Читать книгу Apokalypse Pallantau - Arno Endler - Страница 6

1

Оглавление

Über die Jugend Genba Sumahamis ist nicht viel bekannt. Folgende Dateien können jedoch gesichert ihrer Studienzeit zugeordnet werden:

Auszug aus – Hausaufgabe im Fach Lebendige Geschichte –

„Über das Leben auf ruralen Kolonien“

Von Genba Sumahami, 1. Trimester im Jahr 2811

Die romantisierenden Vorstellungen von Raumfahrt und der hochtechnisierten Lebensweise der Menschheit im Menschenraum sind auf den Welten der frühen Kolonisierungswelle weit verbreitet.

Was es bedeutet, eine neue Heimat zu besiedeln, ist den meisten Menschen nicht bewusst. Die mediale Aufbereitung in Holo-Vids-Soaps und Spielfilmen ist auch nicht gerade dazu angetan, ein realistisches Bild zu malen.

Rund viertausend Milliarden Mäuler müssen ernährt werden, und so wundert es nicht, dass zwei Drittel der Heimatwelten landwirtschaftlich geprägt waren.

Die Wirklichkeit in diesen Kolonien bestand aus einer zweigeteilten Gesellschaft und Lebensweise. Im und um den jeweiligen Raumhafen residierte die Elite, bestehend aus der Verwaltung, Händlern, Raumfahrern und Technikern. Weiter draußen lebten die Menschen sehr einfach, verfügten manchmal nicht einmal über die simpelsten technischen Hilfsmittel. Ein Siedlerleben, wie es auch aus den uralten historischen Aufzeichnungen auf Ursprung bekannt wurde.

Rannuiemmi, der 5. von 12 Planeten im Aspix-System, stellt keine Ausnahme dar. Die 212. Heimat des Menschenraums verfügt über keinen Mond, umkreist in 625 Standardtagen die Sonne Ranu. In 23 Standardstunden rotiert er um die eigene Achse. Seine Schwerkraft und Größe entsprechen nahezu der des Ursprungs.

Er wurde 2625 entdeckt und zehn Jahre später zur Besiedlung freigegeben, da ein Terraforming nicht notwendig war.

2642 begann die erste Welle der Besiedlung auf dem Hauptkontinent Pallantau. Die zweite, unbesiedelte Landmasse wurde Nicäa genannt.

Rannuiemmi ist zu 84 Prozent von Meeren bedeckt und verfügt über einen Raumport auf dem Mount-Elias-Plateau.

Im Jahr 2700 ergab die Volkszählung eine Einwohnerzahl von 22.367, die meisten von ihnen waren einfache Farmer.

Auszug aus – Hausarbeit im Fach Sozialphilosophie –

„Über die Parentes“

Von Genba Sumahami, 2.Trimester im Jahr 2812

Es gibt wohl nur wenige Eingeweihte außerhalb des Kreises der Parentes, die mit Sicherheit beurteilen konnten und können, ob die Parentes noch Menschen oder darüber hinaus evolutioniert sind.

Nur vereinzelte Informationen halten einem Faktencheck stand.

Wer sind die Entscheidungsträger oder, wenn man es so sagen will, die Herrscher im Menschenraum?

Es sind die Parentes.

Wo residieren die Parentes und ihre Familien?

Auf Ursprung, dem Planeten, dem die Menschheit entstammte.

Alle Fragen, die sich die durchschnittlichen Menschen sonst stellen, bleiben unbeantwortet. Oder man spekuliert, fantasiert oder mystifiziert.

Niemand weiß mit Bestimmtheit, in welchen Erscheinungsformen Parentes auftreten können. Die Anzahl der unterschiedlichen Phänotypen tendiert gen unendlich.

Natürlich treffen die Primusse der Kolonien mit Parentes zusammen. Doch sie berichten nicht allzu viel, was die Herrscher angeht. Aus dem wenigen, was den Weg in Aufzeichnungen gefunden hat, schließe ich, dass die Parentes wirksam verhindern, dass die Primusse mehr erzählen. Es scheint beinahe so, als wenn ein Schleier über jene seltenen Begegnungen gedeckt, das Gedächtnis eines Primus getrübt oder seine Wahrnehmung eingeschränkt würde.

Parentes reisen zumeist in ihren eigenen Privatraumern und erlauben nur in Ausnahmefällen, dass man sie persönlich kontaktiert.

Untereinander jedoch pflegen sie einen regen Gedankenaustausch.

Dabei spielt die räumliche Entfernung zwischen ihnen oder der zeitliche Ablauf des Gesprächs keine Rolle.

Die Parentes leben für den Diskurs, lieben Dialog, Diskussion und Kommunikation unter ihresgleichen.

In dem ausgehöhlten Mond des URSPRUNGS speichern Milliarden von Datenspeichern alle Konversationen der Parentes, damit sie theoretisch jederzeit für die Nachwelt abrufbar bleiben.

Jedermann ist es erlaubt, diese Aufzeichnungen anzufordern. Niemandem wurde bislang eine Anfrage verweigert.

So darf sich jeder sein eigenes Bild von den Parentes machen.

– Über einen Aspekt moderater Langeweile –

Die Individual-Cams liefern zwei Drei-D-Hologramme, die nebeneinander abgespielt werden.

Zu sehen ist auf der rechten Seite ein Tal, umgeben von schroffen Felsformationen, in dem ein Gebirgsbach einen kleinen See speist. Der Standort des Beobachters liegt deutlich erhöht auf einem Plateau, dahinter eine Fensterfront, die sich wie die Absperrung eines Höhleneingangs in den Fels zu graben scheint. Was sich hinter der Fensterfront befindet, verbleibt im Dunkeln, da die Scheiben getönt sind und die Sonneneinstrahlung zusätzlich spiegelt.

Am Himmel treiben vereinzelt bauschige Wolken, die an den Rändern von Böen zerfranst werden. Der Wind jagt die Wolken schnell über den Tageshimmel. Eine Sonne ist nicht zu sehen, aber es ist sehr hell, die Luft klar, die Sicht außerordentlich gut.

