Читать книгу Das Erbe des Professors Pirello - Arno Alexander - Страница 5

2. Kapitel

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Die Zeit war 17 Uhr 30 des nächsten Tages, der Ort das Büro des Rechtsanwaltes Lieuwe, nicht sehr weit von der Praxis Fauves in der Rue St. Honoré. Diese Nähe der beiden Niederlassungen war nicht ganz ohne Beziehung, denn Lieuwe war, ähnlich wie Fauve, ein Mann, dessen Kunden größtenteils zur gutzahlenden und zugleich kapricenhaften Gesellschaftsschicht von Paris zählten. Schon deshalb mußten sie beide ihre Räume in diesem Viertel haben.

Die Räume des Rechtsanwaltes erfüllten jeden, der sie betrat, mit Wohlgefühl und Bewunderung. Sie waren allesamt mit alten Möbeln vollkommen stilrein eingerichtet. Und was hier nicht echt war, war jedenfalls hervorragend imitiert und deshalb kaum billiger. Lieuwe selbst paßte hierher mit seiner Silbermähne und seinen gepflegten Händen mit dem Siegelring, den er nach altertümlicher Sitte auf dem rechten Zeigefinger trug, als hätte er alle fünf Minuten damit wirklich ein Staatsdokument zu siegeln.

Das viktorianische Zimmer, in dem er sie empfing, erreichte den Höhepunkt der Stilreinheit dadurch, daß hier kein elektrisches Licht brannte, sondern ein Dutzend Kerzen auf silbernen Leuchtern. Auch Riquet und Fauve paßten hierher — sogar Fauve, der sich zu diesem Anlaß in einen dunklen Anzug geworfen und nicht einmal einen Strohhut mitgebracht hatte. Auch der Portwein paßte hierher, ein verhalten-feuriger Portwein von samtenem Bernsteinbraun, und die Gläser dazu waren garantiert viktorianisch nachgemacht.

Das einzige unpassende Zubehörteil dieser illustren Versammlung war der Kommissar Siloque. Er war auch der einzige, der keineswegs „Ah!“ sagte, als er in das kerzenerleuchtete Zimmer trat, sondern nur ein ungeduldiges Grunzen hören ließ. Er steckte in einem ausgebeutelten Anzug, den man höchstens anziehen konnte, wenn man im Garten die Radieschen umgrub. Dafür war er auch in Marokko geboren. Nun konnte man zwar darauf schwören, in ihm einen blutreinen Franzosen zu sehen, denn wie wäre er sonst Kommissar bei der Pariser Sûreté geworden. Aber wenn man über dem großen, schlaksigen Mann dieses Gesicht sah, dieses knochige, magere, gelbe, narbige Gesicht, dann mußte man doch schon großes Vertrauen in die Sûreté haben. Jetzt ließ er sich plumpsend in einen Sessel fallen und murmelte: „Et alors?“ Was soviel bedeutet wie: „Na und?“ Dazu schlug er ein Bein über das andere und wippte mit dem freien Bein einen nervösen Takt. Mit Grauen sahen die drei Herren, daß Siloque einen Kaugummi auspackte und in den Mund schob.

Die Vorreden dauerten eine Weile. Lieuwe betonte, daß ihm diese Umgebung angemessen erschienen sei für ein so diskretes Gespräch. Riquet und Fauve erklärten ihre Bewunderung für den Portwein. Siloque sagte dazu: „Tadellos! Haben Sie vielleicht eine Flasche Bier?“ Lieuwe läutete bestürzt, und ein Mädchen brachte Bier. Lieuwe erklärte den beiden Ärzten, Kommissar Siloque sei trotz seiner Eigenwilligkeit der einzige Kriminalist, dem man Diskretion zutrauen dürfe. Zu dieser Erläuterung grinste Siloque und entblößte dazu ein furchterregendes Raubtiergebiß.

