Читать книгу Die Memoiren des Sherlock Holmes - Arthur Conan Doyle, Исмаил Шихлы - Страница 4

Das gelbe Gesicht

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Bei der Veröffentlichung dieser kurzen Skizzen, die auf den zahlreichen Fällen beruhen, an denen ich, dank den einzigartigen Fähigkeiten meines Freundes, als Zuhörer und in manch seltsamem Drama gar als Akteur teilhatte, ist es nur natürlich, daß ich eher auf seine Erfolge denn auf seine Mißerfolge eingehe. Und dies geschieht nicht so sehr um seines Rufes willen, denn tatsächlich waren seine Energie und Vielseitigkeit immer dann am bewundernswertesten, wenn er mit seinem Latein am Ende war, sondern weil es dort, wo er scheiterte, sehr oft vorkam, daß auch kein anderer Erfolg hatte und die Geschichte für immer ohne Abschluß blieb. Dann und wann allerdings geschah es, daß die Wahrheit, selbst wenn er fehlging, trotzdem ans Licht kam. Ich habe Aufzeichnungen von einem runden halben Dutzend derartiger Fälle, von denen die Affaire des zweiten Flecks12 und die, von der ich jetzt berichten will, wohl die interessantesten Merkmale aufweisen.

Sherlock Holmes war ein Mensch, der sich selten um der Bewegung willen Bewegung machte. Wenige Männer waren zu größeren Kraftanstrengungen fähig, und er war in seiner Gewichtsklasse zweifellos einer der besten Boxer, die ich je gesehen habe; doch er betrachtete zweckfreie körperliche Betätigung als Energieverschwendung, und er rührte sich selten, außer wenn es irgendeinem beruflichen Ziel diente. Dann war er absolut ausdauernd und unermüdlich. Daß er sich unter solchen Umständen in Form halten konnte, ist bemerkenswert, andererseits war seine Kost überaus kärglich und seine Gewohnheiten einfach bis an die Grenze der Selbstkasteiung. Bis auf den gelegentlichen Gebrauch von Kokain hatte er keine Laster, und er nahm seine Zuflucht zu der Droge nur aus Protest gegen die Monotonie des Daseins, wenn die Fälle rar und die Zeitungen uninteressant waren.

Eines Tages zu Beginn des Frühjahrs hatte er sich so weit entspannt, daß er mich auf einen Spaziergang in den Park begleitete, wo auf den Ulmen die ersten zarten, grünen Schößlinge sprossen und die klebrigen Speerspitzen der Kastanien gerade zu fünffingrigen Blättern aufzuplatzen begannen. Zwei Stunden lang bummelten wir umher, zumeist schweigend, wie es zwei Männern ansteht, die miteinander vertraut sind. Es war schon fast fünf, als wir in die Baker Street zurückkehrten.

»Verzeihung, Sir«, sagte unser junger Hausdiener, als er die Tür öffnete; »da ist ein Gentleman dagewesen und hat nach Ihnen gefragt, Sir.«

Holmes warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Das hat man von Nachmittagsspaziergängen!« sagte er. »Dann ist dieser Gentleman also gegangen?«

»Ja, Sir.«

»Hast du ihn nicht hereingebeten?«

»Doch, Sir; er ist hereingekommen.«

»Wie lange hat er gewartet?«

»Eine halbe Stunde, Sir. Es war ein sehr unruhiger Gentleman, Sir, die ganze Zeit herumgelaufen und -gestampft, solange er da war. Ich hab vor der Tür gewartet, Sir, und ich hab ihn hören können. Schließlich geht er auf den Flur hinaus und ruft: ›Kommt denn dieser Mensch nie?‹ Das waren genau seine Worte, Sir. ›Sie brauchen nur noch ein bißchen zu warten‹, sage ich. ›Dann warte ich an der frischen Luft, denn ich bin schon halb erstickt‹, sagt er. ›Ich bin gleich wieder zurück‹, und damit springt er auf und geht hinaus, und was ich auch sagen konnte, hielt ihn nicht zurück.«

»Schon gut, du hast dein Bestes getan«, sagte Holmes, als wir unser Zimmer betraten. »Es ist freilich sehr ärgerlich, Watson. Ich brauchte dringend einen Fall, und das sieht aufgrund der Ungeduld des Mannes so aus, als wäre es etwas Wichtiges. Sieh da! Das ist nicht Ihre Pfeife auf dem Tisch! Er muß seine liegengelassen haben. Eine hübsche alte Bruyère, mit einem guten langen Mundstück aus dem, was die Tabakhändler Bernstein nennen. Ich frage mich, wieviel echte Bernsteinmundstücke es in London gibt. Manche meinen, eine darin eingeschlossene Fliege sei ein Zeichen dafür. Dabei ist das Einfügen imitierter Fliegen in imitierten Bernstein ein regelrechtes Gewerbe. Nun ja, er muß durcheinander gewesen sein, daß er eine Pfeife liegenließ, die er sichtlich hochschätzt.«

»Woher wissen Sie, daß er sie hochschätzt?« fragte ich.

»Nun ja, ich würde den ursprünglichen Preis der Pfeife mit sieben Shilling sechs Pence veranschlagen. Nun ist sie aber, wie Sie sehen, zweimal repariert worden: einmal am hölzernen Stiel und einmal am Bernstein. Jede dieser Reparaturen, die, wie Sie erkennen können, mit einem silbernen Ring ausgeführt worden sind, muß mehr als den ursprünglichen Preis der Pfeife ausgemacht haben. Der Mann muß die Pfeife hochschätzen, wenn er sie lieber flicken läßt, als sich für das gleiche Geld eine neue zu kaufen.«

»Noch etwas?« fragte ich, denn Holmes drehte die Pfeife in der Hand hin und her und starrte sie auf seine eigentümliche, gedankenvolle Weise an.

Er hielt sie hoch und klopfte mit seinem langen, dünnen Zeigefinger darauf, wie ein Professor, der über einen Knochen doziert.

»Pfeifen sind gelegentlich von außerordentlichem Interesse«, sagte er. »Nichts hat mehr Individualität, Uhren und Schnürsenkel vielleicht ausgenommen. Die Merkmale hier sind allerdings weder sehr ausgeprägt noch sehr wichtig. Der Besitzer ist offensichtlich ein kräftiger Mann, Linkshänder, mit ausgezeichnetem Gebiß, achtlos in seinen Gewohnheiten und nicht auf Sparsamkeit angewiesen.«

Mein Freund machte die Angaben ganz beiläufig, aber ich sah, daß er mir einen vielsagenden Blick zuwarf, um zu erkennen, ob ich seinem Gedankengang hatte folgen können.

»Sie meinen, ein Mann muß wohlhabend sein, wenn er eine Pfeife zu sieben Shilling raucht?« sagte ich.

