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1 DAS SPIEL UND DIE SPUR
ОглавлениеLehrer, Lehrerinnen, Erzieher und Erzieherinnen, besonders für Euch habe ich dieses Buch geschrieben – wobei zu den Erziehern nicht zuletzt alle Eltern gehören. Ich bitte darum: Gebt Euch die Mühe, es zu lesen. Schon wenn Ihr beginnt, darin nur zu blättern, und einen Blick auf die Bilder werft – möglicherweise auf die Schema-
tafeln –, werdet Ihr verstehen, dass es Euch direkt angeht.
Ich arbeite seit mehr als 60 Jahren mit Kindern – allerdings nicht im schulischen Rahmen. Als Lehrer wäre ich schon lange pensioniert und erholte mich von der mühsamen Karriere. Ich beabsichtige jedoch gar nicht, meine Tätigkeit aufzugeben, und übe sie uneingeschränkt aus wie in meiner Jugendzeit. Ich habe damals meinen Beruf erfunden. Deshalb passt er mir besser als ein von der Stange Genommener, in den man sich einleben muss.
Darf ich fragen, ob Sie von Ihrer Tätigkeit so begeistert sind wie ich von meiner 1946 erfundenen Rolle und ob das Zusammensein mit Kindern für Sie eine endlos beglückende Begebenheit ist, auf die Sie sich alltäglich freuen?
Mit 20 Jahren wurde mir eine Stelle in einem Heim für Kriegswaisen angeboten; mein Auftrag war es, die Kinder zu beschäftigen. Die Mittel dazu waren beschränkt in dem durch Krieg und jahrelange Besatzung ausgeplünderten Frankreich. Es galt, das knapp Vorhandene zu nutzen: aufgefundene Bleistifte, Abfallpapier usw. Ich wusste nicht, dass damit Wunder geschehen können. Denn so schien mir, dem Unerfahrenen und zugleich von keinem Vorurteil Belasteten, was dann geschah: Es war wundervoll, Zeuge der Begeisterung der Kinder zu sein – Zeuge und zugleich Ermöglicher, denn darin allein, das begriff ich sofort, bestand meine Rolle.
Das Kinderheim in Fontenay-aux-Roses 1946 – 1947
Erste Einrichtung im Kinderheim. Zunächst malten die Kinder am Tisch ...
In dem als Kinderheim notdürftig eingerichteten Schloss aus dem 18. Jahrhundert war von der alten Pracht kaum eine Spur übrig geblieben. Schlafsäle, Klassenzimmer, mit kargen Mitteln ausgestattet, entstellten die ehemaligen Prunksäle. Nur dem geräumigen Treppenhaus in der Mitte des Hauses haftete noch etwas von einer üppigen Lebensweise an. Aber wer bemerkte das schon? Der Sinn für das Kostbare war grundlegenden Bedürfnissen geopfert worden. Verfolgte sind keine Feinschmecker mehr, ihr dringendster Wunsch ist es, nicht zu verhungern. Der Krieg war vorüber und wer ihn überlebt hatte, war bestrebt, sich auch in der neuen Lage zurechtzufinden. Alle hier im Kinderheim waren auf wundersame Weise der Deportation entgangen. Die Mehrzahl der Kinder wie auch die als Betreuer angestellten jungen Leute waren in Klöstern oder bei Bauern versteckt gewesen und erfuhren erst jetzt, dass ihre Eltern vergast worden waren.
... später malten sie an der Wand
Sehr bald nach Kriegsende, während Nahrungsmittel noch rationiert und nur mit Lebensmittelmarken käuflich waren, wurde Farbe wieder hergestellt, und ich konnte Tempera in großen Glastöpfen anschaffen.