Endlich räusperte sich Fauve. „Sie wissen, daß Professor Pirello einer unserer bedeutendsten Krebsforscher war. Professor Riquet und ich waren seine langjährigen und letzten Assistenten. Pirello starb an Krebs. Nicht ganz zufällig. Er hatte eine ungeheuerliche Entdeckung gemacht. Der fiel er zum Opfer.“ Fauve räusperte sich. Siloque murmelte: „Haben Sie vielleicht noch eine Flasche Bier?“

Sie ertrugen die Störung mit Anstand. Fauve fuhr fort: „Es gibt zahlreiche Stoffe, denen man eine krebserregende Wirkung nachsagt. Mit mehr oder weniger Berechtigung. Pirello hatte einen Stoff gefunden, der eine bestimmte Form des Magenkrebses ganz zweifellos auslöst und unheimlich schnell zur Entwicklung bringt. Bei den Experimenten damit erkrankte er selbst.“

Seiner Wirkung sicher, blickte Dr. Fauve die anderen der Reihe nach an. Riquet nickte gedankenverloren. Lieuwe fuhr durch seine Silbermähne. Siloque sagte: „Wie heißt das Zeug? War es ein Anilin-Derivat?“

Erschüttert hoben Fauve und Riquet die Köpfe und starrten den Kriminalisten an. War das ein verkappter Arzt?

„Oder Sodawasser?“ fragte Siloque lächelnd und bearbeitete seinen Kaugummi. Fauve hatte Mühe, seinen Faden wiederzufinden.

„Unseres Wissens sind die einzigen, die von diesen Experimenten wußten, Professor Riquet und ich. Nach dem Tode Pirellos haben wir seine und unsere Aufzeichnungen darüber restlos vernichtet. Wir folgten damit einem ausdrücklichen Wunsch des Professors. Es ist niemals eine Publikation erfolgt. Die Entdeckung war höchst gefährlich, aber nutzlos. Man konnte mit ihrer Kenntnis zwar einen unglaublich schnellen Krebs auslösen, aber niemals einen Krebs heilen, jedenfalls nach der Ansicht Pirellos. Und das war in dieser Lage für uns maßgebend.“

„Exakt“, sagte Riquet.

Fauve sprach weiter: „Jetzt hat Professor Riquet entdeckt, daß der Ministerialrat de Saint-Roch an einem so schnell fortschreitenden Krebs gestorben sein muß, wie man ihn sonst niemals beobachten kann. Eine so rasche Entwicklung kennen wir nur dann, wenn sie durch den Stoff ausgelöst wird, den Pirello entdeckt hat und an dem er selbst gestorben ist. Aber dieser Stoff kommt nirgends in der Natur vor, auch in keinem Nahrungsmittel, sei es natürlich oder künstlich.“

Siloque sagte: „Aha! Und wie heißt das Zeug?“

Dr. Fauve fuhr aufgebracht zur Seite: „Dieser Name ist eine der gefährlichsten Formeln, die es gibt. Glauben Sie, daß ich sie hier preisgebe, nachdem wir sie sieben Jahre lang aller Welt verschwiegen haben? Außerdem würden Sie nichts davon verstehen, denn diese Formel ist drei Zeilen lang!“

Siloque nickte ruhig. „Also sicher doch ein Anilin-Derivat“, sagte er schlicht.

Fauve mußte plötzlich lachen. Vielleicht half die Unerschütterlichkeit dieses Kommissars dazu, die überheizte Atmosphäre etwas zu entspannen. Gelöster lehnte er sich zurück: „Vor etwa einem Vierteljahr, genau am 21. Januar vormittags, fand ich in meiner Praxis, auf meinem Schreibtisch, in meinem Rezeptblock zu meiner Überraschung eine Theaterkarte. Eine Karte für einen Parkettplatz in der Opera. Es wurde an dem Abend ‚Les Indes Galantes‘ von Rameaux gegeben. Ich hätte glauben können, eine mir geneigte Patientin hätte mir die Karte dorthin geschmuggelt, als heimliche Einladung. Aber auf dem Rezeptblock stand ein dorthin geschriebenes Wort. Das Wort: Pirello.“

Jetzt war es der Rechtsanwalt, der zustimmend nickte. Professor Riquet richtete sich erstaunt aus seiner versunkenen Stellung auf. Siloque schien diesmal nichts gehört zu haben und kaute still vor sich hin.

