Читать книгу Der Weg ins Freie - Артур Шницлер, Arthur Schnitzler - Страница 3

Kapitel 3

Оглавление

Georg und Heinrich saßen von ihren Rädern ab. Die letzten Villen lagen hinter ihnen, und die breite Straße, allmählich ansteigend, führte in den Wald. Das Laub hing noch ziemlich dicht an den Bäumen, aber jeder leise Windhauch nahm Blätter mit und ließ sie langsam herabsinken. Herbstglanz lag über den gelbrötlichen Hügeln. Die Straße stieg höher an, an einem stattlichen Wirtshausgarten vorbei, zu dem steinerne Stufen hinaufführten. Nur wenige Leute saßen im Freien, die meisten in der Glasveranda, als trauten sie nicht ganz der Wärme dieses schmeichlerischen Spätoktobertags, durch den doch immer wieder eine gefährliche Kühle geweht kam. Georg dachte mit ödem Erinnern des Winterabends, an dem er und Frau Marianne als einzige Gäste hier eingekehrt waren. Gelangweilt war er an ihrer Seite gesessen, hatte ungeduldig ihr plätscherndes Gerede über das Konzert von gestern angehört, in dem Fräulein Bellini seine Lieder gesungen; und als er auf der Rückfahrt wegen Mariannens Ängstlichkeit schon in einer Vorstadtstraße aus dem Wagen steigen mußte, hatte er wie erlöst aufgeatmet. Ein ähnliches Gefühl der Befreitheit kam freilich beinahe jedesmal über ihn, wenn er, auch nach schönerem Zusammensein, von einer Geliebten Abschied nahm. Selbst als er Anna an ihrem Haustor verlassen hatte, vor drei Tagen, nach dem ersten Abend vollkommenen Glücks, war er sich, früher als jeder anderen Regung, der Freude bewußt geworden, wieder allein zu sein. Und gleich darauf, ehe noch das Gefühl des Danks und die Ahnung einer wirklichen Zusammengehörigkeit mit diesem sanften, sein ganzes Wesen mit so viel Innigkeit umschließenden Geschöpf in seiner Seele emporzudringen vermochte, flog durch sie ein sehnsuchtsvoller Traum von Fahrten über ein schimmerndes Meer, von Küsten, die sich verführerisch nähern, von Spaziergängen an Ufern, die am nächsten Tage wieder verschwinden, von blauen Fernen, Ungebundenheit und Alleinsein. Am andern Morgen, da den Erwachenden der Duft des vergangenen Abends erinnerungs- und verheißungsschwer umfloß, wurde die Reise natürlich aufgeschoben, bis zu einer spätern, vielleicht nicht gar so fernen, doch gelegeneren Zeit. Denn daß auch dieses Abenteuer, so ernst und hold es begonnen, zu einem Ende bestimmt war, wußte Georg selbst in dieser Stunde, nur ohne jeden Schauer. Anna hatte sich ihm gegeben, ohne mit einem Wort, einem Blick, einer Gebärde anzudeuten, daß nun für sie gewissermaßen ein neues Kapitel ihres Lebens anfing. Und so mußte von ihr, das fühlte Georg tief, auch der Abschied ohne Düsterkeit und Schwere sein: ein Händedruck, ein Lächeln und ein stilles »es war schön«. Und leichter noch war ihm zumute geworden, als sie ihm bei der nächsten Begegnung mit einfach innigem Gruß entgegenkam, ohne die befangenen Töne anschmiegender Wehmut, oder erfüllten Schicksals, wie er sie in den Worten mancher andern beben gehört hatte, die zu einem solchen Morgen nicht zum erstenmal erwacht war.

Eine mattgezogene Berglinie erschien in der Ferne und verschwand wieder, als die Straße durch dichtern Waldstand in die Höhe führte. Laub- und Nadelholz wuchsen friedlich nebeneinander, und durch die stillere Farbe der Tannen schimmerte das herbstlich gefärbte Blätterwerk von Buchen und Birken. Wanderer zeigten sich, einige mit Rucksack, Bergstock und Nagelschuhen wie zu bedeutenden Gebirgstouren ausgerüstet; zuweilen, in beglückter Schnelle, sausten Radfahrer die Straße hinab.

Heinrich erzählte seinem Gefährten von einer Radfahrt, die er anfangs September unternommen hatte, den Rhein entlang.

