Читать книгу Eine Studie in Scharlachrot - Arthur Conan Doyle, Исмаил Шихлы - Страница 6
2. Die Wissenschaft der Deduktion
ОглавлениеWie von ihm festgesetzt, trafen wir uns am nächsten Tag und inspizierten die Räumlichkeiten von Nr. 221 B, Baker Street, über die wir bei unserer Begegnung gesprochen hatten. Sie bestanden aus zwei gemütlichen Schlafzimmern und einem gemeinsamen, großen, luftigen Wohnraum, der fröhlich möbliert war und von zwei breiten Fenstern erhellt wurde. Die Zimmer waren insgesamt so ersprießlich, und die Kosten, geteilt durch uns beide, erschienen uns so maßvoll, daß die Verhandlungen auf der Stelle zu einem Abschluß gebracht wurden und die Wohnung sogleich in unseren Gebrauch überging. Noch am gleichen Abend brachte ich meine Habseligkeiten aus dem Hotel herbei, und am nächsten Morgen folgte Sherlock Holmes mir mit mehreren Kisten und Schrankkoffern. Einen Tag oder zwei waren wir vollauf damit beschäftigt, unsere Besitztümer auszupacken und in möglichst vorteilhafter Weise unterzubringen. Nachdem dies geschehen war, begannen wir, ansässig zu werden und uns an die neue Umgebung zu gewöhnen.
Mit Holmes war keineswegs schwierig auszukommen. Er war von ruhiger Art und hatte geregelte Gewohnheiten. Selten war er nach zehn Uhr abends noch auf den Beinen, und immer hatte er bereits gefrühstückt und das Haus verlassen, bevor ich morgens aufstand. Bisweilen verbrachte er den Tag im Chemie-Laboratorium, manchmal in den Sezier-Räumen, und gelegentlich auf langen Spaziergängen, die ihn in die niedersten Teile der Stadt zu führen schienen. War er arbeitswütig, so vermochte nichts seine Energie zu übertreffen; hin und wieder setzte jedoch eine Reaktion ein, und dann pflegte er tagelang auf dem Sofa im Wohnraum zu liegen, wobei er vom Morgen bis zum Abend kaum ein Wort sagte oder einen Muskel bewegte. Bei derlei Gelegenheiten habe ich in seinen Augen einen solch verträumten, leeren Ausdruck bemerkt, daß ich ihn hätte verdächtigen mögen, irgendeinem Narkotikum zu frönen, hätte nicht die Mäßigung und Reinlichkeit seiner ganzen Lebensführung eine derartige Annahme verboten.
So verstrichen die Wochen, und mein Interesse an ihm wie auch meine Neugier bezüglich seiner Lebensziele vertieften und mehrten sich allmählich. Seine Gestalt und Erscheinung allein genügten, die Aufmerksamkeit des oberflächlichsten Beobachters zu erregen. Er war mehr als sechs Fuß groß und so ungeheuer hager, daß er noch weit größer wirkte. Seine Augen waren scharf und durchdringend, außer in jenen Zwischenzeiten der Lähmung, die ich erwähnt habe, und seine schmale, falkenhafte Nase verlieh ihm insgesamt den Ausdruck der Wachsamkeit und Entschlossenheit. Auch sein Kinn hatte jene Prominenz und Wucht, die den entscheidungsfreudigen Mann kennzeichnen. Unweigerlich waren seine Hände mit Tinte beschmiert und von Chemikalien befleckt, und doch besaß er ein außerordentliches Fingerspitzengefühl, wie zu beobachten ich oftmals die Gelegenheit hatte, wenn ich ihn die zerbrechlichen Instrumente seiner Welterforschung handhaben sah.
