Читать книгу Sherlock Holmes - Seine Abschiedsvorstellung - Arthur Conan Doyle, Исмаил Шихлы - Страница 5
2. Der Tiger von San Pedro
ОглавлениеNach einem kalten und trübseligen Marsch von einigen Meilen kamen wir an ein hohes, hölzernes Tor, welches sich auf eine düstere Kastanienallee öffnete. Wir folgten der geschwungenen, überschatteten Einfahrt zu einem gedrungenen, finster wirkenden Haus, das sich nachtschwarz gegen den schiefergrauen Himmel abhob. Aus dem Fenster links neben der Eingangstür drang schwacher Lichtschimmer.
»Ein Constable hält die Stellung«, sagte Baynes. »Ich will mal eben ans Fenster klopfen.« Er stapfte über das Rasenstück und pochte mit der Hand gegen die Scheibe. Durch das beschlagene Glas hindurch konnte ich undeutlich erkennen, wie ein Mann aus seinem Sessel neben dem Kaminfeuer aufsprang, und gleichzeitig drang ein gellender Schrei aus dem Zimmer. Einen Augenblick später öffnete uns ein schwer atmender und totenblaßer Polizist die Tür; die Kerze in seiner Hand zitterte und schwankte.
»Was ist los, Walters?« fragte Baynes barsch.
Der Mann wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.
»Bin ich froh, daß Sie hier sind, Sir. Das ist ein langer Abend gewesen, und meine Nerven sind wohl auch nicht mehr das, was sie mal waren.«
»Ihre Nerven, Walters? Ich wußte gar nicht, daß Sie so was haben.«
»Nun, Sir, das liegt an diesem einsamen, stillen Haus und diesem komischen Zeugs in der Küche. Und als Sie dann ans Fenster geklopft haben, da hab ich gedacht, es sei zurückgekommen.«
»Was sei zurückgekommen?«
»Wenn Sie mich fragen, Sir, dann war's der Teufel. Es war am Fenster.«
»Was war am Fenster, und wann?«
»Das ist jetzt etwa zwei Stunden her. Es war eben dunkel geworden. Ich hab in meinem Stuhl gesessen und gelesen. Ich weiß nicht genau, was mich von meinem Buch aufblicken ließ, aber auf jeden Fall war da ein Gesicht, das mich durch die untere Fensterscheibe hindurch anstarrte. Guter Gott, Sir, das war vielleicht ein Gesicht! Das wird mich noch im Traum verfolgen.«
»Tz, tz, Walters; so redet doch kein Constable der Polizei.«
»Ich weiß, Sir, ich weiß; aber es ist mir wirklich durch Mark und Bein gegangen, das kann ich nun einmal nicht abstreiten. Es war weder schwarz noch weiß, Sir, noch sonst von irgendeiner Farbe, die ich kenne, sondern ein ganz komischer Farbton, wie Lehm mit einem Spritzer Milch darin. Und dann seine Größe, Sir – es war zweimal so groß wie Sie. Und wie es aussah – große starrende Glotzaugen und eine Reihe weißer Zähne wie ein hungriges wildes Tier. Ich sage Ihnen, Sir, keinen Finger konnte ich rühren und keinen Atemzug tun, bis es weghuschte und nicht mehr zu sehen war. Dann bin ich hinausgerannt und habe das Gebüsch durchsucht, aber Gott sei Dank war da niemand mehr.«
»Würde ich Sie nicht als tüchtigen Mann kennen, Walters, dann müßte ich Ihnen hierfür einen Rüffel geben. Und wenn es der Teufel in Person wäre, nie darf ein Constable im Dienst Gott danken, daß er ihn nicht dingfest machen konnte. Das Ganze war doch wohl nicht bloß ein Hirngespinst oder ein Anfall von Nervenschwäche?«
»Dies zumindest läßt sich sehr einfach feststellen«, sagte Holmes und zündete seine kleine Taschenlampe an. »Ja«, meldete er nach einer kurzen Untersuchung des Rasenstücks, »Schuhgröße zwölf6, würde ich sagen. Wenn alles an ihm von derselben Größenordnung ist wie seine Füße, so muß es allerdings ein Riese gewesen sein.«
»Und was ist weiter mit ihm passiert?«
»Es macht den Anschein, daß er sich durch das Gebüsch zur Straße durchgeschlagen hat.«
»Nun gut«, sagte der Inspektor mit ernster und nachdenklicher Miene, »wer immer das gewesen sein mag, und was immer er gewollt hat, jetzt ist er jedenfalls nicht da, und es gibt Dringlicheres zu erledigen. Mr. Holmes, wenn es Ihnen recht ist, werde ich Sie nun durchs Haus führen.«
Eine eingehende Durchsuchung der verschiedenen Schlafzimmer und Salons hatte keine Ergebnisse gezeitigt. Offensichtlich hatten die Mieter wenig oder gar nichts mitgebracht und das Haus mitsamt dem ganzen Inventar, bis hin zu den geringsten Kleinigkeiten, übernommen. Eine ganze Menge Kleider mit dem Etikett von Marx & Co., High Holborn, war zurückgelassen worden. Telegraphische Nachforschungen hatten bereits ergeben, daß die Firma Marx über ihren Kunden lediglich zu sagen wußte, daß er stets pünktlich bezahlt hatte. An persönlichen Habseligkeiten fand sich allerlei Krimskrams, ein paar Pfeifen, mehrere Romane, zwei davon auf Spanisch, ein altmodischer Zündnadelrevolver und eine Gitarre.
»Das alles gibt nichts her«, sagte Baynes, der mit der Kerze in der Hand von einem Raum zum andern stapfte. »Jetzt aber, Mr. Holmes, möchte ich Sie bitten, Ihre volle Aufmerksamkeit der Küche zuzuwenden.«
Es handelte sich um einen hohen, düsteren, im rückwärtigen Teil des Hauses gelegenen Raum mit einem Strohlager in der Ecke, das offenbar dem Koch als Schlafgelegenheit diente. Auf dem Tisch stapelten sich Schüsseln mit Speiseresten und schmutzige Teller, die Überbleibsel des Mahles vom vorigen Abend.
»Sehen Sie sich das an«, sagte Baynes. »Was halten Sie davon?«
Er hielt seine Kerze hoch und beleuchtete einen merkwürdigen Gegenstand, der hinten auf der Anrichte stand und so runzelig, verdorrt und verschrumpelt war, daß sich kaum feststellen ließ, was es einmal gewesen sein mochte. Es ließ sich bloß sagen, daß es schwarz und lederig war und eine gewisse Ähnlichkeit mit einer zwergenhaften menschlichen Gestalt aufwies. Bei näherer Betrachtung hielt ich es zuerst für einen mumifizierten Negersäugling, dann schien es mir mehr nach einem uralten, verhutzelten Affen auszusehen. Und ich blieb auch im Zweifel darüber, ob es menschlicher oder tierischer Natur war. Um seine Mitte war eine zweireihige Muschelkette geschlungen.