Der Beobachter tritt an den Rand des Plateaus, bleibt vor einer fünfzig Zentimeter hohen Brüstung stehen.

Man sieht, dass sich direkt dahinter ein mehrere hundert Meter tiefer Abriss im Berg anschließt. Die Tonaufnahme lässt erahnen, dass es auch hier stürmt, so laut klingt das Sausen und Pfeifen.

Der Beobachter schwankt nicht im Wind. Sein Körper ist nicht zu sehen.

Das linke Hologramm bietet deutlich weniger Einzelheiten in der Videodatei.

Hier steht der Beobachter auf einem freien Feld. Die Pflanzen, die an dieser Stelle einmal wuchsen, sind abgeerntet. Einige Reste der Stängel vermodern im Matsch.

Der schlammige Boden ist voller Pfützen. Die Sichtweite beträgt nur rund zehn Meter, dann verschwindet alles im Grau des Bindfadenregens.

Auch in dieser Video-Aufzeichnung ist der Körper des Beobachters nicht sichtbar.

Der Diskurs beginnt mit Worten aus dem Regenhologramm.

„Ich grüße dich, Freund. Wie ich sehe, liebst du noch immer die Einsamkeit.“ Der Beobachter des Regenhologramms sieht natürlich die Bilder der anderen Übertragung.

„Soporo. Freund. Gleichfalls grüße ich dich. Augenscheinlich genießt du es nach wie vor, dem Regen standzuhalten. Wann wirst du dein Domizil wieder aufsuchen?“

„Ach, Anodyneon. Du weißt, wie sehr ich in den Tag lebe. Es ist das Hier und Jetzt, was wichtig ist. Jeden Regentropfen möchte ich zählen, ihn streicheln, denn er ist einzigartig auf der Welt.“

„Man könnte gleichwohl sagen: Du liebst es, nass zu werden. Unter Umständen sogar, dass du zu gleichgültig bist, um dir einen Schutz vor dem Niederschlag zu suchen.“

Das Hologramm im Regen erzittert, als dieser Beobachter während des Lachens zuckt.

„Du bist mein innigster Freund und mein vehementester Kritiker, Anodyneon. Was würde ich mich ohne deine scharfe Zunge langweilen.“

„Ist dem so?“

„Aber natürlich. Wie sehr vermisse ich unsere gemeinsame Zeit auf dem Einhundertsiebzehnten. Wie wir erkundeten, stritten, Entscheidungen trafen und die Schicksale von vielen beeinflussten. Wohin sind die Jahre gegangen?“

„Du zeigst einen ausgeprägten Hang zur Sentimentalität, Soporo. Könnte es vielleicht sein, dass die Stunde nahe ist, dein Leben zu ändern?“

„Erneut?“

„Es ist Dekaden her, dass du zum Ursprung zurückkehrtest. Wie lange verharrst du da aktuell im Regen?“

„Ich weiß es nicht, Anodyneon. Ich vergaß, die Zeit zu stoppen, verlor mich in meinen Gedanken und Wonnen.“

„Das sieht dir ähnlich. Dennoch möchte ich darauf hinweisen, dass wir nicht nur für die eigenen Genüsse geboren wurden. Ich schlage ein Treffen vor, liebster Soporo. Wir beide. Du wählst den Ort.“

„Gibt es außer der Sorge um meinen emotionalen Zustand noch weitere Gründe für deinen Vorschlag?“

„In der Tat.“

„Du siehst mich erstaunt.“

„Ich bitte dich.“

„Einverstanden, Anodyneon. Sobald der Regen endet. Die fallenden Regentropfen komponieren eine ganz eigene, nicht wiederholbare Symphonie. Ein exquisiter Genuss. Ich möchte diese Darbietung nicht missen.“

„Es ist die Langeweile, an der du dich ergötzt, nicht wahr?“

„Möglicherweise.“

„Ein Intellekt wie der deinige benötigt Herausforderungen, keinen Stillstand.“

„Ein Aspekt der Langeweile ist es, dass man sie moderat durchaus goutieren kann. Es ist der Geist, der, befreit von einer sinnvollen Aufgabe, sich zu höheren Ebenen aufschwingt. So fordere ich meinen Verstand heraus.“

„Ich muss nicht deiner Meinung sein, Soporo.“

„Waren wir das jemals, Anodyneon?“

– Ende der Aufzeichnung –

Parrer Savea untersuchte die Sichel auf Scharten und beschloss, sie zu schärfen, bevor er weitersenste.

Der Tag versprach, etwas wärmer zu werden. Bereits in den Morgenstunden schwitzte Parrer. Doch der Farmer liebte es, das Ergebnis seiner Hände Arbeit sehen zu können.

Heute, wie auch in den letzten vier Tagen, befreite er ein weiteres Areal vom allgegenwärtigen Steppengras. Dort, wo die Pallantaurier nicht grasten, wuchs es ungehemmt in die Höhe. Grau, kräftig, bis zu drei Meter hoch. Seine Struktur verlieh ihm eine Widerstandsfähigkeit, die den Einsatz der üblichen Solar-Mäher verhinderte.

Der Agrar-Senator hatte zwar versprochen, dass die Konstruktion eines auf pallantaurische Verhältnisse angepassten Mähers schon angestoßen wäre, aber Parrer wusste, was das hieß: Monate, wenn nicht Jahre der Entwicklung und schließlich ersten Erprobung in den großen Farmen, zu denen seine eigene sicherlich nicht gehörte.

Also blieb nur die gute alte Sense. Ordentlich geschärft, von kräftigen Armen durchgezogen, erledigte sie das, was Maschinen nicht vollbrachten.

Parrer Savea verfügte nicht über die finanziellen Mittel, um die dauerhaften Wartungszyklen der solarbetriebenen Geräte bezahlen zu können. Auf seiner Farm arbeiteten alle mit Muskelkraft. Unabhängig zu sein, eigenständig und stolz darauf, war Saveas Motto.