Als ich den Kindern das Spiel mit Pinsel und Farbe anbot, begann das eigentliche Abenteuer. Es begann in einem kleinen Zimmer auf dem Dachboden, und später richtete ich einen geeigneteren Raum in einem ehemaligen Stall für dieses Spiel ein, abseits des Hauptgebäudes, mit Fenstern und einer Glastür auf der einen Längsseite. In dem zuvor für die Zeichen- und Malstunden gestalteten Raum stand ein Tisch in der Mitte, darauf eine Reihe aus einstmaligen Schulpulten stammende Tintenfässer, und neben diesen lagen Pinsel – irgendwelche kleinen Aquarellpinsel, wie sie Grafiker verwendeten. Die Kinder saßen rings um die Tischplatte auf Bänken und Hockern, in üblicher Weise über ihre kleinen Papierbogen gebeugt.
Eines Tages wollte ein Kind ein größeres Bild malen, aber das Blatt passte nicht auf den Tisch und so hängte ich es ihm an der Wand auf. Das löste bei allen anderen denselben Wunsch aus. Der Tisch und die Bänke waren nunmehr unnötig geworden, und ich räumte sie weg. Nur in der Mitte des Raumes stellte ich ein schma-les Brett für die Farben und Pinsel auf. In dem neuen Malraum konnten die Bilder bis zur Decke hinauf wachsen. Immer mehr Kinder wollten zu dem Spiel kommen und ich musste eine Möglichkeit erfinden, die Malgruppe zu erweitern. Dazu verkleidete ich die Fenster mit Brettern, sodass eine lückenlose Wandfläche die Malstätte umgab.
Allein aus dieser praktischen Erwägung heraus ist der einzigartige Malort entstanden, dessen vier Wände ein Schutzwall gegen das Eindringliche und Veränderliche sind; denn nur in dieser Geborgenheit kommt das Eigenerlebte uneingeschränkt zum Ausfließen. Von solch außergewöhnlichen Eigenschaften und Folgen wusste ich allerdings noch nichts und habe sie erst viel später erfahren. Mein alleiniges Bemühen war es, einem jeden Kind das Spiel leicht zu machen, damit es sich ungehindert dem angeregten Impuls hingeben kann.
Alles später zur Perfektion Weiterentwickelte hatte hier seinen Ursprung: der Malort, der Palettentisch, die dienende Rolle im Malspiel.Ich ahnte oder berechnete nicht, was diese außergewöhnlichen Bedingungen in jedem Menschen auslösen können. Anfangs waren es nur Kinder zwischen 5 und 15 Jahren, im Kinderheim und auch später noch, nachdem ich in der Stadt den ersten Malort einrichtete, die Académie du Jeudi, die Donnerstagsakademie 1.
Ich erkannte, dass durch dieses Spiel eine unvergleichliche Äußerung ins Leben gerufen wird, dessen Zeuge zu sein ich das einmalige Privileg hatte.
Mein Eintritt in das Kinderheim bei Paris war den drei Jahren der Internierung als Zivilflüchtling im Schweizer Arbeitslager fast übergangslos gefolgt. Andere junge Menschen studieren, erwerben Diplome für eine zukünftige Karriere. Das hätte auch mir geschehen sollen. Aber es kam eben anders. Ich hatte schon als Kind, nach der Flucht aus dem Dritten Reich, das Leben auf eine ungewöhnli-che Weise erfahren – als Bedrohter, Ausgestoßener, nirgendwohin Gehörender ...
In den folgenden Jahren entdeckte ich, dass die bildnerische Spur des Kindes nicht, wie allgemein behauptet wird, der Kunst angehört, sondern Bestandteil eines eigenständigen Gefüges ist. Ein halbes Jahrhundert lang vertiefte ich mich in ihr Studium.
Aber ich bin kein Forscher im üblichen Sinne, der von einem genialen Einfall fasziniert eine Theorie entwickelt, für die er Beweise sucht. Ich bin überhaupt kein Theoretiker. Ich suchte nichts. Was ich fand, ist mir in einer überzeugenden Fülle entgegengekommen. Ich nahm es auf. Es wiederholte sich. Nichts war zufällig – oder gar außergewöhnlich wie ein Kunstwerk. Es war allen eigen, den Hunderten von Menschen, die vor meinen nichts fordernden Augen unvergleichliche Spuren entstehen ließen, die ich achtungsvoll aufbewahrte.
