimnisvoll.
„Sie rannten hinter ihm her. Man hetzte ihn mit Hunden. Zwei Tage und eine Nacht. Am Ende des zweiten Tages hatte man ihn beinahe gefasst. Und dann rannte er ins Teufelsmoor.“
„Ins Teufelsmoor?“
„Ja.“
„Dann fand er seine Bestrafung?“, fragte Peer.
„Die Moorhexe holte ihn…Niemand hat ihn je wieder gesehen.“
„Schon wieder die Moorhexe.“
Peer schaute wieder ungläubig.
„Ja. Verlacht sie nicht. Ihr habt die Gretel gesehen. Nun wisst ihr, die Moorhexe wohnt tief im Teufelsmoor und treibt dort ihr Unwesen. Wer sich des Nachts zu tief ins Moor wagt, den verführt sie. Denkt an ihre Irrlichter, die den Verirrten immer tiefer in die Sümpfe führen. Sie zieht die armen Seelen in ihr dunkles Reich. Niemand ist lebend wieder zurückgekehrt.“
Armin war ein wenig unbehaglich geworden. Es war nun schon die zweite Geschichte von der sagenhaften Moorhexe.
„Viele Unbescholtene zog sie schon in ihren Bann. Niemand hat sie je wieder gesehen.“
Am nächsten Tag war Sonntag. Auch wenn es viel zu tun gab, so gestattete der alte Fiete, dass sein Gesinde in die Kirche ging. Denn auch wenn er insgeheim von der Kirche nichts hielt und besonders die Almosen für ihn Verschwendung waren, so würde er es niemals wagen, gegen die Kirche zu sprechen. Zu groß war ihr Einfluss auf die Leute. Er hätte an Ansehen verloren.
Noch bevor die Glocken läuteten, hatten die Knechte das Vieh versorgt. Nach der Kirche würde Armin die Schafe wieder auf die Wiesen treiben. Er ging gerne in die Kirche, denn hier fand er von all der Plackerei ein wenig Ruhe, wenn auch nur für kurze Zeit.
Die kleine Glocke, der alte Fiete hatte sie gespendet, läutete die Bauern, Knechte und Gesinde zum Gottesdienst. Und während die Leute in das kleine Gotteshaus zogen, bemerkte Armin wieder die Bettler und Armen. Manche hatten durch Unfälle Gliedmaßen oder gar ein Auge verloren, manche humpelten und zogen ein Bein nach. Vielleicht war auch der eine oder andere darunter, der sein Gebrechen besonders zur Schau stellte, um die Möglichkeit ein Almosen zu erlangen, zu erhöhen. Der alte Fiete gab nie etwas. Er spendete lieber direkt für die Kirchen.
Ute allerdings hatte ein weiches Herz. Sie hatte, versteckt vor den Augen ihres Herrn, immer ein paar kleine Brotkanten bei sich, die sie den Bettlern als Almosen gab. Geld hatte sie nur wenig. Aber als Küchenmagd hatte sie einen genauen Überblick über die Speisen und konnte geschickt und unbemerkt das eine oder andere unter ihren Umhang stecken, wenn es zur Kirche ging.
Die Ruhe und Erholung in der Kirche taten Armin gut. Er musste achtgeben, nicht einzuschlafen. Auch wenn er den Geistlichen und auch die Kirche achtete, die Müdigkeit kam häufig wie eine schwere Bürde, die auf seine Augenlider drückte.
„Schlaf nicht ein“, zischte Ute und knuffte Armin in die Seite.
„Entschuldigung“, flüsterte Armin und versuchte, wieder den Worten des Geistlichen zu folgen. Der alte Fiete hatte von all dem nichts bemerkt. Er saß stets vorne, wo er seinem Ansehen noch mehr Ausdruck verleihen konnte.