»Sehr interessant – wirklich sehr interessant!« murmelte Holmes, während er das unheimliche Relikt eingehend betrachtete.
»Sonst noch etwas?«
Wortlos ging Baynes zum Spülstein voran und hielt seine Kerze darüber. Darin lagen in wildem Durcheinander Rumpf und Glieder eines großen, weißen Vogels, den man mitsamt den Federn gewaltsam in Stücke gerissen hatte. Holmes deutete auf die Kehllappen an dem abgetrennten Kopf.
»Ein weißer Hahn«, sagte er. »Höchst interessant! Das ist wirklich ein sehr sonderbarer Fall.«
Sein schauerlichstes Schaustück hatte Mr. Baynes indes für den Schluß aufgehoben. Unter dem Spülstein zog er einen Zinkeimer hervor, der eine beträchtliche Menge Blut enthielt. Dann nahm er vom Tisch eine Platte, auf der ein Haufen verkohlter kleiner Knochenstücke lag.
»Etwas ist hier getötet und etwas ist hier verbrannt worden. Das hier haben wir alles aus dem Feuer gescharrt. Wir hatten heute früh einen Arzt hier. Er sagt, es sei nicht menschlicher Herkunft.«
Holmes lächelte und rieb sich die Hände.
»Inspektor, ich muß Ihnen wirklich gratulieren zu der Art, wie Sie einen so außergewöhnlichen und aufschlußreichen Fall angehen. Ihre Fähigkeiten – wenn ich dies sagen darf, ohne Ihnen zu nahe zu treten – scheinen Ihre Position bei weitem zu überragen.«
Inspektor Baynes' kleine Äuglein funkelten vor Freude.
»Sie haben recht, Mr. Holmes; wir versumpfen hier in der Provinz. Ein Fall wie dieser ist schon eine Chance, und ich hoffe, daß ich sie nutzen kann. Was halten Sie von diesen Knochen?«
»Ein Lamm, würde ich sagen, oder ein Zicklein.«
»Und was ist mit dem weißen Hahn?«
»Merkwürdig, Mr. Baynes, höchst merkwürdig, wenn nicht geradezu einzigartig.«
»Ja, Sir, in diesem Haus müssen sich sehr seltsame Leute mit sehr seltsamen Gewohnheiten eingenistet haben. Einer davon ist tot. Sind seine Gefährten ihm nachgeschlichen und haben ihn umgebracht? Wenn ja, so sollten sie uns nicht entwischen, denn alle Häfen werden überwacht. Ich persönlich sehe die Sache allerdings anders. Weiß Gott, Sir, ich sehe diese Sache ganz anders.«
»Sie haben also eine Theorie?«
»Das habe ich, und ich werde sie auf eigene Faust anwenden, Mr. Holmes. Das bin ich mir schuldig. Sie haben einen bekannten Namen, ich muß mir erst noch einen machen. Ich möchte hinterher gern sagen können, ich habe den Fall ohne Ihre Hilfe gelöst.«
Holmes lachte gutmütig.
»Schon gut, Inspektor«, sagte er. »Gehen Sie Ihren Weg, und ich gehe meinen Weg. Meine Resultate stehen freilich jederzeit voll und ganz zu Ihrer Verfügung, falls Sie darauf zurückgreifen wollen. Ich denke, ich habe nun alles gesehen, was ich in diesem Hause sehen wollte; woanders kann ich meine Zeit wohl nutzbringender verwenden. Au revoir, und viel Glück!«
Aus einer Vielzahl unscheinbarer Anzeichen, die jedem anderen als mir wohl entgangen wären, schloß ich, daß Holmes auf einer heißen Spur war. Mochte er auch einem zufälligen Beobachter so teilnahmslos wie immer erscheinen, verrieten mir seine heller gewordenen Augen und die energischeren Bewegungen jedoch eine verhaltene Ungeduld und eine gewisse Angespanntheit, die keinen Zweifel daran ließen, daß er sein Wild aufgestöbert hatte7. Er sagte nichts, das war so seine Art; meine war es, daß ich keine Fragen stellte. Ich war es zufrieden, an der Hatz teilzunehmen und meinen bescheidenen Beitrag zu leisten, wenn es galt, das Wild zu stellen, doch ich vermied es, dieses angespannt arbeitende Gehirn durch unnötige Unterbrechungen zu stören. Zu gegebener Zeit würde ich alles erfahren.
Ich wartete also, doch zu meiner ständig wachsenden Enttäuschung wartete ich vergeblich. Ein Tag nach dem anderen verstrich, ohne daß mein Freund irgendwelche Schritte unternommen hätte. Einen Vormittag verbrachte er in der Stadt, wo er, wie ich beiläufig erfuhr, das British Museum besucht hatte. Von diesem einen Ausflug abgesehen, verbrachte er seine Tage mit langen, meist einsamen Spaziergängen, oder er plauderte mit einigen Klatschmäulern aus dem Dorf, mit denen er Umgang pflegte.
»Ich bin überzeugt, Watson, eine Woche auf dem Lande wird von unschätzbarem Wert für Sie sein«, sagte er. »Es ist so wohltuend, mal wieder die ersten grünen Triebe an den Hecken und die Kätzchen an den Haselsträuchern zu sehen. Mit einem Spaten, einer Botanisierbüchse und einem Pflanzenbestimmungsbuch versehen, kann man hier lehrreiche Tage verbringen.« Er selbst streifte tatsächlich solchermaßen ausgerüstet durch die Gegend; die Ausbeute an Pflanzen, die er des abends nach Hause brachte, nahm sich indes recht kläglich aus.
Auf unseren Streifzügen begegneten wir hin und wieder auch Inspektor Baynes, dessen dickes, rotes Gesicht sich zu einem Lächeln verzog und dessen Äuglein aufleuchteten, wenn er meinen Gefährten begrüßte. Er ließ wenig über den Fall verlauten, aber diesem wenigen konnte man entnehmen, daß auch er mit dem Gang der Dinge keineswegs unzufrieden war. Dennoch muß ich gestehen, daß ich ein wenig überrascht war, als ich fünf Tage nach dem Verbrechen meine Morgenzeitung aufschlug und da in großen Lettern geschrieben fand:
DAS RÄTSEL VON OXSHOTT
LÖSUNG IN SICHT
MUTMASSLICHER MÖRDER GEFASST
Holmes fuhr wie von der Tarantel gestochen von seinem Stuhl auf, als ich ihm diese Schlagzeile vorlas.
