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Wittenborg im Gefängnis

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Direktor Hinrich Hirsekorn erwartete den Delinquenten vor dem alten Marstall der Hansestadt Lübeck. Er war nervös, denn er hatte noch nie einen Bürgermeister hinter Schloss und Riegel bringen müssen. Der hohe Herr musste wohl ein besonders schweres Verbrechen begangen haben, aber der Direktor wusste nicht welches. Das brauchte er ja auch nicht zu wissen, ihm genügte die schriftliche Anweisung des Rats, die er sorgfältig in seinem Schreibtisch bewahrte.

Die schwarze Kutsche mit den kräftigen Rappen, wie sie üblicherweise bei offiziellen Zeremonien und Fahrten für hohe Staatsgäste genutzt wurde, hielt vor dem Eingang.

In Ketten gefesselt stieg Bürgermeister Johann Wittenborg etwas steif aus dem Wagen und wurde von Wachmännern ins Haus geführt. Er schien seine Umgebung nicht wahrzunehmen, wirkte benommen, starrte wie abwesend vor sich hin und folgte den Männern scheinbar willenlos. Stand er unter Drogen? In ihm war kein Anzeichen von Leben zu erkennen. Niemand ahnte, was in ihm vorging: Es war ein Gemisch aus Trotz, Resignation und Auflehnung: Gefühle, die sich gegenseitig blockierten und ihn zum willenlosen Gefolgsmann der Mächtigen werden ließen. Dieser Eindruck stand in deutlichem Gegensatz zu seiner natürlichen Erscheinung, die einen Mann von großer Tatkraft und Willensstärke kennzeichnete. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt schien er ein gebrochener Mann zu sein. Während seine blauen Augen sonst strahlten, waren sie nun müde, ausdruckslos und abgestumpft. Sein gewelltes Haar war ungekämmt, sein Bart zerzaust, als hätte er seit langer Zeit weder Messer noch Seife gesehen. Kurz, ein jämmerlicher Eindruck. Kaum einer hätte den ehemaligen Bürgermeister und Feldherr in ihm erkannt.

Der Direktor wies ihm eine Zelle im Erdgeschoss zu. Der Raum war erst kürzlich auf Anweisung des Rats zu einem Gefängnis hergerichtet worden. Das heißt, er war frisch geweißt, im Übrigen kahl und spärlich beleuchtet. Nur ein einfaches hölzernes Bett, ein kleiner Tisch mit einem Stuhl standen an der Wand, an der sich im oberen Bereich ein vergittertes Fenster zeigte.

Hirsekorn begann zaghaft ein Gespräch, seine Verunsicherung war ihm deutlich anzumerken:

„Herr Bürgermeister, in diesem Raum werden Sie nun für einige Zeit wohnen. Ich weiß nicht für wie lange, aber ich hoffe, ihr Aufenthalt wird nur von kurzer Dauer sein.“

„Das hoffe ich auch. Haben Sie einen schriftlichen Haftbefehl?“

„Ja, den habe ich im Büro. Wenn Sie ihn sehen wollen, werde ich ihn holen lassen.“

„Nein, nicht nötig, ich schätze Sie als treuen und verlässlichen Mann und vertraue ihnen.“

„Ich tue mein Bestes. Im Übrigen darf ich Sie auf unsere Hausordnung hinweisen.“

„Danke, die ist mir bekannt. Sie wird sich wohl in den letzten Monaten seit meiner Abreise nicht geändert haben.“

„Nicht sehr, aber auf ein paar Änderungen möchte ich Sie hinweisen: Der Rat hat angeordnet, dass Sie die Zelle nur zu kurzen Gängen im Hof und in Begleitung unserer Wachleute verlassen dürfen.“

„Haben die nichts Besseres zu tun. Ich werde schon nicht über die Mauer klettern, zumal in schweren Ketten gefesselt.“

„Im Übrigen: Jeglicher Besuch muss zuvor vom Rat genehmigt werden. Das betrifft auch Ihre Familienmitglieder.“

„Reine Schikane.“

„Bettwäsche, Waschzeug und Handtücher finden Sie im Schrank. Waschgelegenheit und Abort befinden sich hinter dieser Tür“, und wies jeweils mit der Hand in die angegebene Richtung.

