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Skandal in Böhmen I

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Für Sherlock Holmes ist sie stets die Frau. Selten hörte ich, dass er sie unter einem anderen Namen erwähnt hätte. In seinen Augen überragt und überschattet sie ihr ganzes Geschlecht. Nicht, dass er für Irene Adler irgendeine der Liebe vergleichbare Empfindung verspürt hätte. Alle Gefühle, insbesondere aber dieses eine, waren seinem leidenschaftslosen, peniblen, aber bewundernswert ausgeglichenen Gemüt ein Gräuel. Er war, wie ich meine, der perfekteste Denk- und Beobachtungsapparat, den die Welt je erblickt hat; der Rolle des Liebhabers indes wäre er nicht gewachsen gewesen. Niemals sprach er von den zarteren Regungen anders als mit Spott und Hohn. Dem Beobachter waren sie ein hochgeschätzter Gegenstand, eine vortreffliche Gelegenheit, den Schleier, der über den Motiven und Handlungen der Menschen liegt, zu lüften. Doch für den geschulten Denker hieße derartige Einbrüche in sein eigenes heikles, feingestimmtes Temperament zu dulden einen Störfaktor einzuführen, der alle seine Denkresultate in Zweifel ziehen mochte. Staub in einem empfindlichen Instrument oder ein Sprung in einem seiner Vergrößerungsgläser könnte nicht störender wirken als ein heftiges Gefühl in einer Natur wie der seinigen. Und doch gab es nur eine Frau für ihn, und diese Frau war die kürzlich verstorbene Irene Adler zweifelhaften und fragwürdigen Angedenkens.

Ich hatte in letzter Zeit wenig von Holmes gesehen. Durch meine Heirat hatten wir uns auseinandergelebt. Mein vollkommenes Glück und die häuslichen Aufgaben, welche einem Mann erwachsen, der sich erstmals in der Lage findet, Herr eines eigenen Hausstandes zu sein, beanspruchten meine Aufmerksamkeit zur Genüge, während Holmes, der jede Form von Gesellschaft mit der Vehemenz des Bohemiens verabscheute, in unserer möblierten Wohnung in der Baker Street blieb, sich unter seinen alten Büchern vergrub und von Woche zu Woche zwischen Kokain und Ehrgeiz wechselte, zwischen der Einschläferung durch die Droge und der unbändigen Tatkraft seines lebhaften Charakters. Nach wie vor schlug ihn das Studium des Verbrechens in seinen Bann und verschaffte er seinen gewaltigen Fähigkeiten und seiner außergewöhnlichen Beobachtungsgabe Nahrung, indem er den Anhaltspunkten nachging und die Geheimnisse enträtselte, deren Lösung die Polizei als hoffnungslos aufgegeben hatte. Von Zeit zu Zeit drangen unbestimmte Berichte über seine Tätigkeit an mein Ohr: seine Vorladung nach Odessa im Mordfall Trepoff, die Aufklärung der ungewöhnlichen Tragödie um die Gebrüder Atkinson in Trincomalee und endlich der Auftrag für das holländische Herrscherhaus, den er so überaus taktvoll zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht hatte. Außer diesen Anzeichen seiner Tätigkeit, die ich lediglich mit allen Lesern der Tagespresse teilte, wusste ich indessen nur wenig von meinem früheren Freund und Gefährten.