Er streckte seine mehr als 1,90 Meter in die Höhe, lockerte die Muskulatur und gähnte herzhaft. Dann packte er die Sense und begann mit ökonomischen Bewegungen, das Gras zu bearbeiten.

Schnitt. Ausholen. Schnitt. Ausholen. Schnitt. Immerzu. In einem beinahe hypnotischen Rhythmus.

Das Gras fiel, er setzte die Füße voran und weiter ging es.

Irgendwann befreite sich sein Verstand von dieser Aufgabe, die nun seine Muskeln automatisch vollbrachten. Von der Konzentration auf die Arbeit, die er tat, entledigt, verirrten sich die Gedanken in Tagträume.

Von seiner Frau Nahita, die bald ihr erstes Kind erwartete. Er erinnerte sich an das nachdenkliche Gesicht der Natalmedizinerin, die das Ergebnis via Ferndiagnosesystem ermittelt hatte, als seltsam farblose, unwirklich erscheinende Nachbildung eines echten Menschen aus dem Monitor hinausstarrte und sagte: „Ich rate Ihnen, spätestens drei Monate vor der Geburt nach Mount Elias zurückzukehren. Sie sind weit ab von jeglicher schnellen Hilfe und es ist Ihr erstes Kind, Zivisa Savea. Da besteht ein Restrisiko.“

Nahita schüttelte energisch den Kopf. „Das ist Haupterntezeit. Ich werde meinen Mann nicht alleine lassen.“

„Ich spreche die Warnung nur ungern aus, aber es geht um Ihr Kind.“

„Ja, ich verstehe. Allerdings haben Frauen jahrtausendelang Kinder weitab von medizinischen Einrichtungen und ohne die Hilfe von Ärzten zur Welt gebracht. Ich schaffe das.“

„Diese Frauen lebten auch auf Ursprung, Zivisa. Ihre Geburt wird auf einer sehr jungen Heimatwelt stattfinden. Auf einem Planeten, der primär nicht für die Menschen vorgesehen war. Wir müssen, trotz aller gegenteiligen Forschungen, in Betracht ziehen, dass es irgendwo auf dieser neuen Heimat Krankheitskeime gibt, die Ihnen oder Ihrem Kind schaden könnten. Vier bis fünf Tage brauchen Sie im Notfall, um nach Mount Elias zu kommen. Selbst Ihr nächster Nachbar ist weit …“

„Ich will das nicht hören, Zivisa. Die Entscheidung ist getroffen.“

So war es schon immer gewesen: Nahita sprach nie viel, es sei denn, es handelte sich um ihre Forschungsgebiete, und wenn sie etwas äußerte, dann meinte sie es so und setzte ihren Willen durch.

Parrer stoppte sein Schnittwerk. Er inspizierte die Schneide erneut. Dabei blitzte die Armilla an seinem Handgelenk.

Er tippte kurz auf den kleinen Edelstein. „Verbindung Haus.“

Seine Frau antwortete nach einigen Sekunden. „Parrer? Was ist?“

„Nichts, Ita. Ich wollte deine Stimme hören.“

„Und?“

„Äh …“ Parrer verstummte.

„Mir geht es gut“, beteuerte Nahita bestimmt.

Parrer fragte sich, ob sie verärgert war. Um die unangenehme Pause zu überbrücken, erkundigte er sich: „Wo sind die Mädchen?“

„Genba und Gira sind auf dem Weg zum Ostfeld.“

„Ich nehme an, dass Ichmach dabei ist?“

„Ja.“

„Scala?“

„Müsste fast bei dir sein.“

Parrer wandte sich um. Aus Richtung der Farm sah er eine Gestalt sich nähern.

„Sie hat dein Mittagessen bei sich“, ergänzte Nahita via LR-Kommunikation. Es rauschte kurz in der Verbindung.

„Hattest du auch gerade eine Störung?“, fragte Parrer.

„Ja.“

„Würdest du …?“

„Parrer!“, unterbrach Nahita seine Frage. „Wir sind der Außenposten. Weiter als wir ist kein Farmer von Mount Elias entfernt. Wir müssen in Kauf nehmen, dass die LR-Verbindungen nicht immer zuverlässig sind. Ich konnte eben nicht mal die Nachrichten schauen, ohne dass das Bild verschwamm.“

Parrer schwieg. Die Überlegungen in seinem Kopf verwirrten sich, weil er nicht wusste, wie er seine Gedanken formulieren konnte, ohne Nahita zu verärgern.

Doch sie kam ihm zuvor. „Mir geht es gut. Ich bin schwanger, nicht krank. Alles in Ordnung. Es gibt Klöße. Und jetzt muss ich zurück ans Mikroskop, die letzten Proben examinieren.“

„Klöße? Aus Palla-Gras-Samen?“, fragte Parrer.

„Ich weiß, du hasst sie, aber ich kann nicht ständig was mit Kartoffeln machen. Denk an die Kosten.“

„Ja.“

„Vielleicht überleg ich es mir.“

„Ita?“, murmelte Parrer.

„Ich liebe dich auch“, entgegnete sie. Mit einem Klack endete die Sprechverbindung.

Parrer seufzte, winkte Scala zu, die, noch außerhalb der Rufweite, den Gruß erwiderte.

Hinter dem sanften Hügel erstreckte sich das Meer, der Ozean Capellineri, benannt nach einer Forscherin, die bei der Besiedlung Rannuiemmis eingesetzt worden war. Übersetzt hieß es wohl schwarzes Haar, aber im Gegensatz dazu leuchtete das Wasser in einem türkisen Blau.

Recht flach, in Küstennähe bis höchstens zwanzig Meter tief, eignete es sich gut für Schiffe. Es gab nur wenige dokumentierte Unwetter, die Nautik auf Rannuiemmi stellte kaum jemanden vor große Herausforderungen.