Im Jahr 1952 zog ich in das damals berühmteste Viertel von Paris um Saint Germain-des-Prés, wo der Académie du Jeudi ein unermesslicher Erfolg beschieden war. Hier entwickelte sich auch die Forschung, nicht nur die Erkenntnis der originellen Phänomene, sondern auch das ihnen angepasste Vokabular.
Als mich im Kinderheim die alltäglich entstandenen Bilder faszinierten, sprach ich von Kinderkunst als von einer besonderen Gattung. Neben allen anderen Gattungen oder sogenannten Schulen, neben dem Expressionismus, dem Futurismus, dem Kubismus, dem Impressionismus usw., glaubte ich, gäbe es auch die Kinderkunst als ein eigenständiges Kunstgeschehen.
Aber ich wurde mir alsdann bewusst, dass ein anderer Unterschied die kindliche Äußerung von allen anderen Gruppen entfernt, dass nämlich die Spur des Kindes, weil sie keine Botschaft vermittelt und sich nicht wie ein Werk an einen Empfänger richtet, gar nicht der Kunst angehört.
Diese Erkenntnis veranlasste meine Ablehnung aller verbreiteten Stellungnahmen zur Kinderzeichnung. Ich werde darauf noch zurückkommen.
Es wurde mir auch klar, dass die Spur des Kindes kein Fantasieerzeugnis ist, denn auch das wird oft behauptet, weil der vom Kind dargestellte Mensch einen übertrieben großen Kopf hat, weil ein toller Weg sich durch den Raum des Blattes schlängelt o. Ä. Ich wusste – schon sehr bald –, dass das keine lustigen Erfindungen des unvernünftigen Kindes sind, sondern dass sie als Bestandteile eines Codes einem geordneten Gesamtablauf angehören.
Ich verglich diese Gesetzmäßigkeit mit den grammatikalischen Gesetzen einer Sprache und bezeichnete diesen Code als die »Bildnerische Sprache«. Aber ich musste dann immer ergänzend hinzufügen: »Jedoch eine Sprache, die nicht der Kommunikation dient.«
Jahre hernach fand ich die vollgültige Benennung für das erkannte System, indem ich es »die Formulation« nannte. Ich bitte Sie, sich dieses Wort zu merken, das ich in meinem Buch immer wieder verwenden werde.
Die Donnerstagsakademie. Eine Außenansicht der Rue de Grenelle
Eine Kindergruppe im dortigen Malort
Ich bediente mich anfangs einiger bestehender Bezeichnungen wie Kritzelei, Aufklappung, Kopffüßler, die von Menschen stammen, die mit ihrem irregeführten Blick der Spur der Kinder begegnen und sie missverstehen. Für mich, der ich der Äußerung unter anderen Bedingungen begegnete, waren diese Benennungen unbrauchbar, weil sie die Sicht des Erwachsenen zum Maßstab nehmen.
Der spätere Malort
Ich werde dazu noch ausführlicher Stellung nehmen. Zuvor aber möchte ich mich dem zuwenden, was allgemein als »Kinderzeichnung« verstanden wird.
***
Seit vielen Jahren halte ich Vorträge. Es war seit jeher mein Anliegen – oder soll ich sagen: meine Pflicht! – das Erfahrene, das mich begeisterte, mit anderen zu teilen. Ich musste anfangs meine angeborene oder anerzogene Schüchternheit überwinden, um öffentlich das Wort zu ergreifen. Der Wichtigkeit dieser Aufgabe voll bewusst, erarbeite ich immer wieder neue Vorträge mit vielen Bildern aus dem Malort. Eine meiner Darbietungen, »Die Kinderzeichnung, ein verhängnisvoller Irrtum«, beginnt mit der folgenden Einführung:
»Überall in der Welt ist die Rede von Kinderzeichnungen. In allen Sprachen erscheinen Bücher und Zeitschriftenartikel über dieses Thema.
Ich werde Sie überraschen, wenn ich sage: Die Kinderzeichnung gibt es nicht! Die Benennung ›Kinderzeichnung‹ ist aus zwei Begriffen zusammengesetzt, die ich einzeln behandeln werde.