„Ich werde es mir später ansehen“, sagte Johann zunehmend genervt.

„Wenn Sie gestatten, möchte ich mich jetzt zurückziehen. Sofern Sie etwas brauchen, dann rufen Sie nach dem Wachhabenden. Er befindet sich am Ende des Ganges.“ Hirsekorn sagte es zögernd mit einem Gemisch aus Unterwürfigkeit und aufgesetztem Befehlston, mit dem er seine Untergebenen beeindrucken wollte.

„In Ordnung.“ Johann wollte allein sein. Er hatte weder Lust noch Kraft zu einer weiteren Auseinandersetzung mit diesem einfältigen Mann.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließen Hirsekorn und die zwei Wachmänner den Raum und verschlossen die Tür mit besonderer Sorgfalt, wie es schien.

Wittenborg richtete sich so gut es ging in seiner kärglichen Umgebung ein. Er wusste nicht, warum er im Gefängnis sitzen musste. Natürlich wusste er, dass er durch den verlorenen Krieg seiner Stadt und ihren Bürgern – vor allen den Ratsherren und machen Kaufleuten aus anderen Hansestädten – großen Schaden zugefügt hatte, für den er als Heerführer verantwortlich war. Aber das war wirklich kein Grund für eine Verhaftung mit Einweisung in ein Staatsgefängnis, räsonierte er, denn Fluchtgefahr bestand nicht. Wohin sollte er fliehen, zumal er verheiratet war und sechs unmündige Kinder hatte. Er und seine Familie waren seit Generationen fest in der Hansestadt verwurzelt. Außerdem würde niemand einen erfolglosen Feldherrn bei sich aufnehmen. Wohin er sich auch immer flüchtete, wäre er heimatlos und geächtet. Voller Verzweiflung und antriebslos ließ er sich auf dem einzigen Stuhl sinken. Wenn er doch wenigstens einen Blick aus dem Fenster tun könnte. Das aber war in seiner augenblicklichen Verfassung – zumal in schweren Ketten – nicht möglich. Das Fenster war zu weit oben, fast unter der Decke des hohen Raumes angebracht.

Er rief nach dem Wachhabenden: „Ich verlange ein ordentliches Zimmer. In diesem jämmerlichen Stall kann ich keine zwei Stunden bleiben“, sagte Johann und bemühte sich um einen normalen Befehlston, der ihm jetzt durchaus angemessen zu sein schien.

„Ich werde es dem Direktor ausrichten“, sagte der Wachmann, schlug die Hacken zusammen, salutierte und verließ den Raum. Nichts, außer einigen entfernten Stimmen, waren zu hören. Beklemmende Stille.

Kurze Zeit später betrat der Direktor den Raum:

„Herr Bürgermeister, verzeihen Sie, dass ich Ihnen kein besseres Zimmer anbieten kann. Es ist das Beste, das ich habe. Alle anderen haben keine Fenster, sind dunkel und feucht. Die möchte ich Ihnen ersparen. Aber seien Sie versichert, unter anderen Umständen würde ich Sie gerne als mein Gast in der Burg unterbringen, aber dazu bin ich nicht berechtigt. Ich führe nur meine Befehle aus.“

„Hirsekorn, machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ich kenne und achte unsere Gesetze, die jeder aufrechte Diener unserer Stadt ohne Widerspruch zu befolgen hat.“

„Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis. Sie waren mir immer gewogen und haben als Bürgermeister viel zum Ausbau und zur Verbesserung der Sicherheit unseres ehemaligen Marstalls beigetragen.“

„Die Erhaltung des historischen Gebäudes war mir ein besonderes Anliegen. Außerdem ist es für jedes Staatswesen unerlässlich, sichere Gefängnisse für Verbrecher und Missetäter zu haben.“