Die Fischerei war auf der 212. Heimat des Menschenraums kein möglicher Beruf, da es, bis auf wenige Algen und Kleinstlebewesen, keinerlei verwertbare Tiere in dem Wasser gab. Im zentralen Bereich des Ozeans befand sich eine vergleichsweise winzige Tiefseegrube, aber bislang hatte niemand Zeit gefunden, dort zu forschen.

So bot Capellineri den ewig gleichen, nahezu unbewegten Anblick. An Tagen wie heute, bei Null-Wind, gab es nicht einmal leichten Wellengang.

Parrer genoss das Panorama. Auf Mallondan, der 156. Heimat des Menschenraums, wo er geboren und aufgewachsen war, hatte es nur Seen gegeben. Manche zwar recht groß, dennoch nur Binnengewässer.

Auf Rannuiemmi beherrschte das Blau des Ozeans den Planeten. Dieses Bild hatte sich in Nahita und Parrers Gedächtnis gebrannt. Da hatten sie gewusst, dass sie auf einem fremden Planeten landen würden.

Beim Anflug hatten die Saveas gestaunt. Diese Farbexplosion, die sich förmlich in ihre Seele stürzte, um sich dort festzusetzen. Ihr neues Zuhause wurde genau zu dem, was die Bezeichnung der Kolonien des Menschraums versprach: eine Heimat. Der Platz, an dem sie siedeln konnten, sich einen Ort schafften, an dem sie Kinder großziehen und nach einem erfüllten Leben zufrieden sterben wollten.

Natürlich hatte man ihnen bei der Einweisung für die zukünftigen Kolonisten Aufnahmen gezeigt. Doch die Wirklichkeit erwies sich als noch viel realer, und Rannuiemmi knüpfte ein Band zu den Saveas, welches sie nicht für möglich gehalten hatten.

Vier Jahre war es her, sechs Ernten und eine unverhoffte Schwangerschaft.

In einem halben Jahr würde die nächste Welle von Kolonisten eintreffen. Dann endlich stellte die Farm der Saveas nicht mehr den äußersten Vorposten der Besiedlung dar. Nachbarn in erreichbarer Nähe. Menschen, denen sie weiterhelfen könnten, um auf dieser 212. Heimat Fuß zu fassen.

Parrer freute sich darauf. Nahita blieb skeptisch. Sie erwartete, in jeder Bodenprobe einen Keim zu finden, der sich als gefährlich entpuppte. Doch bislang hielt Rannuiemmi das Versprechen, ein für Menschen wie geschaffenes Paradies zu sein.

Parrer schüttelte seine Armmuskeln aus und setzte sein Schnittwerk fort. Es warteten noch einige Quadratmeter auf ihn. Mit geschickten Händen band Scala nun die Palla-Gras-Halme zu Garben zusammen und sortierte dabei die gebrochenen oder verfärbten Pflanzen bereits aus.

Scala saß mit Respektabstand zu Parrer auf dem Boden, als sie gemeinsam die Brote aßen. Sein Hunger nach der anstrengenden Arbeit war größer als die vier Schnitten, die ihm Nahita genehmigt hatte. Er beobachtete, wie die schlanke Scala an ihrem zweiten Brot knabberte. Kein Wunder, dass sich kaum ein Gramm Fett an ihrem Körper fand. Ihre dunklen Haare und das hübsche, leicht gebräunte Gesicht schimmerten im Licht Ranus. Die Haare, weil sie sowieso glänzten, das Gesicht vor Schweiß.

Scala hatte sich von den drei Studentinnen auf der Farm als diejenige erwiesen, die für das einfache rurale Leben perfekt geeignet war. Schweigsam, immer zur Stelle. Mit vollem Einsatz arbeitete sie bis zur Erschöpfung.

Parrer wusste, dass er ohne sie die Farm nicht so weit gebracht hätte. Die ersten beiden Ernten waren kümmerlich ausgefallen, gerade genug, um die Zinsen für den Auswanderungskredit zu bezahlen. Die Gleba, die er erworben hatte, hätte unter diesen Umständen noch von seinen Enkeln abbezahlt werden müssen.

Dann kamen die drei Farmgirls, die nun seit fast zwei Jahren bei ihnen wohnten und sie unterstützten. Ein Austauschprogramm für angehende Akademiker und Leistungsträger im Menschenraum machte es möglich.

Als Speerspitze der Kolonie hatten die Saveas die ersten Freiwilligen zugeteilt bekommen.

Inzwischen hatte sich Parrer an die Anwesenheit der Mädchen gewöhnt. In ihnen Frauen zu sehen, fiel ihm schwer, obwohl sie nur rund acht Jahre jünger waren als er selbst.

Scala war auf jeden Fall die hübscheste.

„Du bist heute weit gekommen, Parrer“, sagte sie und deutete mit dem Kopf in Richtung des vom Gras befreiten Areals.

„Es fällt mir immer leichter mit der Sense“, antwortete der Farmer. „Ich weiß noch, wie ich mich damit im ersten Jahr angestellt habe.“

„Auf Yoimuri veranstaltete man Wettkämpfe mit antiken Geräten“, erzählte Scala. Sie stammte von der 197. Heimat, die nach ihrem Entdecker, einem Piloten, benannt worden war.

„Wirklich?“

„Ja. Es sind natürlich Gaudi-Wettbewerbe.“

„Gaudi?“

„Spaß, Just-for-fun-Sportarten. Du verstehst.“

Parrer nickte. „Deratiges gab es auf Mallondan nicht. Mein Vater hätte mir auch gar nicht erlaubt, an so etwas teilzunehmen.“

Scala blickte ihn an. Ihre braunen Augen blitzten im Sonnenlicht. „War er streng?“

„Er war mehr als das.“

„War das der Grund, weshalb du dich für die neue Heimat beworben hast?“

„Vielleicht auch. – Ja.“ Parrer starrte gedankenverloren in Richtung des Meeres. „Einer der Gründe.“ Er wandte sich wieder Scala zu und bemerkte ihren prüfenden Blick.

