Читать книгу Szenen aus der frühen Corona-Periode - Arno Widmann - Страница 4

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1Lisa ist alt geworden. Sie hört ihren Atem, wenn sie die Treppe hochgeht. Noch schlimmer ist, dass sie sich dabei ertappt, wie sie mit sich selbst redet. Vor ein paar Tagen stand sie – das Coronavirus war noch in Wuhan – in einer Umkleidekabine in der Galeria Kaufhof am Alexanderplatz, sah in den Spiegel und dachte: Dafür bist du zu alt. Dann aber kaufte sie, nur um sich zu widersprechen, Anfang März das bunte Sommerkleid, das sie wohl nie wieder anziehen würde.

2Thomas sitzt in einem Sessel am Fenster. Er ist eingeschlafen. Er wacht auf mit dem Gedanken: In dieser sich hinziehenden Gegenwart, in der die Menschen einander belauern, jeder darauf achtet, niemandem zu nahe zu kommen und gerade dadurch das Verlangen nach Nähe in jedem von uns immer wieder aufsteigt, entstehen neue Formen der Nähe. Auch wer wie Thomas in der Liebe bisher ganz darauf angewiesen war, zu berühren und berührt zu werden, versucht es jetzt mit der Sprache. Die Menschen finden Zeit für Zärtlichkeiten, die sie sonst nicht einmal als solche betrachtet hätten. Corona ist die Auferstehung der Sprache.

3Silvia erzählt, dass sie, als sie den schalldichten Raum in der Kufsteiner Straße betrat, sie nicht etwa nichts hörte, dass sie vielmehr überwältigt wurde von zwei heftigen Klängen: einem sehr hohen und einem sehr tiefen. Der hohe, habe man ihr erklärt, sei eine Hervorbringung ihres ruhelosen, nimmermüden Nervensystems und der tiefe sei nichts anderes als das den Körper Schlag für Schlag durchströmende Blut. Jetzt ist sie viel allein und ertappt sich dabei, auch zu Hause die beiden Klänge zu hören. Sie hat Angst.

4Inge sieht im Fernsehen die leeren Straßen Roms. Kaum jemand ist unterwegs. Der Platz vor dem Mailänder Dom ist leer. Bilder wie aus einem Albtraum. Vor Jahrzehnten war viel die Rede gewesen von einer Bombe, die alle Menschen umbringen würde, ohne auch nur einer einzigen Mauer ein Leids zu tun. Italien sieht aus, als sei hier dieses Massenvernichtungsmittel erstmals zum Einsatz gekommen. Inge erinnert sich, dass ihr Vater ihr einmal erzählt hatte, der Erfinder habe kurz vor seinem Tod erklärt, die Neutronenbombe sei die einzige sinnvolle Atomwaffe, denn die Welt bleibe auch nach dem Krieg noch intakt.

5Lisa ist aufgeregt. Ihre Rommérunde hat sich entschlossen zu pausieren. „Morgen und übermorgen. Dann ist Wochenende. Dann sehen wir weiter.“ Sie hat ihre Tochter angerufen, um ihr das zu erzählen. Die ist sehr verblüfft, dass ihre Mutter sich meldet. Die zieht es nämlich vor, angerufen zu werden und sich dann darüber zu beschweren, dass sie nicht angerufen wird. „Wir haben nach dem Spiel heute uns auch keine Abschiedsküsschen mehr gegeben und beschlossen, erst einmal Pause zu machen.“ „Aber ihr seid doch nur zu viert!“ „Die Kanzlerin hat gesagt, wir sollten unsere sozialen Kontakte reduzieren. Und meine sind nun mal Erna, Gisela und Käthe. Wir wissen schon, was wir tun.“ Lisa und ihre Nachbarinnen bewohnen alle über achtzigjährig die Häuser, in denen sie ihre Kinder großzogen. Sie haben ihre Ehemänner – Erna und Käthe auch mehrere – begraben. Sie sind fit, und darauf sind sie stolz.

