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3. Die Tragödie von Birlstone

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Und nun bitte ich um die Erlaubnis, meine unbedeutende Person einen Augenblick lang auszuklammern und die Ereignisse, die sich vor unserer Ankunft am Schauplatz abgespielt haben, im Licht unserer späteren Erkenntnisse zu schildern. Denn nur so kann ich dem Leser zu einer richtigen Vorstellung von den beteiligten Personen sowie der bizarren Kulisse, vor der ihr Schicksal seinen Lauf nahm, verhelfen.

Das Dorf Birlstone besteht aus einer kleinen Gruppe sehr alter Fachwerkhäuser an der Nordgrenze der Grafschaft Sussex. Jahrhundertelang war es unverändert geblieben, aber während der letzten paar Jahre haben sein pittoreskes Erscheinungsbild und seine Lage eine Anzahl wohlhabender Leute angelockt, die sich hier niederließen und deren Villen aus den umliegenden Wäldern hervorlugen. Geographisch darf man diese Wälder noch zum äußersten Zipfel des großen Weald-Forstes13 zählen, der sich gegen die Kreidehügel der North Downs14 hin immer mehr lichtet. Mehrere kleine Läden wurden eröffnet, um den Bedürfnissen der angewachsenen Bevölkerung entgegenzukommen, so daß Birlstone offenbar einige Aussicht hat, sich schnell von einem alten Dorf zu einer modernen Stadt zu entwickeln. Es bildet das Zentrum eines ansehnlichen Gebiets in diesem Landstrich, da die nächstgelegene Ortschaft von Bedeutung, Tunbridge Wells, zehn bis zwölf Meilen weiter im Osten und bereits jenseits der Grenze von Kent liegt.

Ungefähr eine halbe Meile vom Ort entfernt steht in einem alten Park, der für seine riesigen Buchen berühmt ist, das bejahrte Birlstone Manor House. Ein Teil dieses ehrwürdigen Gebäudes stammt noch aus der Zeit des ersten Kreuzzuges15, als Hugo de Capus16 im Zentrum des Landgutes, das ihm König Wilhelm der Rote übertragen hatte, eine kleine Feste errichtete. Diese wurde im Jahre 1543 durch Feuer zerstört, und als dann später, zur Zeit König James' des Ersten17, auf den Ruinen des feudalen Schlosses ein Landhaus aus Ziegelsteinen errichtet wurde, verwendete man einige der rauchgeschwärzten Eckpfeiler mit. Das Manor House mit seinen vielen Giebeln und den Butzenscheiben18 sah fast noch genau so aus, wie es sein Erbauer im frühen siebzehnten Jahrhundert zurückgelassen hatte. Den äußeren der beiden Gräben, die das weiland wehrhafte Gebäude geschützt, hatte man austrocknen lassen; er erfüllte nun die bescheidene Funktion eines Gemüsegartens. Den inneren gab es noch; er zog sich in einer Breite von vierzig Fuß – inzwischen allerdings nur noch wenige Fuß tief – rund um das ganze Haus. Ein kleiner Bach speiste ihn und floß jenseits des Grabens weiter, so daß der Wasserstreifen zwar trüb, aber keineswegs faulig oder ungesund war. Die Fenster des Erdgeschosses lagen einen Fuß über der Wasseroberfläche. Der einzige Zugang zum Haus führte über eine Zugbrücke, deren Winde und Ketten lange Zeit vor sich hin gerostet hatten und zerbrochen waren. Die neuen Besitzer des Manor House hatten jedoch diese Mängel mit charakteristischer Energie behoben, und die Zugbrücke ließ sich nicht nur wieder hochziehen, sondern wurde tatsächlich jeden Abend hochgezogen und jeden Morgen gesenkt. Diese Erneuerung eines Brauches aus alten, feudalen Tagen verwandelte das Manor House nachtsüber in eine Insel – ein Umstand, der von großer Bedeutung war für jenes Rätsel, welches binnen kurzem die Aufmerksamkeit von ganz England auf sich ziehen sollte.