Eines Nachts – es war der 20. März 1888 – kehrte ich von einem Patientenbesuch zurück (ich hatte nämlich meinen Zivilberuf inzwischen wiederaufgenommen), als mich mein Weg durch die Baker Street führte. Als ich an der mir wohlbekannten Tür vorüberkam, die sich in meiner Erinnerung stets mit der Zeit, da ich auf Freiersfüßen ging, und mit den mysteriösen Vorfällen um die Studie in Scharlachrot verband, überkam mich das heftige Verlangen, Holmes wiederzusehen und zu erfahren, wie er seine außerordentlichen Gaben einsetzte. Seine Räume waren hell erleuchtet, und als ich hinaufschaute, sah ich eben die dunkle Silhouette seiner hohen, hageren Gestalt zweimal hinter der Jalousie vorübergehen. Rasch, ungeduldig schritt er im Zimmer auf und ab, den Kopf auf die Brust gesenkt und die Hände auf dem Rücken verschränkt. Für mich, der ich alle seine Stimmungen und Gewohnheiten kannte, sprachen seine Haltung und sein Gebaren für sich. Er war wieder bei der Arbeit. Er hatte sich aus seinen von der Droge genährten Träumen gerissen und war einem neuen Problem dicht auf der Spur. Ich läutete und wurde zur Kanzlei hinaufgeführt, die ich seinerzeit mit ihm geteilt hatte.

Sein Verhalten war nicht überschwänglich – das war es selten –, aber er war, glaube ich, doch angetan, mich zu sehen. Ohne viel Worte zu verlieren, aber mit einem wohlgefälligen Blick winkte er mich zu einem Lehnsessel, warf sein Zigarrenetui herüber und wies auf eine Kredenz und ein Sodasiphon in der Ecke. Dann blieb er vor dem Kamin stehen und musterte mich auf seine ungewöhnliche, durchdringende Art.

»Die Ehe bekommt Ihnen«, stellte er fest. »Ich glaube, Watson, Sie haben siebeneinhalb Pfund zugenommen, seit ich Sie das letzte Mal sah.«

»Sieben«, erwiderte ich.

»Wahrhaftig, ich hätte ein wenig mehr geschätzt, aber nur eine Kleinigkeit mehr, scheint mir, Watson. Und Sie praktizieren wieder, wie ich sehe. Sie hatten mir nicht anvertraut, dass Sie die Absicht hatten, sich wieder einspannen zu lassen.«

»Woher wissen Sie es dann?«

»Ich sehe es, ich schließe es. Woher weiß ich wohl, dass Sie kürzlich erst sehr nass geworden sind und dass Sie ein äußerst ungeschicktes und unachtsames Dienstmädchen haben?«

»Mein lieber Holmes«, sagte ich, »das ist zu viel des Guten. Hätten Sie ein paar Jahrhunderte früher gelebt, wären Sie mit Sicherheit verbrannt worden. Es ist wahr: Donnerstag habe ich einen Spaziergang über Land gemacht und bin fürchterlich zugerichtet nach Hause gekommen. Da ich jedoch meine Kleider gewechselt habe, kann ich mir nicht vorstellen, wie Sie darauf gekommen sind. Was Mary Jane angeht, so ist sie unverbesserlich, und meine Frau hat ihr gekündigt; aber wiederum kann ich einfach nicht sehen, wie Sie das herausbekommen haben.«

Er gluckste vergnügt in sich hinein und rieb die langen nervösen Hände.

»Ein Kinderspiel«, sagte er. »Meine Augen verraten mir, dass das Leder an der Innenseite Ihres linken Schuhs, genau da, wo der Schein des Kaminfeuers auf ihn fällt, sechs fast parallele Schrammen aufweist. Offenkundig sind sie von jemandem verursacht, der sehr unachtsam am Sohlenrand herumgekratzt hat, um verkrusteten Schlamm zu entfernen. Sehen Sie, von daher meine zweifache Schlussfolgerung, dass Sie bei abscheulichem Wetter unterwegs waren und dass Sie ein besonders tückisches, stiefelschlitzendes Exemplar von Londoner Dienstmädchen hatten. Was aber nun Ihre Praxis anbelangt – wenn ein Herr meine Wohnung betritt und nach Jodoform riecht, eine Spur schwarzen Höllensteins an seinem rechten Zeigefinger und eine Ausbuchtung an der Seite seines Zylinders hat, die anzeigt, wo er sein Stethoskop verborgen hält, müsste ich wahrhaft schwerfällig sein, ihn nicht für ein aktives Mitglied des Ärztestandes zu erklären.«