6Inge und Helmut leben seit 13 Jahren zusammen. Sie haben drei Kinder. Vor einem Jahr traf Inge wieder ihren Exfreund Philip. Er ist auch verheiratet, betreibt, wie Inge sich ausdrückt, ebenfalls Brutpflege. Philip lebt in Wien. Sie sehen einander nur einmal im Monat. Desto heftiger reagieren sie aufeinander. Inge wollte Helmut von Philip erzählen, tat es aber nicht. „Jetzt lebe ich mit Helmut in Quarantäne“, erklärt sie ihrer Freundin Julia. Die lacht nur. Inge ereifert sich: „Das Schlimmste am Coronavirus ist, dass wir zurückgeworfen werden auf das Leben, vor dem schon unsere Eltern geflohen waren: die Kleinfamilie, den Kult des Zuhauses.“

7Anne und Klaus sitzen seit über einer Stunde auf mitgebrachten Stühlchen vor dem Bismarckdenkmal im Tiergarten. Sie sind tief in den siebzig, gehören also der Hochrisikogruppe an. Solange sie hier sitzen, ist niemand vorbeigekommen. Sie waren hierher gegangen, weil sie das Denkmal mögen. Nicht, weil sie es schön, sondern weil sie es pompös, also verlogen finden. Die Märzsonne wärmt sie ein wenig, aber Anne wird es jetzt zu kühl. Klaus umarmt sie. Anne hat das Gefühl, er macht es, um sich und nicht etwa um sie zu wärmen. Darum wehrt sie ihn ab. „Ich soll das Coronavirus haben! Bist du verrückt!“ Klaus ist empört. Anne lacht, umarmt und küsst ihn.

8Inge missfällt, dass es in der Virologie immer einen Schuldigen gibt. Das Virus ist immer von jemandem zu jemandem übergegangen. Am Anfang ist es ein Äffchen, ein Vogel, eine Fledermaus und jemand, der dem Tier zu nahe kommt und dann jemandem, ohne sich gründlich die Hände zu waschen, die Hand gibt. So geht es, Kontakte multiplizierend, immer schneller, immer weiter. Inge ist Soziologin. Die Virologie, das stößt ihr auf, kommt ohne etwas so Übergreifendes wie Gesellschaft aus. Für sie gibt es nur eine Kette von Individuen. Man sieht jetzt zwar Wagen durch die Städte fahren, die irgendeine Flüssigkeit versprühen, die das Virus bekämpfen soll. Aber jeder weiß: Das bringt gar nichts. Kein einziges Virus wird dadurch gekillt. Das ist Show wie das Getanze der Cheerleader vor einem Spiel. Beim Virus geht alles hübsch nacheinander: Schlag auf Schlag. Bis es in einem ist, bis zum Touch Down.

9Alex sieht im Fernsehen einen Ökonomen, der erklärt, wir sollten dem Coronavirus dankbar sein. Man sehe doch, wozu ein Staat, wenn er nur wolle, alles in der Lage sei. „Mit einem Schlag können Bürger beobachtet, überwacht und in ihre Wohnungen eingesperrt werden. Die lebensgefährliche, so heißt es, Krankheit Covid-19 hebelt mal kurz die Grundrechte aus, legt die Wirtschaft lahm. Das Virus klärt uns auf: Man kann sehr wohl eine Politik gegen die Märkte machen. Ich behaupte: Mehr noch als Corona bedroht unsere Gesellschaft die wachsende Ungleichheit. Gegen die sollten wir ebenfalls vorgehen. Man wirft mir Radikalismus vor. Ich wäre schon froh, wir würden die Reichen so besteuern wie Helmut Kohl es tat. Meine Parole ist: Demokratie wagen: zurück zu Kohl.“ Noch ein Punkt blieb Alex in Erinnerung: Das Coronavirus stoße auf solchen Widerstand, nicht weil es Menschen töte, das habe noch nie irgendjemanden gestört, sondern weil es ein großer Gleichmacher sei. Seit Jahrzehnten werde überall auf der Welt daran heftig gearbeitet, einen kleinen, einen winzigen Teil der Bevölkerung vor den „Wechselfällen des Lebens“ zu schützen. „Aber im Augenblick hilft auch ein Milliardenvermögen nicht gegen SARS-CoV-2.“