„Manchen Eltern fehlt das Verständnis“, sagte sie. „Viele merken es gar nicht, aber sind so erpicht darauf, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben, dass sie Abweichungen vom Weg nicht akzeptieren können.“

Parrer hatte den Eindruck, dass ein tiefer Schmerz in Scala steckte. Viel wussten die Saveas nicht über die vorherigen Leben der Farmgirls.

„Hattest du Ärger mit deinen Eltern?“, fragte Parrer.

Scala sah auf, öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder.

Der Augenblick schien vorüber. Ihre Offenheit wich einer verstockten inneren Einkehr.

Sie schüttelte den Kopf, betrachtete das Brot in ihren Händen und biss hinein. Dann reichte sie Parrer das letzte verpackte Brot. „Du hast bestimmt noch Hunger.“

Sie erhob sich und begann wortlos ihre Arbeit.

Parrer überlegte, ob er eine Grenze überschritten hatte. Er verstand so wenig von Frauen. Sie waren ihm wirklich ein Rätsel.

Er verschlang das geschenkte Brot mit drei großen Bissen und schnappte sich seine Sense. Der Nachmittag stand an und ein Feld musste bereitet werden.

Die meditative Ruhe der Arbeit wurde auch an diesem Tag von nichts gestört.

Parrer liebte diesen Planeten. Keine Insekten wie auf Mallondan, wo ein Abstecher zu den Thermalquellen in einer schweren Infektion enden konnte, wenn man nicht auf die Tosla-Moskitos achtete, die sich heimtückisch auf Besucher stürzten. Die sanfte Brise, die beständig wehte und den Schweiß kühlte, ohne zu stören. In den vier Jahren hatte es lediglich einen Sturm gegeben. Ein oder zwei kurze Unwetter, die vom Meer her aufs Land drängten.

Ein wahres Paradies, so war es den zukünftigen Kolonisten auf Mallondan verkauft worden.

„Wart´s nur ab“, hatte sein Vater prophezeit, die Stimme zu einem Knurren verzerrt. „Das dicke Ende siehst du erst, wenn du da bist.“

Parrer wusste, was seinen Vater zu dem vehementen Widerstand gegen die Auswanderungspläne getrieben hatte, also ignorierte er alle Argumente.

Rannuiemmi stellte jedoch das Paradies dar. Keine Haken, keine Lügen der Auswanderungsbehörden.

Das war seine Heimat.

„Parrer?“, rief Scala.

Er schaute hoch, setzte die Sense ab.

„Was ist?“

„Spürst du das auch?“

Parrer wusste nicht, was sie meinte.

„Der Boden“, ergänzte das Farmgirl.

Und plötzlich war da ein Beben. Unmerklich zunächst, doch dann zitterte es heftiger.

„Ein Erdbeben?“, doch Parrer übertönte ein Donnergrollen vom Meer.

Er spähte hinaus, um die Gewitterwolken zu suchen, aber der Himmel war vollkommen wolkenlos. Ranu strahlte in ganzer Pracht über Capellineri.

Parrer tippte auf seine Armilla. „Verbindung Haus.“

„Eine Kommunikation ist derzeit nicht möglich“, verkündete das Gerät.

„Versuchst du es?“, wandte sich Parrer an Scala.

Aber auch ihre Armilla meldete eine LR-Störung.

„Palla-Dung“, fluchte Parrer. „Lass alles liegen, wir müssen zurück.“

Scala nickte. „Die Loqui-Rete-Verbindungen sind doch schon oft ausgefallen“, versuchte das Farmgirl ihn zu beruhigen, während sie ihm hinterherhetzte.

„Es gab noch nie ein Erdbeben. Ich will wissen, was los ist.“ Parrer presste die Lippen zusammen und legte einen Zahn zu. Er dachte an Nahita. Ging es ihr gut? Hatte sie Angst ob des Bebens? Wahrscheinlich nicht, seine Frau erschreckte so schnell nichts.

Fast im Laufschritt eilten Parrer und Scala über die sanft gerundeten, vom Palla-Gras befreiten Hügel. An einigen Stellen zeigten sich die ersten Sprossen des Getreides. Vorwitzige grüne Punkte im hellbraunen Boden. Das Versprechen auf eine gute Zukunft, wie Nahita immer sagte.

Parrer spürte ein leichtes Stechen in der Seite. Das Haus war bereits in Sichtweite.

Scala stieß ihn an die Schulter und deutete in Richtung der Ostfelder. „Gira, Genba und Ichmach kommen auch.“

Der Schweiß in Parrers Augen brannte. Er sah die drei Gestalten undeutlich und nickte nur.

Die drei Farmgebäude standen unversehrt in der Senke. Neben dem Haupthaus gab es eine ungenutzte Scheune, die eigentlich für Tiere vorgesehen war, und ein Nebengebäude mit dem Lager für die Ernte und den Zimmern der Farmgirls. Parrer registrierte, dass alle Scheiben heil waren und die Dächer schienen intakt. In der weißen Außenfassade der Häuser gab es keine sichtbaren Risse.

Das Paddelboot in der vorgeschobenen Bucht Capellineris, die nur rund hundert Meter vom Haupthaus entfernt lag, schaukelte sanft. Ein Bild der Ruhe und Idylle. Nichts deutete darauf hin, dass das Beben Schäden angerichtet hatte. Parrer konnte jedoch die unguten Vorahnungen, die seinen Magen in Aufruhr versetzten, nicht beiseiteschieben.

„Nahita“, rief er, als sie den Hof erreichten. „Schau du im Lager nach“, wies er Scala an.

Er selbst rannte auf die Eingangstür zu.

Über dem Rahmen prangte die Inschrift, die Nahita zwei Tage nach ihrem Einzug dort angemalt hatte: PER SEMPRE. Für immer. Das sollte es auf ewig sein. Ihre gemeinsame Heimat.

Er öffnete die Tür und betrat den großen Küchenraum, einen Flur gab es nicht.