„Aber zu dieser Art von Individuen zählen Sie ja – wenigstens in meinen Augen – nicht. Sie waren immer ein Vorbild für alle rechtschaffenden Bürger unserer Stadt.“

„Ich war immer um das Gemeinwohl bemüht. Meine persönlichen Interessen habe ich stets in den Hintergrund gestellt. Ich achte die Gesetze, deshalb könnten Sie mir ruhig die Ketten abnehmen, denn ich werde dieses Gefängnis nicht ohne Richterspruch verlassen. Das verspreche ich Ihnen hoch und heilig.“

„Herr Bürgermeister, auf Ihr heiliges Versprechen nehme ich mir die Freiheit, Ihnen die Ketten abnehmen zu lassen. Dem Rat ging es wohl nur um eine Machtdemonstration und die öffentliche Zurschaustellung Ihrer Person.“

„Das ist ihm in der Tat gelungen. Ich bin auf immer und ewig als Verbrecher gebrandmarkt. Ein sichtbares Signal weit über die Grenzen unserer Stadt hinaus. Bestimmte Kräfte im Rat wollen mich zerstören. Das hat nichts mit dem verlorenen Krieg gegen Dänemark zu tun.“

„Aber was wollen die denn?“

„Sie wollen Helden, keine Verlierer. Es geht ihnen nur um Geld und Macht. Sie wollten den Krieg, aber sie wollten sich nicht die Finger schmutzig machen. Sie haben mich vor ihren Karren gespannt.“

„Aber Sie machten damals durchaus einen heldenhaften Eindruck als Führer einer kampfbereiten Flotte.“

„So habe ich mich wirklich nicht gefühlt. Ich hatte keine andere Wahl. Als Bürgermeister war ich gezwungen, die Entscheidungen des Rats in die Tat umzusetzen.“

„So sind unsere Gesetze.“

„Ich habe den Krieg nicht gewollt. Er ist mir aufgezwungen worden. Ich bin in erster Linie Kaufmann und kein Heerführer. Ich suche den friedlichen Wettstreit der Kaufleute. Aber die widrigen Verhältnisse, und die ständigen Angriffe der Dänen gegen unsere Handelsschiffe und Niederlassungen zwangen uns zum Handeln. Wir wären durch die feindseligen Angriffe erdrückt worden. Besonders seit dem hinterhältigen Überfall des Dänenkönigs auf Visby blieb uns keine andere Wahl als den Krieg zu beginnen, damit unsere Schiffe auch weiterhin friedlich über die Ostsee fahren können.“

„Das war uns alle, die wir auf Gedeih und Verderben mit unserer Stadt verbunden sind, schon seit langem klar. Es war wirklich an der Zeit, den Dänenkönig in seine Schranken zu weisen. Aber es fehlte an einem geeigneten Führer, der zum Kampf entschlossen war. Wir haben lange Zeit auf jemanden wie Sie gewartet. Endlich waren Sie zur Stelle, und haben unsere Flotte gegen den Feind geführt. Nur schade, dass der Kampf nicht siegreich ausgegangen ist.“

„Wie wahr! Aber es hat nicht viel gefehlt, denn wir hatten das Schloss in Kopenhagen schon eingenommen, aber der König hatte sich auf seine Burg in Helsingborg geflüchtet. Dorthin folgten wir ihm, konnten ihn aber wegen der hohen Mauern nicht verhaften. Wenn uns das gelungen wäre, wäre er jetzt an meiner Stelle.“

„Den Schurken hätte ich lieber statt Ihnen in meiner Gewalt gehabt. Ich hätte ihn in ein dunkles Verließ im Keller gesteckt. Der wäre hier nie lebend herausgekommen.“

„Es ist nun anders gekommen. Dabei hatten wir alle Trümpfe in der Hand, aber die schwedischen und norwegischen Flottenverbände hatten uns im Stich gelassen.“