»Beim Zeus!« rief er aus. »Soll das heißen, daß Baynes ihn erwischt hat?«
»Allem Anschein nach«, erwiderte ich, indem ich die folgende Meldung überflog:
Großes Aufsehen erregte in Esher und Umgebung die Nachricht, daß gestern spät abends eine Verhaftung in Zusammenhang mit dem Mord von Oxshott erfolgt sei. Unsere Leser werden sich daran erinnern, daß vor einigen Tagen Mr. Garcia von Wisteria Lodge tot auf der Allmende von Oxshott aufgefunden wurde, wobei sein Leichnam Spuren brutalster Gewaltanwendung aufwies, und daß in derselben Nacht sein Diener und sein Koch die Flucht ergriffen, was darauf hinzudeuten schien, daß sie an dem Verbrechen beteiligt waren. Es wurden Vermutungen laut, die jedoch nie bewiesen werden konnten, der Verstorbene habe möglicherweise Wertgegenstände in seinem Hause verwahrt, deren Entwendung das Motiv für das Verbrechen gewesen sein könnte. Inspektor Baynes, in dessen Händen der Fall liegt, hat nichts unversucht gelassen, das Versteck der Flüchtigen ausfindig zu machen, wobei er sich von der wohlbegründeten Annahme leiten ließ, daß sie nicht sehr weit geflohen waren, sondern sich in irgendeinem für diesen Fall vorbereiteten Schlupfwinkel versteckt hielten. Die Entdeckung der beiden war indes von Anfang an abzusehen, da der Koch nach Aussagen von ein oder zwei Handelsreisenden, die ihn einmal zufällig durchs Fenster gesehen hatten ein Mann von äußerst auffallender Erscheinung ist – es handelt sich um einen riesigen, monströs aussehenden Mulatten mit einem gelblichen Gesicht von stark negroidem Einschlag. Dieser Mann wurde nach dem Verbrechen noch einmal gesehen, da er die Unverfrorenheit hatte, noch an demselben Abend wieder in Wisteria Lodge aufzutauchen, wo er von Constable Walters entdeckt und verfolgt wurde. Inspektor Baynes, der davon ausging, daß dieser Besuch nicht ohne eine bestimmte Absicht erfolgt war und sich deshalb vermutlich wiederholen würde, ließ das Haus sogleich räumen, legte jedoch ein paar seiner Leute im Gebüsch in den Hinterhalt. Der Mann ging in die Falle und wurde gestern abend nach einem Handgemenge, in dessen Verlauf der Wilde Constable Downing eine üble Bißwunde beibrachte, festgenommen. Wie verlautet, soll der Gefangene dem Richter vorgeführt und ein polizeilicher Antrag auf Untersuchungshaft gegen ihn gestellt werden; man erhofft sich von dieser Festnahme Entwicklungen von großer Tragweite.
»Wir müssen unbedingt sofort zu Baynes«, rief Holmes und griff nach seinem Hut. »Wir können ihn gerade noch abfangen, ehe er aufbricht.« Wir eilten die Dorfstraße entlang, und wie erwartet trafen wir den Inspektor im Begriff, sein Quartier zu verlassen.
»Schon die Zeitung gelesen, Mr. Holmes?« fragte er und streckte uns ein Exemplar entgegen.
»Ja, Baynes, ich habe sie gelesen. Halten Sie mich bitte nicht für anmaßend, aber ich möchte Ihnen eine freundschaftliche Warnung erteilen.«
»Eine Warnung, Mr. Holmes?«
»Ich habe mich recht eingehend mit diesem Fall befaßt, und ich bin gar nicht überzeugt, daß Sie auf dem rechten Weg sind. Ich möchte nicht, daß Sie sich zu weit vorwagen, es sei denn, Sie sind sich ganz sicher.«
»Sehr freundlich von Ihnen, Mr. Holmes.«
»Ich versichere Ihnen, ich will nur Ihr Bestes.«
Einen Moment lang schien es mir, als ob etwas wie ein Zwinkern über eines von Mr. Baynes' winzigen Äuglein huschte.
»Wir hatten vereinbart, Mr. Holmes, daß jeder von uns seinen eigenen Weg verfolgt; und genau das tu ich auch.«
»Oh, sehr wohl«, sagte Holmes. »Nichts für ungut.«
»Schon recht, Sir; ich bin überzeugt, daß Sie es gut mit mir meinen. Aber jeder hat nun mal so seine eigenen Methoden, Mr. Holmes. Sie haben die Ihren, und, wer weiß, vielleicht habe ich die meinen.«
»Wir wollen kein Wort mehr darüber verlieren.«
»Ich will Ihnen gern das Neueste berichten, jederzeit. Dieser Bursche ist ein Wilder, wie er im Buche steht; stark wie ein Zugpferd und grimmig wie der Teufel. Er hat Downing fast den Daumen durchgebissen, bis sie ihn endlich überwältigt hatten. Er spricht so gut wie kein Wort Englisch, alles, was wir aus ihm herausbekommen, sind ein paar Grunzlaute.«
»Und Sie glauben, beweisen zu können, daß er seinen ehemaligen Herrn ermordet hat?«
»Das habe ich nicht gesagt, Mr. Holmes; das habe ich nicht gesagt. Wir alle haben unsere kleinen Tricks. Versuchen Sie's auf Ihre Art, und ich versuch's auf meine. So hatten wir es abgemacht.«
Holmes zuckte die Achseln, als wir gingen.
»Ich werde aus dem Mann nicht schlau. Er scheint mit offenen Augen ins Unglück zu rennen. Nun, jeder von uns muß es wohl auf seine Art versuchen, wie er zu sagen pflegt, und schauen, was dabei herauskommt. Aber dennoch ist da was an diesem Inspektor Baynes, das ich nicht ganz verstehe.«
»Nehmen Sie doch gleich mal Platz in diesem Stuhl da, Watson«, sagte Sherlock Holmes, als wir wieder in unserem Logis im Bull angelangt waren. »Ich möchte Sie über den Stand der Dinge informieren, da ich heute abend womöglich Ihre Hilfe brauche. Lassen Sie mich Ihnen die Entwicklung dieses Falles darlegen, soweit ich diese nachzuzeichnen vermag. So simpel der Fall in seinen Hauptzügen auch anmuten mag, so birgt er doch ungeahnte Schwierigkeiten im Hinblick auf eine Verhaftung. In dieser Beziehung gilt es noch einige Lücken zu füllen.
Wenden wir uns nochmals dem Brief zu, der Garcia am Abend seines Todes übergeben wurde. Die Theorie von Baynes, daß Garcias Diener etwas mit der Sache zu tun haben sollten, können wir ruhig übergehen. Der Beweis für ihre Unrichtigkeit liegt darin, daß Garcia selbst den Besuch von Scott Eccles in seinem Hause arrangiert hat, was sich nur dadurch erklären läßt, daß er sich ein Alibi beschaffen wollte. Folglich war es Garcia, der in jener Nacht etwas vorhatte, und zwar allem Anschein nach etwas Verbrecherisches, bei dessen Ausführung er dann den Tod fand. Ich sage ›verbrecherisch‹, weil nur ein Mann mit verbrecherischen Absichten den Wunsch hat, für ein Alibi zu sorgen. Wer also kommt dann am ehesten für den Mord an ihm in Frage? Doch wohl diejenige Person, gegen die der verbrecherische Anschlag gerichtet war. So weit, scheint mir, bewegen wir uns auf sicherem Boden.