10Inge erzählt, Christoph habe ihr erzählt, seine Frau habe ihm erzählt – so lebt man heute aus dritter Hand –, beim Einkaufen in der Metro auf der Buckower Chaussee habe sie beobachtet, wie ein Mann an den Einkaufswagen einer Frau gegangen sei, ihr erklärt habe, sie habe fünf Reinigungscremes, jetzt gebe es keine mehr, er nehme sich darum eine von ihr und – zugegriffen habe. Die Frau rannte zur Kasse. „Bald haben wir Krieg!“

11Christoph liest in der Zeitung, Südkoreas Haupthafen Busan habe profitiert von der Schließung der chinesischen Häfen. Allerdings waren aus der Stadt schon Ende Februar zweiundzwanzig Corona-Infektionen gemeldet worden. Niemand weiß, wie viele es heute sind. Der Hafen wird jedenfalls nicht geschlossen. Die Regierung stellt die Bewegungsprofile aller 8000 im ganzen Land Infizierten ins Netz. Sie sind anonymisiert, aber für Leute, die sie kennen – Ehefrauen zum Beispiel – leicht identifizierbar. Gegen diesen Verstoß gegen die Privatsphäre wird geklagt. Gerichte müssen jetzt Sicherheit gegen Bürgerrechte abwägen. Christoph ist Rechtsanwalt und überlegt, ob seine Kanzlei aus dieser Nachricht nicht auch hier in Berlin ein Geschäft machen könnte.

12Am Abend verschwinden zwei Kolleginnen in die Nacht, in eine Disco. „Auf absehbare Zeit vielleicht die letzte Chance“, winken sie Christoph zu. Der grübelt nach über den Satz, der ganz offensichtlich ironisch gemeint ist. Er aber, der schon lange kein Nachtleben, sondern eine Ehefrau hat, nimmt den Satz ernst. Ausgeschlossen, dass das Berliner Nachtleben ein Opfer des Virus werden wird. Wieso sollte Corona schaffen, was HIV nicht gelang? Weil sich die Zeiten geändert haben, lautet die einfache Antwort. Aber wird nicht das Virus auch die Zeit ändern?

13Anja ist Ärztin. Sie erzählt einer Patientin, der sie gerade mitgeteilt hat, dass sie nicht infiziert ist: „Es ist eine fürchterliche Erkrankung. Nehmen Sie sich in Acht. Sowie Sie etwas spüren, kommen Sie zu mir. Viele Corona-Patienten liegen eine Woche oder länger zu Hause im Fieber. Dann erst kommen sie zu mir, weil sie keine Luft mehr bekommen. Lassen Sie sich, sowie sie Fieber haben, untersuchen. Wenn Sie schon wochenlang Fieber haben, ist es womöglich zu spät. Manche kommen ja erst, wenn sie das Gefühl haben, sie werden sterben. Das ist schrecklich. Sie sind bei klarem Verstand. Alles funktioniert. Nur atmen können sie nicht. Es ist, als würden sie ertrinken, aber es dauert viel länger. Es ist immer dieselbe Diagnose. Beidseitige Lungenentzündung.“