Ich beginne mit dem zweiten Teil des Wortes, mit der sogenannten Zeichnung. Zeichnen heißt Zeigen. Das Gezeigte ist für einen Betrachter bestimmt. Oder anders gesagt: Der Zeichnende, indem er ein Werk schafft, richtet sich an einen erhofften Empfänger. Es liegt im Wesen der Kunst, Trägerin einer Mitteilung zu sein.
Von der Spur des Kindes glaubt man also allgemein, dass sie dem gleichen Zweck diene wie die Äußerung des Künstlers. Und das ist nicht erstaunlich, weil überhaupt nur diese kommunikative Rolle der Spur bekannt war und sie immer in diesem Sinne geschah. Dies ist auch durch die Tatsache bestätigt, dass für das Hervorbringen einer Spur in der kunstpädagogischen Fachliteratur stets dieses einzige geläufige Wort ›zeichnen‹ verwandt wird.
Das erklärt auch die unglückliche Einstellung zur Spur des Kindes. Der Erwachsene glaubt, das Kind zeichne, um ihm etwas mitzuteilen, und es erwarte eine Rückwirkung, möglicherweise Lob für das gefällige Bild. Zu einer solchen Abhängigkeit sind die Kinder in unserer Gesellschaft erzogen worden.
»Was hast du hier darstellen wollen?«
Was empfindet das Kind, wenn der Erwachsene zu ihm tritt, mit seinen Fragen und Aufforderungen: ›Was hast du hier darstellen wollen?‹, ›Ist das eine Blume? Und was soll denn das hier sein?‹, ›Nun erklär mir mal deine Zeichnung!‹ Glaubt wohl jemand, dass diese grobe Einmischung in des Kindes Spiel förderlich sei? Sie zwingt das Kind zum Vorspielen.
Das erzwungene Vorspielen erzeugt dann nur die Spuren der Abhängigkeit des gezähmten Kindes, dem die natürliche Spur verdorben worden ist. Wie jämmerlich sehen diese Zeichnungen aus, die nicht der Formulation angehören: verarmt wie die entwürdigten Ausgestoßenen der Metropolen, die in den Elendsquartieren verkommen.
Der Vergleich ist gar nicht übertrieben! Ich denke mit Wehmut an die fröhlichen Kinder, die ich im Urwald und in der Wüste habe malen lassen und die wohl danach mit ihren Eltern aus ihrer ›primitiven‹ Lebensweise in ein unentrinnbares Elend vertrieben wurden. Wenn Sie, nachdem Sie dieses Buch gelesen haben, die Formulation kennen, werden Sie den Schaden ermessen können, von dem ich hier spreche.
Des Natürlichen entwöhnt, weiß das Kind gar nicht mehr, was das Spielen mit der Spur überhaupt sein kann. Mit dem Stift oder Pinsel in der gezähmten Hand führt es die befohlenen Aufgaben aus, um gut beurteilt zu werden.
»Nun erklär mir mal dein Bild!«
Doch zurück zu dem Wort ›Kinderzeichnung‹, das ich aus einem zweiten Grund ablehnen muss. Denn nicht nur das Zeichnerische darin ist verwerflich, sondern auch der Wortteil, der das Kindliche oder Kindhafte bezeichnet, entspringt einer irrigen Annahme.
Ausgehend von der Behauptung, die Spur sei altersbedingt und es gäbe eine dem Kindesalter entsprechende Äußerungsweise, sind unzutreffende, schädliche Begriffe verbreitet worden; so der Glaube, dass Kinderbilder aus der Fantasie entstehen und es ein mehr oder weniger entwickeltes Einfallsvermögen gäbe, etwas wie eine schöpferische Veranlagung.
Das, was das Spielen auszeichnet, ist die Abwesenheit eines Erzeugnisses. Das Geschehen allein ist wichtig, und es gibt kein Nachher – während das Ziel der künstlerischen Schöpfung gerade die Erarbeitung eines Werkes ist.