Der Leser mag mich als hoffnungslose Schnüffelnase abschreiben, wenn ich bekenne, wie sehr dieser Mann meine Neugier weckte und wie oft ich die Zurückhaltung zu durchdringen mich mühte, die er in allem an den Tag legte, was ihn betraf. Ehe man den Stab über mich bricht, bedenke man jedoch, wie ziellos mein Leben war und wie wenig es gab, das meine Aufmerksamkeit zu fesseln vermocht hätte. Meine Gesundheit erlaubte es mir nicht, das Haus zu verlassen, außer bei ungewöhnlich mildem Wetter, und ich hatte keine Freunde, die mir Besuche abstatten und die Eintönigkeit meines Alltags hätten unterbrechen können. Unter diesen Umständen begrüßte ich eifrig das kleine Mysterium, das meinen Gefährten umgab, und verwandte ein gut Teil meiner Zeit auf den Versuch, es zu erhellen.
Medizin studierte er nicht. Was das betraf, so hatte er auf unsere Frage hin Stamfords Ansichten bestätigt. Ebenso wenig schien er Vorlesungen belegt zu haben, die ihn befähigt hätten, einen wissenschaftlichen Grad oder irgendeinen anderen anerkannten Einlaß in die Welt der Gelahrten zu erwerben. Seine Hingabe an bestimmte Studien war jedoch bemerkenswert, und innerhalb exzentrischer Grenzen waren seine Kenntnisse so ungewöhnlich weitreichend und genau, daß seine Bemerkungen mich durchaus erstaunten. Sicherlich konnte niemand so hart arbeiten oder so genaue Kenntnisse erlangen, ohne ein bestimmtes Ziel anzustreben. Oberflächliche Leser sind selten ob der Genauigkeit ihres Wissens bemerkenswert. Kein Mensch belastet seinen Geist mit Kleinkram, ohne dafür einen sehr guten Grund zu haben.
Seine Unwissenheit war ebenso bemerkenswert wie seine Kenntnisse. Über zeitgenössische Literatur, Philosophie und Politik schien er so gut wie gar nichts zu wissen. Als ich Thomas Carlyle9 zitierte, erkundigte er sich überaus naiv, wer dieser sei und was er geleistet habe. Meine Überraschung erreichte jedoch einen Höhepunkt, als ich zufällig herausfand, daß ihm die Theorie des Kopernikus und der Aufbau des Sonnensystems unbekannt waren. Daß ein gebildeter Mensch in diesem unseren neunzehnten Jahrhundert in Unkenntnis der Bewegung der Erde um die Sonne verharrte, erschien mir als solch außerordentliche Tatsache, daß ich es kaum zu begreifen vermochte.
»Sie scheinen sehr erstaunt zu sein«, sagte er; er lächelte über meinen verblüfften Gesichtsausdruck. »Jetzt, da ich es weiß, werde ich mich nach Kräften mühen, es zu vergessen.«
»Es zu vergessen!«
»Sehen Sie«, erläuterte er, »ich bin der Meinung, daß das Hirn eines Menschen ursprünglich wie eine kleine leere Dachkammer ist, die man mit dem Mobiliar versehen muß, das einem genehm ist. Ein Narr nimmt allen Plunder auf, über den er stolpert, so daß das Wissen, das ihm nützen könnte, von der übrigen Menge verdrängt oder bestenfalls von all den anderen Dingen verstellt wird, so daß er es schwerlich erfassen kann. Der geschickte Arbeiter dagegen wird sehr sorgsam mit jenen Dingen umgehen, die er in seine Hirnmansarde holt. Er nimmt nur jene Werkzeuge auf, die ihm bei seiner Arbeit helfen können, aber von diesen hat er ein großes Sortiment, und alle sind geordnet und in bestem Zustand. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, dieser kleine Raum habe elastische Wände und sei beliebig dehnbar. Verlassen Sie sich darauf: Es kommt eine Zeit, da Sie für jede neue Kenntnis etwas vergessen, das Sie vordem gewußt haben. Es ist daher von größter Wichtigkeit, daß nicht nutzlose Fakten die nützlichen verdrängen.«
»Aber das Sonnensystem!« protestierte ich.