Als der Gottesdienst beendet war, strömten die Kirchgänger aus der kleinen Kapelle. Der Priester gab jedem die Hand und die Bewohner zerstreuten sich. Es wurden Almosen für die Armen und die Bettler verteilt, die sich rege bedankten. Wie immer ließ Ute den alten Fiete vorausgehen, damit sie ihre mitgebrachten Gaben unbemerkt geben konnte. Armin half ihr dabei. Sie steckte ihm dazu unbemerkt im Gottesdienst das eine oder andere zu.
„Bitte, hast du eine milde Gabe? Gott wird es dir vergelten.“
Vorsichtig gab Armin der alten Frau ein Stück Brot.
Ein anderer Bettler, eingehüllt in einen Lumpenumhang, mit wilden Haaren, einem schmutzigen Tuch um den Kopf und ein Auge gebunden, humpelte auf einen Stock gestützt näher. Armin hatte ihn schon öfter beim Gottesdienst bemerkt. Er war wahrlich nicht zu beneiden, denn offensichtlich hatte er eine schwere Beinverletzung und wahrscheinlich sogar ein Auge verloren. Arbeiten konnte er so nicht mehr und Angehörige, die sich um ihn kümmern konnten, hatte er offenbar auch nicht.
„Hast du etwas Brot oder einen Pfennig, damit ich mir zu essen kaufen kann?“, stammelte er mit tiefer Stimme. Armin schaute schnell um sich. Der alte Fiete sprach mit jemandem, und so gab Armin dem Bettler sein letztes Stück Brot.
„Die Habenichtse vor der Kirche können einem wirklich Leid tun“, sagte Armin am Abend vor der Nachtruhe.
„Ja, es ist bedauerlich“, raunte Ute, denn Sven und auch Peer wussten nichts von den Almosen und sollten auch nichts erfahren. „Auch wenn es nur wenig ist, aber der Wille zählt, Armin. Mehr können wir ihnen nicht geben, denn mehr haben wir nicht. Wem hast du heute gegeben?“ Sie fragte leise, damit sie nicht gehört wurden.
„Einer alten Frau und dem humpelnden Alten mit dem Kopfverband.“
„Ja stimmt, der ist auch immer da. Gut, dass du ihm gibst, ich komme immer nur zu dem Mädchen mit den Krücken und zu dem verstümmelten Alten.“
Der Frühling war kurz in diesem Jahr. Nach der stürmischen Nacht mit Gewitter hatte es tatsächlich noch einmal Frost gegeben. Es hatte sogar noch einmal geschneit, wenn auch der Schnee nicht liegen blieb. Armin hatte Glück, denn er musste nicht in die Torfgruben. Dafür musste er sich um die Schafe kümmern und bei der Aussaat helfen.
Auch diese kühle Zeit ging vorüber und der Sommer kam mit aller Pracht.
Nach der Schafskälte wurden die Schafe endlich geschoren. Und obwohl Armin Übung hatte, war es immer wieder schwer. Besonders beim Scheren der Böcke mussten die Knechte zu zweit anpacken. Einige Tiere wurden geschlachtet, weil sie alt waren und den folgenden Winter nicht überstanden hätten.
Die Wolle wurde zu Ballen geschnürt und in der Loodiele trocken gelagert. Die Felle wurden gegerbt und ebenfalls auf der Loodiele zum Trocknen gespannt.
Eines Morgens ließ der alte Fiete die Knechte zusammenkommen. Auch Ansgar und ein paar andere Arbeiter aus den Torfgruben waren gekommen.
