Читать книгу Die Rückkehr des Sherlock Holmes - Arthur Conan Doyle, Исмаил Шихлы - Страница 4

Das leere Haus

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Im Frühjahr 1894 wurde der Ehrenwerte Ronald Adair unter höchst ungewöhnlichen und unerklärlichen Umständen ermordet: Ganz London interessierte sich für diesen Fall, und die vornehme Welt war bestürzt. Die Öffentlichkeit kennt bereits diejenigen Einzelheiten des Verbrechens, die bei der polizeilichen Untersuchung zum Vorschein kamen, doch wurde hierbei einiges unterdrückt, da der Anklage der Fall so überwältigend klar zu liegen schien, daß sie es nicht für nötig hielt, mit allen Tatsachen herauszurücken. Erst jetzt, nach nahezu zehn Jahren, ist es mir erlaubt, jene fehlenden Glieder beizubringen, die diese bemerkenswerte Kette zu einem Ganzen machen. Das Verbrechen war für mich schon an sich von Interesse, doch war dieses Interesse nichts im Vergleich zu dem Unfaßbaren, das darauf folgte und das mir den größten Schrecken und die größte Überraschung in meinem an Abenteuern reichen Leben bescherte. Selbst jetzt, nach einem so langen Zeitraum, schaudere ich bei dem Gedanken daran und empfinde noch einmal den jähen Strom von Freude, Erstaunen und Ungläubigkeit, der damals meinen Geist vollkommen überschwemmte. Ich sage der Öffentlichkeit, die an jenen flüchtigen Einblicken, die ich ihr gelegentlich in die Gedanken und Taten eines sehr bemerkenswerten Mannes gewährt habe, einiges Interesse gezeigt hat, sie möge mich nicht tadeln, wenn ich mein Wissen nicht mit ihr geteilt habe, denn dies hätte ich für meine oberste Pflicht gehalten, wäre ich nicht durch ein ausdrückliches Verbot aus seinem Munde, das erst am Dritten vorigen Monats aufgehoben wurde, davon abgehalten worden.

Man kann sich vorstellen, daß meine enge Vertrautheit mit Sherlock Holmes ein tiefes Interesse für das Verbrechen in mir erweckt hatte und daß ich nach seinem Verschwinden niemals versäumte, die verschiedenen Probleme, die an die Öffentlichkeit gelangten, sorgfältig zu studieren. Mehr als einmal versuchte ich gar, zu meiner persönlichen Genugtuung seine Methoden anzuwenden, freilich mit wenig Erfolg. Nichts jedoch reizte mich so sehr wie die Tragödie des Ronald Adair. Als ich die bei der Untersuchung des Mordfalls gemachten Zeugenaussagen las, die zu einem Schuldspruch wegen vorsätzlichen Mordes gegen einen oder mehrere Unbekannte führten, wurde ich des Verlusts, den das Gemeinwesen durch Sherlock Holmes' Tod erlitten hatte, deutlicher als je zuvor gewahr. Diese merkwürdige Affaire wies einige Punkte auf, die ihn, davon war ich überzeugt, ganz besonders gereizt haben würden; und die Bemühungen der Polizei wären von der geübten Beobachtungsgabe und dem scharfen Verstand des vorzüglichsten Kriminalisten Europas unterstützt oder wahrscheinlicher noch vorweggenommen worden. Auf den Wegen zu meinen Hausbesuchen überdachte ich täglich den Fall und fand keine Erklärung, die mir passend zu sein schien. Auf das Risiko hin, eine bereits erzählte Geschichte noch einmal zu erzählen, werde ich nun die Tatsachen rekapitulieren, wie sie der Öffentlichkeit bei Abschluß der Untersuchung bekannt waren.

Der Ehrenwerte Ronald Adair war der zweite Sohn des Grafen von Maynooth, seinerzeit Gouverneur einer der australischen Kolonien. Adairs Mutter war aus Australien zurückgekehrt, um sich am grauen Star operieren zu lassen, und sie wohnte mit ihrem Sohn Ronald und ihrer Tochter Hilda in Park Lane 427. Der Jüngling bewegte sich in der besten Gesellschaft – und hatte, soweit bekannt, weder Feinde noch spezielle Laster. Er war mit Miss Edith Woodley aus Carstairs verlobt gewesen, doch war die Verlobung wenige Monate zuvor in gegenseitigem Einvernehmen gelöst worden; und es gab keinerlei Anzeichen dafür, daß dies irgendein sonderlich tiefes Gefühl hinterlassen hätte. Denn das restliche Leben dieses Mannes bewegte sich in einem engen und herkömmlichen Kreis: Sein Auftreten war ruhig und sein Wesen leidenschaftslos. Und doch ereilte diesen gelassenen jungen Aristokraten der Tod in höchst seltsamer und unerwarteter Form, und zwar zwischen zehn und elf Uhr zwanzig in der Nacht des 30. März 1894.

Ronald Adair spielte gern Karten – er spielte ständig, jedoch nie um Einsätze, die ihm hätten schaden können. Er war Mitglied des Baldwin-, des Cavendish- und Bagatelle-Karten-Clubs. Es erwies sich, daß er am Tage seines Todes nach dem Abendessen im letztgenannten Club einen Robber Whist1 gespielt hatte. Am Nachmittag hatte er ebenfalls dort gespielt. Nach den Aussagen seiner Mitspieler – Mr. Murray, Sir John Hardy und Colonel Moran – wurde Whist gespielt, und das Kartenglück verteilte sich ziemlich gleichmäßig. Adair mochte fünf Pfund, aber nicht mehr, verloren haben. Sein Vermögen war beträchtlich, und ein solcher Verlust konnte ihn in keiner Weise berühren. Er hatte nahezu täglich in dem einen oder anderen Club gespielt, doch war er ein bedächtiger Spieler und ging gewöhnlich als Gewinner vom Platz. Die Zeugenvernehmung ergab, daß er zusammen mit Colonel Moran vor einigen Wochen bei einer Sitzung runde vierhundertundzwanzig Pfund von Godfrey Milner und Lord Balmoral gewonnen hatte. So viel zu seiner jüngsten Geschichte, wie sie sich bei der Untersuchung ergab.

Am Abend des Verbrechens kam er um genau zehn Uhr nach Hause. Seine Mutter und seine Schwester waren mit einem Verwandten ausgegangen. Die Bedienstete sagte unter Eid aus, sie habe ihn das Vorderzimmer im zweiten Stock betreten hören, welches er gewöhnlich als Wohnzimmer benutzte. Sie hätte dort den Kamin angezündet, dieser hätte jedoch geraucht und sie daher ein Fenster geöffnet. Kein Geräusch sei aus dem Zimmer gedrungen, bis um zwanzig nach elf Lady Maynooth und ihre Tochter nach Hause gekommen seien. Diese wollte ihrem Sohn eine gute Nacht wünschen und versuchte, sein Zimmer zu betreten. Die Tür war von innen verschlossen, und ihr Rufen und Klopfen wurde nicht beantwortet. Man holte Hilfe, und die Tür wurde aufgebrochen. Der unglückliche junge Mann lag neben dem Tisch. Sein Kopf war von einer platzenden Revolverkugel gräßlich zerfetzt, doch wurde in dem Zimmer keinerlei Waffe irgendeiner Art gefunden. Auf dem Tisch lagen zwei Zehn-Pfund-Banknoten sowie siebzehn Pfund und zehn in Silber und Gold; das Geld war in kleinen Haufen verschiedener Beträge geordnet. Auf einem Blatt Papier fanden sich dazu einige Ziffern, bei denen die Namen einiger seiner Clubfreunde standen, woraus gefolgert wurde, daß er vor seinem Tode damit beschäftigt war, seine Verluste oder Gewinne beim Kartenspielen zusammenzustellen.