»Was zum Teufel soll ich damit?« unterbrach er mich ungeduldig. »Sie sagen, wir kreisen um die Sonne. Und wenn wir um den Mond kreisten – für mich oder meine Arbeit würde das nicht den geringsten Unterschied machen.«
Ich hätte ihn beinahe gefragt, was denn diese Arbeit sei, aber etwas in seiner Haltung zeigte mir, daß die Frage unwillkommen wäre. Ich machte mir jedoch Gedanken über unsere kurze Unterhaltung und suchte Schlüsse aus ihr zu ziehen. Er sagte, er wolle kein Wissen erwerben, das nicht zum Erreichen seiner Ziele beitrüge. Daher mußte alles Wissen, das er besaß, so beschaffen sein, daß es ihm nützte. Ich zählte im Geiste all die verschiedenen Punkte auf, über die er mir seine außerordentlich guten Kenntnisse demonstriert hatte. Ich nahm sogar einen Bleistift und schrieb sie nieder. Ich konnte nicht umhin, das Dokument zu belächeln, als ich es fertiggestellt hatte. Es lautete folgendermaßen:
Sherlock Holmes – seine Grenzen
1. Kenntnisse in Literatur: Null
2. Kenntnisse in Philosophie: Null
3. Kenntnisse in Astronomie: Null
4. Kenntnisse in Politik: Schwach
5. Kenntnisse in Botanik: Unterschiedlich. Gut in Belladonna, Opium und generell Gift. Er weiß nichts über praktische Gärtnerei.
6. Kenntnisse in Geologie: Verwendbar, aber begrenzt. Er kann mit einem Blick verschiedene Böden unterscheiden. Nach Spaziergängen hat er mir Spritzer auf seiner Hose gezeigt und mir anhand ihrer Farbe und Zusammensetzung gesagt, in welcher Gegend von London sie ihm zuteil wurden.
7. Kenntnisse in Chemie: Umfassend.
8. Kenntnisse in Anatomie: Genau, aber unsystematisch.
9. Kenntnisse in Sensationsliteratur: Ungeheuer. Er scheint jede Einzelheit jeder in diesem Jahrhundert begangenen Schreckenstat zu kennen.
10. Er spielt gut Geige.
11. Er ist ein geübter Stock- und Degenfechter sowie Boxer.
12. Er kennt sich gut in den britischen Gesetzen aus.
Als ich mit meiner Liste so weit gediehen war, warf ich sie voller Verzweiflung ins Feuer. ›Wenn ich das, worauf der Bursche abzielt, nur herausfinden kann, indem ich all diese Fertigkeiten unter einen Hut bringe und einen Beruf entdecke, für den sie samt und sonders nötig sind‹, sagte ich mir, ›dann kann ich den Versuch gleich aufgeben.‹
Ich stelle fest, daß ich oben auf seine Violinkünste angespielt habe. Sie waren äußerst bemerkenswert, aber genauso exzentrisch wie all seine sonstigen Fertigkeiten. Ich wußte sehr wohl, daß er Stücke, auch schwierige, spielen konnte, hatte er mir doch auf meine Bitte hin einige Lieder von Mendelssohn und andere meiner Lieblingsstücke vorgespielt. War er jedoch allein, so machte er selten Musik und suchte keine erkennbaren Melodien zu spielen. Er pflegte sich dann abends in seinem Sessel zurückzulehnen, die Augen zu schließen und unachtsam auf der Fiedel herumzukratzen, die auf seinen Knien lag. Manchmal waren die Akkorde klangvoll und schwermütig. Gelegentlich waren sie phantastisch und fröhlich. Offenbar spiegelten sie die Gedanken wider, die von ihm Besitz ergriffen hatten; ob aber die Musik diese Gedanken förderte, oder ob das Spielen nichts war als das Ergebnis einer Schrulle oder Träumerei, dies zu bestimmen überstieg meine Fähigkeiten. Ich hätte mich wider diese nervzermürbenden Soli aufgelehnt, wenn er nicht an deren Ende jeweils in schneller Folge eine ganze Reihe meiner Lieblingsmelodien gespielt hätte, als kleine Entschädigung für das Strapazieren meiner Geduld.