Das Haus hatte einige Jahre leergestanden und zu einer pittoresken Ruine zu zerfallen gedroht, bevor die Familie Douglas es in Besitz nahm. Diese bestand lediglich aus zwei Personen: John Douglas und seiner Frau. John Douglas war ein bemerkenswerter Mann, sowohl dem Charakter wie seiner Erscheinung nach; er mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen und hatte ein verwittertes Gesicht mit stark ausgeprägten Kieferknochen, einem angegrauten Schnurrbart und eigenartig stechenden grauen Augen; seine drahtige, kraftvolle Figur hatte nichts von der Festigkeit und Aktivität ihrer Jugend eingebüßt. Er war fröhlich und freundlich gegen jedermann, aber in seinem Auftreten lag etwas Saloppes, das den Eindruck vermittelte, er habe das Leben in gesellschaftlichen Schichten kennengelernt, die wohl einiges unter dem Niveau der Gutsherren der Grafschaft Sussex lagen. Wurde er von seinen kultivierteren Nachbarn mit einer gewissen Neugier und Reserve betrachtet, erwarb er sich dafür bei den Dörflern alsbald große Beliebtheit, da er alle Unternehmungen im Ort großzügig unterstützte und auch zu Hauskonzerten und sonstigen Festivitäten erschien, wo er mit seinem bemerkenswert volltönenden Tenor jederzeit gern ein Lied zum besten gab. Er schien eine Menge Geld zu haben, das er dem Vernehmen nach auf den kalifornischen Goldfeldern gemacht hatte, und aus seinen Erzählungen und denen seiner Frau wurde klar, daß er einen Teil seines Lebens in Amerika verbracht hatte. Der gute Eindruck, den seine Freigebigkeit und sein demokratisches Auftreten hervorriefen, wurde noch dadurch verstärkt, daß er im Rufstand, Gefahren gegenüber vollkommen gleichgültig zu sein. Obwohl er ein miserabler Reiter war, fand er sich nämlich zu jedem Jagdtreffen ein und nahm in seiner Entschlossenheit, es den Besten gleichzutun, die erstaunlichsten Stürze in Kauf Auch als einmal das Pfarrhaus brannte, zeichnete er sich durch seine Furchtlosigkeit aus; denn er drang wiederholt in das Gebäude ein, um Hab und Gut zu bergen, nachdem die örtliche Feuerwehr es als unmöglich aufgegeben hatte. So kam es, daß sich John Douglas vom Manor House innerhalb von fünf Jahren einen beachtlichen Ruf in Birlstone erworben hatte.

Auch seine Frau war beliebt bei denen, die ihre Bekanntschaft gemacht hatten; englischer Sitte entsprechend kamen jedoch zu Fremden, die sich ohne gesellschaftliche Einführung in der Grafschaft niederließen, nur wenige Besucher – und auch die nur in großen Abständen. Dies machte ihr aber nicht viel aus, da sie von Natur aus zurückgezogen und durch ihren Gatten und häusliche Pflichten allem Anschein nach vollkommen in Anspruch genommen war. Man wußte, daß sie Engländerin war und den damals noch verwitweten Mr. Douglas in London kennengelernt hatte. Sie war eine schöne Frau, hochgewachsen, dunkelhaarig, schlank und gut zwanzig Jahre jünger als ihr Mann; ein Altersunterschied, der die Harmonie ihres Zusammenlebens anscheinend in keiner Weise beeinträchtigte. Die sie am besten kannten, bemerkten jedoch manchmal, daß das Vertrauen zwischen den beiden nicht vollkommen zu sein schien, denn in Hinsicht auf die Vergangenheit ihres Gatten war die Frau entweder sehr zurückhaltend oder aber, was wahrscheinlicher war, sehr mangelhaft unterrichtet. Auch hatten ein paar Aufmerksame beobachtet und kritisch vermerkt, daß es bei Mrs. Douglas zuzeiten Zeichen einer gewissen nervlichen Anspannung gab und daß sie heftiges Unbehagen erkennen ließ, wenn ihr Gatte einmal besonders lange wegblieb. In einer ruhigen ländlichen Gegend, wo jeder Klatsch willkommen ist, konnte man diese Schwäche der Lady vom Manor House nicht achtlos übergehen, und in der Erinnerung der Leute nahm sie um so mehr Raum ein, als dann jene Ereignisse eintraten, die ihr eine ganz besondere Bedeutung verleihen sollten.