Eine eingehende Untersuchung der Umstände führte lediglich zu einer weiteren Komplizierung des Falles. Vor allem war kein Grund dafür zu finden, warum der junge Mann die Tür von innen verschlossen haben sollte. Man erwog die Möglichkeit, sein Mörder habe dies getan und sei hinterher durch das Fenster entwichen. Dort ging es jedoch mindestens zwanzig Fuß tief hinunter, und unten befand sich ein Krokusbeet in voller Blüte. Weder die Blumen noch die Erde wiesen irgendein Zeichen einer Beeinträchtigung auf, und auf dem schmalen Rasenstreifen, der das Haus von der Straße trennte, waren ebenfalls keine Spuren zu finden. Der junge Mann hatte daher offenbar selbst die Tür verschlossen. Aber wie ereilte ihn der Tod? Niemand konnte zu dem Fenster hinaufgeklettert sein, ohne Spuren zu hinterlassen. Angenommen, jemand hatte durch das Fenster geschossen, so mußte es wahrhaftig ein bemerkenswerter Schütze sein, der mit einem Revolver eine solche tödliche Wunde beizubringen vermochte. Andererseits ist Park Lane eine belebte Durchgangsstraße; hundert Yards vom Haus entfernt befindet sich ein Droschkenstand. Niemand hatte einen Schuß gehört. Und doch gab es den Toten und die Revolverkugel, die sich nach Art von Dumdumgeschossen pilzförmig verformt und so eine Wunde verursacht hatte, die zum sofortigen Tod geführt haben mußte. Soweit die Umstände des Rätsels von der Park Lane, die sich des weiteren durch das völlige Fehlen eines Motivs verkomplizierten, da der junge Adair, wie ich bereits sagte, mutmaßlich keinerlei Feinde hatte und ferner nicht versucht worden war, das Geld oder die Wertsachen aus dem Zimmer zu entfernen.

Den ganzen Tag lang wälzte ich diese Tatsachen in meinem Kopf herum und mühte mich ab, auf eine Theorie zu kommen, die sie alle in Einklang brächte, und jenen Weg des geringsten Widerstandes zu finden, den mein armer Freund für den Ausgangspunkt einer jeden Untersuchung erklärt hatte; Ich gestehe, ich kam nur wenig voran. Am Abend bummelte ich durch den Park und fand mich schließlich gegen sechs Uhr am Oxford Street Ende der Park Lane. Eine Gruppe von Müßiggängern, die auf dem Bürgersteig standen und alle zu einem bestimmten Fenster hinaufstarrten, führte mich zu dem Haus, das ich mir hatte ansehen wollen. Ein großer dünner Mann mit Sonnenbrille, der mir sehr verdächtig nach einem Polizisten in Zivil aussah, erläuterte eine selbstgebastelte Theorie, während die anderen ihn umdrängten, um seinen Worten zu lauschen. Ich näherte mich ihm, so gut ich konnte, doch schienen mir seine Bemerkungen absurd, und ich zog mich mit einigem Widerwillen zurück. Dabei stieß ich gegen einen ältlichen verwachsenen Mann, der hinter mir gestanden hatte, und mehrere Bücher, die er getragen, fielen zu Boden. Ich erinnere mich, daß mir, als ich sie aufhob, ein Titel in die Augen sprang: Der Baumkultus,2 und daß mir der Gedanke kam, dieser Bursche müsse ein armer Büchernarr sein, der entweder handelsmäßig oder als Steckenpferd obskure Bücher sammelte. Ich entschuldigte mich geflissentlich für den Unfall, doch waren diese Bücher, die ich so unglücklich mißhandelt hatte, in den Augen ihres Besitzers offenbar sehr kostbare Gegenstände. Mit verächtlichem Knurren wandte er sich um, und ich sah seinen krummen Rücken und seinen weißen Backenbart im Gedränge verschwinden.

Meine Beobachtungen am Hause Park Lane No. 427 brachten mich bei der Klärung des Problems, für das ich mich interessierte, nicht viel weiter. Das Haus war von der Straße durch eine niedrige Mauer plus Zaun getrennt, das Ganze nicht höher als fünf Fuß, so daß jedermann ohne weiteres in den Garten gelangen konnte. Aber das Fenster war vollkommen unerreichbar, da es weder ein Wasserrohr noch sonst irgend etwas gab, was auch einem behenden Manne zum Hinaufklettern hätte dienen können. Verwirrter als je zuvor lenkte ich meine Schritte nach Kensington zurück. Ich war noch keine fünf Minuten in meinem Arbeitszimmer, als das Dienstmädchen eintrat und eine Person meldete, die mich zu sehen verlangte. Zu meinem Erstaunen war dies niemand anders als mein sonderbarer alter Büchersammler: Sein scharfes verhutzeltes Gesicht schaute aus einem Rahmen weißen Haares heraus, und unter seinen rechten Arm geklemmt trug er mindestens ein Dutzend seiner kostbaren Bücher.

»Sie sind überrascht, mich zu sehen, Sir«, sagte er mit seltsam krächzender Stimme.

Ich bestätigte dies.

»Nun, ich habe ein Gewissen, Sir, und als ich Sie zufällig in dieses Haus gehen sah, als ich Ihnen nachhumpelte, dachte ich bei mir, ich sollte gleich hinterhergehen und diesen freundlichen Herrn besuchen und ihm sagen, daß, wenn ich mich vorhin ein wenig barsch benommen habe, dies nicht böse gemeint war, und ich mich ihm für das Aufheben meiner Bücher sehr verpflichtet fühle.«

»Sie machen zuviel Aufhebens von dieser Kleinigkeit«, sagte ich. »Darf ich fragen, woher Sie wußten, wer ich bin?«

»Nun, Sir, falls ich mir keine allzu große Freiheit herausnehme: Ich bin Ihr Nachbar, denn Sie werden meinen kleinen Buchladen an der Ecke Church Street finden, und gewiß mit Vergnügen. Womöglich sammeln Sie ja selbst, Sir. Ich habe hier Die Vögel Englands und Catullus und Der Heilige Krieg – jedes einzelne ein Sonderangebot. Mit fünf Bänden könnten Sie diese Lücke dort auf dem zweiten Regal genau ausfüllen. Sie sieht doch zu unordentlich aus, nicht wahr, Sir?«

Ich wandte meinen Kopf, um den Schrank hinter mir zu betrachten. Als ich mich wieder umdrehte, stand Sherlock Holmes hinter meinem Arbeitstisch und lächelte mich an. Ich sprang auf, starrte ihn einige Sekunden in höchster Verblüffung an, und dann muß ich wohl zum ersten und letzten Mal in meinem Leben in Ohnmacht gefallen sein. Auf jeden Fall wirbelte ein grauer Nebel vor meinen Augen, und als er sich aufklärte, fand ich meinen Kragen offen und spürte den leicht brennenden Nachgeschmack von Brandy auf meinen Lippen. Holmes beugte sich über meinen Sessel, sein Fläschchen in der Hand.

»Mein lieber Watson«, sagte die wohlbekannte Stimme, »ich muß Sie tausendmal um Verzeihung bitten. Ich hatte keine Ahnung, daß Sie das so angreifen würde.«

Ich ergriff ihn bei den Armen.

»Holmes!« rief ich. »Sind Sie es wirklich? Kann es denn sein, daß Sie am Leben sind? Ist es möglich, daß Sie diesem furchtbaren Abgrund entklettern konnten?«

»Halten Sie einen Augenblick ein«, sagte er. »Sind Sie sicher, daß Sie wirklich stark genug sind, um dergleichen zu erörtern? Ich habe Ihnen durch mein unnötig dramatisches Wiedererscheinen einen ernsten Schock versetzt.«

»Mir geht es gut, aber wahrhaftig, Holmes, ich mag kaum meinen Augen trauen. Gütiger Himmel! Der Gedanke, daß Sie – ausgerechnet Sie – in meinem Arbeitszimmer stehen sollten!« Wieder packte ich ihn beim Ärmel und fühlte darunter seinen dünnen sehnigen Arm. »Nun, jedenfalls sind Sie kein Geist«, sagte ich. »Mein lieber Freund, ich bin überglücklich, Sie zu sehen. Setzen Sie sich, und erzählen Sie mir, wie Sie dieser schrecklichen Schlucht lebendig entrinnen konnten.«

Er nahm mir gegenüber Platz und entzündete auf seine alte nonchalante Art eine Zigarette. Er trug noch den schäbigen Gehrock des Buchhändlers, der Rest dieses Individuums aber lag in einem Haufen weißen Haars und alter Bücher auf dem Tisch. Holmes wirkte noch dünner und feiner als früher, aber auf seinem Gesicht lag ein Hauch von Totenblässe, die mir sagte, daß er in letzter Zeit kein gesundes Leben geführt hatte.