Fantasie, Veranlagung, Einfallsvermögen usw. sind keine für die Spur des Kindes anwendbaren Begriffe. Das Kind erarbeitet kein Werk. Das spielende Kind legt sich eine Welt an – seine eigene ungeteilte Welt. Es ist wichtig, dies zu wissen. Weil seine Äußerung keine Botschaft enthält, ist sie auch von keiner Erwartung begleitet.
Was ist nicht alles von der Kinderzeichnung behauptet worden! In vielen Schriften steht, das kleine Kind sei noch unfähig, seine Gedanken in Worte zu fassen; es zeichne, weil es noch unvernünftig sei. Und mit der Zunahme der Vernunft versiege die wundersame Quelle kindlicher Fantasie. Dem vernünftig gewordenen Kind sei also die kreative Fähigkeit erloschen. Welch grobe Unwahrheit!
Eine solche wundersame Quelle gibt es überhaupt nicht. Die Äußerung entwächst einer inneren Notwendigkeit und hat mit Einfällen gar nichts zu tun. Diese Notwendigkeit besteht in jedem Menschen und ein jeder besitzt auch die angeborene Fähigkeit, die die Äußerung möglich macht. Das besagt auch, dass es für das Malspiel weder Begabte noch Unbegabte gibt. Wie bedauerlich ist doch die Klage von entmutigten Menschen: ›Ich bin ganz unbegabt!‹ oder deren Variante ›Ich kann nicht zeichnen!« Die Formulation beginnt früh im Leben, sie gehört zu den Spielen des kleinen Kindes und begleitet den Menschen durch sein ganzes Leben.
Als Formulation bezeichnet, erscheint die Spur des Kindes nicht mehr als eine mehr oder weniger gut gelungene Zeichnung, sondern als eine nicht infrage gestellte, in jeder ihrer Entwicklungsphasen und in allen ihren Bestandteilen endgültige Äußerung.
Die Kenntnis der Eigenart und der Abläufe der Formulation ist unentbehrlich, um der Spur des Kindes fördernd zu begegnen.
Unkenntnis, Verwechslung, blinde Übernahme veralteter Gewohnheiten führten zu ... ich sagte es: einem verhängnisvollen, ja sogar historischen Irrtum. Alle bekannten über dieses Thema veröffentlichten Schriften enthalten die gleiche Fehlbeurteilung: die falsche Behauptung, das Kind sehe nicht richtig und sei daher unfähig, das mangelhaft Betrachtete richtig wiederzugeben. Für die akademischen Kunstpädagogen bestand die Rolle des Künstlers vorrangig darin, eine naturgetreue Wiedergabe der Dinge zu erzeugen.
Zeichenunterricht früher
Die Grundlagen dafür waren die Perspektive, die richtigen Proportionen, die korrekte Anatomie ... Diese Begriffe beherrschten jahrzehntelang die Einstellung der Erwachsenen: ›Das ist schon recht gut gezeichnet; man beginnt zu erkennen, was es (das Kind) darstellen wollte!‹
Jahrzehntelang war Abzeichnen ein schulisches Dogma. Anstatt Zeugen des natürlichen Ablaufs zu sein, sahen die Belehrenden ihre Aufgabe – und ihre Rechtfertigung – darin, dem vermeintlich hilfebedürftigen Schüler über sein Unwissen und seine Unfähigkeit hinwegzuhelfen.
So war es 1900, 1920, 1950 und noch einige Jahre später. Dann aber kam es zu einer Wandlung, besser gesagt, einer Spaltung in der Beurteilung der kindlichen Äußerung: Die ursprüngliche, zuvor erwähnte, bestand neben der jüngeren weiter, sodass Eltern oder Berufserzieher die Kinder zum einen zur naturgetreuen Wiedergabe von etwas zum Betrachten Vorgeschriebenen und zum anderen zum ungebändigten Beschmieren, Zerfetzen, Zu-sammenkleistern anregten. Bei Letzterem verwechselten sie zwei Begriffe: Spontaneität und Zufälligkeit.