Nahita stand am Herd. Das laute Brutzeln und der Duft nach gebratenen Kartoffeln beruhigte Parrer augenblicklich.

„Ita!“, rief er.

Da wandte sie sich um. Der Schwangerschaftsbauch wirkte voluminöser als am Morgen, was sicherlich Einbildung war.

„Parrer?“ Sie sah ihn verwirrt an. „Was machst du schon hier? Ich bin mit dem Essen noch nicht fertig.“

Er umrundete den großen Tisch, an dem sie die Mahlzeiten teilten, stieß dabei gegen einen Stuhl, bemerkte den Schmerz an der Hüfte erst, als er sie in die Arme schloss.

„Ich bin so froh“, sagte er, spürte, wie sich ihre anfängliche Verspannung wegen der unerwarteten Umarmung löste und sie weich wurde.

„Was hast du, Lassu?“, fragte sie.

Parrer entließ sie aus seinem Griff. „Ich habe mir Sorgen gemacht. Jetzt bin ich erleichtert.“

„Sorgen?“

„Ja, wegen des Bebens.“

„Ein Beben?“

„Ja, hast du es nicht gemerkt, Liebste?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Es war ein Erdbeben. Unerwartet und ziemlich heftig.“

„Rannuiemmi kennt keine Erdbeben“, zitierte Nahita den Flyer, der ihnen bei der Auswanderungsbehörde ausgehändigt worden war.

„Ich habe es mir nicht eingebildet. Scala war bei mir. Die anderen kommen auch schon zurück. Es war heftig.“

Nahita musterte ihren Mann intensiv, dann zuckte sie zusammen. „Hach! Die Kartoffeln.“ Sie wandte sich wieder um, griff nach dem Pfannenwender.

„Beinahe angebrannt.“

Parrer schaute konsterniert zu, wie sich seine Frau in aller Seelenruhe dem Essen widmete.

Sie blieb die Gelassenheit selbst. Genauso managte sie auch ihre Schwangerschaft.

Er spürte, wie die Anspannung von ihm abfiel. Er stellte sich hinter Nahita und umarmte sie, ließ seine Hände auf ihrem prallen Bauch ruhen.

„Lassu? So hast du mich schon lange nicht mehr genannt“, flüsterte er ihr ins Ohr und küsste sie auf den Hals.

„Ich fand es gerade passend“, entgegnete sie.

Lassu, die kleinen Nager ihrer ehemaligen Heimat. Männchen, die sich an die Weibchen klammern und durch die Landschaft getragen wurden. Parrer grinste. „Wir hatten wenig Zeit in den letzten Wochen. Für uns, meine ich.“

„Es werden andere Tage kommen. Wenn das Kind erstmal da ist.“

Parrer sparte sich eine Antwort darauf. Er schnupperte, sog den Duft der kräftig gewürzten Kartoffeln ein.

„Hm. Lecker. Sollte es nicht Klöße geben?“

„Ich wollte mir dein enttäuschtes Gesicht nicht anschauen müssen“, erwiderte Nahita.

Er küsste sie erneut auf den Hals, der verführerisch frei vor ihm lag. Die blonden Haare hatte sie sich sehr kurz geschnitten, weil es praktischer für sie gewesen war.

„Lass das“, ermahnte sie ihn mit einem leicht amüsierten Tonfall. „Willst du nicht mal schauen, ob sie in den News etwas über das Beben bringen?“

„Mach ich“, gab Parrer nach und ging zur Tür. „Ita?“, fragte er, als er im Durchgang verharrte und sich umwandte.

„Jetzt geh schon“, entgegnete sie, ohne ihn anzuschauen.

Parrer quälte immer wieder der Gedanke, was seine Frau alles aufgegeben hatte, um ihn auf diese neue Heimat zu begleiten. Einst gefeierte Forscherin, fristete sie nun ein Dasein als Hausfrau und Farmerin. Seit der Schwangerschaft konnte sie nicht mehr bei der Bestellung der Felder helfen. So waren sie in eine traditionell rückständige Rollenverteilung zurückgefallen, die Nahita nicht gefallen konnte.

Für ihre Forschungen blieb ihr nur die spärliche Freizeit. Das Mikroskop war ihr Freund und ihre Erkenntnisse teilte sie mit den Fulltime-Wissenschaftlern in Mount Elias. Diese Verbindung zur Forschergemeinschaft stellte für sie eine willkommene Abwechslung dar.

Dennoch fügte Nahita sich in die Hausfrauen-Rolle, als wenn sie es nie anders gekannt hätte.

Parrer wusste, dass er viel gutzumachen hatte.

Er schaltete im Wohnraum mit der Fernbedienung die LR-Videowand an.

NO VIDEO-SIGNAL

Die Störungen des Loqui-Rete waren hier in der Peripherie ausgeprägt. Erst nach der nächsten Welle der Neu-Kolonisten würde sich dies ändern.

Parrer wechselte in den News-Bereich der allgemeinen Senatspublikationen. Dort fand er auch die Informationen, die er suchte. Ein Beben der dritten Kategorie in einigen Kilometern Tiefe im Zentralland Pallantaus, weit weg von allen bewohnten Gegenden.

Somit hatten er und Scala nur die Ausläufer gespürt. Parrer las die Ankündigung einer Forschungsgruppe, die sich mit dem bislang unbekannten Phänomen eines Erdbebens befassen sollte.

Nicht wirklich beunruhigende Nachrichten.

Trotzdem setzte sich ein hartnäckiges Gefühl in ihm fest. Was wäre, wenn die Regierung die Angelegenheit verharmloste?

Parrer wollte mit den Nachbarfarmen reden, aber die eigentliche Kommunikation via Loqui-Rete blieb unterbrochen, wie seine Armilla meldete. Für einen Fußmarsch oder eine Fahrt mit dem Speeder war es an diesem Tag zu spät.

„Parrer?“

Der Farmer drehte sich um.