»Das ist Grosvenor-Mischung zu acht Pence die Unze«, antwortete Holmes, indem er sich etwas davon auf die Handfläche klopfte. »Da er zum halben Preis einen ausgezeichneten Tabak bekommen kann, hat er Sparsamkeit nicht nötig.«

»Und die anderen Punkte?«

»Er hat die Gewohnheit, seine Pfeife an Lampen und Gasflammen anzuzünden. Sie können sehen, daß sie an einer Seite ganz verkohlt ist. Natürlich kann das nicht von einem Streichholz herrühren. Warum sollte jemand ein Streichholz seitlich an seine Pfeife halten? Aber man kann sie nicht an einer Lampe anzünden, ohne daß der Pfeifenkopf verkohlt wird. Und das auf der rechten Seite der Pfeife. Daraus schließe ich, daß er Linkshänder ist. Halten Sie Ihre eigene Pfeife an die Lampe, und Sie werden sehen, wie Sie, als Rechtshänder, unwillkürlich die linke Seite an die Flamme halten. Sie mögen es einmal anders machen, aber nicht andauernd. Diese hier ist immer so gehalten worden. Des weiteren hat er sein Bernsteinmundstück durchgebissen. Es muß einer kräftig und energisch sein und ein gutes Gebiß haben, um das fertigzubringen. Aber wenn ich mich nicht täusche, höre ich ihn auf der Treppe, und wir werden gleich etwas Interessanteres als seine Pfeife zu studieren haben.«

Einen Augenblick später öffnete sich unsere Tür, und ein hochgewachsener, junger Mann betrat das Zimmer. Er war mit einem dunkelgrauen Anzug gut, aber unauffällig gekleidet und trug einen braunen Schlapphut in der Hand. Ich hätte ihn auf ungefähr dreißig geschätzt, obgleich er tatsächlich einige Jahre älter war.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er etwas verlegen; »ich denke, ich hätte klopfen sollen. Tatsache ist, daß ich ein wenig aufgeregt bin, und dem müssen Sie alles zuschreiben.« Er strich sich mit der Hand über die Stirn wie ein Mann, der halb benommen ist, und plumpste dann eher, als daß er sich setzte, auf einen Stuhl.

»Wie ich sehe, haben Sie ein oder zwei Nächte nicht geschlafen«, sagte Holmes in seiner unbekümmerten, herzlichen Art. »Das zerrt mehr an den Nerven als die Arbeit, und sogar mehr als das Vergnügen. Darf ich fragen, wie ich Ihnen helfen kann?«

»Ich wollte Ihren Rat, Sir. Ich weiß nicht, was ich tun soll, und mein ganzes Leben scheint ein Scherbenhaufen zu sein.«

»Sie möchten mich als beratenden Detektiv in Anspruch nehmen?«

»Nicht nur das. Ich möchte Ihre Meinung als einsichtiger Mann – als Mann von Welt. Ich will wissen, was ich als nächstes tun soll. Ich hoffe zu Gott, Sie werden es mir sagen können.«

Er sprach in kurzen, scharfen, abgehackten Ausbrüchen, und es schien mir, daß überhaupt zu sprechen sehr quälend für ihn war und daß sich sein Wille die ganze Zeit über gegen seine Neigungen durchsetzte.

»Es ist eine sehr heikle Angelegenheit«, sagte er. »Man spricht Fremden gegenüber nicht gern von seinen häuslichen Angelegenheiten. Es ist irgendwie schrecklich, das Verhalten der eigenen Frau mit zwei Männern zu besprechen, die ich nie zuvor gesehen habe. Es ist furchtbar, es tun zu müssen. Aber ich weiß einfach nicht mehr weiter, und ich muß einen Rat haben.«

»Mein lieber Mr. Grant Munro –« hob Holmes an.

Unser Besucher sprang von seinem Stuhl auf. »Was!« rief er. »Sie kennen meinen Namen?«

»Wenn Sie Ihr Incognito wahren wollen«, sagte Holmes lächelnd, »würde ich vorschlagen, daß Sie Ihren Namen nicht weiter auf das Futter Ihres Huts schreiben oder aber demjenigen, den Sie ansprechen, den Kopf des Hutes zudrehen. Ich wollte gerade sagen, daß mein Freund und ich in diesem Zimmer schon viele seltsame Geheimnisse vernommen und das Glück gehabt haben, vielen gepeinigten Seelen Frieden zu bringen. Ich bin zuversichtlich, daß wir gleiches auch für Sie zu tun vermögen. Dürfte ich Sie, da die Zeit sich als wichtig erweisen könnte, bitten, mir ohne weiteren Aufschub den Sachverhalt Ihres Falles vorzutragen?«

Wieder fuhr sich unser Besucher mit der Hand über die Stirn, als falle ihm das bitterlich schwer. An jeder Geste und Miene erkannte ich, daß er ein reservierter, verschlossener, wohl ziemlich stolzer Mann war, der eher dazu neigte, seine Wunden zu verbergen als bloßzulegen. Dann plötzlich, mit einer heftigen Bewegung seiner geschlossenen Hand, wie jemand, der alle Zurückhaltung fahren läßt, begann er.

»Der Sachverhalt ist folgender, Mr. Holmes«, sagte er. »Ich bin verheiratet, und zwar seit drei Jahren. Während dieser Zeit haben meine Frau und ich einander so zärtlich geliebt und so glücklich zusammengelebt, wie nur je zwei, die zusammengetan wurden. Wir hatten niemals Unstimmigkeiten, nicht ein einziges Mal, in Gedanken, Worten oder Taten. Und jetzt, seit letzten Montag, ist plötzlich eine Schranke zwischen uns, und ich stelle fest, daß es in ihrem Leben und ihren Gedanken etwas gibt, wovon ich so wenig weiß, als wäre sie eine Frau, die auf der Straße an mir vorüberhuscht. Wir sind einander entfremdet, und ich will wissen, warum.

Nun möchte ich Ihnen aber eines deutlich machen, bevor ich fortfahre, Mr. Holmes: Effie liebt mich –. Daran kann es nicht den geringsten Zweifel geben. Sie liebt mich von ganzem Herzen und ganzer Seele, heute noch mehr als früher. Ich weiß es, ich fühle es. Ich will nicht darüber streiten. Ein Mann erkennt ohne weiteres, ob eine Frau ihn liebt. Aber dieses Geheimnis steht zwischen uns, und wir können so lange nicht die gleichen sein, wie es nicht aufgeklärt ist.«

»Teilen Sie mir freundlicherweise den Sachverhalt mit, Mr. Munro«, sagte Holmes mit einem Anflug von Ungeduld.