Künstlerparodien der Gegenwart
Dieses weltweit gepriesene, als freies Verfahren angesehene ›Laisser-faire‹ ist schädlicher als das erdrückende Dogma des genauen Abzeichnens. Die Verherrlichung des Zufälligen entwürdigt das wahre Kunstschaffen und verwandelt im Kind den veranlagten Glauben an den Ernst des Spielens in eine schändliche Gaukelei.«
Wer von Kinderkunst spricht, ist des öffentlichen Beifalls sicher. Wie viele Eigenschaften werden ihr zugeschrieben, erfundene Eigenschaften, die mit der wahren Äußerung in keinem Verhältnis stehen; Besonderheiten, die es nicht sind, weil das außergewöhnlich Scheinende in Wirklichkeit ein konventioneller Vorgang ist. Von unbegründeten Interpretationen gar nicht zu reden!
Ich habe es selbst erfahren, als ein vermeintlicher Zauberer gefeiert zu werden, der den Kindern die originellsten Einfälle entlockt. Wer sollte dem nicht zujubeln! Alle damaligen Medien verbreiteten meinen Ruf.
Wiederholt und auf wundersame Weise bin ich zwischen 1933 und 1945 vielen Gefahren entkommen. So auch später derjenigen des Starkults. Meine Rettung verdanke ich dabei der totalen Hingabe – auf Kosten aller mondänen Versuchungen – an das Erforschen der Formulation, die wie eine endlose Offenbarung sich mir aufdrängte.
Wenn ich mit uneingeschränkter Bestimmtheit die Formulation den Behauptungen anderer Autoren gegenüberstelle, meint wohl so mancher, ich sei anmaßend. Es ist aber ganz sicher nicht so, dass ich mich mit meinen Werken brüste. Ich habe ja nichts erfunden!
Ich bin der Äußerung des Kindes mit einer keuschen Unvoreingenommenheit begegnet, und was sie auszeichnet, hat sich mir unwiderstehlich eingeprägt. Weil die Gebilde der Formulation in einer alltäglichen Fülle so selbstverständlich bei jedem Kind entstanden, konnten sie meiner Achtsamkeit nicht entgehen.
Andere, die von der Psychologie, der Kunst, der Pädagogik oder der Philosophie her kamen und sich für das Zeichnen der Kinder interessierten, waren eben von diesen ungeeigneten Wissenschaften beeinflusst, die beharrlich an ihnen hafteten. Es ist nicht erstaunlich, dass das Wesen der Formulation hinter ihren getrübten Vorstellungen verborgen blieb.
Ich kam nirgendwoher, brachte keine vorgeformte Einstellung mit, sondern war durch die Besonderheit meiner Jugend als Verfolgter unvorstellbar frei von Vorurteilen. Hinzu kommt, dass ich mich seit der ersten Begegnung mit Kindern nichts anderem widme; dass sich mein Leben im Malort abspielt und meine Zuwendung zur Formulation nicht eine gelegentliche Beschäftigung unter vielen ist wie die Hinwendung zur Kinderzeichnung für die Mehrzahl der angesprochenen Autoren.
Als Letztes sei erwähnt, dass ich mich nie, wie das in anderen Büchern oftmals geschieht, auf fremde Beiträge berufe und zur Illustration einer Theorie irgendwelche Bilder unkontrollierter Herkunft verwende. Ich bin selbst Zeuge des Geschehens gewesen und habe die Abläufe der Formulation während ihres Entstehens verfolgt. Der Malort war immer schon wie ein Treibhaus für die Formulation. Und später konnte ich meinen Forschungsbereich noch erweitern, indem ich in abgelegene Gegenden fuhr, um Urwaldbewohner und Nomadenkinder malen zu lassen, die nie eine Schule besucht hatten und deren Spuren von absoluter Spontaneität zeugen. Aus dieser eigenen Erfahrung kann ich – anhand Tausender von Blättern aus Peru, Mauretanien, Neuguinea, dem Niger u. a. – dokumentieren, dass die Formulation ein Universalgefüge ist.
Als ich verkündete, dass die Spur des Kindes nicht der Kunst angehört, war es manchen bang um die schönen Bilder von besonders begabten Kindern, derer wegen sie in ihrer kunsterzieherischen Rolle gelobt wurden. Sie verübelten mir meine Einstellung gegen Ausstellung, Prämierung, Belohnung.