„Das Erstaunliche war“, sagte Fauve, „dieses Wort Pirello war in meiner Handschrift dorthin geschrieben. Es war eine verblüffende Nachahmung meiner Handschrift. Besser gesagt: es war meine Handschrift selbst, wie ich Rezepte zu schreiben pflege. Die Ähnlichkeit war so unglaublich, daß ich einige Minuten im Zweifel gewesen bin, ob ich selbst in einer Art von Bewußtseinsspaltung dieses Wort dorthin geschrieben hatte. Aber es ließ sich sonnenklar feststellen, daß keine Bewußtseinsspaltung der Welt mir zu der Opernkarte verholfen hätte. Ich hatte einfach keine Zeit dazu gehabt, sie mir zu besorgen.“

Fauve hatte sich in eine steigende Erregung hineingesprochen. Je schneller und heftiger er redete, um so heiserer wurde er auch, aber beides zusammen gab einen sehr eindrucksstarken Effekt. Riquet konnte sich diesem Eindruck nicht entziehen. Der Herr Professor hörte offenen Mundes zu wie ein Dorfschüler. Als Fauve schwieg, ertappte er sich und sah um sich. Lieuwe starrte auf seine Lackschuhspitzen, Siloque kaute gelangweilt vor sich hin. Riquet schämte sich ein wenig. Zugleich wurde eine Verwunderung in ihm wach, die schon mit einer Prise Mißtrauen versetzt war: warum wunderten diese beiden sich eigentlich nicht, wenn sie eine derart unglaubliche Geschichte hörten? Die Erklärung bekam er sogleich, zumindest, was den Rechtsanwalt betraf.

„Ich fand für das Ganze keine Erklärung“, sagte Fauve, „höchstens eine Theorie. Wenn Sie, Herr Kommissar ...“ — er machte eine lächelnde Verbeugung zur Seite — „... einem Laien eine Theorie erlauben wollen. Ich dachte mir in meinem einfältigen Kopf: Jemand will dir hier das Geheimnis des Professors Pirello entreißen. Irgend jemand, der davon eine schwache Ahnung hat und es genau wissen will, um damit ein Verbrechen zu begehen; denn, bitte sehr, wozu sonst? Um mich zu erpressen, oder um mir eine Erpressung anzukündigen, zeigt er mir, daß er meine Rezeptschrift meisterhaft nachahmen kann. Damit kann er mich als Arzt in die größte Gefahr bringen, zum Beispiel durch nachgeahmte Rauschgiftrezepte. Und der mir zugewiesene Platz in der Oper sollte der Treffpunkt sein.“

„Und was geschah?“ fragte Riquet atemlos.

„Gar nichts“, sagte Fauve. „Die ganze Sache klingt so unglaublich, daß ich sie selbst nicht glauben würde. Aber ich bin am selben Tag hierher zu Monsieur Lieuwe gegangen und habe den Rezeptzettel mit dem Wort Pirello bei ihm hinterlegt. Monsieur Lieuwe wird so liebenswürdig sein, ihn nachher zu zeigen. Und am nächsten Morgen habe ich die gebrauchte Opernkarte ebenfalls hier hinterlegt.“

„Also Sie waren da?“ stieß Riquet heraus.

„Ja, ich war dort und setzte mich auf meinen Platz. Und ich hatte Monsieur Lieuwe gebeten, sich im Rang eine Karte zu nehmen und mit einem scharfen Feldstecher auf mich und meine Nachbarn herunter zu äugen.“

„So ist es“, sagte Lieuwe. „Nachdem mir Doktor Fauve diese Schauermär berichtet hatte, habe ich zunächst das Ganze zu Protokoll gebracht und von meinen Kollegen Fierres und Coss beglaubigen lassen. Sie mögen das für eine übertriebene Vorsicht halten, aber jetzt ist es vielleicht ganz angenehm. Dann bin ich ins Theater gegangen. Von den ‚Indes Galantes‘ habe ich nicht viel gesehen, und von Monsieur Fauve auch nicht, obwohl ich ihn durch mein Jagdglas angestarrt habe, bis mir die Augäpfel eintrockneten. Links von ihm saß ...“

„Moment!“ ließ sich plötzlich Kommissar Siloque vernehmen. „Zunächst interessiert nur: Sie wurden nicht angesprochen, Monsieur Fauve?“

„Nein“, sagte Fauve.

„Nicht daß ich wüßte“, ergänzte Lieuwe.