Damit wird nun aber auch ein Grund für das Verschwinden von Garcias Dienerschaft ersichtlich. Sie waren alle drei Komplizen bei diesem uns unbekannten Verbrechen. Klappte die Sache und kehrte Garcia zurück, so würde die Aussage des englischen Gentleman jeglichen Verdacht entkräften, und alles wäre in Ordnung. Indes, das Unternehmen war gefährlich, und kehrte Garcia innerhalb einer festgelegten Zeit nicht zurück, so mußte angenommen werden, daß er selbst ums Leben gekommen war. Für diesen Fall hatten sie deshalb vereinbart, daß sich die beiden Bediensteten an einen vorher bestimmten Ort begeben sollten, wo sie vor den Ermittlungen der Polizei in Sicherheit und außerdem in der Lage wären, den Anschlag später zu wiederholen. Das würde die vorliegenden Fakten doch umfassend erklären, nicht wahr?«
Das ganze Durcheinander begann sich vor meinem geistigen Auge zu entwirren, und ich fragte mich, wie jedesmal, warum mir dies alles nicht längst schon klar gewesen war.
»Aber warum sollte einer der Diener zurückkommen?«
»Man könnte sich vorstellen, daß er in der Aufregung der Flucht etwas Kostbares, etwas, von dem er sich nicht trennen konnte, zurückgelassen hat. Dies würde seine Hartnäckigkeit erklären, denken Sie nicht?«
»Nun ja, und was kommt als nächstes?«
»Als nächstes kommt der Brief, den Garcia während des Abendessens erhalten hat. Er verweist auf einen Verbündeten auf der anderen Seite. Es fragt sich bloß, wo diese andere Seite ist. Ich habe Ihnen bereits dargelegt, daß es sich um ein großes Haus handeln muß und daß die Anzahl großer Häuser begrenzt ist. Die ersten paar Tage hier in diesem Dorf verbrachte ich mit einer Reihe von Spaziergängen, auf denen ich – in den Pausen zwischen meinen botanischen Studien – alle großen Häuser in der Umgebung auskundschaftete und die Familiengeschichte ihrer Bewohner unter die Lupe nahm. Ein Haus, ein einziges nur, erregte meine Aufmerksamkeit. Es war der berühmte, alte, im Stile Jakobs des Ersten erbaute Landsitz High Gable, der eine Meile hinter Oxshott und weniger als eine halbe Meile vom Schauplatz der Tragödie entfernt liegt. Die anderen Landhäuser gehören alle prosaischen, ehrbaren Leuten, die ein Leben fern aller Abenteuerlichkeit fuhren. Mr. Henderson von High Gable jedoch ist nach allem, was man so hört, ein merkwürdiger Mann, dem merkwürdige Erlebnisse durchaus widerfahren könnten. Ich konzentrierte also meine Aufmerksamkeit auf ihn und seine Hausgenossen.
Ein eigenartiges Grüppchen, das kann ich Ihnen sagen, Watson – und der Mann selbst ist der eigenartigste von allen. Es gelang mir, unter einem plausiblen Vorwand bei ihm vorzusprechen, aber im grüblerischen Blick seiner dunklen, tiefliegenden Augen glaubte ich lesen zu können, daß er sich über den wahren Grund meines Besuches völlig im klaren war. Er ist ein kräftiger und energischer Mann um die fünfzig mit eisengrauem Haar, dicken, buschigen, schwarzen Augenbrauen, dem Gang eines Hirsches und dem Auftreten eines Imperators – ein gefährlicher, herrischer Mensch, hinter dessen pergamentenem Gesicht der Jähzorn lauert. Henderson ist entweder Ausländer öder hat längere Zeit in den Tropen gelebt, denn er wirkt gelblich und ausgedörrt, ist aber zäh wie Peitschenleder. Sein Freund und Sekretär, Mr. Lucas, ist ohne jeden Zweifel Ausländer; er ist schokoladenbraun, durchtrieben, glatt und katzenhaft, seine Sprechweise ist von giftiger Sanftheit. Sie sehen, Watson, jetzt haben wir bereits zwei Gruppen von Ausländern – eine in Wisteria Lodge und eine in High Gable –, womit sich die Lücken allmählich schließen.
Diese beiden Männer, zwischen denen eine enge und vertraute Freundschaft besteht, bilden das Zentrum des Haushalts; daneben gibt es aber eine Person, die in unserem speziellen Zusammenhang vielleicht noch wichtiger ist. Henderson hat zwei Kinder, Mädchen im Alter von elf und dreizehn Jahren, und eine Miss Burnet, eine Engländerin von ungefähr vierzig Jahren, ist ihre Gouvernante. Zudem gibt es da noch einen ergebenen Diener. Diese kleine Gruppe bildet die Familie im engeren Sinn, denn sie reisen gemeinsam in der Welt umher, und Henderson ist ein großer Reisender, ein Mensch, der immer auf dem Sprung ist. Erst vor ein paar Wochen ist er, nach einjähriger Abwesenheit, wieder nach High Gable zurückgekehrt. Beizufügen wäre noch, daß er enorm reich ist und jegliche seiner Launen mit Leichtigkeit befriedigen kann. Im übrigen wimmelt es in dem Haus von Dienern, Lakaien, Dienstmädchen und dem sonstigen überfütterten, unterbeschäftigten Personal eines englischen Landhauses.
All dies habe ich teils durch Dorfklatsch, teils durch eigene Beobachtung in Erfahrung gebracht. Es gibt kein willigeres Werkzeug als einen entlassenen, von Groll erfüllten Diener, und ich hatte das Glück, so einen aufzugabeln. Ich rede von Glück, aber natürlich wäre es mir kaum über den Weg gelaufen, wenn ich nicht danach Ausschau gehalten hätte. Jeder hat so seine Methode, wie Baynes zu sagen pflegt. Und meiner Methode ist es zu verdanken, daß ich John Warner, den ehemaligen Gärtner von High Gable, aufgegabelt habe, der von seinem anmaßenden Brotherrn in einer Aufwallung von Zorn gefeuert worden war. Er wiederum hatte Freunde unter dem Hauspersonal, das dem Herrn ohne Ausnahme mit Furcht und Abscheu gegenübersteht. Und damit hatte ich meinen Schlüssel zu den Geheimnissen des Hauses.