„So, morgen ist es so weit“, sagte er alte Fiete, als er sicher war, dass alle ihm zuhörten. „Wir werden morgen nach Bouchstadhude ziehen und die Wolle und den Torf verkaufen. Martin, du ziehst die Wagen zusammen. Peer, Sven und Armin, ihr spannt die Ochsen an. Ansgar, du nimmst die Karren mit ins Moor und sorgst dafür, dass der Torf auf die Wagen geladen wird. Peer, Sven und Armin, wenn die Wagen angespannt sind, dann macht ihr euch in der Loodiele zu schaffen und verladet die Wollballen auf die restlichen zwei Wagen in der Scheune. Haltet euch ran. Wenn Martin mit den anderen Wagen kommt, fahrt ihr die Wagen ebenfalls ins Moor und verladet den Torf. Vor Sonnenuntergang will ich die Wagen wieder hier haben. Und wenn ihr nicht bis Sonnenuntergang zurück seid, zieht ihr die Wagen morgen alleine nach Bouchstadhude. Ich hoffe ihr habt das verstanden. Und jetzt haltet nicht Maulaffen feil und packt an!“
Während Armin, Peer und Sven die Ochsen vor den Karren spannten, sattelte Martin das Pferd und ritt los, um aus umliegenden Dörfern Wagen und Pferde von Bauern zu holen, die dem alten Fiete Geld schuldeten.
Ansgar fuhr mit den zwei Ochsenkarren ins Moor und Armin, Peer und Sven begannen, die Wolle und Felle von der Loodiele auf die übrigen zwei Wagen zu laden.
Kurz vor Mittag kam Martin mit zwei Karren zurück. „Peer, wie lange braucht ihr noch?“
„Wir sind fast fertig.“
„Beeilt euch ein bisschen. Tränkt dann die Pferde noch einmal und fahrt dann raus ins Moor. Wo ist mein Vater?“
„Er ist oben in der Schreibstube.“
Martin nickte und verschwand im Haus.
„Sven, wie viel ist es noch?“
„Noch zehn Ballen.“
„Gut. Macht hin. Wir müssen noch die Pferde tränken und dann ins Moor.“
Nach einer Weile kam Martin in die Loodiele geschlendert. In der linken Hand spielte er mit einem kleinen Säckchen. Armin postierte gerade einen Ballen an der Luke und stieß ihn nach draußen.
„So, seid ihr bald fertig?“, wollte Martin wissen und trat näher an Armin heran. Der beachtete ihn nicht und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Hast du das schon mal gesehen?“, fragte Martin leicht hämisch und öffnete den Beutel.
„MARTIN!!“ Der alte Fiete stand fluchend in der Tür zur Kammer. „Komm sofort hierher!“
Martin zuckte zusammen und gehorchte. Fiete blitzte seinen Sohn voller Zorn und Strenge an, riss ihm den Beutel aus der Hand, warf einen kurzen Blick hinein und schloss ihn wieder. Dann packte er Martin am Schlafittchen und sprach mit leiser aber sehr eindringlicher Stimme.
„Wage es nicht noch einmal, diesen Beutel zu nehmen. Ist das klar?“
Martin nickte schuldbewusst.
„Was war in dem Beutel?“, fragte Sven leise.
„Weiß nicht, ich konnte nichts sehen“, log Armin. Er hatte sehr kurz einen Blick in den Beutel werfen können. Vier kleine goldfarbene Steine waren darin gewesen, aber er hielt es für besser, nicht davon zu sprechen.
Am frühen Morgen zog der kleine Tross gen Bouchstadhude. Sie waren mehrere Tage unterwegs, denn die Karren waren schwer und die Ochsen nicht die schnellsten. Abends quartierte sich der alte Fiete in dem einen oder anderen Bauernhof ein. Martin konnte meist auch ein festes Dach über dem Kopf haben. Sven und Peer wechselten sich mit dem Schlafen im Stall ab, während Armin jede Nacht an den Karren verbrachte. Er zog seinen Umhang stets zu einem kleinen Schrägdach, dass er im Falle eines Regens nicht gänzlich nass würde. Ansonsten bettete er sich auf den Wollballen, was ihm von unten wohlige Wärme gab.
Tagsüber musste er häufig neben den Karren gehen oder die Ochsen ziehen, damit sie nicht stehen blieben. Er versuchte, nicht an die schmerzenden Füße zu denken und besah sich mit Neugier die Ortschaften, die sie passierten.