Während der ersten Wochen hatten wir keine Besucher, und ich nahm an, daß mein Gefährte ebenso ohne Freunde sei wie ich. Bald jedoch stellte ich fest, daß er viele Bekannte hatte, und zwar in den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten. Es gab da einen kleinen blassen Burschen mit einem Rattengesicht und dunklen Augen, der mir als Mr. Lestrade vorgestellt wurde; er kam drei- oder viermal innerhalb einer einzigen Woche. Eines Morgens kam eine junge Frau vorbei, gekleidet nach der neuesten Mode, und blieb eine halbe Stunde oder länger. Derselbe Nachmittag brachte einen grauhäuptigen, verwahrlosten Besucher, der wie ein jüdischer Hausierer aussah und auf mich sehr aufgeregt wirkte; ihm folgte unmittelbar eine ältere, schlampige Frau. Bei einer anderen Gelegenheit führte ein alter, weißhaariger Gentleman ein Gespräch mit meinem Gefährten; bei wieder einer anderen war es ein Gepäckträger in seiner Manchester-Uniform. Wenn eines dieser schwer einzuordnenden Individuen erschien, pflegte Sherlock Holmes mich zu bitten, ihm den Wohnraum zu überlassen, und ich zog mich in mein Schlafgemach zurück. Er entschuldigte sich immer, daß er mir diese Unbequemlichkeit auferlegte. »Ich muß dieses Zimmer als Geschäftsraum verwenden«, sagte er, »und diese Leute sind meine Klienten.« Wieder bot sich mir die Gelegenheit, ihm eine direkte Frage zu stellen, und wieder ließ ich mich durch meine Feinfühligkeit davon abbringen, einen Menschen zu Vertraulichkeiten zu zwingen. In dieser Zeit glaubte ich, er habe starke Motive, nicht davon zu sprechen, aber er zerstreute diese meine Bedenken bald, indem er aus eigenem Antrieb auf das Thema zu sprechen kam.
Es war am vierten März – ich habe gute Gründe, mich dessen zu entsinnen –, als ich ein wenig früher denn gewöhnlich aufstand; Sherlock Holmes hatte sein Frühstück noch nicht beendet. Die Wirtin war an meine späten Aufstehgebräuche so gewohnt, daß mein Platz noch nicht gedeckt und mein Kaffee noch nicht zubereitet war. Mit der unvernünftigen Übellaunigkeit des Mannes läutete ich und gab kurz angebunden zu verstehen, daß ich fertig sei. Dann nahm ich ein Magazin vom Tisch und suchte die Wartezeit damit zu verkürzen, während mein Gefährte schweigend seinen Toast verzehrte. Die Überschrift eines der Artikel war mit Bleistift markiert, und es war nur natürlich, daß ich den Text zu überfliegen begann.
Der reichlich hochtrabende Titel lautete »Das Buch des Lebens«, und der Artikel mühte sich, aufzuzeigen, wie viel ein aufmerksamer Beobachter durch eine genaue und systematische Untersuchung all dessen, das ihm begegnet, zu lernen vermag. Es erschien mir als eine bemerkenswerte Mischung aus Scharfsinn und Absurdität. Die Argumentation war knapp und eindringlich, die Schlußfolgerungen hingegen erschienen mir weit hergeholt und übertrieben. Der Autor behauptete, eines Menschen geheimste Gedanken aus einem jähen Mienenspiel, dem Zucken eines Muskels oder dem Blick eines Auges erschließen zu können. Nach seinen Ausführungen war es unmöglich, einen in Beobachtung und Analyse Ausgebildeten zu täuschen. Seine Schlußfolgerungen waren ebenso unfehlbar wie die Beweisführungen von Euklid. Seine Ergebnisse mußten Uneingeweihte so sehr verblüffen, daß sie ihn durchaus für einen Schwarzen Magier halten mochten, bis sie die Verfahren erlernten, mit deren Hilfe er zu den Schlüssen gelangt war.