»Ich möchte Ihnen erzählen, was ich von Effies Geschichte weiß. Sie war Witwe, als ich ihr zum ersten Mal begegnete, obzwar recht jung – erst fünfundzwanzig. Ihr damaliger Name war Mrs. Hebron. Sie ging in jungen Jahren nach Amerika und lebte in der Stadt Atlanta, wo sie diesen Hebron heiratete, einen Rechtsanwalt mit einer gutgehenden Kanzlei. Sie hatten ein Kind, doch dann brach dort schlimmes Gelbfieber13 aus, und sowohl ihr Gatte als auch das Kind starben daran. Ich habe seinen Totenschein gesehen. Das verleidete ihr Amerika, und sie kehrte zurück und lebte bei einer unverheirateten Tante in Pinner in Middlesex. Ich darf erwähnen, daß ihr Mann sie leidlich gutgestellt zurückgelassen hat und daß sie ein Kapital von etwa viertausendfünfhundert Pfund besaß, das er so geschickt angelegt hatte, daß es durchschnittlich sieben Prozent abwarf. Sie war erst seit sechs Monaten in Pinner, als ich sie kennenlernte; wir verliebten uns ineinander und heirateten einige Wochen später.

Ich selbst bin Hopfenhändler, und da ich über ein Einkommen von sieben- bis achthundert Pfund verfüge, sahen wir uns leidlich gutgestellt und mieteten eine hübsche Villa zu achtzig Pfund pro Jahr in Norbury14. Unser kleiner Wohnort ist sehr ländlich, wenn man bedenkt, wie nahe bei der Stadt er liegt. Ein Stückchen weiter haben wir noch ein Gasthaus und zwei Häuser, und jenseits des Feldes, das uns gegenüberliegt, ein einzelnes Cottage, und außer diesen gibt es bis halbwegs zum Bahnhof keine weiteren Häuser. Mein Geschäft führte mich zu bestimmten Zeiten in die Stadt, aber im Sommer hatte ich weniger zu tun, und dann waren meine Frau und ich in unserem Haus auf dem Lande so glücklich, wie man sich das nur wünschen konnte. Ich sage Ihnen, daß nie ein Schatten zwischen uns fiel, bis diese verfluchte Affaire begann.

Es gibt da etwas, was ich Ihnen erzählen sollte, ehe ich fortfahre. Als wir heirateten, überschrieb mir meine Frau ihr gesamtes Vermögen – eigentlich gegen meinen Willen, denn ich sah, wie unangenehm es würde, falls meine geschäftlichen Angelegenheiten schiefgingen. Dennoch wollte sie es so haben, und so geschah es. Nun ja, vor etwa sechs Wochen kam sie zu mir.

›Jack15‹, sagte sie, ›als du mein Geld an dich genommen hast, hast du gesagt, wenn ich je etwas davon wollte, brauchte ich dich nur zu fragen.‹

›Gewiß‹, sagte ich, ›es gehört alles dir.‹

›Nun gut‹, sagte sie, ›ich möchte hundert Pfund.‹

Ich war darob ein bißchen verblüfft, denn ich hatte vermutet, es ginge ihr nur um ein neues Kleid oder etwas dergleichen.

›Wofür, um alles in der Welt?‹ fragte ich.

›Oh‹, sagte sie auf ihre spielerische Weise, ›du hast doch gesagt, du seist nur mein Bankier, und Bankiers stellen niemals Fragen, wie du weißt.‹

›Wenn es dir wirklich Ernst damit ist, sollst du das Geld natürlich haben‹, sagte ich.

›O ja, es ist mir Ernst damit.‹

›Und du willst mir nicht sagen, wofür du es brauchst?‹

›Eines Tages vielleicht, aber nicht gerade jetzt, Jack.‹

So mußte ich mich zufriedengeben, obgleich es damit zum ersten Mal ein Geheimnis zwischen uns gab. Ich schrieb ihr einen Scheck aus und dachte nicht weiter an die Geschichte. Sie mag nichts mit dem zu tun haben, was hinterher kam, aber ich hielt es dennoch für angebracht, sie zu erwähnen.

Nun, ich habe Ihnen gerade erzählt, daß unweit unseres Hauses ein Cottage steht. Zwischen uns liegt nur ein Feld, aber um hinzukommen, muß man die Straße entlanggehen und dann in einen Feldweg einbiegen. Unmittelbar dahinter befindet sich ein hübsches kleines Kieferngehölz, und ich pflegte sehr gern dorthin zu schlendern, denn Bäume sind immer irgendwie anheimelnd. Das Cottage hatte acht Monate lang leer gestanden, und das war schade, denn es war ein reizendes, zweistöckiges Haus mit einer altmodischen, von Geißblatt umrankten Veranda. Ich habe so manches Mal davorgestanden und mir gedacht, was für ein schmuckes, kleines Heim es abgeben würde.

Nun denn, vergangenen Montagabend machte ich einen Spaziergang dorthin, als mir auf dem Feldweg ein leeres Fuhrwerk entgegenkam und ich auf dem Rasenstück neben der Veranda einen Stapel Teppiche und dergleichen herumliegen sah. Es war klar, daß das Cottage endlich doch vermietet worden war. Ich ging daran vorbei, und indem ich stehenblieb, wie man das als Müßiggänger eben tut, ließ ich den Blick darüberhin schweifen und fragte mich, was das für Leute sein mochten, die nun in unserer Nähe wohnten. Und während ich schaute, wurde ich plötzlich gewahr, daß mich aus einem der oberen Fenster ein Gesicht beobachtete.

Ich weiß nicht, was es mit diesem Gesicht auf sich hatte, Mr. Holmes, aber irgendwie jagte es mir einen Schauder über den Rücken. Ich stand ein Stück entfernt, so daß ich die Gesichtszüge nicht ausmachen konnte, aber das Gesicht hatte etwas Unnatürliches und Unmenschliches. Das war mein Eindruck, und ich trat rasch näher, um den Menschen, der mich da beobachtete, etwas genauer zu sehen. Doch als ich das tat, verschwand das Gesicht plötzlich, so plötzlich, daß es schien, als sei es in die Dunkelheit des Zimmers zurückgerissen worden. Ich stand fünf Minuten da, überdachte die Angelegenheit und versuchte, meine Eindrücke zu analysieren. Ich hatte nicht erkennen können, ob es das Gesicht eines Mannes oder einer Frau war. Doch es war seine Farbe, die mich am stärksten beeindruckte. Es war von einem leichenfahlen Gelb und hatte etwas Verhärtetes und Starres, das entsetzlich unnatürlich war. So verstört war ich, daß ich beschloß, mir die neuen Bewohner des Cottages etwas genauer anzusehen. Ich trat vor und klopfte an die Tür, die sofort von einer hochgewachsenen, hageren Frau mit grobem, abweisendem Gesicht geöffnet wurde.