Auf der Rückreise war der alte Fiete schlecht gelaunt. „Diese Halsabschneider“, hatte er immer wieder gemurmelt und selbst Martin durfte ihn kaum ansprechen. Er war der Meinung, einen schlechten Preis für seine Ware bekommen zu haben. Aber da er die Ware nicht wieder mit nach Karls-höfen hatte mitnehmen wollen, war er auf den Handel ein-gegangen.
Auf dem Hof zurück gab er noch ein paar kurze Befehle. „Los! Spannt aus!“, befahl er den Knechten und verschwand in seiner Schreibstube, um die Bücher zu führen.
„Los Martin!“, rief er aus der kleinen Luke der Schreib-stube auf den Hof. „Schaff‘ die beiden Geldsäcke herauf.“
Das erhandelte Geld war trotz des angeblich schlechten Preises ein guter Batzen und die beiden ledernden Geldbeutel waren gut gefüllt und schwer. Martin wollte nicht alleine die Geldbeutel schleppen.
„He Armin, pack mit an und folge mir! Und wehe du machst Unfug mit der Tasche!“
Jeder der beiden trug eine schwere Geldtasche hinauf in die Schreibstube. Armin betrat nun zum ersten Mal die Stube, die der alte Fiete ansonsten streng verschlossen hielt, wenn er nicht gerade seine Bücher führte.
„Hast du es nicht alleine geschafft? Wieso bringst du den Taugenichts mit?“, schnaubte Fiete, beließ es aber bei der Schelte.
„Kommt her und packt die Geldtaschen hier hinein!“ Er nahm einen Schlüssel, den er an einem Lederband um seinen Hals trug, schloss den schweren und großen Geldschrank in der Ecke auf und wies die Jungen an, die Beutel hineinzulegen. Neben kleinen anderen Beuteln lagen noch eine Menge Schriftstücke im Schrank. Alles war ordentlich sortiert. Selbst unter den Schriftstücken herrschte Ordnung, obwohl Armin nicht lesen konnte und somit auch nicht wusste, ob sie wirklich sortiert waren. Auf den Schriftstücken lagen drei kleine Geldbeutel, aus denen der alte Fiete stets Geld nahm, um es Ute für die Einkäufe zu geben.
Armin legte die lederne Geldtasche in die Ecke des Schrankbodens. Als er sich aufrichtete, sah er wieder den kleinen ledernen Beutel, den Martin ihm in der Loodiele unter die Nase gehalten hatte. Er hielt einen Augenblick inne und betrachtete ihn genau.
„Was gibt es da zu gaffen“, packte Fiete ihn an der Schulter und schubste ihn kräftig zur Stubentür. „Hast du sonst keine Arbeit? Soll ich dir Beine machen?“ Zornig und mit rotem Kopf stierte er Armin an, der sich schnell aus der Schreibstube in den Hof machte.
Die Erntezeit kam. Die Ackersleute und die Knechte wurden jetzt sämtlich zum Mähen und Einbringen des Korns und der Garben gebraucht. Es war nicht die beste Ernte, aber dennoch war der alte Fiete zufrieden. Früh morgens ging es hinaus aufs Feld. Gefrühstückt wurde nicht, dafür wurde das Essen aufs Feld gebracht. Wenn die Garben auf die Karren verladen waren, ging es am späten Nachmittag zurück auf den Hof, um das Korn in die Loodiele zu bringen. Dort sollte es gebunkert werden, um es nach der Ernte ausdreschen zu können. Es war ein heißer Sommer. Die Knechte und Ackersleute schwitzten um die Wette und Ute und ein paar weitere angeheuerte Mägde hatten alle Hände voll zu tun, um die Wasserkrüge auf die trockenen Felder zu bringen.
Die Karren mit den Garben fuhren in den Hof direkt unter die Luke der Loodiele.