14Gennaro ruft Anja an. Er erzählt ihr, in Neapel sängen die Nachbarn von ihren Balkonen aus einander zu. „Typisch Neapel“, freut sie sich. „In Siena, ja sogar in Bozen machen sie es auch“, erwidert Gennaro. „Ganz Italien singt?“ „Glücklicherweise nicht“, meint er. Sie sieht ihn grinsen. „Manchmal trommeln sie auch oder deklamieren Sätze aus Serien.“ „Du hast einen schönen Bariton“, sagt Anja. „Im Land der Tenöre nicht unbedingt eine Empfehlung“, meint er. Dann erzählt er von seinem Ururgroßvater, der neapolitanische Lieder schrieb, von denen manche zu Volksliedern wurden. „Keiner ist mehr Neapolitaner als ich“, meint Gennaro, „aber ich finde es super, dass sie jetzt auch in Siena singen.“ Er sagt „super“! denkt Anja. Er spricht weiter: „Das Coronavirus eint Italien. Dass es sich Mailand unterwirft, das sich doch den Süden unterworfen hatte, wirkt Wunder. Der Süden kann endlich einmal Mitleid haben mit Italien“. Gennaro genießt seine neue Rolle und als echter Neapolitaner, als intelligenter Zeitgenosse, weiß er das und macht sich lustig darüber.

15Alex liest, dass früher, als die Menschen noch nicht so viel mit einander zu tun hatten, das menschliche Mikrobiom, das ja eh schon die Individuen markanter charakterisiert als ein Fingerabdruck, sich von einem Tal zum nächsten so stark unterschied, dass man vom Besuch aus dem Nachbartal mit Mikroben infiziert werden konnte, gegen die das Abwehrsystem des eigenen Clans nicht gewappnet war. Wir betonen heute gerne, der Massenverkehr mache uns anfälliger für Infektionen. Das stimmt. Aber es stimmt wahrscheinlich auch, dass die Menschheit und also auch ihr Mikrobiom heute durchmischter – „durchrasster“, lachte Alex – ist als früher, also doch auch resistenter. Der Hass auf den Fremden, der angeblich zur menschlichen Natur gehöre, hat wahrscheinlich zu tun mit den so empfindlich aufeinander reagierenden Mikrobiomen einer Zeit, in der Ackerbauern sorgfältig voneinander getrennte Territorien bewohnten.

16Lukas ist selig. Seine Mutter blickt nicht mehr angewidert auf den vor dem Computer hockenden Filius und sagt: „Geh doch mal raus, mit anderen Kindern spielen.“ Lukas ist völlig versunken in Doom Eternel. Er muss sie alle sieben schaffen. Vorher wird er nicht aufhören. Er ist jetzt beim zweiten Anlauf. Und es sieht nicht so aus, als könnte er so bald wenigstens den vierten Widersacher ausschalten. Ein gutes Spiel.

17Im Fernsehen erklärt eine Barfrau, sie achte sehr darauf, dass sie sich nicht mit den Fingern im Gesicht herumfahre, aber wenn ein Gast sie mal streicheln wolle, da habe sie nichts dagegen.

18„Ich bleibe lieber hier. Oder möchtest du, dass ich komme?“ „Nein, ich wollte dich gerade bitten, in deiner Arbeitswohnung zu bleiben. Mich regt das alles sehr auf. Ich könnte nicht ertragen, wenn du versuchen würdest, mich zu beruhigen. Lass uns tun, was deine Kanzlerin sagt: Meiden wir soziale Kontakte.“ Thomas war froh, dass Silvia auch auf Distanz gehen wollte: „Ein altes Ehepaar ist eines, das weiß, wann es sich besser aus dem Wege geht.“ „Machst du dir Sorgen?“ „Nein, aber unsere Situation erinnert mich an die Pascalsche Wette. Der sagte, es sei nicht zu beweisen, ob es Gott gebe oder nicht.“ „So verhält es sich mit dem Virus.“ „Exakt, und ich gedenke, mich ihm gegenüber zu verhalten, wie Pascal uns riet, uns Gott gegenüber zu verhalten.“ „Wenn es das Virus nicht gäbe, nähmen wir keinen Schaden, wenn wir uns so verhalten als gäbe es ihn.“ „Wenn es ihn aber gibt und wir verhielten uns so, als gäbe es ihn nicht, endete es tödlich.“ „Ich rufe dich an.“ Das tat Silvia die ganze Corona-Periode über nicht.