›Was woll'n Sie denn?‹ fragte sie mit nördlichem Akzent.

›Ich bin Ihr Nachbar und wohne dort drüben‹, sagte ich mit einem Nicken zu meinem Haus hin. ›Wie ich sehe, sind Sie gerade eingezogen, da dachte ich mir, wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein –‹

›Ei, wir wer'n Sie schon fragen, wenn wir Sie brauchen‹, sagte sie und schlug mir die Tür vor der Nase zu. Von dieser ungehobelten Abfuhr verärgert, drehte ich mich um und ging nach Hause. Den ganzen Abend lang kam mir, obwohl ich an etwas anderes zu denken versuchte, immer wieder die Erscheinung am Fenster und die Grobheit der Frau in den Sinn. Ich beschloß, meiner Frau von ersterem nichts zu erzählen, denn sie ist eine nervöse, leicht erregbare Frau, und ich wollte nicht, daß sie den unerfreulichen Eindruck teilte, der bei mir hervorgerufen worden war. Ich sagte ihr jedoch, bevor ich einschlief, daß das Cottage inzwischen bewohnt sei, worauf sie keine Antwort gab.

Ich habe normalerweise einen überaus gesunden Schlaf. Es ist ein geläufiger Witz in der Familie, daß mich während der Nacht nichts je aufwecken könnte; in jener besonderen Nacht jedoch schlief ich – vielleicht daß ich immer noch ein bißchen aufgeregt war von meinem kleinen Abenteuer – ich schlief jedenfalls sehr viel weniger tief als normalerweise. Halb in Träumen war ich mir undeutlich bewußt, daß im Zimmer irgend etwas vorging, und ich merkte allmählich, daß meine Frau sich angekleidet hatte und Mantel und Haube überzog. Meine Lippen hatten sich schon geöffnet, um ob dieser unzeitigen Anstalten ein paar Worte der Überraschung oder Vorhaltung zu murmeln, als meine halbgeöffneten Augen plötzlich auf ihr vom Kerzenschein erleuchtetes Gesicht fielen und die Verblüffung mich stumm bleiben ließ. Sie zeigte einen Ausdruck, wie ich ihn nie zuvor gesehen hatte – wie ich ihn bei ihr nie für möglich gehalten hätte. Sie war leichenblaß, atmete schnell und warf, während sie ihren Mantel schloß, einen verstohlenen Blick zum Bett, um festzustellen, ob sie mich gestört hatte. Dann, da sie glaubte, ich schliefe noch, schlüpfte sie geräuschlos aus dem Zimmer, und kurz darauf vernahm ich ein helles Knarren, das nur von den Angeln der Eingangstür herrühren konnte. Ich setzte mich im Bett auf und klopfte mit den Knöcheln ans Kopfende, um mich zu vergewissern, ob ich wirklich wach sei. Dann zog ich meine Uhr unterm Kopfkissen hervor. Es war drei Uhr morgens. Was um alles in der Welt konnte meine Frau um drei Uhr morgens auf der Landstraße zu schaffen haben?

Ich hatte ungefähr zwanzig Minuten so dagesessen, die Sache in Gedanken gewälzt und versucht, eine mögliche Erklärung zu finden. Je mehr ich darüber nachdachte, desto ungewöhnlicher und unerklärlicher kam es mir vor. Ich rätselte immer noch daran herum, als ich die Tür sanft zugehen und ihre Schritte die Treppe heraufkommen hörte.

›Wo um alles in der Welt bist du gewesen, Effie?‹ fragte ich, als sie hereinkam.

Sie fuhr heftig zusammen und stieß eine Art keuchenden Schrei aus, als ich sprach, und dieser Schrei und dieses Zusammenfahren quälten mich mehr als alles andere, denn sie hatten etwas unbeschreiblich Schuldbewußtes. Meine Frau ist stets ein Mensch von freimütigem, offenem Naturell gewesen, und es machte mich frösteln, sie in ihr eigenes Zimmer schleichen und aufschreien und wimmern zu sehen, wenn ihr eigener Mann sie ansprach.

›Du bist wach, Jack?‹ rief sie mit nervösem Auflachen aus. ›Dabei dachte ich, nichts könnte dich wecken.‹

›Wo bist du gewesen?‹ fragte ich, etwas strenger.

›Es wundert mich nicht, daß du überrascht bist‹, sagte sie, und ich konnte sehen, daß ihre Finger zitterten, als sie die Schnallen ihres Mantels öffnete. ›Ich erinnere mich ja selbst nicht daran, jemals in meinem Leben so etwas getan zu haben. Tatsächlich hatte ich ein Gefühl, als würde ich ersticken, und verspürte ein regelrechtes Verlangen, ein wenig frische Luft zu schnappen. Ich glaube wirklich, ich wäre ohnmächtig geworden, wenn ich nicht nach draußen gegangen wäre. Ich habe ein paar Minuten vor der Tür gestanden, und jetzt bin ich wieder ganz wohlauf.‹

Während sie mir diese Geschichte erzählte, sah sie kein einziges Mal zu mir her, und ihre Stimme klang ganz anders als ihr üblicher Tonfall. Es war offenkundig für mich, daß sie die Unwahrheit sagte. Ich gab ihr keine Antwort, sondern drehte das Gesicht zur Wand, wehen Herzens, den Kopf voll tausend giftiger Zweifel und Verdächtigungen. Was verbarg meine Frau da vor mir? Wo war sie während jenes seltsamen Ausflugs gewesen? Ich fühlte, daß ich keinen Frieden finden würde, bis ich es wußte, und schreckte dennoch vor weiteren Fragen zurück, nachdem sie mir schon einmal die Unwahrheit gesagt hatte. Den Rest der Nacht warf und wälzte ich mich hin und her, legte mir Theorie auf Theorie zurecht, eine unwahrscheinlicher als die andere.

Ich hätte am folgenden Tag in die Stadt fahren müssen, aber ich war zu beunruhigt, um mich geschäftlichen Angelegenheiten zuzuwenden. Meine Frau schien ebenso durcheinander wie ich selbst, und an den kurzen, fragenden Blicken, die sie mir immer wieder zuwarf, erkannte ich, daß sie begriff, daß ich ihrer Darstellung nicht glaubte, und daß sie nicht mehr ein noch aus wußte. Wir wechselten beim Frühstück kaum ein Wort, und ich machte unmittelbar danach einen Spaziergang, um die Sache an der frischen Morgenluft zu überdenken.

Ich ging bis zum Crystal Palace16, verbrachte eine Stunde in den Anlagen und war um ein Uhr wieder zurück in Norbury. Es traf sich, daß mein Weg mich an dem Cottage vorbeiführte, und ich blieb einen Moment stehen und sah zu den Fenstern hin, ob ich nicht einen Blick auf das Gesicht erhaschen könnte, das am Vortage zu mir herausgestarrt hatte. Stellen Sie sich mein Erstaunen vor, Mr. Holmes, als, wie ich so dastand, plötzlich die Tür aufging und meine Frau herauskam.