Es gab unter diesem Dach noch eine weitere Person, die sich allerdings nicht ständig dort aufhielt; aber ihre Anwesenheit zur Zeit jener merkwürdigen Begebnisse, die ich nun erzählen will, rückte ihren Namen in den Vordergrund der Öffentlichkeit, Es handelte sich um Cecil James Barker aus Hales Lodge, Hampstead. Cecil Barkers hochgewachsene und schlaksige Gestalt war auf der Hauptstraße der Gemeinde Birlstone ein vertrauter Anblick, denn er war ein häufiger und willkommener Gast im Manor House. Man nahm von ihm um so mehr Notiz, als er der einzige Freund aus der unbekannten Vergangenheit von Mr. Douglas war, der je in dessen neuer englischen Umgebung auftauchte. Barker selbst war unzweifelhaft Engländer, aber aus seinen Bemerkungen ging klar hervor, daß er Douglas in Amerika kennengelernt und dort mit ihm auf vertrautem Fuß gestanden hatte. Er schien ein Mann von beträchtlichem Vermögen zu sein und galt als Junggeselle. Er war etwas jünger als Douglas, höchstens fünfundvierzig – ein hochgewachsener, breitbrüstiger Bursche mit aufrechtem Gang und einem glattrasierten Preisboxergesicht; ein gebieterisches Paar schwarzer Augen unter den dichten, kräftigen schwarzen Brauen hätte ihm auch ohne die Hilfe seiner überaus tüchtigen Hände den Weg durch eine feindliche Menge bahnen können. Er war kein Reiter und ging auch nicht auf die Jagd, sondern brachte seine Tage damit zu, mit der Pfeife im Mund durch das alte Dorf zu schlendern und mit seinem Gastgeber oder – bei dessen Abwesenheit – mit seiner Gastgeberin Ausfahrten in die schöne Umgebung zu machen. »Ein angenehmer, freigebiger Gentleman«, sagte Ames, der Butler. »Aber, bei Gott, ich möchte lieber nicht in der Haut des Mannes stecken, der ihm in die Quere kommt.« Barkers Umgang mit Douglas war herzlich und vertraut, und mit dessen Gattin war er nicht weniger befreundet; ja, diese Freundschaft schien beim Gatten mehr als einmal eine gewisse Gereiztheit hervorzurufen, so daß selbst die Dienerschaft seine Verärgerung bemerkte. Das also war die dritte Person, die zum Zeitpunkt der Katastrophe zur Familie gehörte. Was die sonstigen Bewohner des alten Gebäudes angeht, so mag es genügen, aus dem großen Hauspersonal den steifen, achtbaren und tüchtigen Ames zu erwähnen sowie Mrs. Allen, eine dralle und fröhliche Person, die der Lady im Haushalt manche Last abnahm. Die übrigen sechs Bediensteten des Hauses sind für die Ereignisse der Nacht vom 6. Januar nicht von Bedeutung.

Um elf Uhr fünfundvierzig erreichte die erste Alarmmeldung den kleinen örtlichen Polizeiposten, der Sergeant Wilson von der Sussex Constabulary unterstellt war. Mr. Cecil Barker war höchst aufgeregt zur Tür gestürzt und hatte wie wild die Glocke geläutet. Im Manor House habe es eine schreckliche Tragödie gegeben und Mr. John Douglas sei ermordet worden. So lautete der Kern seiner atemlos vorgetragenen Botschaft. Dann war er zum Haus zurückgehastet. Wenige Minuten später folgte ihm der Polizei-Sergeant, der kurz nach zwölf Uhr am Tatort eintraf, nachdem er unverzüglich Schritte unternommen hatte, die Behörden der Grafschaft zu benachrichtigen, daß etwas Ernstes vorgefallen sei.

Beim Manor House angekommen, hatte der Sergeant die Zugbrücke herabgelassen vorgefunden, die Fenster hell erleuchtet und das ganze Haus im Zustand wilden Durcheinanders und Aufruhrs. In der Empfangshalle drängten sich die schreckensbleichen Dienstboten zusammen, und an der Eingangstür stand händeringend der erschrockene Butler. Nur Cecil Barker schien sich und seine Gefühlsregungen zu beherrschen. Er hatte die dem Eingang nächstgelegene Tür geöffnet und dem Sergeant ein Zeichen gegeben, ihm zu folgen. In diesem Augenblick traf Dr. Wood ein, ein energischer und tüchtiger Arzt aus dem Dorf Die drei Männer betraten gemeinsam das Todeszimmer; der von Grauen geschüttelte Butler folgte ihnen auf den Fersen und schloß hinter sich die Tür, um die schreckliche Szene den Blicken der Dienstmädchen zu entziehen.