Angesichts des Behagens, mit dem er seine Beweisführung erläutert hatte, konnte ich mir ein Lachen nicht verbeißen. »Wenn ich Ihre Argumentation höre«, bemerkte ich, »scheint mir die Sache jedes Mal lächerlich einfach zu sein, ganz so, als könne ich sie mit Leichtigkeit selber nachmachen; aber bei jedem neuerlichen Beweis Ihres Scharfsinns bin ich wieder verblüfft, bis Sie mir Ihren Gedankengang erklären. Und doch bin ich überzeugt, dass meine Augen ebenso gut sind wie die Ihren.«

»Ganz recht«, erwiderte er, indem er sich eine Zigarette anzündete und sich in einen Sessel fallen ließ. »Sie sehen zwar, aber Sie nehmen nicht wahr. Der Unterschied liegt doch auf der Hand. Sie haben zum Beispiel regelmäßig die Stufen gesehen, die von der Eingangshalle zu diesem Zimmer heraufführen.«

»Regelmäßig.«

»Wie oft?«

»Nun, einige hundert Male.«

»Wie viele Stufen sind es also?«

»Wie viele? Das weiß ich nicht.«

»Allerdings nicht! Sie haben sie eben nicht wahrgenommen. Und gleichwohl haben Sie sie gesehen. Genau das ist der springende Punkt. Nun denn, ich weiß, dass es siebzehn Stufen sind, weil ich sie nicht nur gesehen, sondern auch wahrgenommen habe. Übrigens, da Sie sich nun einmal für diese kleinen Probleme erwärmen und die Güte hatten, ein oder zwei meiner unbedeutenden Erlebnisse aufs Papier zu bringen, sind Sie vielleicht auch hieran interessiert.« Er warf einen Bogen blassrot getönten, steifen Briefpapiers herüber, der offen auf dem Tisch gelegen hatte. »Er kam mit der letzten Post«, sagte er. »Lesen Sie ihn vor.«

Der Brief war undatiert und trug weder Unterschrift noch Absender.

»Heute Abend um ein Viertel vor acht Uhr«, hieß es, »wird ein Herr Sie aufsuchen, der Sie in einer Angelegenheit von allergrößter Tragweite zu konsultieren wünscht. Die Dienste, die Sie kürzlich einem der europäischen Königshäuser erwiesen haben, lassen erkennen, dass man Sie getrost mit Angelegenheiten betrauen darf, deren Bedeutung kaum zu überschätzen ist. Einschlägige Berichte über Sie haben wir von allen möglichen Seiten erhalten. Seien Sie also zu dieser Stunde in Ihrer Kanzlei und nehmen Sie keinen Anstoß an der Maske, die Ihr Besucher tragen wird.«

»Das klingt allerdings rätselhaft«, äußerte ich. »Was hat das Ihrer Meinung nach zu bedeuten?«

»Ich weiß noch keine Einzelheiten. Ein Kardinalfehler besteht darin, Theorien aufzustellen, bevor man noch über weitere Angaben verfügt. Unbedacht beginnt man die Tatsachen zu verdrehen, um sie den Theorien anzupassen statt die Theorien den Tatsachen. Aber die Mitteilung selbst. Was entnehmen Sie ihr?«

Ich untersuchte sorgfältig die Handschrift sowie das Papier, auf dem das Schreiben abgefasst war.

»Der Verfasser ist vermutlich wohlhabend«, stellte ich fest, bestrebt, den Gedankengängen meines Freundes nachzueifern. »Solches Papier könnte man nicht für unter einer halben Krone die Packung erstehen. Es ist befremdlich dick und steif.«

»Befremdlich – das ist genau das richtige Wort«, sagte Holmes. »Es ist überhaupt kein englisches Papier. Halten Sie es gegen das Licht.«

Dies tat ich und sah ein großes E mit einem kleinen g, ein P und ein großes G mit einem kleinen t in die Papiermaserung eingeprägt.

»Was sagen Sie dazu?«, fragte Holmes.