»Ich bin froh, mich strecken zu können, Watson«, sagte er. »Es ist kein Spaß für einen großen Mann, wenn er sich stundenlang hintereinander einen Kopf kleiner machen muß. Nun, mein lieber Freund, im Zuge dieser Erklärungen haben wir, wenn ich um Ihre Mitarbeit bitten darf, eine schwere und gefährliche nächtliche Arbeit vor uns. Ich sollte Ihnen vielleicht den ganzen Stand der Dinge lieber erst dann berichten, wenn diese Arbeit vollendet ist.«

»Ich bin überaus neugierig. Viel lieber möchte ich es jetzt hören.«

»Sie begleiten mich heut nacht?«

»Wann Sie wollen und wohin Sie wollen.«

»Wahrlich wie in alten Zeiten. Wir werden noch Zeit haben, einen Happen zum Abendessen einzunehmen, ehe wir gehen müssen. Nun also zu jener Schlucht. Ich hatte keine ernstlichen Schwierigkeiten, dort herauszukommen, und zwar aus dem sehr einfachen Grund, weil ich nie darin gewesen bin.«

»Sie sind nie darin gewesen?«

»Allerdings, Watson, ich bin nie darin gewesen. Meine Nachricht an Sie war völlig ernst gemeint. Ich hatte kaum einen Zweifel, daß ich ans Ende meiner Karriere gelangt war, als ich die ziemlich finstre Gestalt des verstorbenen Professors Moriarty auf dem schmalen Pfad stehen sah, der auf sicheres Gelände führte. Ich las einen unumstößlichen Entschluß in seinen grauen Augen. Ich wechselte daher einige Bemerkungen mit ihm und erhielt seine freundliche Erlaubnis, die kurze Nachricht zu schreiben, die Sie dann später erhielten. Ich hinterließ sie mit meinem Zigarettenetui und meinem Stock und schritt über den Pfad, wobei mir Moriarty auf den Fersen folgte. Als ich ans Ende gelangte, war ich in die Enge getrieben. Er zog keine Waffe, sondern stürzte sich auf mich und schlang seine langen Arme um mich. Er wußte, daß er ausgespielt hatte, und war nur darauf aus, sich an mir zu rächen. Wir taumelten zusammen am Rande des Abgrunds. Ich besitze jedoch einige Erfahrung im Baritsu3, dem japanischen System des Ringkampfes, das mir schon mehr als einmal höchst nützlich gewesen ist. Ich entwand mich seinem Griff, und er strampelte mit entsetzlichem Kreischen einige Sekunden lang wie wahnsinnig herum und hieb mit beiden Händen in die Luft. Doch all seinen Anstrengungen zum Trotz vermochte er sein Gleichgewicht nicht wiederzufinden und stürzte ab. Ich hatte mich über den Rand vorgeschoben und sah ihn lange Zeit fallen. Dann streifte er einen Felsen, prallte ab und klatschte ins Wasser.«

Dieser Erklärung, die Holmes zwischen den Zügen an seiner Zigarette abgab, lauschte ich voller Erstaunen.

»Aber die Spuren!« rief ich. »Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, daß zwei den Pfad hinabgingen und keine zurückkam.«

»Dies kam so zustande: In dem Augenblick, da der Professor verschwunden war, kam mir der Gedanke, welch einen wirklich außerordentlich glücklichen Zufall mir das Schicksal beschert hatte. Ich wußte, daß Moriarty nicht der einzige war, der mir den Tod zugeschworen hatte. Es gab noch mindestens drei weitere Männer, deren Verlangen, sich an mir zu rächen, durch den Tod ihres Anführers nur noch gesteigert worden wäre. Sie waren allesamt sehr gefährlich. Der eine oder andere würde mich bestimmt erwischen. Andererseits, wenn die ganze Welt von meinem Tod überzeugt wäre, würden diese Männer sich Freiheiten herausnehmen, sich unverhohlen zeigen, und früher oder später könnte ich sie vernichten. Erst dann dürfte ich der Welt verkünden, daß ich noch unter den Lebenden weile. So rasch arbeitet das Gehirn, daß ich glaube, ich habe all dies zu Ende gedacht, noch ehe Professor Moriarty den Grund des Reichenbach-Falles erreicht hatte.

Ich stand auf und untersuchte die Felswand hinter mir. In Ihrem pittoresken Bericht von der Sache, den ich einige Monate später mit großem Interesse las, behaupten Sie, die Wand steige senkrecht an. Das stimmt nicht ganz. Ein paar kleine Haltepunkte boten sich an, und auch ein Vorsprung zeichnete sich ab. Der Fels ist so hoch, daß es eine offenbare Unmöglichkeit war, ihn ganz zu erklettern, und gleichermaßen unmöglich war es für mich, den nassen Pfad zu beschreiten, ohne Spuren zu hinterlassen. Ich hätte natürlich rückwärts gehen können, wie ich es bei ähnlichen Gelegenheiten bereits getan habe, doch hätte der Anblick von drei Spuren in einer Richtung bestimmt auf ein Täuschungsmanöver schließen lassen. Im ganzen tat ich daher am besten, die Kletterei zu riskieren. Kein angenehmes Geschäft, Watson. Unter mir toste der Wasserfall. Ich bin kein Phantast, aber ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich Moriartys Stimme aus dem Abgrund zu mir hinaufschreien zu hören glaubte. Ein Fehltritt wäre tödlich gewesen. Mehr als einmal, wenn ich plötzlich Grasbüschel in der Hand hielt oder meine Füße in den feuchten Felsritzen abglitten, dachte ich, dies sei das Ende. Aber ich kämpfte mich nach oben, und endlich erreichte ich einen mehrere Fuß tiefen Vorsprung, der mit weichem grünem Moos bedeckt war; dort konnte ich ungesehen und in vollkommenster Bequemlichkeit liegen bleiben. Und dort lag ich, als Sie, mein lieber Watson, und Ihr ganzes Gefolge auf so überaus teilnahmsvolle wie fruchtlose Weise die Umstände meines Ablebens untersuchten.

Nachdem Sie schließlich Ihre zwangsläufigen und völlig irrigen Schlüsse gezogen hatten, gingen Sie wieder zum Hotel, und ich blieb alleine zurück. Ich hatte mir eingebildet, ans Ende meines Abenteuers gekommen zu sein, doch ein durchaus unerwarteter Vorfall zeigte mir, daß mir noch einige Überraschungen bevorstünden. Ein riesiger Felsbrocken stürzte von oben herab, schlug auf den Pfad und sprang in den Schlund hinab. Einen Augenblick lang hielt ich dies für einen Zufall, doch einen Moment später erblickte ich, als ich nach oben sah, den Kopf eines Mannes vor dem dämmernden Himmel, und ein weiterer Stein schlug auf den Vorsprung, auf dem ich ausgestreckt lag, einen Fuß von meinem Kopf entfernt auf. Natürlich war klar, was das zu bedeuten hatte. Moriarty war nicht allein gewesen. Ein Komplice – und schon dieser eine flüchtige Blick hatte mir gezeigt, was für ein gefährlicher Mann dieser Komplice war – hatte Wache gehalten, als der Professor mich ergriff. Er war aus der Ferne, von mir unbemerkt, zum Zeugen des Todes seines Freundes und meiner Flucht geworden. Er hatte gewartet, war dann hinten herum auf den Gipfel des Felsens gestiegen und trachtete nun danach, dasjenige zu Ende zu bringen, was seinem Kameraden mißlungen war.