19„Niemand weiß, seit wann es Viren gibt. Zwei Milliarden Jahre sollen es aber schon sein“, Lisa erzählt ihrer Rommérunde von dem, was sie im Fernsehen gesehen hat. Erna hatte vorher von den „Hesselbachs“ berichtet, einer Serie, die der Hessische Rundfunk in den sechziger Jahren ausgestrahlt hatte. Jetzt hat sie der Sender komplett in die Mediathek gestellt. Die Damen schwärmen von den Frisuren und machen sich lustig über den hessischen Dialekt. „In jedem Milliliter aus unseren Ozeanen befinden sich mindestens eine Million Bakterien, aber 100 Millionen Viren! Würde man die winzigen Dinger aneinanderreihen, sie ergäben eine Kette, die über eine Strecke von zehn Millionen Lichtjahren reichen würde, also einhundert Mal durch die Galaxis.“ Lisa hatte sich all die Zahlen gemerkt. Weil sie sich aufgeschrieben hatte. In der Mediathek konnte sie den Film anhalten und sich Notizen machen. Das war mühsam. Aber es war schön. Sie war wieder eine Schülerin, die ihre Hausaufgaben machte. Schade, dass kein Lehrer da ist, der sie lobt und über ihre hochgesteckten Zöpfe streicht.

20Anja ist entsetzt. Ihr Sohn Lukas zeigt ihr einen Film, den ihm ein Klassenkamerad geschickt hat. Man sieht zwanzig, dreißig Schüler, die im Luisenstädtischen Kirchpark demonstrativ miteinander knutschen. Jeder zweite hat eine Flasche Alkopop in der Hand und lässt sie kreisen. „Sie haben schulfrei, um zu Hause zu bleiben“, schimpft Anja. „Was hast du mit denen zu tun?“ Lukas versucht sie zu beruhigen: „Schau sie dir an! Die sind alle viel älter.“ „Wer hat dir den Film geschickt?“ „Johannes. Beruhige dich, die cornern doch nur.“ „Ich werde mich nicht beruhigen. Die infizieren einander und dann den Rest der Welt. Diesen Johannes kannst du vergessen.“ Lukas war in der Schule aufgeklärt worden: „Die jungen Leute werden infiziert. Aber es macht ihnen nichts aus. Sie werden nicht krank. Krank werden die Alten. Oma und Opa. Sagen die Virologen.“ „Mein schlauer Sohn!“ sagt Anja ironisch. Das heißt aber auch: Sie hat sich beruhigt. Vielleicht hat sie auch einfach keine Lust auf eine Auseinandersetzung mit Lukas.

21„7, 7 Milliarden Menschen waren wir vergangenen Sommer auf der Erde. Wenn das Coronavirus davon ein paar umbringt, jubelt der Rest des Planeten. Wir sollten mitjubeln. Zehn Milliarden, so viel sollen es 2050 sein, wären definitiv zu viel. Heute wird das Wasser schon knapp. Bald kann es die Luft sein, wenn wir so weiter machen mit dem Abholzen der Regenwälder. Wir müssen endlich begreifen: SARS-CoV-2 meint es gut mit uns. Unser Reflex, es zu vernichten, ist verständlich, aber genau das Falsche.“ Alex redet ein auf Thomas. Sie gehen um den Reichstag herum. Thomas lächelt. Er will ihr nicht wiedersprechen. Schließlich gibt es universalgeschichtlich keinen vernünftigen Einwand gegen das, was sie sagt. Aber ist das jetzt der Augenblick für Universalgeschichte? Andererseits: Gibt es einen Augenblick dafür? Während sie hinübergehen zum Brandenburger Tor, geht er zu ihr und flüstert ihr ins Ohr: „Selbst 150 Millionen Tote würden da doch kaum einen Effekt machen.“ Sie stößt ihn zurück: „Alle reden jetzt davon, dass das Coronavirus den Nationalismus bestärke, dass jeder sich wieder selbst der Nächste sein werde, aber der Nationalismus ist doch jetzt schon auf dem Vormarsch. Je mehr wir sein werden, desto heftiger wird der Kampf um die Ressourcen geführt werden. Wir sagen, wir müssen die Verbreitung des Virus aufhalten. Wir sollten zuerst einmal Schluss machen mit unserer eigenen Verbreitung.“