Seltsame Leute, Watson! Ich will nicht behaupten, daß mir schon alles bis ins letzte klar ist, aber seltsame Leute sind sie allemal. Das Haus hat zwei Flügel, und die Dienerschaft lebt in dem einen, die Familie im anderen. Die beiden Gruppen kommen nicht miteinander in Berührung, mit Ausnahme von Hendersons Leibdiener, welcher der Familie das Essen serviert. Alles wird zu einer bestimmten Tür gebracht, der einzigen Verbindung zwischen den beiden Hausteilen. Die Gouvernante und die Kinder gehen kaum je außer Haus, es sei denn in den Garten. Henderson macht keinen Schritt ohne Begleitung. Sein dunkler Sekretär ist wie sein Schatten. Unter der Dienerschaft wird gemunkelt, der Hausherr habe eine entsetzliche Furcht vor irgend etwas. ›Hat dem Teufel für Geld seine Seele verkauft‹, sagt Warner, ›und fürchtet sich jetzt, daß sein Gläubiger auftaucht und sein Eigentum verlangt.‹ Niemand hat die leiseste Ahnung, woher diese Leute kommen oder wer sie sind. Sie sind äußerst gewalttätig. Henderson ist schon zweimal mit der Hundepeitsche auf jemanden losgegangen, und nur sein voller Geldbeutel und großzügige Abfindungen haben verhindert, daß er vor Gericht kam.
Und nun, Watson, wollen wir unsern Fall einmal im Licht dieser neuen Informationen betrachten. Es ist so gut wie sicher, daß der Brief aus diesem merkwürdigen Haus kam und eine Aufforderung an Garcia war, einen bereits geplanten Anschlag auszuführen. Wer hat diese Mitteilung geschrieben? Es war jemand im Innern der Festung, und es war eine Frau. Wer anderes kann es gewesen sein als Miss Burnet, die Gouvernante? All unsere Überlegungen scheinen in diese Richtung zu weisen. Auf jeden Fall dürfen wir dies als Hypothese annehmen und schauen, was für Konsequenzen sich daraus ergeben würden. Ich darf hinzufügen, daß meine erste Vermutung, es könnte eine Liebesgeschichte in diese Sache hineinspielen, aufgrund des Alters und der Wesensart von Miss Burnet mit Sicherheit als nichtig ausgeschlossen werden kann.
Wenn sie die Nachricht geschrieben hat, so war sie vermutlich eine Freundin und Verbündete von Garcia. Wie dürfte sie sich also verhalten haben, als sie von seinem Tod erfuhr? Falls seine Unternehmung eine verbrecherische war, so kam wohl kein Wort über ihre Lippen. In ihrem Herzen blieben aber gleichwohl Bitternis und Haß gegen diejenigen zurück, die ihn getötet hatten, und soweit dies in ihrer Macht stünde, würde sie wohl helfen, ihn zu rächen. Könnten wir sie also aufsuchen und für unsere Zwecke einzuspannen versuchen? Dies waren meine ersten Gedanken. Aber damit kommen wir zu einem düsteren Kapitel. Miss Burnet ist seit der Mordnacht von keiner Menschenseele mehr gesehen worden. Sie ist seit jenem Abend wie vom Erdboden verschwunden. Lebt sie überhaupt noch? Hat sie vielleicht in derselben Nacht den Tod gefunden wie ihr Freund, den sie herbeigerufen hatte? Oder wird sie lediglich gefangengehalten? Das ist der Punkt, den wir noch klären müssen.
Ermessen Sie die Schwierigkeit der Lage, Watson. Wir haben keinerlei Handhabe für einen Haussuchungsbefehl. Unsere ganze Theorie würde einem Richter wohl als Hirngespinst erscheinen. Das Verschwinden der Frau hat kein Gewicht, da es in diesem seltsamen Haushalt durchaus vorkommen kann, daß eines seiner Mitglieder eine Woche lang unsichtbar bleibt. Und doch könnte es sein, daß sie sich jetzt in diesem Augenblick in Lebensgefahr befindet. Doch ich kann nichts anderes tun, als das Haus im Auge zu behalten und meinen Agenten Warner beim Tor Wache halten zu lassen. Aber wir können es nicht dulden, daß eine derartige Situation andauert. Wenn das Gesetz nichts tun kann, so müssen wir eben auf eigene Gefahr handeln.«
»Was schlagen Sie vor?«
»Ich weiß, wo ihr Zimmer liegt. Es ist vom Dach eines Nebengebäudes aus erreichbar. Mein Vorschlag ist, daß Sie und ich heute abend dorthin gehen und ins Zentrum des Rätsels vorzudringen versuchen.«
Ich muß gestehen, daß mich diese Aussicht wenig lockte. Das alte Haus mit seiner mordschwangeren Atmosphäre, seine eigenartigen und furchterregenden Bewohner, die unbekannten Gefahren auf dem Weg dorthin und die Tatsache, daß wir uns rechtlich gesehen in eine schiefe Lage brachten, dies alles wirkte zusammen und dämpfte meinen Eifer doch erheblich. Aber es lag etwas in Holmes' messerscharfer Argumentationsweise, das es unmöglich machte, von einer Unternehmung, die ihm wichtig schien, Abstand zu nehmen. Man wußte einfach, daß sich so, und nur so, eine Lösung finden würde. Ich drückte ihm also schweigend die Hand, und damit waren die Würfel gefallen.
Doch sollte unseren Ermittlungen kein so abenteuerliches Ende beschieden sein. Es war ungefähr fünf Uhr, und der Märzabend begann schon hereinzubrechen, als ein aufgeregter Mann in ländlichem Aufzug zu uns ins Zimmer stürzte.
»Sie sind weg, Mr. Holmes. Sie sind mit dem letzten Zug gefahren. Die Lady hat sich losgerissen; ich hab sie unten in 'ner Droschke.«
»Ausgezeichnet, Warner!« rief Holmes, von seinem Stuhl aufspringend. »Watson, die Lücken schließen sich zusehends.«
In der Droschke saß eine Frau, die vor nervlicher Erschöpfung beinahe zusammenbrach. Ihr adlerartiges, ausgezehrtes Gesicht trug die Spuren einer eben erst durchlittenen Tragödie. Ihr Kopf lag matt auf ihrer Brust, als sie ihn aber hob und ihren trüben Blick uns zuwandte, bemerkte ich, daß ihre Pupillen wie winzige Punkte in einer großen, grauen Iris schwammen. Sie stand unter der Wirkung von Opium.