„Wer geht hinauf und öffnet die Luke?“
„Ich geh schon“, sagte Peer erschöpft und trottete müde ins Haus.
„Schnell Armin, wir wollen vor ihm oben sein!“, tuschelte Sven ihm mit einem Grinsen zu.
„Kletter auf das Reetdach. Beeil dich, der Alte ist gerade nicht da!“
Armin wusste, was Sven meinte und grinste. Er schnappte sich die dünne Gerte vom Karren, steckte sie sich zwischen die Zähne und schwang sich aufs Reetdach. Geschickt und barfuß hangelte er sich am Reet hinauf bis er am Ulenluch angelangt war. Er war schon immer ein geschickter Kletterer gewesen.
„Mach schon, Peer ist gleich oben.“
Schnell nahm Armin die Gerte aus dem Mund und langte nach der Luke. Endlich passte sie zwischen den Spalt und er konnte entriegeln. Die Luke schwang leicht auf. Jetzt hielt er sich am Ulenluch fest und hangelte sich geschickt auf den Dreschboden.
Als Peer die Tür zur Loodiele öffnete, verzog er das Gesicht.
„Na toll. Hättet ihr das nicht früher sagen können?“
Armin grinste.
Sie verbrachten die Garben über die Luke in die Loodiele. Erst als die Sonne den Horizont erreichte, waren sie fertig.
In den Nächten der Erntezeit schliefen alle gut. Die Arbeit war schwer und für Streit oder Ärger reichten die Kräfte nicht. Sogar der alte Fiete schien mit der Arbeit zufrieden zu sein.
Nach dem Einbringen der gesamten Ernte, war es wieder Zeit für eine Fahrt zum Markt nach Beversate, auf dem Ute immer verschiedene Dinge für die Hauswirtschaft kaufte, die nicht selber hergestellt werden konnten.
Armin spannte früh morgens den Karren an. Er sollte wie immer Ute begleiten und die Waren tragen.
„Hier hast du Geld“, Fiete zog ein kleines Geldsäckchen aus der Tasche und schüttete ein paar Münzen in Utes Hände. „Und sei ja sparsam.“
Ute und Armin fuhren los. Die Lerchen zwitscherten noch auf den Feldern am Wegesrand, und auch wenn es nicht so heiß war, wie noch vor ein paar Wochen, so war es trotzdem trocken und warm. Sie passierten die Gnarrenburg, fuhren gen Norden und hatten bald Beversate erreicht. Das Markttreiben war schon im vollen Gange.
„So, Armin. Wir brauchen ein paar neue Krüge, Schüsseln und Löffel. Die selbstgeschnitzten sind gut, machen es aber nicht mehr lange.“
Die Dinge, die Ute kaufen musste, hatte sie im Kopf.
„Bleib beim Karren, ich hole dich, wenn ich etwas habe.“
Der Markt war nicht groß, aber dennoch konnte man hier all das Handwerk erstehen, was man selbst nicht anfertigen konnte. Hier wurden Körbe angeboten, dort rief ein Händler seine Waren aus, und ein Töpfer bot an anderer Stelle seine Krüge an.
Ute kaufte zwei Körbe, ein paar Krüge und anderes Küchengerät und Armin lud die Sachen auf den Karren.
„So, und nun geh noch ein bisschen über den Markt. Schau dich ruhig um! Halt dich aber auch nicht allzu lange auf.“ Sie steckte ihm noch eine Münze zu. „Die habe ich heute dem Korbflechter abgehandelt. Erzählst du aber auch nur ein Wort an irgendwen oder gar an den alten Fiete, gibt es was hinter die Ohren.“
Armin verlor keine Zeit. Schnell stürzte er sich ins Getümmel aus Händlern, Marktschreiern, Mägden und viel-leicht auch Dieben. Er kaufte sich einen süßen Fladen und genoss es, einmal eine solche Süßigkeit zu probieren. Sonst hatte er höchstens einmal im Sommer süße, wilde Erdbeeren beim Schafehüten gegessen.