Mir blieb nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken, Watson. Wieder sah ich das grimme Gesicht über den Felsen blicken, und ich wußte, daß dies der Vorbote eines weiteren Steines sei. Ich hangelte mich auf den Pfad hinunter. Ich denke nicht, daß ich dies ruhigen Blutes fertiggebracht hätte. Es war noch hundertmal schwieriger als der Aufstieg. Aber ich hatte keine Zeit, die Gefahr zu bedenken, denn wieder sauste ein Stein an mir vorbei, während ich an meinen Händen vom Rand des Vorsprungs herabhing. Auf halbem Wege rutschte ich ab, landete aber, dank Gottes Gnade, geschunden und blutend auf dem Pfad. Ich machte mich aus dem Staub, schaffte zehn Meilen im Dunkeln über die Berge, und eine Woche später war ich in Florenz, mit der Gewißheit, daß niemand auf der Welt wußte, was aus mir geworden war.

Ich hatte nur einen Vertrauten – meinen Bruder Mycroft. Ich muß Sie vielmals um Vergebung bitten, mein lieber Watson, aber es war überaus wichtig, daß man mich für tot hielt, und es steht fest, daß Sie zu keinem so überzeugenden Bericht von meinem unglücklichen Ende fähig gewesen wären, wenn Sie selbst es nicht für wahr gehalten hätten. Im Verlauf der letzten drei Jahre habe ich mehrmals zur Feder gegriffen, um Ihnen zu schreiben, doch fürchtete ich stets, Ihre liebevolle Hochschätzung meiner Person möchte Sie zu einer Indiskretion verleiten, die mein Geheimnis verriete. Aus diesem Grunde wandte ich mich heut abend, als Sie meine Bücher zu Boden warfen, von Ihnen weg, denn ich war zu dieser Zeit in Gefahr, und jegliches Zeichen von Überraschung oder Bewegung Ihrerseits hätte die Aufmerksamkeit auf meine Identität lenken und zu den bedauerlichsten und nie wiedergutzumachenden Folgen führen können. Was Mycroft betrifft, so mußte ich ihm mein Vertrauen schenken, um das Geld, dessen ich bedurfte, zu erhalten. Die Ereignisse in London verliefen nicht so gut, wie ich gehofft hatte, denn der Prozeß gegen die Moriarty-Bande ließ zwei ihrer gefährlichsten Mitglieder, meine rachsüchtigsten Feinde, auf freiem Fuß. Ich bereiste daher zwei Jahre lang Tibet und vertrieb mir die Zeit, indem ich Lhasa besuchte und einige Tage bei dem Oberlama verbrachte. Sie haben vielleicht von den bemerkenswerten Forschungsreisen eines Norwegers namens Sigerson gelesen, doch bin ich sicher, daß Ihnen dabei nie der Gedanke gekommen ist, Sie erhielten Nachrichten von Ihrem Freund. Darauf zog ich durch Persien, sah mir Mekka an und stattete dem Kalifen von Khartum einen kurzen, aber interessanten Besuch ab, von dessen Ergebnissen ich dem Außenministerium berichtet habe. Ich kehrte nach Frankreich zurück und verbrachte einige Monate mit einer Forschungsarbeit über die Derivate des Kohlenteers, die ich in einem Laboratorium in Montpellier in Südfrankreich durchführte. Nachdem ich dies zu meiner Befriedigung abgeschlossen und erfahren hatte, daß jetzt nur noch einer meiner Feinde in London weilte, stand ich kurz davor, zurückzukehren; und meine Bewegungen beschleunigten sich noch, als die Nachrichten von diesem so merkwürdigen Rätsel von Park Lane eintrafen, das mich nicht nur um seiner selbst willen reizte, sondern mir auch einige höchst eigentümliche private Gelegenheiten zu bieten schien. Ich reiste auf der Stelle nach London, sprach persönlich in Baker Street vor, versetzte Mrs. Hudson in heftige Hysterie und stellte fest, daß Mycroft meine Zimmer und meine Papiere genau in dem Zustand bewahrt hatte, wie sie immer gewesen waren. Und so kam es, mein lieber Watson, daß ich mich heute um zwei Uhr in meinem alten Lehnstuhl in meinem alten Zimmer fand, wobei ich nur noch den einen Wunsch hatte, ich könnte meinen alten Freund Watson in dem anderen Sessel sehen, den er so oft geziert hatte.«

Soweit seine merkwürdige Erzählung, der ich an jenem Aprilabend lauschte – eine Erzählung, die ich für vollkommen unglaublich gehalten hätte, wäre sie nicht durch den konkreten Anblick der großen hageren Gestalt und des scharfen gespannten Gesichts bestätigt worden, das ich nie wiederzusehen geglaubt hatte. Von meinem eigenen schmerzlichen Verlust hatte er irgendwie erfahren, und sein Mitgefühl zeigte sich eher in seinem Gebaren als in seinen Worten. »Arbeit ist das beste Mittel gegen den Schmerz, mein lieber Watson«, sagte er; »und ich habe heut nacht für uns beide ein Stück Arbeit, das, wenn wir es zu einem erfolgreichen Abschluß führen können, schon für sich allein das Leben eines Menschen auf diesem Planeten rechtfertigen würde.« Vergeblich bat ich ihn, mir mehr davon zu sagen. »Sie werden noch vor dem Morgen genug zu hören und zu sehen bekommen«, erwiderte er. »Wir haben drei Jahre der Vergangenheit zu erörtern. Dies sollte bis um halb zehn reichen, wenn wir uns an das denkwürdige Abenteuer des leeren Hauses begeben werden.«

Es war tatsächlich wie in alten Zeiten, als ich mich zur angegebenen Stunde neben ihm in einem Hansom fand, den Revolver in meiner Tasche und das Prickeln des Abenteuers in meinem Herzen. Holmes war kühl, ernst und stumm. Wenn der Schein der Straßenlaternen auf seine strengen Züge fiel, sah ich, daß seine Brauen gedankenvoll herabgezogen und seine dünnen Lippen verkniffen waren. Ich wußte nicht, was für ein wildes Tier wir im finstern Dschungel des kriminellen London aufspüren würden, doch zeigte mir das Verhalten dieses Meisterjägers deutlich an, daß dies ein höchst bedenkliches Abenteuer war – während das sardonische Grinsen, das gelegentlich seine asketische düstere Miene durchbrach, dem Gegenstand unserer Suche wenig Gutes verhieß.

Ich hatte mir eingebildet, wir führen zur Baker Street, aber Holmes ließ die Droschke an der Ecke Cavendish Square anhalten. Ich beobachtete, daß er beim Aussteigen stark suchend nach rechts und links blickte, und an jeder folgenden Straßenecke gab er sich die äußerste Mühe, sich zu Vergewissern, daß er nicht verfolgt würde. Unser Weg war in der Tat eigenartig. Holmes besaß außerordentliche Kenntnisse der Nebenstraßen Londons, und bei dieser Gelegenheit ging er zügig und gewissen Schritts durch ein Gewirr von Ställen und Stallungen, von deren Vorhandensein ich nicht einmal gewußt hatte. Endlich kamen wir auf einer kleinen Straße heraus, die von alten düsteren Häusern gesäumt war und uns zur Manchester Street und von dort zur Blandford Street führte. Hier wandte er sich rasch in einen schmalen Gang, ging durch ein hölzernes Tor in einen verlassenen Hof und öffnete sodann mit einem Schlüssel die Hintertür eines Hauses. Wir traten zusammen ein, und er schloß hinter uns ab.

Drinnen war es pechfinster, aber mir war klar, daß dies ein leerstehendes Haus war. Unsere Füße knarrten und knackten auf den nackten Dielen, und meine ausgestreckte Hand berührte eine Wand, von der die Tapete in Streifen herunterhing. Holmes' kalte dünne Finger schlössen sich um mein Handgelenk und führten mich einen langen Flur hinab, bis ich über einer Tür undeutlich ein trübes Oberlicht ausmachte. Hier wandte sich Holmes plötzlich nach rechts, und dann standen wir in einem großen, quadratischen leeren Zimmer; die Ecken lagen in tiefen Schatten, während es in der Mitte vom Schein der Straßenlaternen draußen schwach erleuchtet wurde. Eine Lampe gab es nicht, und das Fenster war dick mit Staub bedeckt, so daß wir gerade eben unsere Gestalten zu unterscheiden vermochten. Mein Gefährte legte mir seine Hand auf die Schulter lind führte seine Lippen dicht an mein Ohr.