»Ich hab aufgepaßt am Tor, genau wie Sie mich geheißen haben, Mr. Holmes«, sagte unser Kundschafter, der entlassene Gärtner. »Als der Wagen herauskam, bin ich ihm zum Bahnhof gefolgt. Sie war wie eine Schlafwandlerin, aber als sie dann versucht haben, sie in den Zug zu kriegen, ist sie plötzlich lebendig geworden und hat sich gewehrt. Sie haben sie in ein Abteil gestoßen, aber sie konnte sich wieder herauskämpfen. Da hab ich ihr geholfen, sie in eine Droschke gesetzt, und da wären wir nun. Das Gesicht am Fenster des Abteils, als ich mit ihr weggefahren bin, das werd ich mein Lebtag nicht vergessen. Ich hätt wohl nicht mehr lange zu leben, wenn's nach ihm ginge, dem schwarzäugigen, scheelen gelben Teufel dem!«
Wir trugen Miss Burnet nach oben, legten sie auf das Sofa, und ein paar Tassen sehr starken Kaffees befreiten ihren Geist bald aus der Benebelung durch das Rauschgift. Holmes hatte Baynes herbeirufen lassen und ihm die Situation in aller Kürze erklärt.
»Nun, Sir, damit verschaffen Sie mir genau die Zeugenaussage, die mir noch gefehlt hat«, sagte der Inspektor mit Wärme und schüttelte meinem Freund die Hand. »Ich war von Anfang an auf derselben Fährte wie Sie.«
»Was? Sie waren hinter Henderson her?«
»Nun, Mr. Holmes, als Sie in High Gable im Gebüsch herumgekrochen sind, habe ich in der angrenzenden Schonung auf einem Baum gesessen und auf Sie hinabgeschaut. Es ging nur noch darum, wer von uns als erster einen Beweis in der Hand haben würde.«
»Aber weshalb haben Sie dann den Mulatten festnehmen lassen?«
Baynes schmunzelte.
»Ich war mir sicher, daß Henderson, wie der Mann sich nennt, ahnte, daß man ihn verdächtigte, und, solange er sich in Gefahr fühlte, ruhig bleiben und keine weiteren Schritte unternehmen würde. Ich ließ den falschen Mann festnehmen, damit er sich in dem Glauben wiegte, wir kümmerten uns nicht mehr um ihn. Ich rechnete damit, daß er sich dann verdrücken würde und wir eine Chance hätten, an Miss Burnet heranzukommen.«
Holmes legte dem Inspektor die Hand auf die Schulter.
»Sie werden es weit bringen in Ihrem Beruf; Sie haben Instinkt und Intuition«, sagte er.
Baynes errötete vor Freude.
»Ich hatte die ganze Woche über einen Beamten in Zivil am Bahnhof stehen. Wo immer die Leute von High Gable hingehen mögen, er wird sie nicht aus den Augen verlieren. Aber er muß sich in einer Zwickmühle gefühlt haben, als Miss Burnet sich losgerissen hat. Nun, wie dem auch sei, Ihr Mann hat sie ja dann aufgegabelt, und die Sache ist gut ausgegangen. Ohne ihre Aussage können wir keine Verhaftung vornehmen, so viel steht fest; je eher sie also sprechen kann, desto besser.«
»Sie kommt mit jeder Minute mehr zu Kräften«, sagte Holmes mit einem Blick auf die Gouvernante. »Aber sagen Sie mir, Baynes, wer ist denn dieser Henderson?«
»Henderson«, erwiderte der Inspektor, »ist Don Murillo, einstmals genannt ›Der Tiger von San Pedro‹.«
Der Tiger von San Pedro! Blitzartig fiel mir die ganze Geschichte dieses Mannes wieder ein. Den Namen hatte er sich erworben als sittenlosester und blutrünstigster Tyrann, der je ein Land, das sich zur Zivilisation zählte, regiert hatte. Stärke, Furchtlosigkeit und Tatkraft waren die Tugenden, dank denen es ihm gelang, einem sich ohnmächtig duckenden Volk zehn oder zwölf Jahre lang eine Herrschaft des abscheulichsten Lasters aufzuzwingen. Er war der Schrecken ganz Zentralamerikas. Schließlich kam es zu einer allgemeinen Erhebung gegen ihn. Doch war er ebenso gerissen wie grausam, und bei den ersten Gerüchten von aufkommenden Unruhen ließ er insgeheim all seine Schätze auf ein mit getreuen Anhängern bemanntes Schiff bringen. Der Palast, den die Aufständischen tags darauf stürmten, war leer. Der Diktator, seine zwei Kinder, sein Sekretär und all seine Reichtümer waren ihnen entwischt. Von jenem Tag an war er wie vom Erdboden verschluckt, und seine Identität hatte in der europäischen Presse seither des öftern zu Spekulationen Anlaß gegeben.
»Jawohl, Sir, Don Murillo, der Tiger von San Pedro«, wiederholte Baynes. »Wenn Sie nachschlagen, so werden Sie herausfinden, daß die Nationalfarben von San Pedro Grün und Weiß sind, dieselben Farben wie in der Nachricht, Mr. Holmes. Henderson hat er sich genannt, aber ich hab seine Spur zurückverfolgt, über Paris, Rom und Madrid bis nach Barcelona, wo sein Schiff anno 86 angekommen ist. Die ganze Zeit über haben sie ihn gesucht, um Rache an ihm zu nehmen, aber erst kürzlich sind sie ihm auf die Schliche gekommen.«
»Aufgespürt haben sie ihn schon vor einem Jahr«, sagte Miss Burnet, die sich aufgesetzt hatte und dem Gespräch aufmerksam folgte. »Es wurde schon einmal ein Anschlag auf ihn verübt, aber irgendein böser Dämon muß ihn beschützt haben. Und auch jetzt wieder ist es der edle, wackere Garcia, der sein Leben lassen mußte, während dieses Ungeheuer unversehrt davongekommen ist. Aber ein anderer wird kommen, und danach wieder ein anderer, bis der Gerechtigkeit eines Tages Genüge getan ist; das weiß ich so gewiß, wie daß die Sonne morgen wieder aufgeht.« Ihre mageren Hände ballten sich zu Fäusten, und ihr abgezehrtes Gesicht wurde weiß vor leidenschaftlichem Haß.