Gira stand im Durchgang zur Küche. Ihr Gesicht, das von der Farmarbeit ganz braun geworden war, wirkte unnatürlich blass. Sie biss sich auf der Lippe herum.

„Was ist?“, fragte er.

„Du solltest mal rauskommen. Genba hat da eine merkwürdige Nachricht von Ichmach auf dem Monitor. Kommst du? – Bitte!“, drängte sie.

Parrer schaltete die Videowand ab und folgte Gira, die durch die Küche schlich und Nahita keines Blickes würdigte. Es schien beinahe so, als wenn sie nicht wollte, dass Parrers Frau sie ansprach.

Nahita schaute auf, lächelte Parrer zu, während sie den Tisch deckte. „Essen ist gleich fertig.“

„Danke. Ich muss kurz raus, um mal nach der LR-Antenne auf dem Dach zu schauen. Die Kommunikation ist eingeschränkt.“

„Gut. Mach nicht so lange.“

Parrer nickte und folgte Gira nach draußen.

Dort wartete Genba, die natürlich ihre Brille trug. Ein Anachronismus, selbst auf einer neubesiedelten Heimat. Doch sie weigerte sich, die Augenkorrektur vornehmen zu lassen.

Parrer wusste nicht weshalb.

Genba stand neben Ichmach, dem Pallantaurier. Dessen massige, stiergroße Gestalt wirkte seltsam deplatziert zwischen den drei schlanken, beinahe zierlichen Farmgirls. Dabei war er der einzige Ureinwohner. Bis zur Ankunft der Menschen auf Rannuiemmi mussten sich diese Lebewesen den Planeten mit niemandem teilen.

Inzwischen hatte sich Parrer an den Anblick des halbintelligenten Pallantauriers gewöhnt. An das sich weich anfühlende, himmelblaue Fell, typisch für die Männchen der Spezies, und an den fünfzig Zentimeter langen Rüssel, mit dessen Hilfe die Kreaturen das Gras ausrissen, um sich davon zu ernähren.

Pallantaurier hatten keine Fressfeinde auf Rannuiemmi und lebten streng vegetarisch. Sie waren sehr friedliebend. Einigen Exemplaren hatte man einen Übersetzungs-Chip implantiert, der es ermöglichte, die unverständlichen Lautäußerungen mittels einer App wiederzugeben. Ichmach trug einen Chip in seinem Nacken.

Aus einem unbekannten Grund schienen die Pallantaurier problemlos die Sprache der Kolonisten zu verstehen. Zumindest einfache Sätze. Zu höheren Leistungen war das Gehirn nicht fähig.

Genba war stets diejenige, die sich mit Ichmach unterhielt. Es hatte sich so ergeben. Die beiden ungleichen Lebewesen lagen offenbar auf einer Wellenlänge.

Doch das übliche Lächeln auf dem Gesicht des Farmgirls war verschwunden. Sie strich sich nervös durch das raspelkurze blonde Haar, tätschelte dem Pallantaurier die Flanke und winkte Parrer herbei.

„Was ist denn?“, fragte der Farmer ungeduldiger, als er es gewollt hatte.

„Ichmach hat eine sehr merkwürdige Aussage gemacht. Ich habe sie gespeichert.“

Genba drehte das Tablet in ihren Händen, so dass Parrer das Display erkennen konnte.

„Wir waren draußen beim Ostfeld sieben und pflügten mit Ichmach. Dann kam das Erdbeben. Wir waren überrascht. Und da habe ich Ichmach gefragt, ob er so ein Erdbeben schon mal gespürt hat.“

„Und?“, hakte Parrer nach und machte dabei eine beschleunigende Handgeste.

„Er verstand zunächst nicht, was ich mit Erdbeben meinte. Also musste ich es umschreiben, bis er kapierte, wovon ich sprach. Und er gab mir diese Antwort.“

Genba drückte auf einen virtuellen Knopf und eine Nachricht in fetten Buchstaben flashte auf.

MUTTER WIRD STERBEN

„Mutter wird sterben? Welche Mutter? Seine?“, fragte Parrer.

Genba zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich habe ihn mehrfach aufgefordert, mehr zu sagen. Aber es kommt nur das.“

„Ichmach?“, wandte sich Parrer an den Pallantaurier.

Dessen traurig dunklen Augen sahen den Farmer an. „Sind wir in Gefahr? Müssen wir hier weg?“

Aus dem massigen Leib brummte es heraus. Die Lautäußerungen der Pallantaurier bildeten Vibrationssegel nahe der Lungen. Es klang stets wie ein summender Bienenschwarm. Nicht unterscheidbar für menschliche Ohren.

Doch der Chip übersetzte die wenig stringenten Gedankenimpulse der Tiere. Das Vokabular wuchs langsam mit der Zahl der Implantierten und dem steigenden Interesse der Forscher.

Das Brummen endete abrupt.

Auf dem Display las Parrer die bereits bekannte Botschaft. MUTTER WIRD STERBEN

„Wir müssen das an die Leitgruppe in Mount Elias melden“, meinte Genba und schob sich die Brille zurecht.

„Müssen – ja, können – nein. Die Loqui-Rete-Kommunikation ist ausgefallen. Jemand muss aufs Dach“, entgegnete Parrer.

„Das mache ich“, bestimmte Gira, die technisch begabt war.

„Okay. Aber nach dem Essen“, sagte Parrer. „Wir sollten uns stärken.“

„Was gibt es?“, fragte Genba.

„Kartoffeln“, antwortete Gira. „Schon wieder.“

Für das Essen setzten sich alle in der üblichen Sitzfolge an den großen Tisch im Raum neben der Küche. Parrer hörte mit halbem Ohr der Diskussion zwischen Genba und Nahita zu, die verschiedene Aspekte der Lautäußerungen Ichmachs besprachen. Er verstand nur die Hälfte, da die beiden Frauen Fachbegriffe der Exobiologie benutzten, die ihm wenig bis gar nichts sagten.