»Wissen Sie, wo wir sind?« flüsterte er.

»Gewiß in der Baker Street«, antwortete ich, indem ich aus dem trüben Fenster starrte.

»Genau. Wir befinden uns im Camden House, gegenüber unserer alten Wohnung.«

»Aber wieso sind wir hier?«

»Weil sich von hier ein so hervorragender Blick auf jenes malerische ehrwürdige Gebäude bietet. Mein lieber Watson, wollen Sie sich bitte bemühen, ein wenig näher ans Fenster zu treten; sehen Sie sich aber sehr vor, daß Sie sich nicht zeigen, und blicken Sie dann hoch zu unseren alten Zimmern – dem Ausgangspunkt so vieler unserer kleinen Abenteuer. Wir wollen doch einmal sehen, ob meine dreijährige Abwesenheit mich vollständig der Macht beraubt hat, Sie zu überraschen.«

Ich schlich mich nach vorn und sah zu dem vertrauten Fenster hinüber. Als mein Blick darauf fiel, verschlug es mir vor Verblüffung den Atem, und ich schrie auf. Die Jalousie war herabgezogen, und im Zimmer brannte helles Licht. Der Schatten eines Mannes, der drinnen in seinem Sessel saß, fiel in scharfer schwarzer Silhouette auf die erleuchtete Fensterscheibe. Die Kopfhaltung, die eckigen Schultern, die scharfgeschnittenen Züge ließen keinen Zweifel. Das Gesicht war halb abgewandt, und das Ganze wirkte wie einer jener schwarzen Scherenschnitte, die unsere Großeltern so gerne anfertigten. Es war ein perfektes Abbild von Holmes. So verblüfft war ich, daß ich meine Hand ausstreckte, um mich zu vergewissern, daß der Mann selbst neben mir stehe. Er bebte vor stummem Gelächter.

»Nun?« sagte er.

»Gütiger Himmel!« rief ich. »Das ist grandios!«

»Getrost, nicht kann mich Alter4 hinwelken, täglich Sehn an mir nicht stumpfen die immerneue Reizung«, sagte er, und ich bemerkte in seiner Stimme den Stolz und die Freude, die der Künstler über seine Schöpfung empfindet. »Es ist mir wirklich ziemlich ähnlich, nicht wahr?«

»Ich würde jederzeit schwören, daß Sie es seien.«

»Das Lob für die Ausführung gebührt Monsieur Oscar Meunier aus Grenoble, der einige Tage über der Verfertigung der Gußform hinbrachte. Es ist eine Wachsbüste. Das übrige arrangierte ich selbst heute nachmittag bei meinem Besuch in Baker Street.«

»Aber warum?«

»Weil ich, mein lieber Watson, denkbar besten Grund zu dem Wunsche hatte, gewisse Leute möchten glauben, ich sei dort, während ich in Wirklichkeit woanders bin.«

»Und Sie glaubten, die Zimmer würden beobachtet?«

»Ich wußte, sie wurden beobachtet.«

»Von wem?«

»Von meinen alten Feinden, Watson. Von der reizenden Gesellschaft, deren Anführer im Reichenbach-Fall liegt. Sie müssen bedenken, daß sie, und nur sie, wußten, daß ich noch am Leben war. Und sie glaubten, früher oder später würde ich in meine Wohnung zurückkehren. Sie beobachteten sie ununterbrochen, und heute morgen sahen sie mich ankommen.«

»Wie können Sie das wissen?«

»Weil ich ihren Posten erkannt habe, als ich aus dem Fenster blickte. Ein reichlich harmloser Bursche, Parker mit Namen, Straßenräuber von Beruf, ein bemerkenswerter Künstler auf der Maultrommel. Aus ihm machte ich mir nichts. Sehr viel aber machte ich mir aus dem wesentlich bedrohlicheren Menschen hinter ihm, dem Busenfreund Moriartys, dem Manne, der die Steine über den Felsen geworfen hat, dem gerissensten und gefährlichsten Kriminellen Londons. Dies ist der Mann, der heut nacht hinter mir her ist, Watson, und dies ist der Mann, der völlig ahnungslos ist, daß wir hinter ihm her sind.«

Nach und nach enthüllten sich die Pläne meines Freundes. Von diesem günstigen Schlupfwinkel aus wurden die Beobachter beobachtet und die Verfolger verfolgt. Jener kantige Schatten dort drüben war der Köder, und wir waren die Jäger. Schweigend standen wir zusammen in der Dunkelheit und beobachteten die hastenden Gestalten, die vor uns hin- und herliefen. Holmes war stumm und reglos; doch konnte ich erkennen, daß er sehr wachsam war und seine Blicke konzentriert auf den Strom der Passanten gerichtet waren. Es war eine rauhe und stürmische Nacht, und der Wind pfiff schrill die lange Straße hinab. Viele Leute gingen hin und her, die meisten in Mäntel und Krawatten eingemummt. Ein- oder zweimal kam es mir so vor, als hätte ich dieselbe Gestalt schon einmal gesehen, und besonders fielen mir zwei Männer auf, die sich anscheinend im Eingang eines Hauses ein Stück weiter oben auf der Straße vor dem Wind zu schützen suchten. Ich versuchte, die Aufmerksamkeit meines Gefährten auf sie zu lenken; er aber brummte mich unwillig an und starrte weiter auf die Straße hinaus. Mehr als einmal scharrte er mit den Füßen und klopfte fahrig mit den Fingern an die Wand. Mir war klar, daß er unruhig wurde und daß seine Pläne nicht ganz wie gehofft aufgingen. Als schließlich Mitternacht herankam und sich die Straße allmählich leerte, schritt er in unbeherrschter Erregung im Zimmer auf und ab. Gerade wollte ich etwas zu ihm sagen, als ich meinen Blick zu dem beleuchteten Fenster erhob und wieder eine fast so große Überraschung wie vorhin erlebte. Ich packte Holmes beim Arm und zeigte nach oben.

»Der Schatten hat sich bewegt!« rief ich.

In der Tat war uns jetzt nicht mehr das Profil, sondern der Rücken zugewandt.

Drei Jahre hatten offenbar nicht genügt, die Schroffheit seines Wesens zu glätten oder seine Ungeduld mit einer weniger regen Intelligenz als der seinen zu mildern.

»Natürlich hat er sich bewegt«, sagte er. »Als ob ich ein so lächerlicher Stümper wäre, Watson, eine offensichtliche Attrappe aufzustellen und zu erwarten, einer der scharfsinnigsten Männer Europas würde sich davon täuschen lassen! Wir sind jetzt zwei Stunden in diesem Zimmer, und Mrs. Hudson hat jene Gestalt achtmal umgerückt, das heißt, alle Viertelstunden einmal. Sie macht das von vorne, so daß ihr Schatten nie gesehen werden kann. Ah!« Er machte einen heftigen aufgeregten Atemzug. In dem trüben Licht sah ich seinen Kopf nach vorne gereckt, seine ganze Haltung starr vor Konzentration. Die Straße draußen war vollkommen verlassen. Jene beiden Männer mochten noch immer in dem Eingang kauern, doch konnte ich sie nicht mehr sehen. Alles war ruhig und finster, bis auf die eine strahlend gelbe Fensterscheibe vor uns mit der schwarzen Silhouette in der Mitte. Wieder vernahm ich in der absoluten Stille jenen dünnen zischenden Laut, der von äußerster unterdrückter Aufregung kündete. Einen Augenblick später zog er mich in die schwärzeste Ecke des Zimmers zurück, und ich spürte seine warnende Hand auf meinen Lippen. Die Finger, die mich umklammert hielten, zitterten. Nie hatte ich meinen Freund in erregterem Zustand gekannt, und doch lag die dunkle Straße noch immer einsam und bewegungslos vor uns.