Die Verblüffung ob ihres Anblicks verschlug mir die Sprache, aber meine Gefühle waren nichts gegen die, die sich auf ihrem Gesicht abzeichneten, als sich unsere Blicke trafen. Einen Moment lang schien sie wieder ins Haus zurückweichen zu wollen, doch als sie dann erkannte, wie nutzlos alles Versteckspiel sein mußte, trat sie vor mit kreideweißem Gesicht und einem entsetzten Blick, die das Lächeln auf ihren Lippen Lügen straften.

›Oh, Jack!‹ sagte sie, ›ich bin gerade mal hier gewesen, um zu sehen, ob ich unseren neuen Nachbarn nicht behilflich sein kann. Warum siehst du mich so an, Jack? Du bist doch nicht böse auf mich?‹

›Also‹, sagte ich, ›hierher bist du in der Nacht gegangen?‹

›Was soll das heißen?‹ rief sie.

›Du bist hierher gekommen. Dessen bin ich sicher. Wer sind diese Leute, daß du sie zu solcher Stunde besuchst?‹

›Ich bin noch nie hier gewesen.‹

›Wie kannst du so etwas behaupten, wo du weißt, daß es die Unwahrheit ist?‹ rief ich. ›Selbst deine Stimme ändert sich, während du sprichst. Wann habe ich je ein Geheimnis vor dir gehabt? Ich will jetzt rein in dieses Cottage und dieser Angelegenheit mal auf den Grund gehen.‹

›Nein, nein, Jack, um Gottes willen!‹ stieß sie in nicht zu bezähmender Erregung hervor. Und als ich auf die Tür zutrat, packte sie mich am Ärmel und zerrte mich mit krampfhafter Kraft zurück.

›Bitte, bitte, tu es nicht, Jack‹, rief sie. ›Ich schwöre, daß ich dir eines Tages alles erzähle, aber es kann nur Unglück bringen, wenn du jetzt in dieses Cottage gehst.‹ Und als ich versuchte, sie abzuschütteln, klammerte sie sich in rasendem Flehen an mich.

›Vertrau mir, Jack!‹ rief sie. ›Vertrau mir nur dieses eine Mal. Du wirst nie Grund haben, es zu bereuen. Du weißt, daß ich kein Geheimnis vor dir haben würde, wenn es nicht zu deinem eigenen Besten wäre. Unser ganzes Leben steht hier auf dem Spiel. Wenn du mit mir nach Hause kommst, wird alles gut. Wenn du dir gewaltsam Zutritt zu diesem Cottage verschaffst, ist alles vorbei zwischen uns.‹

Ein solcher Ernst, eine solche Verzweiflung lag in ihrem Verhalten, daß ihre Worte mir Einhalt geboten und ich unentschlossen vor der Tür stand.

›Ich vertraue dir unter einer Bedingung, und nur unter einer Bedingung‹, sagte ich schließlich. ›Nämlich, daß diese Heimlichtuerei von nun an ein Ende hat. Es steht dir frei, dein Geheimnis zu bewahren, aber du mußt mir versprechen, daß es keine nächtlichen Besuche mehr geben wird, nichts mehr, was hinter meinem Rücken geschieht. Ich bin bereit, das zu vergessen, was passiert ist, wenn du versprichst, daß in Zukunft nichts dergleichen mehr vorkommt.‹

›Ich war sicher, daß du mir vertrauen würdest‹, rief sie mit einem lauten Seufzer der Erleichterung. ›Es wird genau so geschehen, wie du es wünschst. Komm weg, oh, komm weg nach Hause!‹ Immer noch an meinem Ärmel zerrend, führte sie mich von dem Cottage weg. Im Gehen warf ich einen Blick zurück, und da war jenes gelbe, leichenfahle Gesicht und beobachtete uns aus dem oberen Fenster. Welche Verbindung konnte zwischen dieser Kreatur und meiner Frau bestehen? Was konnte das grobe, ungehobelte Weib, das ich am Tage zuvor gesehen hatte, mit ihr zu tun haben? Es war ein befremdliches Rätsel, und doch wußte ich, daß ich so lange keinen Seelenfrieden mehr finden würde, bis ich es gelöst hatte.

Danach blieb ich zwei Tage zu Hause, und meine Frau schien sich getreulich an unsere Vereinbarung zu halten, denn soweit ich wußte, tat sie keinen Schritt aus dem Haus. Am dritten Tage indes bekam ich reichlich Beweise, daß ihr feierliches Versprechen nicht ausreichte, sie von dem geheimnisvollen Einfluß fernzuhalten, der sie ihrem Gatten und ihrer Pflicht entzog.

Ich war an jenem Tag in die Stadt gefahren, aber ich kehrte mit dem Zug um 2 Uhr 40 anstatt mit dem um 3 Uhr 36 zurück, den ich gewöhnlich nehme. Als ich ins Haus kam, lief das Dienstmädchen mit bestürztem Gesicht in die Diele.

›Wo ist Ihre Herrin?‹ fragte ich.

›Ich glaube, sie ist spazieren gegangen‹, antwortete sie.

Sofort war ich von Argwohn erfüllt. Ich eilte nach oben, um mich zu vergewissern, daß sie nicht zu Hause war. Dabei schaute ich zufällig aus einem der oberen Fenster und sah das Mädchen, mit dem ich gerade gesprochen hatte, übers Feld auf das Cottage zulaufen. Da erkannte ich natürlich genau, was das alles zu bedeuten hatte. Meine Frau war hinübergegangen und hatte der Dienstbotin aufgetragen, sie zu holen, falls ich zurückkommen sollte. Vor Zorn bebend raste ich hinunter und stürmte hinüber, entschlossen, der Sache ein für allemal ein Ende zu machen. Ich sah meine Frau und das Mädchen auf dem Feldweg zurückeilen, aber ich blieb nicht stehen, um mit ihnen zu sprechen. In dem Cottage war das Geheimnis beschlossen, das einen Schatten über mein Leben warf. Ich schwor mir, daß es, komme, was da wolle, nicht länger ein Geheimnis bleiben sollte. Ich klopfte nicht einmal, als ich es erreichte, sondern drehte den Knauf und platzte in den Flur.