Dass die Formulation ein Universalgefüge ist sollte doch eigentlich jeden erfreuen. Diese Erkenntnis beseitigt Vorurteile und öffnet neue Wege in der Beziehung zu Kindern. Denn wer die Äußerung des Kindes als etwas Wertvolles aufnimmt, dem erscheint das Kind in seiner spielenden Rolle und darüber hinaus als ein ernst zu nehmendes Wesen.
Zur Anerkennung der Formulation tragen inzwischen auch die Forschungen in anderen Bereichen wie der Genetik, der Hirnforschung und der Embryologie bei, deren Vertretern zwar die Formulation überwiegend unbekannt ist, die aber auf ihre Weise und mit ihren Benennungen den Ursprung dieser originellen Äußerung erklären.
Die Formulation wurzelt in der Organischen Erinnerung. Gäbe es eine solche nicht, wären wir unseres Ursprungs enteignet, dann wäre von all dem früh Erlebten keine Spur in uns aufbewahrt. In der Organischen Erinnerung sind von unserem Entstehen und von unserer embryonalen Entwicklung einzigartige Eintragungen aufgespeichert worden, die der Überlegung entgehen. So besteht neben unserem zeitlich begrenzten Gedächtnis eine der Vernunft verschlossene, vergessene Aufsparung – aber nicht als gesammelte Bilder wie in einem Fotoalbum. Daher ist auch die Äußerung, die aus ihr schöpft und ihre Formeln wiederbelebt, nicht eine Verbildlichung von Geschehnissen, sondern der verborgene Untergrund der Trazate, also jener Gebilde, die sich unter geeigneten Umständen in der Formulation ergeben.
Das Malspiel zwischen 1950 und 1970
Wenn Sie zu dieser Erkenntnis gekommen sind, wird Ihnen klar, dass die Spur des Kindes bisweilen verkannt worden ist, und Sie ermessen wohl, wie dringend es ist, ein so kostbares Äußerungsmittel zu retten. Denn die Formulation ist das einzige Ausdrucksmittel der Organischen Erinnerung. Weil die Aufspeicherungen in dieser Erinnerung sich dem Verstand entziehen, können sie nicht zu Worten werden. Wenn sie sich jedoch als eigentümliche Gebilde der im Malspiel dazu angeregten Person aufdrängen, ist es für diese eine besonders beglückende Begebenheit.
Diese Anregung bedarf einer besonderen Einrichtung und der zuvor erwähnten Gegenwart der malspieldienenden Person. Es ist nicht mein Anliegen, Sie zu dieser Rolle zu überreden, die im schulischen Rahmen kaum einen Platz fände.
Wesentlicher als das, was Sie den Kindern vorschlagen, ist das, was Sie zukünftig entschieden ablehnen werden; sei es, dass Sie, im Schwung alter Gewohnheiten gegen die Spontaneität handeln – und sich sodann mit einem stechend schlechten Gewissen an die Stirne greifen und sagen: »Was tue ich da? Das kann ich doch nicht verantworten!«
Das wird wohl manches sein, das Sie früher guthießen: Sie glaubten, wie die Mehrzahl der Menschen, Kunsterziehung sei eine Bereicherung für die Schüler, und so haben Sie wohl Reproduktionen von anerkannten Künstlern als Vorbilder gezeigt (meist eher von Matisse, von Pollock als die »Mona Lisa« und die »Nachtwache«).
Die so entstandenen »Kunstparodien« sind hernach sicherlich ausgestellt, besprochen, verglichen worden ... Haben Sie den Schülern nie Themen vorgeschlagen, mit der Begründung, dies sei nötig, um die standhaft wiederholten Darstellungen von Haus, Mensch, Sonne und Baum zu überwinden und mit frischen Ideen fantasiereiche Werke herzustellen?
Häuser, Menschen, Bäume ... Es ist doch erstaunlich, dass die Erwachsenen immer wieder diesen typischen Bildmotiven begeg-nen und daraus nicht schließen, dass deren wiederholtes Auftreten einem natürlichen Verlangen entsprechen muss. Richtiger wäre es, zu sagen, dass sie einem inneren Bedürfnis entfließen.