»Ohne Zweifel der Name des Herstellers, oder eher sein Monogramm.«

»Keineswegs. Das G mit dem kleinen t steht für ›Gesellschaft‹, das deutsche Wort für ›Company‹. Es ist eine landläufige Abkürzung wie unser ›Co.‹. P steht natürlich für ›Papier‹. Nun aber Eg. Lassen Sie uns einen Blick in unser Geographisches Namensverzeichnis für den Kontinent werfen.« Er nahm einen schweren braunen Folianten vom Bücherbord. »Eglow – Eglonitz. Da haben wir es: Egerland. Es ist in einem deutschsprachigen Land – in Böhmen, unweit Karlsbad. ›Erwähnenswert als Schauplatz von Wallensteins Tod und aufgrund seiner zahlreichen Glashütten und Papiermühlen.‹ Haha, alter Junge, was sagen Sie dazu?« Seine Augen sprühten, und von seiner Zigarette sandte er eine große triumphierende blaue Wolke aus.

»Das Papier wurde in Böhmen hergestellt«, sagte ich.

»Genau. Und der Mann, der den Brief schrieb, ist Deutscher. Beachten Sie den eigentümlichen Satzbau: ›Einschlägige Berichte über Sie haben wir von allen möglichen Seiten erhalten.‹ Ein Franzose oder Russe hätte das nicht so formulieren können. Nur der Deutsche ist derart unhöflich gegen seine Verben. Es bleibt uns also nur noch, das Anliegen dieses Deutschen herauszufinden, der auf böhmischem Papier schreibt und lieber eine Maske trägt als sein Gesicht zeigt. Da kommt er schon, wenn mich nicht alles täuscht, all unsere Zweifel zu zerstreuen.«

Noch während er sprach, war deutlich der Hufschlag von Pferden und das Geräusch von Rädern, die am Rinnstein schabten, zu hören, gefolgt von einem scharfen Zug an der Schelle. Holmes pfiff.

»Ein Gespann dem Klange nach«, sagte er. »Ja«, fuhr er fort, während er aus dem Fenster schaute, »ein hübsches kleines Coupé und zwei Pferde, wahre Prachtexemplare. Hundertundfünfzig Guineen das Stück. In dem Fall steckt Geld, Watson, wenn nichts sonst.«

»Ich glaube, ich sollte jetzt gehen, Holmes.«

»Nicht im Geringsten, Doktor. Bleiben Sie, wo Sie sind. Ohne meinen Boswell bin ich verloren. Und es verspricht interessant zu werden. Es wäre doch jammerschade, wenn Sie etwas versäumten.«

»Aber Ihr Klient …?«

»Kümmern Sie sich nicht um den. Vielleicht benötige ich Ihre Hilfe, vielleicht auch er. Hier kommt er schon. Setzen Sie sich in diesen Sessel, Doktor, und schenken Sie uns Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.«

Der langsame und schwere Schritt, den wir schon vom Treppenhaus und vom Gang her vernommen hatten, hielt unmittelbar vor der Tür inne. Dann ertönte ein lautes und gebieterisches Klopfen.

»Herein!«, rief Holmes.

Ein Mann trat ein, der schwerlich weniger als sechs Fuß und sechs Zoll maß und Brustkorb und Gliedmaßen eines Herkules besaß. Seine Kleidung war prächtig, aber von einer an schlechten Geschmack grenzenden Pracht, auf die man in England herabblicken würde. Schwere Astrachanstreifen waren an den Ärmeln und Vorderteilen seines zweireihigen Rocks aufgesetzt, während der dunkelblaue Umhang, den er über die Schultern geworfen hatte, mit feuerroter Seide gefüttert war und am Hals mit einer Brosche zusammengehalten wurde, die aus einem einzigen flammenden Beryll bestand. Stiefel, die seine Waden auf halber Länge bedeckten und oben mit reichem braunem Pelz besetzt waren, rundeten den Eindruck barbarischer Üppigkeit ab, den seine ganze äußere Erscheinung vermittelte. In der Hand hielt er einen breitrandigen Hut, über der oberen Gesichtshälfte aber trug er eine schwarze Maske, die bis auf die Backenknochen reichte und die er allem Anschein nach soeben erst zurechtgerückt hatte; denn seine Hand war noch erhoben, als er eintrat. Von der unteren Gesichtshälfte zu schließen, schien er ein Mann von ausgeprägtem Charakter zu sein, mit wulstiger Hängelippe und einem langgestreckten Kinn, das auf eine an Starrsinn grenzende Entschlusskraft hindeutete.