»Aus einem Wassertropfen«, stellte der Autor fest, »könnte ein Logiker auf die Möglichkeit eines Atlantik oder eines Niagara schließen, ohne von diesen gehört oder sie gesehen zu haben. So betrachtet ist alles Leben eine große Kette, deren Wesen sich erhellt, wann immer wir ein einziges ihrer Glieder zu Gesicht bekommen. Wie alle anderen Künste läßt sich die Wissenschaft der Deduktion und Analyse nur durch langes und geduldiges Studium erwerben; auch ist das Leben nicht lang genug, um es einem Sterblichen zu gestatten, die höchstmögliche Vollkommenheit darin zu erreichen. Bevor er sich jenen moralischen und geistigen Aspekten des Vorgangs widmet, die die größten Schwierigkeiten darstellen, beginne der Forscher mit der Meisterung der elementareren Probleme. Wenn er einem anderen Sterblichen begegnet, so lerne er, auf einen Blick die Geschichte des Mannes zu erfassen und seine Zunft oder seinen Berufsstand zu bestimmen. So kindisch solch eine Übung erscheinen mag, schärft sie doch die Fähigkeit des Beobachtens und lehrt ihn, wohin er zu sehen und worauf er zu achten hat. Die Fingernägel eines Mannes, der Ärmel seines Mantels, seine Stiefel, die Knie seiner Hose, die Hornhaut seiner Daumen und Zeigefinger, sein Gesichtsausdruck, seine Manschetten – all diese Dinge offenbaren deutlich den Beruf eines Mannes. Daß all dies, zusammengenommen, den fähigen Forscher in auch nur einem einzigen Fall nicht erleuchten könnte, ist nahezu unvorstellbar.«
»Was für ein unsägliches Geschwätz!« rief ich aus; ich knallte das Magazin auf den Tisch. »In meinem ganzen Leben habe ich noch nie solchen Unfug gelesen.«
»Worum geht es?« fragte Sherlock Holmes.
»Also, dieser Artikel«, sagte ich, wobei ich mit meinem Eierlöffel darauf deutete, als ich mich zum Frühstück niederließ. »Ich sehe, daß Sie ihn gelesen haben, Sie haben ihn ja angekreuzt. Ich will nicht leugnen, daß er sehr gut geschrieben ist. Trotzdem irritiert er mich. Das ist ganz offensichtlich die Theorie eines Stubenhockers, der in seinem Lehnstuhl sitzt und all diese netten kleinen Paradoxa ausheckt. Das ist doch in der Praxis nicht durchführbar. Ich möchte ihn mal sehen, wie er eingezwängt in einem Abteil Dritter Klasse in der Untergrund- Bahn steckt und aufgefordert wird, die Berufe aller Mitfahrenden aufzuzählen. Ich wäre bereit, tausend zu eins gegen ihn zu wetten.«
»Sie würden Ihr Geld verlieren«, stellte Holmes ruhig fest. »Und den Artikel, den habe ich geschrieben.«
»Sie!«
»Ja. Ich habe eine Neigung sowohl zur Beobachtung als auch zur Deduktion. Die Theorien, die ich dort dargelegt habe und die Ihnen so chimärisch erscheinen, sind in Wirklichkeit äußerst praktisch – so praktisch, daß ich mit ihnen mein Brot und auch meine Butter verdiene.«
»Wie das?« fragte ich unwillkürlich.