Die Wiederholung ist ein Grundprinzip der Formulation und bezieht sich nicht nur auf das Dargestellte, ich werde das in späteren Kapiteln dieses Buches ausführlich zeigen und darauf hinweisen, dass die Wiederholung nicht in Widerspruch mit der Entwicklung steht, sondern dass diese beiden Begriffe sich ergänzen. Dies ist auffallend in der Bilderreihe eines Kindes (hier Alain), in der immer wieder die gleichen Dinge dargestellt sind, aber nicht wie erstarrte Gegenstände vervielfältigt, sondern jedes Mal neu belebt und im Wesentlichen, das sie hervorgerufen hat, bekräftigt. Die Bild-Dinge Mensch und Haus folgen in der Formulation einem programmierten Entwicklungsablauf, der jedoch nicht die Verbesserung einer zuerst mangelhaften Darstellungsweise zum Ziel hat. Er besteht aus einer Reihenfolge von vorbestimmten Gebilden, nicht aus der Wiedergabe von Betrachtetem und auch nicht aus der Fantasie entflohenen Erfindungen.
Wiederholung und Betonung des Wesentlichen in der Bilderfolge von Alain
In der Konsumgesellschaft ist Wiederholen ganz allgemein schlecht angesehen. Der Mensch soll immer etwas Neues anstreben. Seine Wünsche sollen ihn zu noch Unerprobtem treiben. Dabei befriedigt er gar nicht eigene Wünsche, sondern sucht einen künstlichen Ausgleich für eine aufgedrängte Unzufriedenheit. Das System der Konsumgesellschaft kann nur durch ein mittels autoritärer Werbung unterhaltenes Dauerverlangen in ihren Angehörigen weiter bestehen. Der größte Feind dieses Systems ist die Genügsamkeit. Gemeint ist dabei keineswegs Verzicht oder Einschränkung, sondern die Wertschätzung des natürlichen Verlangens nach Beständigkeit.
Auf das Spielen mit der Spur übertragen heißt das: Es ist unzweckmäßig, Kinder zu immer neuem Experimentieren mit unerprobten Techniken und Materialien anzuregen. In der Kunsterziehung ist es aber so: Heute wird mit Stiften gezeichnet, morgen mit dem Pinsel gemalt, in der nächsten Stunde ausgeschnitten, in der darauf folgenden graviert; und so überfallen immer neue Angebote die gutwilligen Kinder. Vertiefung, Verfeinerung, das Bewusstsein eines wahren Könnens sind dabei unberücksichtigte Werte.
Wie beglückend gerade das gründliche Erlangen von Fähigkeiten und das Bewusstsein eines solchen Könnens sind, lässt sich im Malspiel ermessen, wo es bei jedem sichtbar ist – und besonders auffallend bei ganz kleinen Kindern, die sehr schnell mit einer erstaunlichen Gewissenhaftigkeit den Pinsel vom Palettentisch nehmen, seine Spitze ganz präzise in Wasser und Farbe eintauchen und ihn ohne zu klecksen zum Entstehenlassen der Spur auf dem Blatt verwenden.
Sie haben wohl bemerkt, dass ich viele Begriffe und Handhabungen ablehne, die in Bezug auf die Formulation unbrauchbar sind. Die ersten Autofahrer konnten ihrem Motor auch nicht mehr »Hüh!« oder »Hott!« zurufen. Sie mussten sich gänzlich umstellen. Mit der Spur kann man nicht anders verfahren.
Was ich in diesem Buch zeige, ist etwas wirklich Neues, aber ich denke doch, dass es mit Ihrem Wunsch nach einer Veränderung des erzieherischen Verhaltens vereinbar ist; und ich begehre, wenn nicht Ihre sofortige Zustimmung, so doch zumindest Ihre Offenheit für das Neue.
Der heutige Malort in Paris (Montparnasse)
1 Denn zu dieser Zeit war der Donnerstag in Frankreich schulfrei.
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