»Ist es nicht sonderbar«, sagte Georg, »so viel bin ich schon in der Welt herumgekommen, und die Gegend, wo meine Ahnen zu Hause waren, kenn ich noch gar nicht.«

»Wirklich?« fragte Heinrich. »Und es regt sich gar nicht in Ihnen, wenn Sie das Wort Rhein aussprechen hören?«

Georg lächelte. »Es sind immerhin bald hundert Jahre, daß meine Urgroßeltern aus Biebrich fortgezogen sind.«

»Warum lächeln Sie, Georg? Daß meine Ahnen aus Palästina fortgewandert sind, ist noch viel länger her, und doch fordern manche, sonst ganz logische Leute, daß mein Herz in Heimweh nach diesem Lande bebe.«

Georg schüttelte ärgerlich den Kopf. »Was kümmern Sie sich immerfort um diese Leute. Es wird wirklich schon zur fixen Idee bei Ihnen.«

»Ach Sie glauben, ich denke an die Antisemiten? Durchaus nicht. Denen nehm ichs auch weiter nicht übel, manchmal wenigstens. Aber fragen Sie nur einmal unsern Freund Leo, wie er über diese Angelegenheit denkt.«

»Ach so, den meinen Sie. Na, der faßt doch das nicht so wörtlich auf, sondern gewissermaßen symbolisch – – – oder politisch«, setzte er unsicher hinzu.

Heinrich nickte. »Diese beiden Begriffe liegen vielleicht hart nebeneinander in Köpfen solcher Art.« Er versank für eine Weile in Nachdenken, schob sein Rad in leichten, ungeduldigen Stößen vorwärts und war gleich wieder um ein paar Schritte voraus. Dann begann er wieder von seiner Septemberreise zu sprechen. Beinahe mit Ergriffenheit dachte er an sie zurück. Alleinsein, Fremde, Bewegung, war es nicht ein dreifaches Glück, das er genossen? »Was für ein Gefühl von innerer Freiheit mich damals durchfloß«, sagte er, »kann ich Ihnen kaum beschreiben. Kennen Sie diese Stimmungen, in denen alle Erinnerungen, ferne und nahe, sozusagen ihre Lebensschwere verlieren; alle Menschen, mit denen man sonst irgendwie verbunden ist, durch Schmerzen, Sorgen, Zärtlichkeit, einen nur mehr wie Schatten umschweben, oder richtiger gesagt, wie Gestalten, die man selbst erfunden hat? Und die erfundenen Gestalten, die stellen sich natürlich auch ein und sind mindestens geradso lebendig wie die Menschen, an die man sich eben als an wirkliche erinnert. Da entwickeln sich dann die allerseltsamsten Beziehungen zwischen den wirklichen und den erfundenen Figuren. Ich könnte Ihnen von einer Unterhaltung berichten, die zwischen meinem verstorbenen Großonkel, der Rabbiner war, und dem Herzog Heliodor stattgefunden hat, wissen Sie, mit dem, der sich in meinem Opernstoff herumtreibt, – eine Unterhaltung so amüsant, so tiefsinnig, wie im allgemeinen weder das Leben noch Operntexte zu sein pflegen… Ja, wundervoll sind solche Reisen! Und so geht es durch Städte, die man niemals gesehen hat und vielleicht nie wieder sehen wird, an lauter unbekannten Gesichtern vorüber, die gleich wieder für alle Ewigkeit verschwinden… und dann saust man weiter auf heller Straße zwischen Strom und Weingeländen. Wahrhaft reinigend sind solche Stimmungen. Schade, daß sie einem so selten geschenkt sind!«

Georg empfand stets eine gewisse Verlegenheit, wenn Heinrich pathetisch wurde. »Jetzt könnte man vielleicht wieder fahren«, sagte er, und sie schwangen sich auf die Räder. Ein schmaler, ziemlich holpriger Seitenweg zwischen Wiese und Wald führte sie bald zu einem unerbaulich kahlen, zweistöckigen Haus, das sich durch ein mürrisch braunes Schild als Wirtshaus zu erkennen gab. Auf der Wiese, die durch die Straße vom Haus geschieden war, stand eine große Menge von Tischen, manche mit einstmals weiß gewesenen, andre mit geblümten Tüchern bedeckt. Hart an der Straße, an einigen zusammengerückten Tischen, saßen zehn oder zwölf junge Leute, Mitglieder eines Radfahrklubs. Mehrere hatten ihre Röcke abgelegt, andre trugen sie flott übergehängt; auf den himmelblauen, gelb eingefaßten Sweaters prangten Embleme in erhabener roter und grüner Stickerei. Mächtig, aber nicht sehr rein tönte ein Chorlied zum Himmel auf: »Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte.«

Heinrich überflog die Gesellschaft mit einem raschen Blick, kniff die Augen zusammen und sagte zu Georg, mit zusammengepreßten Zähnen und heftig betont: »Ich weiß nicht, ob diese Jünglinge bieder, treu und mutig sind, wofür sie sich jedenfalls halten; daß sie aber nach Wolle und Schweiß duften, ist gewiß, und daher wäre ich dafür, daß wir in angemessener Entfernung von ihnen Platz nehmen.«

Der Weg ins Freie

Подняться наверх