»Aber was haben denn Sie mit dieser Sache zu tun, Miss Burnet?« fragte Holmes. »Wie kommt eine englische Lady dazu, sich an einem solch mörderischen Unternehmen zu beteiligen?«
»Ich nehme daran teil, weil es auf dieser Welt keinen anderen Weg gibt, Gerechtigkeit zu erlangen. Was schert sich das englische Gesetz um die Ströme von Blut, die vor Jahren in San Pedro vergossen wurden, oder um die Schiffsladung von Schätzen, die dieser Mann gestohlen hat? Für euch ist es, als seien diese Verbrechen auf einem anderen Stern begangen worden. Wir aber wissen Bescheid. Wir haben durch Kummer und Leid die Wahrheit erfahren. Für uns gibt es in der Hölle keinen Teufel wie Juan Murillo – und hier auf Erden keinen Seelenfrieden8, solange seine Opfer nach Vergeltung schreien.«
»Er war bestimmt genau so, wie Sie sagen«, warf Holmes ein. »Ich habe das Schlimmste über ihn gehört. Aber inwiefern sind Sie davon betroffen?«
»Ich will Ihnen alles erzählen. Es gehörte zur Politik dieses Scheusals, jeden Mann, der sich dereinst zu einem ernstzunehmenden Rivalen entwickeln könnte, unter dem einen oder anderen Vorwand aus dem Weg zu räumen. Mein Gatte – ja, mein richtiger Name ist Señora Victor Durando – war der Gesandte von San Pedro in London. Dort haben wir uns kennengelernt und geheiratet. Nie hat ein edlerer Mann als er auf Erden gelebt. Unseligerweise aber hörte Murillo von seinen hervorragenden Qualitäten, berief ihn unter einem Vorwand zurück und ließ ihn erschießen. Sein Schicksal vorausahnend, hatte er es abgelehnt, mich mitzunehmen. Sein Vermögen wurde konfisziert, mir blieb nichts als ein Notgroschen und ein gebrochenes Herz.
Dann kam der Sturz des Tyrannen. Er entwischte genau so, wie Sie es eben geschildert haben. Aber all die Unzähligen, deren Leben er zerstört hatte, deren Nächste und Liebste unter seinen Händen Folter und Tod erlitten hatten, waren nicht gewillt, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Sie schlössen sich zu einem Bund zusammen, der nicht eher aufgelöst werden sollte, als bis das Werk vollbracht war. Sobald wir hinter der Maske von Henderson den gefallenen Despoten ausgemacht hatten, fiel mir die Aufgabe zu, mich in seinen Haushalt einzuschleichen und die anderen über jede seiner Bewegungen auf dem laufenden zu halten. Dies gelang mir, indem ich mir die Stellung als Gouvernante in seinem Hause verschaffte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, daß die Frau, die ihm bei allen Mahlzeiten gegenübersaß, die Gattin eines Mannes war, dessen Lebenslicht er von einer Stunde auf die andere ausgelöscht hatte. Ich zeigte ihm ein lächelndes Gesicht, kam meinen Pflichten gegenüber den Kindern nach und wartete, bis die Zeit reif wäre. Ein erster Anschlag wurde in Paris auf ihn verübt und mißlang. Darauf reisten wir in hektischem Zickzack durch ganz Europa, um die Verfolger abzuschütteln, und kehrten schließlich in dieses Haus zurück, das er bei seinem ersten Aufenthalt in England erworben hatte.
Aber auch hier warteten die Sachwalter der Gerechtigkeit auf ihn. Garcia, welcher der Sohn des ehemaligen obersten Würdenträgers von San Pedro ist, wußte wohl, daß er hierher zurückkehren würde, und erwartete ihn zusammen mit zwei getreuen Gefährten niederen Standes, die von demselben Feuer der Rache beseelt waren wie er. Tagsüber Heß sich nicht viel ausrichten, denn Murillo war überaus vorsichtig und ging ohne seinen Trabanten Lucas, oder vielmehr Lopez, wie dieser sich in den Tagen seiner Machtfülle noch genannt hatte, nie aus. Nachts jedoch schlief er allein, und dann konnte ein Rächer Hand an ihn legen. An einem bestimmten, vorher vereinbarten Abend übersandte ich meinem Freund die letzten Instruktionen, denn der Mann war ständig auf der Hut und wechselte öfters das Schlafzimmer. Ich sollte dafür besorgt sein, daß alle Türen offen waren, und ein grünes oder weißes Licht in einem Fenster, das auf die Einfahrt blickte, sollte ihm signalisieren, ob alles in Ordnung war oder ob der Anschlag besser auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden sollte.
Doch es ging alles schief. Aus irgendeinem Grund hatte ich den Verdacht des Sekretärs Lopez erregt. Er schlich mir nach und stürzte sich auf mich, als ich eben meine Mitteilung fertiggeschrieben hatte. Er und sein Gebieter schleiften mich in mein Zimmer, wo sie über mich zu Gericht saßen und mich des Verrats schuldig befanden. Sie hätten mich wohl auf der Stelle mit ihren Messern durchbohrt, wenn sie eine Möglichkeit gesehen hätten, sich den Folgen einer solchen Tat zu entziehen. Endlich, nach langen Erörterungen, kamen sie zu dem Schluß, daß meine Ermordung zu gefährlich wäre. Sie beschlossen jedoch, sich Garcias ein für allemal zu entledigen. Sie hatten mich geknebelt, und Murillo verdrehte mir den Arm, bis ich ihnen die Adresse verriet. Bei meiner Seele, er hätte ihn mir gleich ganz abdrehen können, hätte ich gewußt, was Garcia bevorstand. Lopez schrieb die Adresse auf den Brief, den ich verfaßt hatte, versiegelte ihn mit Hilfe seines Manschettenknopfes und ließ ihn durch José, den Diener, überbringen. Wie sie ihn ermordet haben, weiß ich nicht; sicher ist nur, daß er durch Murillos Hand gefallen ist, denn Lopez war bei mir geblieben, um mich zu bewachen. Ich nehme an, er hat ihm bei den Stechginsterbüschen, zwischen denen der Weg sich hindurchschlängelt, aufgelauert, und als Garcia da vorbeikam, hat er ihn niedergemacht. Zuerst hatten sie vor, ihn das Haus betreten zu lassen und ihn als auf frischer Tat ertappten Einbrecher zu töten; dann überlegten sie sich jedoch, daß im Falle einer polizeilichen Untersuchung ihre wahre Identität unweigerlich ans Licht der Öffentlichkeit käme, wodurch sie weiteren Anschlägen ausgesetzt würden. Von Garcias Tod erhofften sie sich allerdings auch eine abschreckende Wirkung auf andere und somit das Ende ihrer Nachstellungen.
Damit wäre für sie nun alles in Ordnung gewesen, hätten sie nicht in mir eine Mitwisserin ihrer Tat gehabt. Ich habe keinen Zweifel, daß mein Leben zu Zeiten an einem dünnen Faden hing. Sie sperrten mich in meinem Zimmer ein, versetzten mich mit entsetzlichsten Drohungen in Angst und Schrecken, mißhandelten mich aufs grausamste, um meinen Lebensmut zu brechen – sehen Sie nur diese Stichwunde hier in meiner Schulter und die blauen Flecke, mit denen meine Arme von oben bis unten bedeckt sind –, und als ich einmal aus dem Fenster um Hilfe zu rufen versuchte, stopften sie mir einen Knebel in den Mund. Fünf Tage lang währte diese furchtbare Gefangenschaft, und ich erhielt kaum genug Nahrung, um Leib und Seele zusammenzuhalten. Heute nachmittag endlich wurde mir ein gutes Mittagessen gebracht, aber kaum hatte ich es zu mir genommen, spürte ich, daß ihm ein Rauschgift beigemengt worden war. Ich erinnere mich wie im Traum, halb geführt, halb zum Wagen getragen worden zu sein; im selben Zustand wurde ich zum Zug geschafft. Erst da, als die Räder sich schon beinah in Bewegung setzten, kam mir plötzlich zum Bewußtsein, daß ich selbst meine Freiheit in der Hand hatte. Ich sprang hinaus, sie versuchten, mich zurückzuzerren, und ohne die Hilfe dieses braven Mannes hier, der mich zu einer Droschke führte, wäre es mir nie gelungen, zu entkommen. Nun aber bin ich Gott sei Dank auf immer ihrer Gewalt entronnen.«
Wir alle hatten diesem bemerkenswerten Bericht mit gebannter Aufmerksamkeit gelauscht. Es war Holmes, der schließlich das Schweigen brach.