Der Tote lag auf dem Rücken, die Glieder gespreizt, in der Mitte des Zimmers. Er hatte nur einen rosafarbenen Schlafrock an, der sein Nachtgewand bedeckte. Seine bloßen Füße staken in Filzpantoffeln. Der Arzt kniete neben ihm und hielt eine kleine Lampe, die auf dem Tisch gestanden hatte, über ihn gesenkt. Ein Blick auf das Opfer zeigte dem Heilkundigen, daß seine Anwesenheit entbehrlich war. Die Wunden des Mannes waren schrecklich. Quer über seiner Brust lag eine seltsame Waffe, eine Schrotflinte, deren Läufe etwa dreißig Zentimeter vor den Abzügen abgesägt waren. Offensichtlich war diese Flinte aus nächster Nähe abgefeuert worden, und er hatte die volle Ladung ins Gesicht bekommen, wodurch fast sein ganzer Schädel zerschmettert worden war. Die Abzüge hatte man mit Draht zusammengebunden, um durch die gleichzeitige Entladung eine noch verheerendere Wirkung zu erzielen.

Der Dorfpolizist war entnervt und verwirrt angesichts der ungeheuren Verantwortung, die ihm so plötzlich aufgebürdet worden war.

»Es wird nichts angerührt, bis meine Vorgesetzten kommen«, sagte er mit gedämpfter Stimme; er starrte mit Grausen auf den schaurigen Schädel.

»Bis jetzt ist nichts berührt worden«, sagte Cecil Barker. »Dafür bürge ich. Sie sehen alles genau so, wie ich es vorgefunden habe.«

»Wann ist das passiert?« Der Sergeant hatte sein Notizbuch gezückt.

»Es war gerade halb zwölf Ich hatte mich noch nicht ausgezogen und saß in meinem Schlafzimmer am Kamin, als ich den Knall hörte. Er war nicht sehr laut – er klang irgendwie gedämpft. Ich bin runtergerannt. Ich glaube, es hat keine dreißig Sekunden gedauert, bis ich im Zimmer hier war.«

»Stand die Tür offen?«

»Ja. Der arme Douglas lag so da, wie Sie ihn jetzt sehen. Auf dem Tisch hat noch seine Schlafzimmerkerze gebrannt. Die Lampe habe ich angezündet, einige Minuten später.«

»Haben Sie niemand gesehen?«

»Nein. Ich hörte Mrs. Douglas hinter mir die Treppe herunterkommen und bin wieder aus dem Zimmer gestürzt, um sie von diesem entsetzlichen Anblick fernzuhalten. Dann kam Mrs. Allen, die Haushälterin, und hat sie fortgeführt. Inzwischen war auch Ames erschienen, und wir sind beide noch einmal zurück in das Zimmer gerannt.«

»Soviel ich aber gehört habe, wird die Zugbrücke abends hochgezogen.«

»Ja, sie war oben – bis ich sie runtergelassen habe.«

»Wie hätte dann irgendein Mörder entkommen können? Das ist nicht möglich. Mr. Douglas muß sich selbst erschossen haben.«

»Das war auch unser erster Gedanke. Aber sehen Sie einmal.« Barker zog den Vorhang beiseite und zeigte auf ein großes Fenster mit Butzenscheiben, das völlig offenstand. »Und sehen Sie hier!« Erhielt die Lampe tiefer und beleuchtete einen Schmierer Blutes auf dem Fensterbrett, der wie der Abdruck einer Schuhsohle aussah. »Hier ist jemand beim Aussteigen hingetreten.«

»Sie meinen, jemand ist durch den Graben gewatet?«

»Genau.«

»Dann muß er ja, wenn Sie schon nach einer halben Minute im Zimmer waren, zu der Zeit gerade im Wasser gewesen sein.«

»Ich habe keinen Zweifel daran. Beim Himmel, ich wünschte, ich wäre zum Fenster gerannt. Aber das war ja durch den Vorhang verdeckt, wie Sie sehen, deshalb bin ich gar nicht erst auf den Gedanken gekommen. Dann habe ich die Schritte von Mrs. Douglas gehört, und die konnte ich ja nicht ins Zimmer lassen. Das wäre zu grauenhaft gewesen.«

»Grauenhaft, allerdings!« sagte der Arzt; er betrachtete den zerschmetterten Schädel und die schrecklichen Spuren ringsum. »Seit dem Zugunglück habe ich hier in Birlstone keine solchen Verletzungen mehr gesehen.«

»Ja, aber hören Sie mal«, bemerkte der Polizei-Sergeant, dessen behäbig-bukolischer Verstand noch über das offene Fenster nachgrübelte. »Das ist ja alles schön und gut, wenn Sie sagen, daß ein Mann durch diesen Graben gewatet und entwischt ist; aber ich frage Sie – wie ist er denn überhaupt ins Haus gekommen, wenn die Brücke oben war?«

»Ah, das ist allerdings die Frage«, sagte Barker.