„Und in den Pausen? Und überhaupt?“

„Es hat sich nichts abgespielt. Gar nichts“, erklärte Fauve. Und Rechtsanwalt Lieuwe schüttelte den Kopf: „Ich habe ihn natürlich auch in den Pausen und hinterher nicht aus den Augen gelassen.“

„Ich denke mir“, flocht Fauve ein, „die Burschen haben trotz aller Vorsicht gesehen, daß ich mir Rückendeckung verschafft hatte, und haben die Finger von der Sache gelassen. Ich war darüber sogar stolz und wertete es als klaren Abwehrsieg für mich.“

„Und dann?“ fragte Siloque.

„Dann? — Nichts. Seither habe ich nichts weiter davon gehört. Ich hatte die Sache schon vergessen. Bis gestern. Da lebte sie in mir auf. Aus Gründen, die Sie sich jetzt selbst zusammenreimen können.“

Man hörte deutlich das leise Knistern in einer der Kerzenflammen. Jeder der Herren schien auf eigene Rechnung bemüht, die Stille zu überbrücken und nicht als erster zu sprechen. Die Folgerungen aus Fauves Erzählungen waren zwar klar, aber ungeheuerlich. Lieuwe ergriff wortlos eine kleine Messingschere und begann, die Kerzen zu putzen. Fauve tötete den Rest seiner Zigarette und nahm sofort eine neue aus dem geschnitzten Kästchen, das auf dem Tisch stand. Siloque brachte eine keulenförmige Tabakspfeife zum Vorschein und fing an, sie gedankenverloren aus einer verbeulten Blechschachtel zu stopfen. Nur Riquet blickte vor sich auf den Boden. Sein Ausdruck verriet angestrengtes Nachdenken.

„Sie können alle Dokumente jederzeit einsehen“, sagte Lieuwe endlich.

„Alle?“ fragte Siloque. „Noch mehr Dokumente?“

„Erlauben Sie —“ unterbrach Riquet. Er hob den Kopf und gleichzeitig eine Hand. Seine Sätze kamen jetzt so akzentuiert und klar, als setze er seinen Studenten einen Lehrsatz auseinander. „Ich halte es für richtig, wenn wir deutlich ausdrücken, um was es sich handelt.“ Wenn das wirklich seine Absicht war, so zeigte der Professor erstaunliche Kühnheit, denn schließlich betraf die Angelegenheit ihn am meisten: Er sagte: „Saint-Roch ist an einer ungewöhnlich rapiden Art von Krebs verstorben. Nach unserer Kenntnis kommt dieser galoppierende Krebs nur zustande, wenn Saint-Roch den von Pirello entdeckten Stoff aufgenommen hat. Es ist aber beinahe unvorstellbar, daß er diesen seltenen Stoff durch einen Zufall aufgenommen hat. Folglich müßte er ihm absichtlich beigebracht worden sein. Das würde aber Mord bedeuten. — Folgen Sie mir?“

„Hm!“ brummte Fauve und nickte. Riquet fuhr sogleich fort: „Nach unserer Kenntnis ist diese Substanz aber nur Doktor Fauve und mir bekannt. Ein etwaiger Mordverdacht fällt in erster Linie auf uns beide.“

Riquet sah triumphierend von einem zum andern, als sei ihm soeben ein glänzender wissenschaftlicher Beweis gelungen. Lieuwe fuhr sich erregt über das silberne Haar. Kommissar Siloque aber sagte mit fast teilnahmsloser Ruhe: „Kompliment zu Ihrem Mut, Professor! Dann lassen Sie uns auch gleich erwähnen, daß Saint-Roch sehr reich war und daß Sie mit seiner Tochter verlobt sind, nicht wahr? Danach würden Sie zuerst ins Kreuzfeuer geraten.“

„So ist es wohl“, entgegnete Riquet etwas unruhig, aber ohne Rückhalt. Rechtsanwalt Lieuwe räusperte sich und sagte leise, indem er sein Glas erhob: „Eine Gesellschaft von vier Herren, in der mit solchem Freimut gesprochen wird, werde ich kaum ein zweites Mal erleben, und ich bin glücklich, dabei sein zu dürfen.“ Er trank. Fauve verzog spöttisch die Lippen. War das Pathos dieses Mannes eine Art Kundendienst, oder kam es aus ehrlicher Ergriffenheit? Die Lage war allerdings einzigartig. Zwei weitbekannte Ärzte, die hier vor Zeugen dabei waren, aus ärztlicher Verantwortung Peinlichkeiten gegen sich selbst auszuhecken! Nur Siloque blieb trocken bei der Sache:

„Monsieur Fauve, haben Sie irgendeine Vermutung, wer Ihnen das Wort ‚Pirello‘ auf den Rezeptblock geschrieben haben kann?“

„Die Vernehmungen beginnen“, seufzte Fauve. „Es kann nur einer der Patienten des Tages gewesen sein. Es waren acht. Eine Liste ihrer Namen liegt ebenfalls bei Monsieur Lieuwe. Vier von ihnen sind mir näher bekannt und kommen höchstens in zweiter Linie in Frage.“

„Und Ihre Sprechstundenhilfe?“

„Theoretisch auch sie. Praktisch scheint es mir ausgeschlossen.“

„Hm. Wissen Sie, wer im Theater in Ihrer Nähe saß?“

„Links von mir eine ältere Dame mit einem Lorgnon und Spitzenschal, prädestiniert zur gestrengen Schwiegermutter; rechts ein Turteltaubenpärchen, das sich beunruhigend oft schnäbelte. Ich habe darüber eine Notiz gemacht, die bei Monsieur Lieuwe liegt und von ihm nach seinen Beobachtungen ergänzt und bestätigt wurde. Über die Namen weiß ich natürlich nichts.“

„Enorm!“ sagte Siloque. „Ihre Sicherheitsvorkehrungen sind erstaunlich.“

Fauve sah den Kommissar stirnrunzelnd an. „Wundert Sie das bei einer Sache von solchem Gewicht? Ich sagte Ihnen ja, was ich befürchtete.“

Kommissar Siloque lächelte freundlich. „Trugen Sie früher einen Schnurrbart?“

„Wie bitte?“ Fauve sah entgeistert aus.

„Es ist noch nicht lange her, daß Sie ihn abschneiden ließen, nicht wahr?“

„Ja; aber kennen Sie mich denn von früher?“ fragte Fauve verwirrt.

Siloque lachte polternd. „Mir fiel nur auf, daß Sie so oft nach der Oberlippe greifen.“

Fauve stimmte in das Lachen ein, aber es klang nicht ganz echt. Siloque war der einzige, an dessen breitschultrigem Phlegma die quälende Spannung dieser Lage abzuprallen schien. Er stocherte mit einem abgebrannten Streichholz in seinem Pfeifenkopf herum und fragte: „Können Sie nachweisen, ob die Krankheit durch den Pirelloschen Stoff hervorgerufen wurde?“

Die Ärzte wechselten einen Blick. Ja, das war die entscheidende Frage, vor der sie sich fürchteten, obwohl sie ja im Grunde hierher gekommen waren, um sie zu erörtern. Und Siloque sprach sie gelassen aus. Endlich sagte Riquet: „Vielleicht.“

„Was heißt vielleicht?“

Fauve schaltete sich ein: „Ich nenne diesen Reizstoff Aminyl, ohne dadurch sein Geheimnis zu verraten. Wenn wir Aminyl im Körper nachweisen, gibt es keinen Zweifel. Wenn wir es nicht nachweisen, hat es sich vielleicht schon zersetzt.“

„Das heißt“, sagte Siloque, „wenn Sie es nachweisen können, ist der Mordverdacht unbezweifelbar und amtlich?“

„Ja, Monsieur“, sagte Riquet starr.

„Man müßte ihn exhumieren?“

Niemand sprach. Die Kerzen auf den silbernen Leuchtern flackerten etwas. Die Ärzte blickten stumm auf die Tischplatte. Siloque erriet ihre Gedanken. Die Entscheidung war schwierig, der Skandal kaum zu vermeiden. Er sagte: „Meine Herren, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wir wollen diesen Kreis als ein Schiedsgericht betrachten und eine Abstimmung herbeiführen. Eine geheime Abstimmung. Sie kann Ihnen, den beiden Ärzten, die Entscheidung zwar nicht abnehmen. Deshalb sollen Sie dadurch auch nicht gebunden sein. Aber es kann Ihnen den Schritt wohl erleichtern, wenn Sie wissen, wie wir alle vier darüber denken, jeder für sich und vor seinem Gewissen, wenn niemand Rücksicht zu nehmen braucht. Was denken Sie?“

Die Erleichterung über diesen ausgezeichneten Vorschlag war so groß, daß für einige Minuten eine beinahe heitere Stimmung aufkam und die lähmende Spannung wich. Lieuwe wurde mit der Durchführung der sonderbaren Abstimmung betraut. Sie tranken und machten Vorschläge wie die Schulbuben.