Im Erdgeschoß war alles still und ruhig. In der Küche sang ein Kessel auf dem Feuer, und eine große, schwarze Katze lag zusammengerollt in einem Korb, aber von der Frau, die ich zuvor gesehen hatte, gab es keine Spur. Ich rannte ins andere Zimmer, aber es war ebenfalls verlassen. Dann stürzte ich die Treppe hinauf, aber nur um zwei weitere leere und verlassene Zimmer vorzufinden. Es befand sich überhaupt niemand im ganzen Haus. Die Möbel und Bilder waren von der minderwertigsten und gewöhnlichsten Art, ausgenommen in der einen Kammer, an deren Fenster ich das seltsame Gesicht erblickt hatte. Diese war komfortabel und elegant, und all mein Argwohn loderte zu einer heftigen, schmerzlichen Flamme empor, als ich sah, daß auf dem Kaminsims ein Vollportrait meiner Frau stand, eine Photographie, die erst vor drei Monaten auf meinen Wunsch angefertigt worden war.

Ich blieb lange genug, um sicherzugehen, daß das Haus vollkommen leer war. Dann ging ich hinaus, mit einer Bürde auf dem Herzen, wie ich sie noch nie zuvor verspürt hatte. Meine Frau kam in die Diele, als ich mein Haus betrat, aber ich war zu verletzt und wütend, um mit ihr zu sprechen, und drängte mich an ihr vorbei in mein Arbeitszimmer. Sie folgte mir jedoch, bevor ich die Tür schließen konnte.

›Es tut mir leid, daß ich mein Versprechen gebrochen habe, Jack‹, sagte sie, ›aber wenn du alle Umstände kennen würdest, würdest du mir gewiß verzeihen.‹

›Dann erzähl mir alles‹, sagte ich.

›Ich kann nicht, Jack, ich kann nicht!‹ rief sie aus.

›Solange du mir nicht sagst, wer in diesem Cottage gewohnt hat und wem du die Photographie gegeben hast, kann keinerlei Vertrauen mehr zwischen uns herrschen‹, sagte ich, riß mich von ihr los und ging aus dem Haus. Das war gestern, Mr. Holmes, und seither habe ich sie weder gesehen, noch weiß ich irgend mehr über diese seltsame Geschichte. Es ist das erste Mal, daß ein Schatten zwischen uns gefallen ist, und es hat mich so erschüttert, daß ich mit dem besten Willen nicht weiß, was ich tun soll. Heute morgen kam mir plötzlich der Gedanke, daß Sie der Richtige wären, mir zu raten, und so bin ich jetzt zu Ihnen geeilt und lege mich vorbehaltlos in Ihre Hände. Wenn es irgend etwas gibt, was ich nicht klargemacht habe, so fragen Sie mich doch bitte danach. Doch sagen Sie mir vor allem rasch, was ich tun muß, denn dieses Leid ist mehr, als ich ertragen kann.«

Holmes und ich hatten mit dem größten Interesse dieser außergewöhnlichen Darstellung gelauscht, die in der sprunghaften, zusammenhanglosen Weise eines Menschen vorgetragen worden war, der unter dem Einfluß extremer Gefühlswallungen steht. Mein Gefährte saß nun eine Zeitlang schweigend da, das Kinn auf die Hand gestützt, in Gedanken verloren.

»Sagen Sie«, meinte er schließlich, »könnten Sie beschwören, daß es ein Männergesicht war, was Sie am Fenster sahen?«

»Jedesmal wenn ich es sah, war ich ein Stück weit davon entfernt, so daß ich das unmöglich sagen kann.«

»Sie scheinen davon allerdings unangenehm berührt gewesen zu sein.«

»Es schien von unnatürlicher Farbe zu sein und in seinen Zügen eine seltsame Starrheit zu besitzen. Als ich näherkam, verschwand es mit einem Ruck.«

»Wie lange ist es her, daß Ihre Frau Sie um hundert Pfund gebeten hat?«

»Fast zwei Monate.«

»Haben Sie je eine Photographie ihres ersten Mannes zu Gesicht bekommen?«

»Nein; ganz kurz nach seinem Tode brach in Atlanta ein großer Brand aus, und all ihre Papiere wurden vernichtet.«

»Und doch hatte sie einen Totenschein. Sie sagen, Sie haben ihn gesehen?«

»Ja, sie bekam nach dem Brand eine Kopie.«

»Haben Sie jemals jemanden getroffen, der sie in Amerika kannte?«

»Nein.«

»Hat sie je davon gesprochen, das Land noch einmal zu besuchen?«

»Nein.«

»Oder Briefe von dort bekommen?«

»Nicht daß ich wüßte.«

»Danke. Ich würde die Angelegenheit jetzt gerne ein wenig überdenken. Falls das Cottage für immer verlassen worden ist, wird es vielleicht etwas schwierig für uns; wenn andererseits, was ich für wahrscheinlicher erachte, die Bewohner gestern vor Ihrem Kommen gewarnt wurden und verschwanden, bevor Sie reingekommen sind, dann könnten sie mittlerweile wieder zurück sein, und wir dürften alles ohne weiteres aufklären. Mithin möchte ich Ihnen raten, nach Norbury zurückzukehren und die Fenster des Cottage noch einmal zu überprüfen. Wenn Sie Grund zu der Annahme haben, daß es bewohnt ist, so verschaffen Sie sich nicht gewaltsam Zutritt, sondern schicken meinem Freund und mir ein Telegramm. Wir werden dann binnen einer Stunde bei Ihnen sein und dieser Geschichte sehr rasch auf den Grund gehen.«

»Und wenn es immer noch leer ist?«

»In diesem Fall komme ich morgen zu Ihnen hinaus und bespreche es mit Ihnen. Auf Wiedersehen, und vor allem quälen Sie sich nicht, solange Sie nicht wissen, ob Sie auch wirklich Grund dazu haben.«

»Ich fürchte, das ist eine üble Geschichte, Watson«, sagte mein Gefährte, nachdem er Mr. Grant Munro zur Tür begleitet hatte. »Was halten Sie davon?«

»Es hörte sich häßlich an«, antwortete ich.