»Um wieviel Uhr wurde sie hochgezogen?«

»Es war fast sechs Uhr«, sagte Ames, der Butler.

»Ich habe gehört«, sagte der Sergeant, »daß sie gewöhnlich bei Sonnenuntergang hochgezogen wird. Das wäre dann eher gegen halb fünf als um sechs, zu dieser Jahreszeit.«

»Mrs. Douglas hatte Besuch zum Tee«, sagte Ames. »Ich konnte die Brücke erst hochwinden, nachdem die Herrschaften gegangen waren. Darauf habe ich das eigenhändig besorgt.«

»Dann läuft es also auf Folgendes hinaus«, sagte der Sergeant. »Wenn jemand von draußen gekommen ist – ich sage wenn –, dann muß er vor sechs über die Brücke hineingelangt sein und sich solange versteckt haben, bis Mr. Douglas nach elf in diesen Raum kam.«

»So ist es. Mr. Douglas hat jeden Abend, bevor er sich schlafen legte, als letztes noch einen Rundgang durchs Haus gemacht, um nachzusehen, ob alle Lichter gelöscht sind. Und das hat ihn auch hierher geführt. Der Mann hat hier gelauert und ihn erschossen. Darauf hat er sein Gewehr zurückgelassen und ist durchs Fenster geflohen. So sehe ich es – alles andere würde nicht zu den Umständen passen.«

Der Sergeant hob eine Karte auf, die neben dem Toten auf dem Boden lag. Sie trug die mit Tinte flüchtig hingekritzelten Anfangsbuchstaben V.V., darunter die Zahl 341.

»Was ist denn das?« fragte er; er hielt die Karte hoch.

Barker sah sie sich neugierig an.

»Die ist mir noch gar nicht aufgefallen«, sagte er. »Die muß der Mörder zurückgelassen haben.«

»V.V. 341. Ich kann nichts damit anfangen.«

»Was bedeutet V.V.? Wahrscheinlich jemandes Initialen. Was haben Sie denn da, Dr. Wood?«

Es handelte sich um einen recht großen Hammer, der auf dem kleinen Teppich vor dem Kamin gelegen hatte – einen richtigen handwerksgerechten Hammer. Cecil Barker deutete auf den Kaminsims, wo eine Büchse mit Messingkopfnägeln stand.

»Mr. Douglas hat gestern die Bilder umgehängt«, sagte er. »Ich habe selbst gesehen, wie er auf diesem Stuhl dort stand und das große Bild darüber befestigte. Soviel zum Hammer.«

»Wir legen ihn am besten wieder auf den Teppich zurück, wo wir ihn gefunden haben«, sagte der Sergeant; in seiner Verwirrung kratzte er sich den angestrengt nachdenkenden Schädel. »Da müssen die besten Köpfe der Polizei ran, um dieser Sache auf den Grund zu kommen. Damit wird London sich befassen müssen19, wenn was draus werden soll.« Er hob die Tischlampe hoch und schritt langsam im Zimmer umher. »Hallo!« rief er aufgeregt und zog den Fenstervorhang zur Seite. »Um wieviel Uhr sind diese Vorhänge zugezogen worden?«

»Als die Lampen angezündet wurden«, antwortete der Butler. »Das dürfte kurz nach vier gewesen sein.«

»Hier hat sich tatsächlich jemand versteckt.« Er senkte die Leuchte, und in der Ecke waren sehr deutlich die Abdrücke von schlammigen Stiefeln zu sehen. »Ich muß zugeben, daß das Ihre Theorie bestätigt, Mr. Barker. Es sieht so aus, als ob der Mann nach vier, als man die Vorhänge zugezogen hat, und noch vor sechs, als die Brücke hochgezogen wurde, ins Haus gelangt ist. Dann ist er in dieses Zimmer geschlüpft, weil es das erste war, das er sah. Und weil es hier keine sonstigen Versteckmöglichkeiten gab, ist er hinter den Vorhang gezischt. Das alles scheint ziemlich klar zu sein. Wahrscheinlich hatte er einen Einbruch vor, aber Mr. Douglas hat ihn zufällig ertappt, und da hat er ihn ermordet und ist geflohen.«