Während er noch interessiert das Treiben der Menschen beobachtete, wurde er plötzlich am Ärmel gezogen.
„Hast du eine milde Gabe für mich?“, brummte die tiefe Stimme. Es war der Bettler, der sonst in Karlshöfen sonntags vor der Kirche um etwas zu essen oder Geld bat.
Armin erkannte ihn sofort und war etwas verwundert, ihn in Beversate zu sehen, denn die Strecke war für jemanden, der so stark am Bein versehrt schien, nur schwer zu bewältigen. Der Bettler erkannte aber offensichtlich nicht, dass es Armin war, der da vor ihm stand.
„Was machst du hier?“, verwunderte sich Armin. „Der Weg muss wahrlich beschwerlich gewesen sein, oder?“
Der Alte sah ihn mit dem einen Auge etwas wirr an, als verstünde er nicht. Speichel lief ihm aus dem Mundwinkel und er brummte erneut.
„Hast du eine milde Gabe für mich?“
„Wie geht es deinem Bein?“, fragte Armin.
Der Bettler grunzte etwas unverständlich, zuckte mit dem Kopf und fragte erneut: „Hast du eine milde Gabe für mich?“
Armin gab ihm vom Fladen. Durch einen Rempler war er kurz abgelenkt und als er sich wieder dem Bettler zuwenden wollte, war dieser verschwunden.
Auf der Heimfahrt erzählte er Ute von der Begegnung.
„Bist du sicher, dass es der Bettler von Karlshöfen war?“
„Ja. Er sagte zwar nicht viel und schien mich auch nicht zu erkennen, aber er war es gewiss.“
„Sonderbar. Bis Beversate ist es ein beachtliches Stück für einen Bettler mit einem Hinkefuß. Er muss den ganzen Tag unterwegs sein. Merkwürdig, dass er die Gnarrenburg problemlos passierte. Durch den Sumpf wird er wohl nicht gekommen sein.“
Am Sonntag zog es wieder jeden zum Gottesdienst. Da der Ernte-Dank später gefeiert werden sollte, sprach der Priester von guter Ernte, den Früchten, die der Herrgott über die Erde streute, und dass die schwere Feldarbeit belohnt wurde. Armin hörte aufmerksam zu. Er tat es immer, wenn die Ernte eingebracht war, denn dann fühlte er sich durch die harte Arbeit besonders angesprochen.
Als der Gottesdienst zu Ende war und alle wieder gen Ausgang strömten, ließen sich Armin und Ute wieder etwas zurückfallen. Ute steckte Armin wieder etwas Brot für die Bedürftigen zu, die vor der Kirche warteten. Er glaubte sich unbeobachtet und verteilte sein Brot, als er plötzlich am Arm gepackt wurde und eine Stimme hörte, die er lieber nicht gehört hätte.
„Hast du etwa diesem Aussätzigen Brot gegeben?“
Leugnen war zwecklos, denn Fiete hatte ihn auf frischer Tat ertappt.
„Ich habe dem armen Mittellosen etwas von meinem Brot gegeben, das ich von meinem Frühstück aufsparte.“
Der Alte wollte schon vor Wut aus seiner Haut fahren, sah aber den Priester in Hörweite.
Er zog Armin mit sich und zischte nach einer Weile durch die Zähne: „Heute Abend kommst du nach dem Abendbrot in die Schreibstube. Und wage es nicht, zu spät zu kommen. Außerdem wirst du deine Brotration für morgen mitbringen.“
Was hatte der Alte vor? Armin grübelte den ganzen Tag darüber nach, ohne es zu erraten.
Wie befohlen, begab er sich nach dem Abendbrot mit der Brotration des nächsten Tages in das Gutshaus. Er stieg die Stiege zur Loodiele hoch und wandte sich nach links. Es war schummrig in der Schreibstube und auf dem Pult stand ein Leuchter, der etwas Licht spendete.