Plötzlich aber gewahrte ich, was seine schärferen Sinne schon längst bemerkt hatten. Ein leises verstohlenes Geräusch drang an meine Ohren, und zwar nicht von der Baker Street her, sondern aus dem hinteren Teil eben des Hauses, in welchem wir uns verborgen hielten. Eine Tür ging auf und wieder zu. Einen Augenblick darauf schlichen Schritte den Gang entlang – Schritte, die leise sein sollten, die aber laut durch das leere Haus hallten. Holmes kauerte sich mit dem Rücken zur Wand, und ich tat desgleichen; meine Hand schloß sich um den Griff meines Revolvers. Ich starrte in das Dämmerlicht und sah den verschwommenen Umriß eines Mannes, der noch einen Hauch schwärzer war als die Schwärze der offenen Tür. Dort blieb er kurz stehen, um dann gebückt und bedrohlich in das Zimmer zu schleichen. Seine finstere Gestalt war keine drei Yards von uns entfernt, und ich hatte mich gewappnet, seinem Ansprung zu begegnen, bis ich erkannte, daß er von unserer Anwesenheit keine Ahnung hatte. Er ging dicht an uns vorbei, stahl sich zum Fenster und schob es sehr sachte und geräuschlos einen halben Fuß hoch. Als er sich auf die Höhe dieser Öffnung niederbeugte, fiel das nun nicht mehr von dem verstaubten Glase getrübte Licht der Straße voll auf sein Gesicht. Der Mann schien außer sich vor Erregung. Seine Augen glommen wie zwei Sterne, und krampfhaft arbeiteten seine Züge. Er war ein älterer Mann mit einer dünnen hervorspringenden Nase, hoher kahler Stirn und einem gewaltigen grauen Schnauzbart. Seinen chapeau claque hatte er auf den Hinterkopf geschoben, und aus seinem offenen Mantel schimmerte ein Frackhemd hervor. Sein Gesicht war hager, dunkelhäutig und von tiefen wilden Furchen durchzogen. In einer Hand trug er etwas, das ein Stock zu sein schien; doch als er es auf den Boden legte, ertönte ein metallisches Geräusch. Dann zog er einen sperrigen Gegenstand aus seiner Manteltasche und machte sich damit zu schaffen, was mit einem lauten, scharfen Klicken endete, als ob eine Feder oder ein Bolzen eingeschnappt wäre. Noch immer auf dem Boden kniend beugte er sich vor und drückte mit seinem ganzen Gewicht und aller Kraft auf irgendeinen Hebel, worauf ein langgezogenes, wirbelndes knirschendes Geräusch entstand, das wiederum mit einem kräftigen Klicken endete. Dann richtete er sich auf, und ich sah, daß er eine Art Gewehr mit sonderbar unförmigem Kolben in der Hand hielt. Er öffnete den Verschluß, steckte etwas hinein und ließ das Schloß zuschnappen. Dann kauerte er sich nieder und legte das Ende des Laufs auf den Sims des offenen Fensters, und ich sah seinen langen Schnauzbart über den Schaft fallen und sein Auge funkeln, als er durch das Visier spähte. Ich hörte einen kurzen Seufzer der Befriedigung, als er den Kolben an seine Schulter drückte und jene erstaunliche Zielscheibe, den schwarzen Mann auf gelbem Hintergrund, deutlich über dem Korn stehen sah. Einen Augenblick lang verharrte er starr und reglos. Dann spannte sich sein Finger um den Abzug. Es folgte ein seltsames lautes Schwirren, dann das langgezogene silbrige Klirren von splitterndem Glas. In diesem Moment sprang Holmes wie ein Tiger dem Schützen in den Rücken und warf ihn flach aufs Gesicht. Der aber kam gleich wieder hoch und packte Holmes mit krampfhafter Kraft bei der Kehle. Doch ich hieb ihm den Kolben meines Revolvers auf den Kopf, und er fiel wieder auf den Boden. Ich stürzte mich auf ihn, und während ich ihn festhielt, stieß mein Genosse ein gellendes Pfeifsignal aus. Auf dem Pflaster ertönte das Getrappel heraneilender Füße, und dann kamen zwei Polizisten in Uniform und ein Detektiv in Zivil durch den Vordereingang und ins Zimmer gerannt.

»Sind Sie es, Lestrade?« fragte Holmes.

»Ja, Mr. Holmes. Ich habe die Sache selbst in die Hand genommen. Schön, Sie wieder in London zu sehen, Sir.«

»Ich denke, Sie benötigen ein wenig inoffizielle Hilfe. Drei unentdeckte Morde in einem Jahr – das geht nicht, Lestrade. Aber das Molesey-Rätsel haben Sie nicht mit der Ihnen eigenen – soll heißen, Sie haben es recht ordentlich behandelt.«

Wir hatten uns alle erhoben, unser Gefangener stand schwer atmend zwischen zwei stämmigen Polizisten. Schon hatten sich auf der Straße ein paar Bummelanten zu sammeln begonnen. Holmes trat ans Fenster, machte es zu und zog die Jalousien herunter. Lestrade hatte zwei Kerzen hervorgeholt und die Polizisten ihre Lampen enthüllt. Endlich war ich in der Lage, mir unseren Gefangenen eingehend zu betrachten.

Es war ein äußerst männliches und doch finsteres Gesicht, das sich uns zuwandte. Mit der Stirn eines Philosophen oben und dem Kinn eines Lüstlings unten, mußte der Mann mit großen Talenten für das Gute oder das Böse begonnen haben. Doch konnte man seine grausamen blauen Augen mit ihren hängenden zynischen Lidern oder seine böse aggressive Nase und die bedrohliche gefurchte Stirn nicht ansehen, ohne darin die deutlichsten Gefahrensignale der Natur zu erblicken. Er nahm von keinem von uns Notiz, sein Blick war einzig auf Holmes' Gesicht geheftet, mit einem Ausdruck, in dem Haß und Erstaunen zu gleichen Teilen gemischt waren. »Sie Teufel!« murmelte er fortwährend. »Sie schlauer, schlauer Teufel!«

»Ah, Colonel!« sagte Holmes, indem er seinen verknüllten Kragen ordnete. »›Wie sich mal wieder Herz zum Herzen findet5‹, wie es in dem alten Stück heißt. Ich glaube nicht, daß ich das Vergnügen hatte, Sie zu sehen, seit Sie mich mit jenen Aufmerksamkeiten bedachten, als ich auf dem Vorsprung über dem Reichenbach-Fall lag.«

Der Colonel starrte meinen Freund noch immer wie in Trance an. »Sie listiger, listiger Teufel!« war alles, was er sagen konnte.

»Ich habe Sie noch nicht vorgestellt«, sagte Holmes. »Dies, Gentlemen, ist Colonel Sebastian Moran, dereinst bei der Indischen Armee Ihrer Majestät und der beste Großwildjäger, den unser Östliches Empire je hervorgebracht hat. Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihre Beute an Tigern noch immer unübertroffen ist?«

Der wütende Alte sagte nichts, sondern starrte unverwandt und trotzig meinen Gefährten an. Mit seinen wilden Augen und dem borstigen Schnurrbart sah er selbst einem Tiger erstaunlich ähnlich.

»Mich wundert, daß meine so simple List einen so alten shikari6 täuschen konnte«, sagte Holmes. »Sie muß Ihnen doch vertraut sein. Haben Sie nie ein Zicklein unter einem Baum angebunden, oben mit Ihrer Büchse gelegen und darauf gelauert, daß der Köder Ihnen den Tiger heranlocke? Dies leere Haus ist mein Baum, und Sie sind mein Tiger. Sie hatten vermutlich noch weitere Gewehre in Reserve, falls mehrere Tiger auftauchen sollten, oder in der unwahrscheinlichen Annahme, Sie könnten Ihr Ziel verfehlen. Dies« – er wies umher – »sind meine anderen Gewehre. Die Parallele ist vollkommen.«

Colonel Moran sprang mit einem wütenden Knurren vor, doch die Polizisten zogen ihn zurück. Die Wut auf seinem Gesicht war schrecklich anzusehen.