Nur Riquet war stiller. Er war aufgestanden und betrachtete im Hintergrund des Raumes eine alte Büchse, die an der Wand hing und im Kerzenschimmer funkelte. Lieuwe händigte endlich jedem zwei Karten aus. Jeder erhielt eine weiße Karte und eine, die mit einem Kreuz gezeichnet war. Sie starrten alle auf die Bleistiftkreuze und waren sofort vollkommen ernst. Lieuwe stellte ein Kupfergefäß auf den Tisch. Er sagte:

„Wer für die Exhumierung stimmt, legt die Karte mit dem Kreuz in den Topf. Ich habe mir die Kreuze nicht angesehen. Trotzdem erkläre ich, daß ich diesen Wahlakt als Notar vornehme, nicht als Privatperson. Sie sind also auf alle Fälle durch meine notarielle Schweigepflicht geschützt.“

„Hoffentlich ohne Honorar“, brummte Siloque, aber niemand reagierte.

„Ich lege jetzt meine Karte hinein“, verkündete Lieuwe. „Wollen Sie bitte das Gefäß um den Tisch, gehen lassen. Die nicht benutzten Karten nehmen Sie mit nach Hause und vernichten Sie dort.“

In vollkommener Stille wurde diese Abstimmung vollzogen. Sofort, als er seine Karte abgelegt hatte, erhob sich Professor Riquet abermals und ging lautlos auf dem tiefen Teppich auf und ab. Jeder war ängstlich bemüht, den anderen nicht auf die Finger zu sehen.

Lieuwe nahm mit einer gewissen Feierlichkeit die Karten aus dem Gefäß und legte sie auf den Tisch. Er sprach nicht. Sie blickten jetzt atemlos auf sein Gesicht, dann auf seine Hände. Er deckte die Karten auf. Eine von ihnen war weiß. Die drei anderen zeigten das Kreuz.

Mit einer impulsiven Bewegung griff Fauve über den Tisch und drehte die weiße Karte herum. Aber sie war auch auf der andern Seite weiß.

„Pardon!“ murmelte Fauve, wandte zögernd den Kopf und blickte Riquet an. Auch Lieuwes Blick folgte der gleichen Richtung.

Siloque räusperte sich. „Haben Sie noch eine Flasche Bier?“

Diesmal mußte Lieuwe selbst in die Küche gehen, denn er hatte das Mädchen zu Bett geschickt. Solange er draußen war, sprach niemand ein Wort. Siloque nahm die geöffnete Flasche mit einem dankenden Nicken entgegen.

„Sofern Sie das Urteil dieses Schiedsgerichtes anerkenen sollten —“ sagte er.

Heftig stieß Riquet hervor: „Natürlich!“

Fauve nickte: „Warum nicht?“

Siloque trank gelassen. Dann sagte er: „Dann ist es am einfachsten, wenn Sie gemeinsam als ein ärztliches Konsilium einen entsprechenden Antrag aufsetzen und mir morgen zur Weiterleitung zuschicken.“

Riquet hatte sich erhoben und stand steif da. „Das Einverständnis des Kollegen Fauve vorausgesetzt, ist der Antrag hiermit bereits mündlich gestellt. Die schriftliche Ausfertigung geht Ihnen morgen zu. Doktor Fauve?“

Fauve blieb sitzen und lächelte. „Aber das ist doch selbstverständlich, lieber Kollege —“

*

Die Leiche des Ministerialrates de Saint-Roch wurde exhumiert. Vorher fühlte der Justizminister sich getrieben, den Professor Riquet persönlich anzurufen: „Verehrter, lieber Professor: Ich weiß, daß die Sache für Sie nicht angenehm ist. Ihre Verlobte —“