»So sehe ich es auch«, sagte Barker. »Aber, sagen Sie mal, verschwenden wir nicht kostbare Zeit? Wir könnten doch schon mal anfangen, die Gegend abzusuchen, bevor der Kerl noch entkommt.«

Der Sergeant überlegte einen Augenblick.

»Vor sechs Uhr morgens fahren keine Züge, mit der Bahn kann er also nicht entkommen. Und wenn er mit seinen klatschnassen Hosen die Straße entlanggeht, dann ist es mehr als wahrscheinlich, daß ihn jemand bemerkt. Trotzdem, ich kann hier nicht fort, bevor ich abgelöst werde. Außerdem glaube ich, daß keiner von Ihnen gehen sollte, ehe wir klarer sehen, wie die Dinge liegen.«

Der Arzt hatte die Lampe ergriffen und untersuchte inzwischen sorgfältig den Leichnam.

»Was ist denn das für ein Zeichen?« fragte er. »Könnte das hier mit dem Mord in irgendeinem Zusammenhang stehen?«

Der rechte Arm des Toten ragte aus dem Schlafrock hervor und war bis zum Ellenbogen hinauf entblößt. Etwa auf halber Höhe des Unterarms befand sich eine merkwürdige braune Zeichnung, ein Dreieck in einem Kreis; sie hob sich in plastischer Deutlichkeit von der schmalzfarbenen Haut ab.

»Das ist keine Tätowierung«, sagte der Arzt; er sah es sich durch die Brille genau an. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Dem Mann hat man einmal ein Brandzeichen aufgedrückt, so, wie man es mit dem Vieh macht. Was hat das zu bedeuten?«

»Ich will ja nicht behaupten, daß ich seine Bedeutung kenne«, sagte Cecil Barker; »aber gesehen habe ich das Zeichen die ganzen letzten zehn Jahre über an Douglas.«

»Ich auch«, sagte der Butler. »Mir ist das eigenartige Zeichen mehrmals aufgefallen, wenn der Herr die Ärmel hochgekrempelt hatte. Ich habe mich oft gefragt, was es wohl bedeutet.«

»Dann hat es jedenfalls nichts mit dem Verbrechen zu tun«, sagte der Sergeant. »Aber komisch ist es trotzdem. Alles an diesem Fall ist komisch. Ja, was ist denn jetzt los?«

Der Butler hatte einen Ausruf des Erstaunens ausgestoßen und deutete auf die ausgestreckte Hand des Toten.

»Man hat ihm den Ehering abgenommen!« stieß er hervor.

»Wie?!«

»Ja, wirklich! Der Herr trug seinen schlichten Gold-Ehering immer am kleinen Finger der linken Hand. Diesen Ring hier mit dem rohen Nugget hatte er darüberstecken, und den gewundenen Schlangenring am Mittelfinger. Da ist der Nugget, und da ist die Schlange; aber der Ehering ist fort.«

»Er hat recht«, sagte Barker.

»Wollen Sie damit sagen«, fragte der Sergeant, »daß der Ehering unter dem anderen gesteckt hat?«

»Immer!«

»Dann hat ihm der Mörder, oder wer immer sonst, zuerst diesen, wie Sie ihn nennen, Nugget-Ring abgezogen, danach den Ehering, und hinterher hat er ihm den Nugget-Ring wieder angesteckt.«

»So ist es.«

Der brave Dorfpolizist schüttelte das Haupt.

»Mir scheint, je schneller wir London in diesen Fall einschalten, desto besser«, sagte er. »White Mason ist ein gerissener Kerl. Hier draußen hat's noch nie'n Fall gegeben, dem White Mason nicht gewachsen war. Es wird jetzt wohl nicht mehr lange dauern, bis er hier ist und uns hilft. Aber ich seh's kommen, bis wir da durch sind, müssen wir uns doch noch an London wenden. Egal wie, 'ne Schande ist es nicht, wenn ich zugebe, daß das 'ne Nummer zu groß ist für einen wie mich.«

Das Tal des Grauens

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