»Ich gestehe, daß Sie mir eine kleine Überraschung bereitet haben«, sagte Holmes. »Ich habe nicht vorausgesehen, daß Sie sich dieses leere Haus und dieses praktische Vorderfenster zunutze machen würden. Ich hatte mir vorgestellt, Sie würden von der Straße aus operieren, wo mein Freund Lestrade und seine munteren Männer Ihrer harrten. Von dieser Ausnahme abgesehen, lief alles so, wie ich erwartet habe.«

Colonel Moran wandte sich an den amtlichen Detektiv.

»Sie mögen einen gerechten Grund für meine Verhaftung haben oder nicht«, sagte er, »aber zumindest kann es keinen Grund dafür geben, warum ich mir die Spötteleien dieser Person gefallen lassen sollte. Wenn ich in der Hand des Gesetzes bin, lassen Sie die Dinge auch auf gesetzliche Art geschehen.«

»Nun, das klingt vernünftig genug«, sagte Lestrade. »Sie haben weiter nichts zu sagen, Mr. Holmes, bevor wir gehen?«

Holmes hatte das starke Luftgewehr vom Boden aufgehoben und untersuchte jetzt seinen Mechanismus.

»Eine staunenswerte und einmalige Waffe«, sagte er, »geräuschlos und von gewaltiger Kraft. Der blinde deutsche Mechaniker von Herder7, der sie auf Geheiß des verblichenen Professor Moriarty konstruierte, ist mir bekannt. Jahrelang war ich mir ihrer Existenz bewußt, obgleich ich nie zuvor die Gelegenheit hatte, sie zu handhaben. Ich empfehle sie sehr Ihrer Aufmerksamkeit, Lestrade, und ebenfalls die Kugeln, die zu ihr passen.«

»Sie können sich darauf verlassen, daß wir dies untersuchen, Mr. Holmes«, sagte Lestrade, während sich die ganze Gesellschaft auf die Tür zu bewegte. »Gibt es sonst noch etwas zu sagen?«

»Nur die Frage, welche Anklage Sie vorzuziehen beabsichtigen?«

»Welche Anklage, Sir? Nun, selbstverständlich den versuchten Mord an Sherlock Holmes.«

»Nicht doch, Lestrade. Ich habe nicht vor, in dieser Angelegenheit überhaupt zu figurieren. Ihnen und einzig Ihnen gebührt das Verdienst der bemerkenswerten Verhaftung, die Sie erzielt haben. Ja, Lestrade, ich gratuliere Ihnen! Mit der Ihnen eigenen glücklichen Mischung aus Schlauheit und Wagemut haben Sie ihn erwischt.«

»Ihn erwischt! Wen erwischt, Mr. Holmes?«

»Den Mann, den die gesamte Polizei vergeblich suchte – Colonel Sebastian Moran, der am dreißigsten vorigen Monats den Ehrenwerten Ronald Adair mit einem Mantelgeschoß aus einem Luftgewehr durch das offene Vorderfenster im zweiten Stock des Hauses Park Lane No. 427 erschossen hat. So lautet die Anklage, Lestrade. Und nun, Watson, falls Sie den Zug von einem zerbrochenen Fenster vertragen können, denke ich, eine halbe Stunde in meinem Arbeitszimmer bei einer Zigarre könnte Ihnen eine nützliche Unterhaltung bieten.«

Unsere alten Gemächer waren unter der Aufsicht von Mycroft Holmes und der unmittelbaren Fürsorge von Mrs. Hudson unverändert geblieben. Beim Eintreten bemerkte ich freilich eine ungewohnte Sauberkeit, doch waren die alten Wahrzeichen noch alle an ihrem Platz: die Chemie-Ecke und der säurebefleckte Brettertisch. In einem Regal stand eine Reihe beeindruckender Sammelalben und Nachschlagewerke, die so mancher unserer Mitbürger mit dem größten Vergnügen verbrannt hätte. Die Diagramme, der Geigenkasten und der Pfeifenständer – selbst der persische Pantoffel, der den Tabak beherbergte – alles fiel mir in die Augen, als ich mich umblickte. Zwei Bewohner befanden sich in dem Zimmer: einmal Mrs. Hudson, die uns beim Eintreten freudestrahlend ansah – zum andern die seltsame Attrappe, die bei den Abenteuern dieses Abends eine so wichtige Rolle gespielt hatte. Es war ein wachsfarbenes Modell meines Freundes, so vortrefflich gearbeitet, daß es ein vollkommenes Abbild darstellte. Es stand auf einem kleinen Sockeltisch und war mit einem alten Morgenmantel von Holmes so drapiert, daß die Täuschung von der Straße aus absolut perfekt war.

»Ich hoffe, Sie haben alle Vorsichtsmaßregeln beachtet, Mrs. Hudson?« sagte Holmes.

»Ich bin auf den Knien hingekrochen, Sir, genau wie Sie mir gesagt haben.«

»Ausgezeichnet. Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht. Haben Sie beobachtet, wo die Kugel eingeschlagen ist?«

»Ja, Sir. Ich fürchte, sie hat Ihre schöne Büste ruiniert, denn sie ging mitten durch den Kopf und schlug sich dann an der Wand platt. Ich habe sie vom Teppich aufgelesen. Hier ist sie!«

Holmes hielt sie mir hin. »Eine weiche Revolverkugel, wie Sie sehen, Watson. Das zeugt von Talent, denn wer erwartet schon, dergleichen aus einem Luftgewehr abgeschossen zu sehen? Sehr schön, Mrs. Hudson. Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe sehr verpflichtet. Und nun, Watson, seien Sie so gut und setzen sich noch einmal in Ihren alten Sessel, denn da sind mehrere Punkte, die ich mit Ihnen erörtern möchte.«

Er hatte den schäbigen Gehrock abgeworfen und war nun wieder ganz der alte Holmes im mausfarbenen Morgenmantel, den er seinem Ebenbild ausgezogen hatte.

»Die Nerven des alten shikari haben ihre Ruhe nicht verloren, und seine Augen nicht ihre Schärfe«, sagte er lachend, als er die zerschmetterte Stirn seiner Büste untersuchte.

»Genau mitten in den Hinterkopf und geradewegs durchs Gehirn. Er war der beste Schütze Indiens, und ich nehme an, in London gibt's kaum bessere. Haben Sie seinen Namen schon einmal gehört?«

»Nein, das habe ich nicht.«

»Nun, nun, so geht's mit dem Ruhm! Andererseits aber hatten Sie, wenn ich mich recht erinnere, den Namen von Professor Moriarty auch noch nie gehört, und der war einer der größten Köpfe unseres Jahrhunderts. Reichen Sie mir doch bitte einmal das Biographienverzeichnis aus dem Regal.«

Er blätterte müßig die Seiten um, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und blies mächtige Rauchwolken aus seiner Zigarre.

»Meine M-Sammlung ist vorzüglich«, sagte er. »Moriarty allein reicht schon, um jeden Buchstaben auszuzeichnen; und hier haben wir Morgan, den Giftmörder, und Merridew gräßlichen Gedenkens, und Mathews, der mir im Wartesaal in Charing Cross den linken Eckzahn ausgeschlagen hat, und schließlich unseren Freund von heut nacht.«

Er übergab mir das Buch, und ich las:

Moran, Sebastian, Colonel. Unbeschäftigt. Ehemals bei den 1. Bangalore-Pionieren. Geboren 1840 in London. Sohn von Sir Augustus Moran, C.B.8, dem ehemaligen britischen Gesandten in Persien. Schulbesuch in Eton und Oxford. Diente bei den Jowaki- und Afghanistan-Feldzügen in Charasiab (Depeschen), Sherpur und Kabul9. Verfasser von Großwild im westlichen Himalaya (1881); Drei Monate im Dschungel (1884). Anschrift: Conduit Street. Clubs: Anglo- Indian, Tankerville, Bagatelle Card Club.