„Sie ist zum Glück nicht in Paris.“

„Ah! Professor, ich rechne es Ihnen hoch an, daß Sie keinen Antrag auf eine Geheimhaltung der Exhumierung gestellt haben. Ich habe den Fall eingehend nach allen Richtungen geprüft, aber —“

„Ich weiß, daß eine Geheimhaltung nicht möglich ist“, sagte Riquet müde, „aber ich danke Ihnen herzlich.“

Drei Tage später setzten die Ärzte Riquet und Fauve ihre Unterschriften unter ein Gutachten, in dem sie erklärten, daß die tödliche Erkrankung des Ministerialrates zweifellos durch eine Aufnahme des Stoffes Aminyl hervorgerufen worden war. In einer Anmerkung erklärten sie ferner, daß sie den vollständigen wissenschaftlichen Namen dieser Substanz nur auf richterlichen Beschluß und vor besonders zur Geheimhaltung verpflichteten Personen offenbaren würden.

In einem anliegenden Brief an die Staatsanwaltschaft legten sie dar, daß der Ministerialrat den Stoff Aminyl nach menschlichem Ermessen nicht zufällig aufgenommen haben könne. Man müsse befürchten, daß er ihm in böswilliger Absicht gegeben worden sei. Die Substanz könnte recht unauffällig dem Essen zugesetzt werden. Eine zwei- bis dreimalige Gabe würde genügen. Die Eröffnung einer Untersuchung müsse der Staatsanwaltschaft nahegelegt werden.

Das Schreiben schloß mit dem schicksalsschweren Satz: „Die krebserregende Wirkung des Stoffes Aminyl wurde durch Professor Pirello entdeckt und niemals veröffentlicht. Sie ist nach unserer Kenntnis nur den unterzeichneten Ärzten Professor Riquet und Doktor Fauve bekannt.“

Die Untersuchung war von den beiden Ärzten in vollkommen sachlicher, unpersönlicher und reibungsloser Zusammenarbeit durchgeführt worden.

Aber schon am Tage, bevor dieses Gutachten einging, meldete sich Kommissar Siloque bei seinem Vorgesetzten, dem Chefinspektor Daubree, und erstattete ihm einen ausführlichen Bericht. Der Chefinspektor, ein gepflegter Herr von fünfundfünfzig Jahren mit graumelierten Schläfen, wurde blaß. „Wollen wir hoffen, daß sich die Geschichte in Rauch auflöst“, sagte er.

Siloque schüttelte melancholisch den Kopf. „Da können wir auch gleich hoffen, daß der ewige Weltfriede ausbricht. Glauben Sie, Chef, daß Leute wie Riquet und Fauve überhaupt davon anfangen, wenn sie im Grunde ihrer Sache nicht längst sicher sind? Die blamieren sich auch nicht gern.“

„Aber warum beschäftigen Sie sich jetzt schon damit?“

„Mein Pech ist zuverlässig. Seit zwei Jahren sind sämtliche hoffnungslosen Fälle mir übertragen worden. Zweifellos werde ich auch diesen bekommen.“

Daubree schneuzte sich. Er kannte Siloques respektlose Art und schätzte ihn, aber es ging ihm doch immer wieder auf die Nerven. „Warten Sie ab!“

„Ich muß rasch anfangen, wenn ich noch zu Lebzeiten mit der Voruntersuchung fertig werden will. Der betroffene Personenkreis umfaßt halb Paris, und zwar die schwierige Hälfte. Erstens: Nicole de Saint-Roch, die Erbin, und alle, die noch von ihrem Erbe profitieren könnten. Das ist zunächst Riquet, aber wer weiß! Zweitens —“

„Mon Dieu!“ erschrak der Inspektor.

„Zweitens Riquet und Fauve als angeblich einzige Kenner dieser Teufels-Substanz. Drittens alle früheren Mitarbeiter des Professors Pirello, — vielleicht gibt es da doch noch mehr Mitwisser.“

„Siloque, ich meine —“

„Viertens die acht Patienten, die am 21. Januar bei Doktor Fauve waren, dazu seine Sprechstundenhilfe. Fünftens sämtliche Personen, die am 21. Januar abends die Opera besuchten.“

„Kommissar, jetzt hören Sie mal!“

„Sechstens alle Gegner und Feinde des Toten, im Privatleben, in der Wirtschaft und in der Ministerialbürokratie. Mehr sind mir noch nicht eingefallen.“

„Entsetzlich!“ schrie Daubree und hielt sich die Ohren zu. „Ich verreise! Ich lasse mich sofort krank schreiben und fahre zur Kur auf die Molukken!“

„Ja, Chefinspektor müßte man sein“, brummelte Siloque. Sein Vorgesetzter überhörte das und stöhnte: „Uns kann nur noch retten, daß das Gutachten der Ärzte negativ ausfällt.“

„Ab morgen wird es jede beliebige Möglichkeit geben, außer dieser einen“, prophezeite Siloque unerbittlich.