»Sie haben meinen Brief erhalten?«, fragte er mit tiefer, barscher Stimme und starkem deutschen Akzent. »Ich habe Ihnen mitgeteilt, dass ich vorsprechen würde.« Er blickte von einem zum anderen, als sei er sich nicht sicher, an wen er sich wenden sollte.

»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte Holmes. »Dies ist mein Freund und Kollege Dr. Watson, der gelegentlich die Güte besitzt, mir bei meinen Fällen zu assistieren. Mit wem habe ich die Ehre?«

»Sie dürfen mich mit Graf von Kramm anreden, ich bin ein böhmischer Edelmann. Ich setze voraus, dass der Herr, Ihr Freund, ein Mann von Ehre und Diskretion ist, dem ich eine Angelegenheit von allergrößter Bedeutung anvertrauen kann. Wenn nicht, zöge ich es vor, mich mit Ihnen unter vier Augen zu besprechen.«

Ich erhob mich, um zu gehen, aber Holmes fasste mich beim Handgelenk und drückte mich in meinen Sessel zurück. »Entweder beide oder keiner«, sagte er. »Sie können sich vor dem Herrn über alles auslassen, was Sie mir sagen möchten.«

Der Graf zuckte die breiten Schultern. »Dann muss ich damit beginnen«, sagte er, »Sie alle beide für zwei Jahre zu unbedingter Verschwiegenheit zu verpflichten; nach Ablauf dieser Zeit wird die Angelegenheit nicht länger von Bedeutung sein. Gegenwärtig aber ist es nicht zu viel gesagt, dass sie von einem solchen Gewicht ist, dass sie Einfluss auf den Gang der europäischen Geschichte nehmen könnte.«

»Ich verspreche es Ihnen«, sagte Holmes.

»Ich auch.«

»Sie werden diese Maske entschuldigen«, fuhr unser sonderbarer Besucher fort. »Die erlauchte Persönlichkeit, die mich beauftragt hat, wünscht, dass ihr Bevollmächtigter Ihnen unbekannt bleibe, und ich darf von vornherein bekennen, dass der Titel, den ich mir soeben zugelegt habe, nicht eigentlich der meinige ist.«

»Dessen war ich gewärtig«, bemerkte Holmes trocken.

»Die Umstände sind äußerst delikat, und man muss alle Vorsicht walten lassen, um im Keime zu ersticken, was sich zu einem ungeheuren Skandal auswachsen und eines der Herrscherhäuser Europas ernstlich kompromittieren könnte. Um es geradeheraus zu sagen, in die Angelegenheit verwickelt ist die große Dynastie derer von Ormstein, Erbkönige von Böhmen.«

»Auch dessen war ich mir bewusst«, murmelte Holmes, lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen.

Unser Besucher warf einen sichtlich befremdeten Blick auf die unbeteiligt ausgestreckte Gestalt des Mannes, der ihm zweifellos als der scharfsinnigste Kopf und tatkräftigste Detektiv Europas geschildert worden war. Holmes schlug die Augen langsam wieder auf und blickte seinen riesenhaften Klienten ungeduldig an.