„Wenn es denn so war wie Sie sagen, dann allerdings wurden Sie zu Unrecht gefangengesetzt. Ich hoffe, dass Ihnen bald Gerechtigkeit zuteilwird.“

„Das ist mein sehnlichster Wunsch.“

„Aber jetzt zu dem Nächstgelegenen: Möchten Sie etwas zu Essen haben oder sich lieber erst ausruhen? Das Bett ist allerdings nicht so komfortabel, wie Sie es in Ihrem Hause gewohnt sind, und auch ein warmes Bad können wir Ihnen hier nicht bieten.“

„Ich kenne dies alte Gemäuer und seine spartanische Ausstattung. Ursprünglich für Pferde erbaut und nun von einem anständigen Menschen bewohnt! Ich bin kein Verbrecher, habe kein Unrecht getan. Ich möchte nur ordentlich behandelt werden, und etwas zum Essen hätte ich gern.“

„Nicht viel kann ich Ihnen bieten, ich kann Ihnen nur Graupensuppe und trockenes Brot bieten.“

„Das ist alles? Von Wasser und trockenem Brot kann kein Mensch leben.“

„Es ist mir ausdrücklich untersagt, Ihnen mehr zu geben als allen anderen Gefangenen.“

„Dann möchte ich meine Frau sprechen. Sie soll mir etwas Kräftigendes mitbringen“

„Ich werde sie sofort benachrichtigen lassen. Gegen ihren Besuch wird niemand etwas einzuwenden haben.“

„Ich hoffe nicht.“

„So grausam kann keiner sein.“

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren verließ der Direktor den kargen Raum.

Wittenborg war deprimiert: Er, der freiheitsgewohnte Seemann, weitgereist in vielen Ländern, wohlhabender hanseatischer Kaufmann, Herr über Schiffe und Menschen, saß gefangen in einem kümmerlichen Raum, den er nur unter Bewachung verlassen durfte. Wie hatte das passieren können? Er sehnte sich nach Freiheit und frischer Seeluft. Wenn er doch wenigstens etwas zum Lesen hätte, um sich abzulenken. Aber nichts außer einer verstaubten Bibel gab es in diesem kärglichen Raum.

Er stellte den Hocker auf den Tisch, stieg hinauf und blickte sehnsuchtsvoll aus dem Fenster. Da lag die Trave. Es roch nach Seeluft. Ein paar Schiffe fuhren vorbei: Seine waren es nicht. Was wohl aus ihnen geworden war? Keine einzige Nachricht hatte er seit einem halben Jahr empfangen. Er wusste nicht, was seine Männer taten, ob sie noch Waren zum Verkauf hatten, ob seine Handelskontore in London, Brügge, Riga, Nowgorod und Bergen noch arbeiteten. Was seine Frau und Kinder machten? Wie sehr vermisste er sie, hatte sie doch schon lange nicht mehr gesehen und hätte sie so gerne in seine Arme genommen. Er sah sie deutlich vor sich: Sie war zierlich, hatte dunkles Haar und blaue Augen. Einige meinten, sie habe grüne Augen, was eigentlich nicht so wichtig war. In jedem Fall waren sie reizvoll und zeigten einen ausgeprägten Willen, den einige sogar als Hochmut empfanden. Aber das war sie nicht. Sie stammte aus gutem Hause, eine wohlhabende Familie von Ratsherren. Erfolgreich und weit gereist. In jedem Fall eine Respektsperson.

Der Gedanke übermannte ihn, und seine Augen begannen sich mit Tränen zu füllen. Aber er wischte sie schnell wieder ab, denn so sollte ihn niemand sehen, nicht einmal die wachhabenden Bediensteten.

Er stieg vom Tisch, ihm war elend zu Mute, legte sich auf die harte Pritsche, aber an Schlaf war nicht zu denken. Zu sehr drückten ihn die Sorgen um sein künftiges Schicksal. Doch endlich übermannte ihn der Schlaf.

Bürgermeister Wittenborg

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