»Ja. Da ist Erpressung im Spiel, wenn ich mich nicht sehr irre.«

»Und wer ist der Erpresser?«

»Nun ja, es muß diese Kreatur sein, die das einzige komfortable Zimmer des Hauses bewohnt und ihre Photographie auf dem Kaminsims stehen hat. Auf mein Wort, Watson, dieses leichenfahle Gesicht am Fenster hat etwas überaus Anziehendes, und ich hätte den Fall um alles in der Welt nicht missen mögen.«

»Haben Sie eine Theorie?«

»Ja, eine vorläufige. Aber ich werde überrascht sein, wenn sie sich nicht als richtig erweist. Der erste Gatte dieser Frau befindet sich in jenem Cottage.«

»Warum glauben Sie das?«

»Wie sonst können wir ihre wahnsinnige Angst davor erklären, daß ihr zweiter es betreten könnte? Der Sachverhalt, wie ich ihn sehe, dürfte etwa der folgende sein: Diese Frau war in Amerika verheiratet. Ihr Gatte entwickelte irgendwelche abscheulichen Eigenschaften oder, sagen wir, er zog sich irgendeine grauenvolle Krankheit zu und wurde aussätzig oder schwachsinnig. Sie entfloh schließlich vor ihm, kehrte nach England zurück, änderte ihren Namen und begann, wie sie meinte, ein neues Leben. Sie war drei Jahre verheiratet gewesen und glaubte, ihre Lage sei recht sicher – hatte sie doch ihrem Gatten den Totenschein irgendeines Mannes gezeigt, dessen Namen sie angenommen hatte –, als ihr Aufenthaltsort plötzlich von ihrem ersten Gatten oder, so dürfen wir annehmen, von einer skrupellosen Frau entdeckt wurde, die sich dem Leidenden angeschlossen hatte. Sie schreiben der Frau und drohen, zu kommen und sie bloßzustellen. Sie bittet um hundert Pfund und versucht, sie abzufinden. Sie kommen trotzdem, und als der Gatte der Frau gegenüber beiläufig erwähnt, daß im Cottage Neuankömmlinge wohnen, weiß sie irgendwie, daß es ihre Verfolger sind. Sie wartet, bis ihr Gatte schläft, und eilt dann hinüber, um die beiden zu überreden zu versuchen, sie in Frieden zu lassen. Da sie keinen Erfolg hat, geht sie am nächsten Morgen wieder hin, und ihr Mann begegnet ihr, wie er uns erzählt hat, als sie herauskommt. Sie verspricht ihm, nicht mehr hinzugehen, doch zwei Tage später ist die Hoffnung, jener schrecklichen Nachbarn ledig zu werden, zu stark für sie, und sie macht einen weiteren Versuch, wobei sie die Photographie mitnimmt, die wahrscheinlich von ihr verlangt worden war. Mitten in dieses Gespräch platzt das Mädchen, um zu berichten, daß der Herr nach Hause gekommen ist, worauf die Frau, wohl wissend, daß er geradewegs zum Cottage kommen wird, die Bewohner zur Hintertür hinausscheucht, in jenes Kieferngehölz vermutlich, von dem es hieß, es liege nahebei. Somit findet er das Haus verlassen. Ich wäre allerdings sehr überrascht, wenn dem immer noch so wäre, wenn er es heute abend auskundschaftet. Was halten Sie von meiner Theorie?«

»Es ist alles Vermutung.«

»Aber sie trägt allen Tatsachen Rechnung. Wenn neue Tatsachen auftreten, denen sie nicht Rechnung tragen kann, ist immer noch Zeit, sie zu überdenken. Im Augenblick können wir nichts tun, bis wir neue Nachricht von unserem Freund aus Norbury haben.«

Doch wir mußten nicht sehr lange warten. Sie traf ein, gerade als wir unseren Tee getrunken hatten. »Das Cottage ist noch bewohnt«, lautete sie. »Habe wieder das Gesicht am Fenster gesehen. Ich werde Sie vom Sieben-Uhr-Zug abholen und bis zu Ihrer Ankunft keine Schritte unternehmen.«

Er wartete schon auf dem Bahnsteig, als wir ausstiegen, und im Licht der Bahnhofslampen konnten wir erkennen, daß er sehr bleich war und vor Aufregung zitterte.

»Sie sind immer noch da, Mr. Holmes«, sagte er, indem er meinem Freund die Hand auf den Ärmel legte. »Ich habe Lichter im Cottage gesehen, als ich hinkam. Wir werden es jetzt ein für allemal klären.«

»Was also ist Ihr Plan?« fragte Holmes, während wir die dunkle, baumbestandene Straße hinuntergingen.

»Ich werde mir gewaltsam Zutritt verschaffen und selbst nachsehen, wer sich in dem Haus befindet. Ich möchte, daß Sie beide als Zeugen anwesend sind.«

»Sie sind unbedingt dazu entschlossen, trotz der Warnung Ihrer Frau, es sei besser, wenn Sie das Rätsel nicht lösten?«

»Ja, ich bin entschlossen.«

»Nun denn, ich finde, Sie sind im Recht. Jede Wahrheit ist besser als endloser Zweifel. Wir gehen besser sofort hin. Juristisch betrachtet setzen wir uns natürlich hoffnungslos ins Unrecht, aber ich denke, das ist es wert.«

Es war eine sehr dunkle Nacht, und ein feiner Regen begann zu fallen, als wir von der Hauptstraße auf einen schmalen, tiefgefurchten Feldweg mit Aufwürfen zu beiden Seiten abbogen. Mr. Grant Munro drängte jedoch ungeduldig vorwärts, und wir stolperten, so gut wir konnten, hinter ihm her.

»Dort sind die Lichter meines Hauses«, murmelte er und deutete auf einen Schimmer zwischen den Bäumen, »und da ist das Cottage, in das ich rein will.«

Wir bogen um eine Ecke des Weges, während er sprach, und da stand das Gebäude gleich vor uns. Ein gelber Streifen, der über den dunklen Vordergrund fiel, zeigte, daß die Tür nicht ganz geschlossen war, und ein Fenster im Obergeschoß war hell erleuchtet. Als wir hinschauten, sahen wir einen dunklen Fleck über die Jalousie huschen.

»Da ist diese Kreatur«, rief Grant Munro; »Sie sehen selbst, daß jemand da ist. Folgen Sie mir, gleich werden wir alles wissen.«

Wir traten auf die Tür zu, doch plötzlich tauchte aus dem Schatten eine Frau auf und stand in der goldenen Bahn des Lampenlichts. Ich konnte ihr Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen, aber ihre Arme waren in einer flehentlichen Gebärde ausgestreckt.

»Um Gottes willen, tu's nicht, Jack!« rief sie. »Ich hatte eine Vorahnung, daß du heute abend kommen würdest. Besinn dich eines Besseren, Lieber! Vertrau mir noch einmal, und du wirst nie Grund haben, es zu bedauern.«

»Ich habe dir zu lange vertraut, Effie!« rief er streng. »Laß mich durch! Ich muß an dir vorbei. Meine Freunde und ich werden diese Angelegenheit ein für allemal klären!« Er schob sie zur Seite, und wir folgten ihm dichtauf. Als er die Tür aufriß, lief eine ältere Frau vor ihm auf den Flur und versuchte, ihm den Durchgang zu versperren. Er stieß sie zurück, und gleich darauf standen wir alle auf der Treppe. Grant Munro stürzte in das beleuchtete Zimmer im ersten Stock, und wir betraten es gleich nach ihm.