Am Rand stand in Holmes' deutlicher Handschrift: Der zweitgefährlichste Mann Londons10.

»Das ist erstaunlich«, sagte ich, als ich ihm den Band zurückgab. »Die Karriere dieses Mannes ist die eines ehrenhaften Soldaten.«

»Wohl wahr«, antwortete Holmes. »Bis zu einem gewissen Punkt hielt er sich gut. Er war immer ein Mann mit eisernen Nerven, und in Indien hört man noch immer die Geschichte, wie er einem verwundeten menschenfressenden Tiger in ein Kanalisationsrohr nachgekrochen ist. Es gibt gewisse Bäume, Watson, die bis zu einer bestimmten Höhe wachsen, um dann plötzlich eine unansehnliche Exzentrizität zu entwickeln. Auch bei Menschen werden Sie das oft beobachten. Ich habe eine Theorie, nach der das Individuum im Verlauf seiner Entwicklung die ganze Reihe seiner Vorfahren durchlebt, und solch ein plötzlicher Umschwung zum Guten oder Bösen beruht demnach auf irgendeinem starken Einfluß, der in der Reihe seiner Ahnen tätig war. Der Mensch wird gleichsam zum Inbegriff der Geschichte seiner Familie.«

»Freilich überaus phantastisch.«

»Nun, ich bestehe nicht darauf. Aus welchem Grund auch immer: Colonel Moran begann auf Abwege zu geraten. Ohne jeden offenen Skandal brachte er Indien doch zu sehr in Rage, als daß man ihn hätte halten können. Er trat in den Ruhestand, kam nach London und machte sich wieder einen üblen Namen. Zu dieser Zeit wurde er von Professor Moriarty aufgespürt, dessen Stabschef er eine Zeitlang war. Moriarty versorgte ihn großzügig mit Geld und benutzte ihn nur für ein oder zwei hochwertige Aufträge, die kein gewöhnlicher Krimineller hätte ausführen können. Sie erinnern sich vielleicht an den Tod von Mrs. Stewart aus Lauder, im Jahre 1887. Nicht? Nun, ich bin sicher, daß Moran dahintersteckte, doch war ihm nichts nachzuweisen. Die Rolle des Colonel wurde so klug verheimlicht, daß wir ihn selbst dann nicht belasten konnten, als die Moriarty-Bande gesprengt war. Wissen Sie noch, wie ich damals, als ich Sie in Ihren Zimmern aufsuchte, aus Angst vor Luftgewehren die Läden geschlossen habe? Zweifellos haben Sie mich da für einen Phantasten gehalten. Doch ich wußte genau, was ich tat, da ich von der Existenz dieses bemerkenswerten Gewehrs wußte, und ich wußte auch, daß einer der besten Schützen der Welt dahinterstünde. Als wir in der Schweiz waren, verfolgte er uns zusammen mit Moriarty, und zweifellos war er es, der mir jene bösen fünf Minuten auf dem Vorsprung über dem Reichenbach-Fall bescherte.

Sie können sich denken, daß ich während meines Aufenthaltes in Frankreich die Zeitungen mit einiger Aufmerksamkeit gelesen habe, immer auf der Suche nach einer Möglichkeit, ihn hinter Gitter zu bringen. Solange er in London war, wäre mein Leben dort wirklich nicht lebenswert gewesen. Tag und Nacht hätte sein Schatten auf mir gelegen, und früher oder später hätte seine Stunde schlagen müssen. Was konnte ich tun? Einfach erschießen konnte ich ihn nicht, oder ich wäre selbst auf die Anklagebank gekommen. Mich an einen Polizeirichter zu wenden, war zwecklos. Die können nicht aufgrund eines Verdachts einschreiten, der ihnen ziemlich wild vorkommen muß. Ich konnte also nichts tun. Aber ich verfolgte die Nachrichten von Verbrechen, denn ich wußte, daß ich ihn früher oder später erwischen würde. Dann kam der Tod dieses Ronald Adair. Endlich war meine Stunde gekommen. War es nach allem, was ich wußte, nicht eindeutig, daß Colonel Moran der Täter war? Er hatte mit dem Jungen Karten gespielt, er hatte ihn vom Club aus nach Hause verfolgt, er hatte ihn durch das offene Fenster erschossen. Daran bestand kein Zweifel. Die Kugeln allein genügen schon11, seinen Kopf in die Schlinge zu stecken. Ich fuhr sofort her. Der Posten sah mich; ich wußte, er würde den Colonel auf meine Anwesenheit aufmerksam machen. Dieser konnte nicht fehlen, meine plötzliche Rückkehr mit seinem Verbrechen in Verbindung zu bringen und in fürchterliche Unruhe zu geraten. Ich war sicher, daß er mich auf der Stelle aus dem Weg zu räumen versuchen und zu diesem Zwecke seine mörderische Waffe hervorholen würde. Im Fenster hinterließ ich ihm eine vorzügliche Zielscheibe, und nachdem ich die Polizei davon unterrichtet hatte, daß sie womöglich gebraucht würde – übrigens haben Sie, Watson, deren Anwesenheit in jenem Hauseingang mit unfehlbarer Treffsicherheit erkannt –, nahm ich einen, wie mir schien, vernünftigen Beobachtungsposten ein; nicht im Traum wäre mir eingefallen, er würde sich dieselbe Stelle für sein Attentat aussuchen. Nun, mein lieber Watson, bleibt mir noch etwas zu erklären?«

»Ja«, sagte ich. »Sie haben nicht deutlich gemacht, aus welchem Motiv Colonel Moran den Ehrenwerten Ronald Adair ermordet hat.«

»Ah! mein lieber Watson, hier stoßen wir nun in jenes Reich der Mutmaßungen vor, in dem sich auch der logischste Geist leicht irren kann. Jeder von uns mag aus den vorhandenen Beweisen seine eigene Hypothese aufstellen, und die Ihre kann ebensosehr richtig sein wie die meine.«

»Sie haben demnach eine?«

»Ich denke, es ist nicht schwer, die Tatsachen zu deuten. Bei der Untersuchung kam heraus, daß Colonel Moran und der junge Adair zusammen eine beträchtliche Summe Geldes gewonnen hatten. Nun spielte Moran zweifellos falsch – dessen bin ich mir schon seit langem bewußt. Ich glaube, Adair hatte am Tag seiner Ermordung entdeckt, daß Moran mogelte. Höchstwahrscheinlich hatte er persönlich mit ihm gesprochen und damit gedroht, ihn bloßzustellen, falls er seine Mitgliedschaft im Club nicht freiwillig aufgebe und verspreche, nie wieder Karten zu spielen. Es ist unwahrscheinlich, daß ein junger Bursche wie Adair stracks einen scheußlichen Skandal provozieren würde, indem er einen wohlbekannten Mann, der so viel älter ist als er selbst, denunzierte. Vermutlich handelte er so, wie ich es annehme. Der Ausschluß aus seinen Clubs hätte für Moran, der von seinen unrechtmäßigen Kartengewinnen lebte, den Ruin bedeutet. Aus diesem Grunde brachte er Adair um, der zu der Zeit gerade versuchte auszurechnen, wieviel Geld er selbst zurückgeben müsse, da er nicht vom Falschspiel seines Partners profitieren wollte. Die Tür verschloß er, damit die Damen ihn nicht überraschen und dann darauf bestehen konnten zu erfahren, was es mit diesen Namen und Münzen auf sich habe. Geht das?«

»Ich hege keinen Zweifel, daß Sie die Wahrheit getroffen haben.«

»Der Prozeß wird es bestätigen oder widerlegen. Unterdessen, komme was da wolle, wird uns Colonel Moran nicht mehr beunruhigen. Das famose Luftgewehr von Herders wird das Scotland Yard Museum verschönern, und Mr. Sherlock Holmes hat wieder die Freiheit, sein Leben der Untersuchung jener interessanten kleinen Probleme zu widmen, die das komplexe Leben Londons in solcher Fülle bietet.«

Die Rückkehr des Sherlock Holmes

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