»Wenn Eure Majestät geruhen wollten, Ihren Fall darzulegen«, bemerkte er, »wäre ich eher in der Lage, Ihnen Rat zu erteilen.«

Der Mann schnellte aus seinem Sessel hoch und lief in unkontrollierter Erregung im Zimmer auf und ab. Dann, mit einer Gebärde der Verzweiflung, riss er sich die Maske vom Gesicht und schleuderte sie zu Boden. »Sie haben recht«, rief er aus, »ich bin der König. Weshalb sollte ich versuchen, es zu verbergen?«

»Wahrhaftig, weshalb?«, murmelte Holmes vor sich hin. »Eure Majestät hatten noch nicht angesetzt, als mir bereits bewusst war, dass ich es mit Wilhelm Gottesreich Sigismund von Ormstein, Großherzog von Kassel-Falkstein und Erbkönig von Böhmen, zu tun habe.«

»Aber Sie werden verstehen«, sagte unser seltsamer Besucher, indem er sich wieder setzte und mit der Hand über die hohe, helle Stirn fuhr, »Sie werden verstehen, dass ich nicht gewohnt bin, derartige Geschäfte in eigener Person abzuwickeln. Indessen, die Angelegenheit ist so heikel, dass ich mich nicht einem Bevollmächtigten hätte anvertrauen können, ohne mich in dessen Macht zu begeben. Ich bin in der Absicht, Sie zu konsultieren, inkognito von Prag angereist.«

»Dann, bitte, konsultieren Sie mich«, sagte Holmes und schloss abermals die Augen.

»Die Tatsachen sind kurz gesagt diese: Vor etwa fünf Jahren machte ich während eines ausgedehnten Besuchs in Warschau die Bekanntschaft der bekannten Abenteurerin Irene Adler. Der Name ist Ihnen ohne Zweifel geläufig?«

»Bitte, seien Sie so freundlich und schlagen Sie in meiner Kartei nach, Doktor«, murmelte Holmes, ohne die Augen zu öffnen. Seit vielen Jahren hatte er es sich zum System gemacht, Auszüge von Zeitungsartikeln zu Menschen und Sachen anzufertigen, so dass es schwerfiel, ein Thema oder eine Person zu nennen, über die er nicht augenblicklich Informationen hätte beschaffen können. In diesem Fall fand ich ihre Biographie zwischen der eines jüdischen Rabbi und der eines Stabskommandeurs, der eine Monographie über Tiefseefische verfasst hatte, eingeklemmt.

»Lassen Sie mich sehen«, sagte Holmes. »Hm! Geboren in New Jersey im Jahre 1858. Altistin – hm! An der Scala – hm! Primadonna an der Kgl. Oper zu Warschau – ja! Hat sich von der Opernbühne zurückgezogen – ha! Lebt in London – ganz recht! Wie ich sehe, wurden Eure Majestät in eine Liebesaffäre mit dieser jungen Person verstrickt, schrieben ihr einige kompromittierende Briefe und haben nun den Wunsch, jene Briefe wiederzuerlangen.«

»Genau das. Aber wie …?«

»Haben Sie sich heimlich trauen lassen?«

»Nein.«

»Keine amtlichen Dokumente oder Urkunden?«

»Keine.«

»Dann kann ich Eurer Majestät leider nicht folgen. Sollte diese junge Person ihre Briefe an die Öffentlichkeit bringen wollen, um Sie zu erpressen oder für andere Zwecke, wie könnte sie ihre Echtheit beweisen?«

»Da ist die Handschrift.«

»Pah, pah! Fälschung.«

»Mein privates Briefpapier.«

»Gestohlen.«

»Mein ureigenstes Siegel.«

»Nachgeahmt.«

»Mein Bild.«

»Gekauft.«

»Aber wir waren beide auf der Fotografie.«

»Oje! Das ist schlimm! Eure Majestät haben in der Tat eine Indiskretion begangen.«

»Ich war vernarrt – von Sinnen!«

»Sie haben sich ernsthaft kompromittiert.«

»Ich war damals erst Kronprinz. Ich war noch jung. Ich bin jetzt gerade erst dreißig.«

»Sie muss wiedergefunden werden.«

»Wir haben es versucht – ohne Erfolg.«

»Eure Majestät müssen zahlen. Sie muss ihr abgekauft werden.«

»Sie wird sie nicht verkaufen wollen.«

»Dann halt gestohlen werden.«

»Fünf Versuche sind unternommen worden. Zweimal haben Einbrecher in meinem Sold ihr Haus durchwühlt. Einmal haben wir ihr Gepäck umgeleitet, als sie auf Reisen war. Zweimal ist ihr aufgelauert worden. Es hat alles zu keinem Ergebnis geführt.«

»Kein Anzeichen von ihr?«

»Nicht das geringste.«

Holmes lachte. »Das ist ja ein ziemlich vertracktes Problem.«

»Aber für mich ein sehr ernstes«, gab der König vorwurfsvoll zurück.