Es war ein gemütlicher, schön eingerichteter Wohnraum mit zwei Kerzen, die auf dem Tisch, und zweien, die auf dem Kaminsims brannten. In der Ecke saß, über ein Pult gebeugt, anscheinend ein kleines Mädchen. Ihr Gesicht war abgewandt, als wir eintraten, aber wir konnten sehen, daß sie ein rotes Kleid trug und lange, weiße Handschuhe anhatte. Als sie zu uns herumwirbelte, stieß ich einen überraschten und entsetzten Schrei aus. Das Gesicht, das sie uns zuwandte, war von der seltsamsten, leichenfahlen Tönung, und die Züge waren absolut bar jeden Ausdrucks. Einen Augenblick später wurde das Geheimnis gelüftet. Auflachend griff Holmes dem Kind hinters Ohr, eine Maske schälte sich von ihrem Gesicht, und da stand eine kleine, kohlschwarze Negerin, und alle ihre weißen Zähne blitzten vor Belustigung ob unserer verdutzten Gesichter. Ich mußte hell auflachen, angesteckt von ihrer Fröhlichkeit, aber Grant Munro stand und starrte, die Hand um den Hals geklammert.

»Mein Gott!« rief er, »was hat das nur zu bedeuten?«

»Ich werde dir sagen, was es bedeutet«, rief die Dame, die mit stolzem, entschlossenem Gesicht ins Zimmer schritt. »Du hast mich wider besseres Wissen gezwungen, es dir zu sagen, und jetzt müssen wir beide das Beste daraus machen. Mein Mann starb in Atlanta. Mein Kind überlebte.«

»Dein Kind!«

Sie zog ein großes, silbernes Medaillon aus dem Busen. »Du hast das nie geöffnet gesehen.«

»Ich dachte, es ließe sich nicht öffnen.«

Sie berührte eine Feder, und die Vorderseite klappte auf. Darinnen befand sich das Porträt eines auffallend schönen und klugen Mannes, dessen Züge jedoch unverkennbar seine afrikanische Herkunft erkennen ließen.

»Das ist John Hebron aus Atlanta«, sagte die Dame, »und ein edlerer Mann wandelte nie auf Gottes Erdboden. Ich habe mich von meiner Rasse losgesagt, um ihn zu ehelichen; doch solange er lebte, habe ich es niemals auch nur einen Moment lang bedauert. Es war unser Unglück, daß unser einziges Kind eher seiner als meiner Familie nachschlug. Das kommt häufig vor bei solchen Verbindungen, und die kleine Lucy ist sogar weitaus dunkler, als es ihr Vater je war. Doch ob dunkel oder hell, sie ist mein liebes kleines Mädchen und der Schatz ihrer Mutter.« Das kleine Geschöpf lief bei diesen Worten herbei und schmiegte sich ans Kleid der Dame.

»Als ich sie in Amerika zurückließ«, fuhr sie fort, »tat ich das nur, weil sie von zarter Gesundheit war und der Wechsel ihr hätte schaden können. Sie wurde der Obhut einer treuen Schottin anvertraut, die einst unsere Bedienstete gewesen war. Keinen Augenblick lang dachte ich auch nur im Traum daran, sie als mein Kind zu verleugnen. Aber als der Zufall mir dich über den Weg führte und ich dich lieben lernte, hatte ich Angst, dir von meinem Kind zu erzählen. Gott vergebe mir, ich hatte Angst, dich zu verlieren; und ich brachte nicht den Mut auf, es dir zu erzählen. Ich mußte mich für dich entscheiden und wandte mich in meiner Schwäche von meinem kleinen Mädchen ab. Drei Jahre lang habe ich es vor dir geheimgehalten, doch ich hörte von dem Kindermädchen und wußte, daß bei ihr alles zum besten stand. Schließlich jedoch überkam mich ein überwältigendes Verlangen, das Kind noch einmal zu sehen. Ich kämpfte dagegen an, doch vergeblich. Obgleich ich mir der Gefahr bewußt war, beschloß ich, das Kind herüberzuholen, und sei es nur für ein paar Wochen. Ich schickte dem Kindermädchen hundert Pfund und gab ihr Anweisungen für dieses Cottage, so daß sie als Nachbarin kommen konnte, ohne daß es den Anschein hatte, als stünde ich in irgendeiner Weise mit ihr in Verbindung. In meiner Vorsicht hieß ich sie sogar das Kind tagsüber im Hause behalten und ihr Gesichtchen und ihre Hände bedecken, so daß selbst die, die sie möglicherweise am Fenster zu sehen bekämen, nicht darüber tratschten, in der Nachbarschaft wohne ein schwarzes Kind. Es wäre vielleicht klüger gewesen, nicht gar so vorsichtig zu sein, aber ich war halb verrückt vor Angst, du könntest die Wahrheit erfahren.

Du warst es, der mir als erster davon erzählte, daß das Cottage belegt sei. Ich hätte bis zum Morgen warten sollen, aber ich konnte vor Aufregung nicht schlafen, und so schlüpfte ich schließlich hinaus, wußte ich doch, wie schwer es ist, dich zu wecken. Aber du sahst mich gehen, und damit nahmen meine Schwierigkeiten ihren Anfang. Am nächsten Tag war mein Geheimnis dir ausgeliefert, doch du hast großmütig deinen Vorteil nicht ausgenutzt. Drei Tage später allerdings entkamen das Kindermädchen und das Kind nur knapp durch die Hintertür, als du zur vorderen hereinstürztest. Und heute abend nun weißt du endlich alles, und ich frage dich, was aus uns werden soll, aus meinem Kind und mir?« Sie rang die Hände und wartete auf eine Antwort.

Es vergingen zwei lange Minuten, ehe Grant Munro das Schweigen brach, und als seine Antwort kam, war es eine, an die ich mit Freude zurückdenke. Er hob das kleine Kind auf, küßte es und streckte dann, es immer noch auf dem Arm haltend, seiner Frau die andere Hand hin und wandte sich zur Tür.

»Wir können bequemer zu Hause darüber reden«, sagte er. »Ich bin kein sehr guter Mann, Effie, aber ich denke, ich bin ein besserer, als du mir zugutegehalten hast.«

Holmes und ich folgten ihnen hinunter vors Haus, und mein Freund zupfte mich am Ärmel, als wir herauskamen. »Ich glaube«, sagte er, »in London werden wir eher gebraucht als in Norbury.«

Kein weiteres Wort verlor er über den Fall bis spät in der Nacht, als er sich mit brennender Kerze nach seinem Schlafzimmer wandte.

»Watson«, sagte er, »sollten Sie je den Eindruck haben, ich überschätzte meine Fähigkeiten oder ich wende weniger Mühe an einen Fall, als er verdient, dann flüstern Sie mir freundlicherweise ›Norbury‹ ins Ohr, und ich werde Ihnen unendlich verbunden sein.«

Die Memoiren des Sherlock Holmes

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