»Damit sind wir aber noch nicht am Ende unserer Schwierigkeiten«, sagte er kopfschüttelnd. »Die Polizeiarbeit hätten wir zwar abgeschlossen, aber die juristische Arbeit fangt erst an.«
»Genau«, pflichtete ich ihm bei. »Ein spitzfindiger Anwalt könnte die Sache immer noch so drehen, daß sie sich wie ein Akt der Notwehr ausnehmen würde. Mögen auch Hunderte von Verbrechen im Hintergrund liegen, so ist es doch nur dieses eine, für das sie belangt werden können.«
»Ach was«, sagte Baynes munter, »da habe ich aber eine bessere Meinung von unseren Gesetzen. Notwehr ist eine Sache; aber einen Mann kaltblütigen eine Falle zu locken, um ihn zu ermorden, ist eine andere, ganz gleich, was für Gefahren von ihm drohen mögen. Warten Sie's nur ab, wir alle kommen schon zu unserem Recht, wenn wir bei der nächsten Tagung des Geschworenengerichts von Guildford die Bewohner von High Gable wiedersehen.«
Es ist indessen eine historische Tatsache, daß es noch eine Weile dauern sollte, bis der Tiger von San Pedro seine verdiente Strafe fand. Dreist und gerissen, wie er und sein Spießgeselle nun mal waren, schüttelten sie ihren Verfolger ab, indem sie eine Pension in der Edmonton Street betraten und durch den Hintereingang, der auf den Curzon Square geht, wieder verließen. Von jenem Tag an wurden sie in England nicht mehr gesehen. Etwa sechs Monate später wurden in Madrid der Marquese von Montalva und sein Sekretär, ein Signor Rulli, in ihrem Zimmer im Hotel Escorial ermordet. Das Verbrechen wurde den Nihilisten zugeschrieben, und die Mörder wurden nie gefaßt. Inspektor Baynes besuchte uns in der Baker Street mit einer gedruckten Beschreibung des dunklen Gesichts des Sekretärs und der herrischen Gesichtszüge, des magnetischen Blicks der schwarzen Augen und der buschigen Augenbrauen seines Herrn. Es gab keinen Zweifel, die Gerechtigkeit hatte die beiden, wenn auch spät, ereilt.
»Ein chaotischer Fall, mein lieber Watson«, sagte Sherlock Holmes bei seiner Abendpfeife. »Es wird Ihnen kaum gelingen, ihn in der gedrängten Form, die Ihnen so sehr am Herzen liegt, zu präsentieren. Er erstreckt sich über zwei Kontinente, umfaßt zwei Gruppen geheimnisumwitterter Personen und wird überdies noch kompliziert durch die äußerst respektable Mitwirkung unseres Freundes Scott Eccles, dessen Einbeziehung davon zeugt, daß der verstorbene Garcia ein talentierter Ränkeschmied und ein Mann mit einem stark entwickelten Selbsterhaltungstrieb war. Bemerkenswert an diesem Fall ist eigentlich allein die Tatsache, daß inmitten dieses undurchdringlichen Dschungels von Möglichkeiten wir und unser geschätzter Mitarbeiter, der Inspektor, das Wesentliche immer fest im Auge behielten und so dem gekrümmten und gewundenen Pfade folgen konnten. Gibt es noch irgendeinen Punkt, der Ihnen nicht ganz klar ist?«
»Der Grund für die Rückkehr des Mulattenkochs ...«
»Ich denke, den Anlaß dazu dürfte das seltsame Geschöpf in der Küche gegeben haben. Der Mann war ein primitiver Wilder aus den Urwäldern von San Pedro, und dieser Gegenstand war sein Fetisch. Als er und sein Gefährte zu dem vorher bestimmten Versteck geflüchtet waren, wo zweifellos noch ein weiterer Verbündeter ihrer harrte, hatte ihn sein Gefährte überredet, einen so kompromittierenden Einrichtungsgegenstand zurückzulassen. Der Mulatte hing jedoch so sehr daran, daß es ihn am folgenden Tag zu dem Haus zurücktrieb, wo er aber, als er durchs Fenster spähte, feststellen mußte, daß Constable Walters die Stellung hielt. Er wartete noch einmal drei Tage, dann aber trieb ihn seine Frömmigkeit oder sein Aberglaube zu einem weiteren Versuch. Inspektor Baynes, der mit der ihm eigenen Geriebenheit den Vorfall mir gegenüber heruntergespielt hatte, war sich seiner Bedeutung in Tat und Wahrheit wohl bewußt und stellte dem Mann eine Falle, in die dieser dann auch prompt gegangen ist. Sonst noch etwas, Watson?«
»Dieser zerfetzte Vogel, der Eimer voll Blut, die verkohlten Knochen, all das rätselhafte Zeug in jener schauerlichen Küche.«
Lächelnd schlug Holmes eine Eintragung in seinem Notizbuch auf.
»Ich habe einen Vormittag im British Museum verbracht, um dies und noch ein paar andere Punkte nachzulesen. Dies hier ist ein Zitat aus Eckermanns Voodoo-Kult und Negerreligionen:
Der echte Voodoo-Anhänger nimmt nichts Wichtiges in Angriff, ohne zuvor bestimmte Opfer dargebracht zu haben, deren Zweck es ist, seine unreinen Götter günstig zu stimmen. In extremen Fällen kommt es bei diesen Ritualen zur Opferung von Menschen, verbunden mit Kannibalismus. Gebräuchlichere Opfer sind ein weißer Hahn, der lebendig in Stücke gerissen wird, oder eine schwarze Ziege, der die Kehle durchgeschnitten und deren Körper dann verbrannt wird.
Wie Sie sehen, ist unser wilder Freund bei seinem Ritual also ganz orthodox vorgegangen. Grotesk, Watson«, fügte Holmes hinzu, während er bedächtig sein Notizbuch zuklappte; »aber wie ich bereits die Gelegenheit hatte zu bemerken, vom Grotesken zum Entsetzlichen ist es nur ein Schritt.«