22„Die Weißen erschießen uns nicht nur mit ihren Gewehrkugeln. Sie haben auch unsichtbare Kugeln, mit denen sie uns umbringen“, erklärten die Algonquians, als sie beobachteten, dass sie starben, wenn sie auch nur Kontakt hatten mit den Briten. Die nannten das Land, nachdem ihre Viren und Bakterien die Ureinwohner vernichtet hatten, Virginia. Das ist eine der vielen Geschichten, die man jetzt, während die Menschen sich auf der Flucht vor dem Coronavirus in ihren Häusern verstecken, überall lesen kann.

23Joe geht es ausgezeichnet: „Es ist wie während der Prohibition. Damals war der Alkohol verboten. Also blühte das Geschäft mit dem Alkohol. Heute herrscht Versammlungsverbot, also sind alle wild auf Versammlungen. Was verboten ist, macht uns gerade scharf. Je strenger ein Gesetz durchgesetzt wird, desto mehr kann man für eine Übertretung verlangen.“ Es hatte mit einem Club im Keller eines leerstehenden Hauses begonnen. Mit ganz normalen Partys und ganz normalen Besuchern. Dann aber diversifizierte Joe. Jetzt gab es Begegnungsorte, mit Darkrooms, die denen in San Francisco nachgebaut waren, in denen Michel Foucault einst mit dem HIV-Virus infiziert worden war. Es gab Bordelle, in denen sich Damen und Herren der Risikogruppe untereinander vergnügten und es gab solche mit jungen Frauen und alten Männern und mit alten Frauen und jungen Männern. Je mehr Clubs es wurden, desto mehr spezialisierten sie sich. Die Latexdame hätte ihr Gewerbe ganz legal ausüben können. Ihr Virenschutz war optimal und sie hatte selten mehr als fünf Gäste täglich. „Ab und zu schließt die Polizei einen Club. Das müssen sie tun. Dann mache ich einen neuen auf.“ Joe erwähnt nicht, dass er längst nicht mehr der einzige Unternehmer in diesem sich viral verbreitenden Gewerbe ist. Hier in seiner kleinen Dahlemer Villa, in der vor Jahrzehnten Jakob Taubes mit kaum mehr als einem halben Dutzend Studenten – Joe war einer von ihnen – den 1. Korintherbrief durchnahm, tut er so, als wäre er der Herr der Lage.

24Auch zwei Schafe der Herde, die US-Präsident Woodrow Wilson (1856 – 1924) auf dem Gelände des Weißen Hauses hielt, bekamen im Januar 1919 die Spanische Grippe. Wilsons Tochter erkrankte an ihr, auch sein Sekretär, und Wilson selbst erwischte es im April 1919, als er in Paris war, um der Welt den Frieden zu bringen, der allen Kriegen ein Ende machen sollte. Wilson hatte große Atemschwierigkeiten. Sein Arzt schrieb, Wilsons Erkrankung sei eine der schwersten gewesen, die er jemals erlebt habe. Nicht wenige Zeitgenossen, die von den seine Krankheit begleitenden Halluzinationen gehört hatten, betrachteten seine Völkerbundidee auch als eine. Die gute Nachricht: Das ganze Weiße Haus überlebte. Auch die Schafe. Allerdings wurden in Washington zwischen Oktober 1918 und Januar 1919 vierunddreißig Erkrankungen gemeldet. Schulen, Kirchen, Büchereien, Spielplätze, Gerichte, Universitäten und Theater hatten geschlossen. Öffentliche Veranstaltungen wurden abgesagt, das Geschäftsleben wurde gedrosselt. Trotzdem starben in Washington fast dreitausend Menschen an der Spanischen Grippe. Als sie beendet war, waren in den USA 675 000 Menschen an ihr gestorben. Weltweit sollen es fünfzig Millionen gewesen sein. Wenn Alex sich nicht gerade Contagion

Szenen aus der frühen Corona-Periode

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