Er wusste, dass Nahita neben der Hausarbeit weiter an den Merkwürdigkeiten des Lebenszyklus der Pallantaurier forschte. Dies befriedigte sie in einem Maße wie ihn die Feldarbeit. Allerdings kam er sich regelmäßig dumm vor, wenn sie ihm über ihre Arbeit berichtete.

Genba steckte noch am Anfang des Studiums, saugte jedes Wort ihrer Mentorin auf, antwortete mit vollem Mund, sobald es aus ihr heraus musste, und scherte sich nicht um die umherfliegenden Bröckchen.

Scala und Gira aßen schweigend. So ähnlich wie sie in Haarfarbe und Statur wirkten, so unterschiedlich waren ihre Essmanieren. Gira schaufelte nahezu wütend die Kartoffelbratlinge in sich hinein, nutzte Messer und Gabel wie Werkzeuge, mit denen sie sonst Maschinen reparierte. Scala schien gedankenverloren, sprach immer ein leises Gebet vorweg, was alle anderen am Tisch ignorierten.

Mehrfach stockte Scala heute die Hand mit der Gabel auf halbem Weg zum Mund. Das Farmgirl hypnotisierte einen Punkt irgendwo im Nichts, bis ein kleiner Ruck durch den schlanken Körper fuhr und sie weiteraß.

Parrer fragte sich erneut, weshalb sie sich dem dreijährigen Freiwilligendienst auf einer frischen Heimat gestellt hatte. Es wollte einfach nicht zu der in sich gekehrten Frau passen.

Gira leerte ihren Teller in Rekordzeit. Man merkte ihr die mangelnde Begeisterung für Kartoffelgerichte nicht an. Sie tippte Scala in die Seite, als diese wieder mitten in der Bewegung eingefroren war. „Komm, iss auf. Du kannst mir bei der Antenne helfen.“

Scala schenkte ihr ein Lächeln und widmete sich intensiver dem Essen.

Parrer registrierte eine Bewegung jenseits des einzigen, aber sehr breiten Fensters. Dort sah man nicht nur den Ozean, sondern auch den massigen Leib Ichmachs, der in die Stube starrte. Der Rüssel pendelte im Takt eines unsichtbaren Metronoms. Seine Augen suchten nach Genba, die der halbintelligente Einheimische ins Herz geschlossen hatte. Gelegentlich schliefen die beiden Seite an Seite im Freien, was bei Temperaturen ganzjährig um die zwanzig Grad problemlos möglich war.

Er ist der einzige Mann außer mir im Umkreis von fünfzig Kilometern, dachte Parrer und musste gleichzeitig schmunzeln. Kein Wunder, dass Nahita ein Mädchen erwartete, bei der geballten Frauenpower der Farm.

„Wir kümmern uns um die LR-Kommunikation“, verkündete Gira und zerrte Scala mit sich.

Parrer sah den beiden jungen Frauen nach. Giras nackte Beine und Arme irritierten ihn stets aufs Neue. Das Farmgirl stammte von Permes, der 201. Heimat des Menschenraums, eine Welt voller gewaltiger Gletscher und eisbedeckter Kontinente, auf der nur ein schmaler Streifen rund um den Äquator bewohnt war. Aber auch in diesem grünen Vegetationsgürtel stiegen die Temperaturen selten über zehn Grad. So war das erste, was Gira auf Rannuiemmi getan hatte, die übliche Siedlermontur, ein multifunktionaler Stoff, der wenig körperformbetonend und mausgrau gefertigt worden war, mit einer Schere zu bearbeiten. Herausgekommen waren eine Shorts, die knapp den halben Oberschenkel bedeckte, und als Oberteil ein Unterhemd in Form eines ärmellosen Shirts. Gira zog viele Blicke auf sich, wenn sie mit zum Raumhafen oder nach Marketplace reiste, um dort die Ernte zu verkaufen und Ersatzteile zu besorgen. Die gaffenden Männer interessierten sie jedoch nicht. Es verging allerdings kaum ein Tag, an dem sie sich nicht über die unerträgliche Hitze beschwerte.

„Schmeckt´s dir nicht?“, erkundigte sich Nahita bei Parrer und riss ihn so aus den Gedanken. Er fühlte sich ertappt. „Doch, doch, Ita. Ich mache mir nur Sorgen um die LR-Kommunikation. Der Ausfall der Verbindung nach Mount Elias ist nicht gut.“

„Es sind noch Wochen bis zur Geburt. Außerdem wird Gira die Störung schon beheben. Sie kann das, wie du weißt.“

Parrer hob abwehrend die Hand. „Ja. Ich vertraue ihr.“ Er wandte den Blick ab und gab sich den hoffnungsvollen Ausblicken auf eine bessere Zukunft hin. Wie an einer Perlenschnur aufgereiht, markierten Landvermesser bereits jetzt die Parzellen, die für die neuen Kolonisten vorbereitet wurden. Dann gab es auch Nachbarn zur anderen Seite hin. Und es würde neu errichtete, die Datenübertragungsraten des Loqui-Rete bei ihnen deutlich verbessernde Verstärker geben.

Parrer war nicht aufgefallen, dass er aufgegessen hatte. In seinen Ohren brummte es plötzlich dumpf, als hätte er Wasser in den Gehörgängen. Irritiert bemerkte er, dass der Teller vor ihm auf der Tischplatte wanderte. Alles zitterte, der Boden unter seinen Füßen, der Stuhl, auf dem er saß. Nahita und Genba waren verstummt.

Parrer sprang auf. „Das ist noch ein Beben!“

Nahita nickte. „Nachbeben sind die Regel, nicht die Ausnahme“, versuchte sie eine Erklärung.

Parrer tippte auf seine Armilla, doch das LR-Netzwerk war weiterhin offline. „Verdammt! Ich muss Gira helfen. Wir brauchen Informationen.“ Er stürmte aus dem Zimmer. Die Nachricht des Pallantauriers ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. MUTTER WIRD STERBEN.

Apokalypse Pallantau

Подняться наверх