»Also, ich habe einen besonderen Beruf. Ich glaube, ich bin der Einzige auf der Welt. Ich bin ein Beratender Detektiv, wenn Sie verstehen, was das ist. Hier in London haben wir jede Menge beamteter Detektive und etliche private. Wenn diese Leute nicht weiterwissen, kommen sie zu mir, und ich bringe sie auf die richtige Fährte. Sie legen mir alles Beweismaterial vor, und dank meines Wissens über die Geschichte des Verbrechens bin ich normalerweise in der Lage, ihnen weiterzuhelfen. Bei Untaten gibt es große Familienähnlichkeiten, und wenn Sie alle Einzelheiten von tausend Verbrechen kennen, dann wäre es äußerst seltsam, wenn Sie das tausendunderste nicht aufklären könnten. Lestrade ist ein bekannter Detektiv. Er hat sich neulich in einer Fälschungssache in den Sumpf geritten, und das hat ihn hergebracht.«
»Und diese anderen Leute?«
»Sie werden meistens von privaten Ermittlungsagenturen zu mir geschickt. Sie alle sind Leute, die in irgendeiner Klemme stecken und über etwas aufgeklärt werden möchten. Ich höre ihre Geschichten an, sie lauschen meinen Kommentaren, und dann streiche ich mein Honorar ein.«
»Aber – wollen Sie damit sagen«, fragte ich, »daß Sie, ohne Ihr Zimmer zu verlassen, einen Knoten auflösen können, mit dem andere Leute nicht fertig werden, obwohl sie alle Einzelheiten selbst kennen?«
»Genau das. Ich habe da eine Art Intuition. Hin und wieder gibt es einen Fall, der etwas komplizierter ist. Dann muß ich aktiv werden und mir alles selbst ansehen. Wissen Sie, ich verfuge über eine ganze Menge spezieller Kenntnisse, die ich auf das Problem anwende und die die Dinge wunderbar erleichtern. Diese Regeln der Deduktion, die in dem Artikel niedergelegt sind, der Ihren Tadel hervorrief, sind bei der praktischen Arbeit von unschätzbarem Wert für mich. Das Beobachten ist mir zur zweiten Natur geworden. Sie waren offenbar überrascht, als ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung gesagt habe, daß Sie aus Afghanistan gekommen waren.«
»Das hat Ihnen sicherlich jemand erzählt.«
»Nichts dergleichen. Ich wußte, daß Sie aus Afghanistan gekommen waren. Aus langer Gewohnheit ist der Denkvorgang in mir so schnell abgelaufen, daß ich zu der Schlußfolgerung gelangt bin, ohne mir der Zwischenschritte bewußt zu sein. Der Denkprozeß lief folgendermaßen ab: ›Hier ist ein Gentleman der medizinischen Sparte, aber mit der Haltung eines Soldaten. Also offenbar ein Arzt der Armee. Er ist kürzlich aus den Tropen gekommen, denn sein Gesicht ist dunkel, und das ist nicht seine normale Hautfarbe, seine Handgelenke sind nämlich hell. Er hat Mühsal und Krankheit durchgestanden, wie sein abgezehrtes Gesicht verrät. Sein linker Arm ist verletzt worden. Er hält ihn unnatürlich steif. Wo in den Tropen könnte ein englischer Armeearzt viel Mühsal erlebt haben und am Arm verwundet worden sein? Natürlich in Afghanistan.‹ Der ganze Denkvorgang hat nicht einmal eine Sekunde gedauert. Ich habe dann bemerkt, Sie kämen aus Afghanistan, und Sie waren verblüfft.«
»So wie Sie es erklären, ist es ziemlich einfach«, sagte ich lächelnd. »Sie erinnern mich an Dupin von Edgar Allan Poe. Ich hatte keine Ahnung, daß solche Individuen außerhalb von Erzählungen existieren.«