Martin sah sich am offenen Geldschrank das Inventar an, während der alte Fiete am Pult stand.
Als Armin eintrat, blickten beide auf, und auf Martins Gesicht zeichnete sich ein leichtes Grinsen ab. Offensichtlich wusste er schon, was Armin nun blühte.
„Du hast offensichtlich zu viel zu Essen. Dir geht es wohl so gut, dass du dein Brot mit einem Bettler teilen kannst und brauchst wohl nicht so viel Brot?“
„Ich hatte mir heute beim Frühstück etwas aufgespart, um ein klein wenig den Bedürftigen zu geben, denen es nicht so gut geht.“
Was auch immer der alte Fiete nun schon wieder im Schilde führte, Armin war es egal. Ein paar Hiebe mehr oder weniger machten ihm nichts aus. Insgeheim keimte in ihm schon lange der Plan, den Hof zu verlassen. Das Wann und Wie wusste er noch nicht, doch sicher würde er es nicht vor dem Winter wagen. Im Frühjahr könnte er gut und gerne ein paar Tage, wenn nötig auch Wochen, in den Wäldern verbringen, ohne zu erfrieren. Aber es war bereits Spätsommer und der baldige Herbst konnte schon Nachtfrost mit sich bringen. Bis zum Frühjahr würde er es auf dem Hof wohl schon noch schaffen.
„Nun gut“, Armin wurde aus seinen Gedanken gerissen. „Da du ja scheinbar zu viel zu Essen bekommst, wirst du ab morgen weniger Brot bekommen. Ich werde Ute anweisen, dir weniger Brot zu geben. Ich werde es dir schon austreiben, meine kostenlose Gabe zu verschwenden.“
Fiete sagte es mit bissiger und zorniger Stimme, und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schlug er mit der Faust auf den Tisch. „Und damit du mich nicht hintergehen kannst, bringst du mir deine Brotration jeden Abend hierher, auf dass ich dir deinen Anteil für den Folgetag zuteilen kann.“
Damit hatte Armin nicht gerechnet. Er hatte ohnehin schon immer großen Hunger und arbeitete auch viel. Mit noch weniger Brot würde eine harte Zeit für ihn anbrechen.
„Und bilde dir nicht ein, Ute könne dir hinter meinem Rücken etwas zustecken. Den Schlüssel zur Vorratskammer verwahre ich in Zukunft.“
Damit nahm er Armin das Brot aus der Hand, brach gut ein Drittel ab und reichte Armin das größere Stück. „Und jetzt pack dich von dannen. Ich will dich nicht mehr sehen.“
Er sah auf das kärgliche Stück Brot hinab und zog schweigend davon.
Zurück im Gesindehaus war Ute dabei, die Küche zu putzen und die letzten Erledigungen vor der Nachtruhe zu besorgen.
„Morgen wird der alte Fiete kommen und den Schlüssel für die Vorratskammer verlangen, Ute. Die Vorratskammer wir nun nur noch geöffnet, wenn er dabei ist.“
Ute schwieg, als Armin die Nachricht überbrachte und starrte in die Glut des Ofens, die fast erloschen war.
„Was ist mit deinem Brot?“, fragte sie.
„Der alte Fiete teilt mir jeden Abend die Brotration für den folgenden Tag zu.“
„Du hättest die Ration nicht an die Bettler vergeben sollen. Weißt ja, wie der Alte dazu steht“, mischte sich nun Sven ein.
„Halt den Mund, Sven“, blaffte Peer. „Dem Herrgott gefallen milde Gaben. Du hast ja noch nie etwas von deinem Essen abgegeben.“
Sven schwieg.
„Am besten wir gehen nun zu Bett. Morgen werden wir mit dem Dreschen anfangen. Das wird anstrengend genug.“