»Sehr ernst allerdings. Und was bezweckt sie mit der Fotografie?«

»Mich zu ruinieren.«

»Aber wie?«

»Ich stehe kurz vor der Vermählung.«

»Davon habe ich gehört.«

»Mit Klothilde Lothman von Sachsen-Meiningen, jüngerer Tochter des Königs von Skandinavien. Vielleicht kennen Sie die strengen Grundsätze ihrer Familie. Sie selbst ist eine Seele von Zartgefühl. Der Schatten eines Zweifels an meinem Lebenswandel würde unsere Verbindung beenden.«

»Und Irene Adler?«

»Droht ihrer Familie die Fotografie zukommen zu lassen. Und das wird sie auch tun. Ich weiß, dass sie es tun wird. Sie kennen sie ja nicht, aber sie hat ein Herz aus Stein. An Schönheit übertrifft sie alle Frauen und an Willensstärke alle Männer. Um zu verhindern, dass ich eine andere Frau eheliche, würde sie sehr weit gehen – bis zum Äußersten.«

»Sind Sie sicher, dass sie sie noch nicht abgeschickt hat?«

»Ich bin sicher.«

»Und wieso?«

»Weil sie sagte, sie werde sie an dem Tage abschicken, an dem das Verlöbnis öffentlich bekanntgegeben werde. Das wird kommenden Montag sein.«

»Na, dann haben wir ja noch drei Tage Zeit«, sagte Holmes mit einem Gähnen. »Da kann man ja von Glück sagen. Immerhin muss ich zurzeit noch ein, zwei Angelegenheiten von Bedeutung unter die Lupe nehmen. Eure Majestät werden natürlich einstweilen in London bleiben?«

»Gewiss doch. Sie werden mich unter dem Namen Graf von Kramm im ›Langham‹ finden.«

»Dann werde ich Ihnen ein paar Zeilen schreiben und Sie wissen lassen, wie wir vorankommen.«

»Ich bitte darum. Ich werde es kaum erwarten können.«

»Wie halten wir es mit der Bezahlung?«

»Sie haben Carte blanche

»Ohne Einschränkung?«

»Ich sage Ihnen, ich gäbe eine der Provinzen meines Königreichs, nur um diese Fotografie zu erhalten.«

»Und anfallende Spesen?«

Der König holte einen schweren gamsledernen Beutel unter seinem Umhang hervor und legte ihn auf den Tisch.

»Hier sind dreihundert Pfund in Gold und siebenhundert in Banknoten«, sagte er.

Holmes kritzelte eilig eine Quittung auf ein Blatt seines Notizbuchs und reichte sie ihm.

»Und Mademoiselles Anschrift?«, fragte er.

»Lautet Briony Lodge, Serpentine Avenue, St. John’s Wood.«

Holmes machte sich eine Notiz. »Eine Frage noch«, sagte er. »Hatte das Foto Kabinettformat?«

»Ja.«

»Dann gute Nacht, Eure Majestät; ich bin zuversichtlich, dass wir bald gute Nachrichten für Sie haben werden. Und gute Nacht, Watson«, setzte er hinzu, als die Räder des königlichen Coupés die Straße entlangrollten. »Wenn Sie so gut wären, morgen Nachmittag um drei Uhr vorbeizuschauen, würde ich liebend gern mit Ihnen über diese kleine Angelegenheit plaudern.«

Die Abenteuer des Sherlock Holmes

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