Sherlock Holmes erhob sich und zündete seine Pfeife an. »Sie glauben sicherlich, daß Sie mir ein Kompliment machen, wenn Sie mich mit Dupin vergleichen«, stellte er fest. »Nun denn – meiner Meinung nach war Dupin ein reichlich minderwertiger Bursche. Dieser Trick von ihm, nach einem viertelstündigen Schweigen mit einer à-propos-Bemerkung in die Gedanken eines Freundes hineinzuplatzen, ist doch wirklich ziemlich angeberisch und oberflächlich. Er hatte eine gewisse analytische Gabe, ohne Zweifel; aber er war keineswegs ein so großes Phänomen, wie Poe sich das wohl eingebildet hat.«
»Haben Sie Gaboriaus Werke gelesen?« fragte ich. »Kommt Lecoq Ihrer Vorstellung von einem Detektiv näher?«
Sherlock Holmes schnaubte sardonisch. »Lecoq war ein erbärmlicher Stümper«, sagte er mit Ärger in der Stimme; »er hatte nur eins, das für ihn spricht, und zwar seine Energie. Das Buch hat mich wirklich krank gemacht. Es ging darum, einen unbekannten Häftling zu identifizieren. Ich hätte es in vierundzwanzig Stunden tun können. Lecoq brauchte ungefähr sechs Monate. Man könnte daraus ein Lehrbuch darüber schreiben, was Detektive vermeiden sollten.«
Ich war ziemlich indigniert darüber, zwei Charaktere, die ich bewundert hatte, derart herablassend behandelt zu sehen. Ich ging hinüber zum Fenster und sah hinaus auf die belebte Straße. ›Dieser Bursche mag scharfsinnig sein‹, sagte ich mir, ›aber außerdem ist er auch sehr eingebildet.‹
»Es gibt heute keine Verbrechen und keine Verbrecher mehr«, beklagte er sich. »Wozu ist es gut, in unserem Beruf ein Gehirn zu haben? Ich weiß, daß ich das Zeug habe, mir einen großen Namen zu machen. Es gibt keinen lebenden Menschen (und hat nie einen gegeben), der die gleiche Menge Wissens und natürlicher Begabung in die Aufklärung von Verbrechen eingebracht hätte wie ich. Und was ist das Ergebnis? Es gibt kein Verbrechen, das der Aufklärung würdig wäre; höchstens stümperhafte Übeltaten mit so durchsichtigen Motiven, daß sogar ein Beamter von Scotland Yard sie durchschaut.«
Ich war noch immer verstimmt über seine hochfahrende Redeweise. Ich hielt es für das Beste, das Thema zu wechseln.
»Ich frage mich, wonach dieser Bursche sucht«, sagte ich; ich deutete auf einen stämmigen, einfach gekleideten Mann, der langsam die andere Straßenseite entlang ging und dabei suchend die Hausnummern betrachtete. Er hielt einen großen blauen Umschlag in der Hand und war offensichtlich Überbringer einer Botschaft.
»Sie meinen den ehemaligen Sergeanten der Marine?« fragte Sherlock Holmes.
›Angabe und Aufschneiderei!‹ dachte ich bei mir. ›Er weiß, daß ich seine Raterei nicht verifizieren kann.‹
Ich hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als der Mann, den wir beobachteten, die Nummer auf unserer Tür erblickte und schnell die Straße überquerte. Wir hörten lautes Klopfen, dann eine tiefe Stimme im Erdgeschoß und schließlich schwere Schritte auf der Treppe.
»Für Mister Sherlock Holmes«, sagte er, als er den Raum betrat. Er händigte meinem Freund den Brief aus.
Hier bot sich mir die Gelegenheit, ihm seine Einbildung auszutreiben. Daran hatte er sicherlich nicht gedacht, als er seine Vermutung ins Blaue hinein äußerte.
»Darf ich fragen, guter Mann«, sagte ich mit meiner sanftesten Stimme, »was Sie von Beruf sind?«
»Ich bin Bote, Sir«, sagte er knapp. »Die Uniform ist in der Ausbesserung.«
»Und was waren Sie früher?« fragte ich, mit einem leicht maliziösen Blick zu meinem Gefährten.
»Sergeant, Sir. Königliche Leichte Marineinfanterie, Sir. Keine Antwort? In Ordnung, Sir.«
Er schlug die Hacken zusammen, hob die Hand zum Gruß und verschwand.