„Kommissar, Sie können einem den schönsten Tag vergällen.“

„Ja, ja, die Welt ist schlecht“, sagte Siloque bekümmert, „sonst brauchte man ja auch keine Sûreté.“ —

48 Stunden später, als Paris bereits seine Sensation hatte, fand das Gespräch eine unvermutete Fortsetzung. „Ich werde Ihnen helfen“, sagte Daubree. Der Chefinspektor war am frühen Nachmittag in das Dienstzimmer des Kommissars getreten. Siloque saß nachdenklich auf seinem Schreibtisch und drehte seinen grauen Hut zwischen den Händen. Die Kollegen sagten von diesem Hut, er stamme aus dem Silur, einer frühen Epoche der Erdgeschichte, in der noch Saurier und ähnliche Tiere herumkrochen.

„Bitte, was?“ sagte Siloque und verzog sein nicht sehr hübsches Gesicht zu einer Fratze der Fassungslosigkeit.

„Helfen. Allein werden Sie mit diesem Riesenfall tatsächlich in Jahren nicht fertig.“

„Sie hätten doch auf die Molukken fahren sollen, Chef.“

„Siloque, jetzt seien Sie ein guter Junge. Sie behalten den Fall in eigener Regie. Aber ich will auch einmal wieder Menschen sehen. Ich komme um am Schreibtisch. Es ist ein Elend, Vorgesetzter zu sein.“

„Ich bin gerührt“, verkündete Siloque. Er war tatsächlich gerührt. Es sagte: „Es ist trotzdem unmöglich, alle in Frage kommenden Personen zu untersuchen. Wir müssen nach Schnittpunkten suchen. Nach Schnittpunkten zwischen den Personenkreisen. Einen haben wir schon, Riquet. Er ist Kenner des Aminyl und gleichzeitig Verlobter der Erbin.“

„Prächtig“, sagte Daubree. „Ich habe eine Pistole und eine Erbtante. Trotzdem habe ich sie nicht umgebracht, sondern sie ist von selbst gestorben. Etwas mager, nicht?“

„Wie fett ein Fall wird, hängt davon ab, wie man ihn ernährt“, orakelte Siloque und zog etwas hervor, was einmal ein Notizbuch gewesen war. „Acht Patienten suchten am 21. Januar Doktor Fauve auf. Einer davon soll ihm in seiner eigenen Schrift das Wort ‚Pirello‘ auf den Block geschrieben und die Opernkarte dazugelegt haben. Fünf habe ich besucht. Eine Dame, bei der ich von ihrem eingemachten Pflaumenkompott essen mußte, während ihr braves Kind mir mit Büroklammern gegen den Hals schoß. Eine weitere Dame, die das Zipperlein hat. Eine dritte Dame, die mich zum Abendessen eingeladen hat, weil ihr Mann verreist ist.“

„Werden Sie hingehen?“

„Eine vierte Dame, die meistens Schmerzen im Kopf hat, es unerhört findet und sich über mich beschweren wird. Und ein pensionierter Professor, der darüber empört war, daß er nicht die Managerkrankheit bekommt. Mir reicht’s.“

„Armer Kommissar!“

„Das Dumme ist, daß bereits alle Leute Bescheid wissen, sobald man den Namen Fauve auch nur erwähnt. Infolge dieser intelligenten Pressenotizen.“

„Danke für das Kompliment! Was wollen Sie machen? Wir sind nun mal eine Demokratie.“

„Und was für eine!“ sagte Siloque. „Wollen Sie die restlichen drei Adressen nehmen, Chef? Anschließend werden Sie genug Menschen gesehen haben für ebensoviel Jahre.“

Das Erbe des Professors Pirello

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