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Zweites Kapitel
ОглавлениеIm erhöhten Erker auf dem grünsamtenen Sofa saß Frau Ehrenberg mit ihrer Stickerei; Else, ihr gegenüber, las in einem Buch. Aus dem tiefern und dunklern Teil des Zimmers, hinter dem Klavier hervor, leuchtete das weiße Haupt der marmornen Isis, und durch die offene Tür floß aus dem benachbarten Zimmer ein heller Streif über den grauen Teppich. Else sah von ihrem Buche auf, durchs Fenster zu den hohen Wipfeln des Schwarzenbergparkes, die sich im Herbstwind regten, und sagte beiläufig: »Man könnt' vielleicht dem Georg Wergenthin telephonieren, ob er heut Abend kommt.«
Frau Ehrenberg ließ ihre Stickerei in den Schoß sinken. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Du erinnerst dich, was für einen wirklich charmanten Kondolenzbrief ich ihm geschrieben und wie dringend ich ihn in den Auhof eingeladen hab. Er ist nicht gekommen, und seine Antwort war auffallend kühl. Ich würde ihm nicht telephonieren.«
»Man kann ihn nicht behandeln wie die andern«, erwiderte Else. »Er gehört zu den Leuten, die man gelegentlich daran erinnern muß, daß man auf der Welt ist. Wenn man ihn erinnert hat, dann freut er sich schon darüber.«
Frau Ehrenberg stickte weiter. »Es wird ja doch nichts werden«, sagte sie ruhig.
»Es soll auch nichts werden«, entgegnete Else, »weißt du denn das noch immer nicht, Mama? Er ist mein guter Freund, nichts weiter und auch das nur mit Unterbrechungen. Oder glaubst du wirklich, daß ich in ihn verliebt bin, Mama? Ja als kleines Mädel war ich's, in Nizza, wie mir miteinander Tennis gespielt haben, aber das ist lang vorbei.«
»Na, und in Florenz?«
»In Florenz war ich's eher in Felician.«
»Und jetzt?« fragte Frau Ehrenberg langsam.
»Jetzt ...? Du denkst wahrscheinlich an Heinrich Bermann ... Also du irrst dich, Mama.«
»Es wäre mir lieb, wenn ich mich irrte. Aber heuer im Sommer hatte ich wirklich ganz den Eindruck, als ob ...«
»Ich sag dir ja schon«, unterbrach Else sie ein wenig ungeduldig. »Es ist nichts, und es war nichts. Ein einziges Mal, an dem schwülen Nachmittag, wie wir Kahn gefahren sind du hast uns ja vom Balkon aus gesehen, sogar mit dem Operngucker da ist es ein bißchen gefährlich geworden. Aber wenn wir uns auch einmal um den Hals gefallen wären, was übrigens nie vorgekommen ist, es hätte doch nichts zu bedeuten gehabt. Es war halt so eine Sommersache.«
»Und er soll ja auch in einem sehr ernsten Verhältnis stecken«, sagte Frau Ehrenberg.
»Du meinst ... mit dieser Schauspielerin, Mama?«
Frau Ehrenberg sah auf. »Hat er dir was von ihr erzählt?«
»Erzählt ...? So direkt nicht. Aber wenn wir miteinander spazieren gegangen sind, im Park, oder abends am See, da hat er beinahe nur von ihr gesprochen. Natürlich, ohne ihren Namen zu nennen ... Und je besser ich ihm gefallen hab, die Männer sind ja ein so komisches Volk, um so eifersüchtiger war er immer auf die andre ... Übrigens wenn es nur das wäre! Welcher junge Mann steckt nicht in einem ernsten Verhältnis? Glaubst du vielleicht, Mama, der Georg Wergenthin nicht?«
»In einem ernsten? ... Nein. Dem wird das nie passieren. Dazu ist er zu kühl, zu überlegen ... zu temperamentlos.«
»Gerade darum«, erklärte Else menschenkennerisch. »Er wird in irgend was hineingleiten, und es wird über ihm zusammenschlagen, ohne daß er nur was davon bemerkt hat. Und eines schönen Tages wird er verheiratet sein ... aus lauter Indolenz ... mit irgendeiner Person, die ihm wahrscheinlich ganz gleichgültig sein wird.«
»Du mußt einen bestimmten Verdacht haben«, sagte Frau Ehrenberg.
»Den hab ich auch.«
»Marianne?«
»Marianne! Aber das ist ja längst aus, Mama. Und besonders ernst war das doch nie.«
»Also wer denn soll es sein?«
»Na was glaubst du, Mama?«
»Ich hab keine Ahnung.«
»Anna ist es«, sagte Else kurz.
»Welche Anna?«
»Anna Rosner, selbstverständlich.«
»Aber!«
»Du kannst lang ›aber‹ sagen es ist doch so.«
»Else, du glaubst doch nicht im Ernst, daß Anna, die eine so zurückhaltende Natur ist, sich so weit vergessen könnte ...!«
»So weit vergessen ...! Nein Mama, du hast manchmal noch Ausdrücke! übrigens find ich, dazu muß man gar nicht so vergeßlich sein.«
Frau Ehrenberg lächelte, nicht ohne einen gewissen Stolz.
Die Klingel draußen ertönte. »Am Ende ist er's doch«, sagte Else.
»Es könnte auch Demeter Stanzides sein«, bemerkte Frau Ehrenberg.
»Stanzides sollt' uns einmal den Prinzen mitbringen«, meinte Else beiläufig.
»Glaubst du, daß das ginge?« fragte Frau Ehrenberg und ließ die Stickerei in den Schoß sinken.
»Warum sollt's denn nicht gehen?« sagte Else, »sie sind ja so intim.«
Die Türe tat sich auf, doch keiner von den Erwarteten, sondern Edmund Nürnberger trat ein. Er war wie stets mit der größten Sorgfalt, wenn auch nicht nach der letzten Mode gekleidet. Sein Gehrock war etwas zu kurz, und in der bauschigen, dunkeln Atlaskrawatte steckte eine Smaragdnadel. An der Türe schon verbeugte er sich, nicht ohne zugleich in seinen Mienen einen gewissen Spott über die eigene Höflichkeit auszudrücken. »Bin ich der erste?« fragte er. »Noch niemand da? Weder ein Hofrat noch ein Graf noch ein Dichter noch eine dämonische Frau?«
»Nur eine, die es leider nie gewesen ist«, erwiderte Frau Ehrenberg, während sie ihm die Hand reichte, »und eine ... die es vielleicht einmal werden wird.«
»O, ich bin überzeugt«, sagte Nürnberger, »daß Fräulein Else auch das treffen wird, wenn sie sichs nur ernstlich vornimmt.« Und er strich sich mit der linken Hand langsam über das schwarze, glatte, etwas glänzende Haar.
Frau Ehrenberg sprach ihr Bedauern aus, daß man ihn vergeblich auf dem Auhof erwartet hatte. Ob er wirklich den ganzen Sommer in Wien gewesen sei?
»Warum wundern Sie sich darüber, gnädige Frau? Ob ich in einer Gebirgslandschaft auf- und abspaziere, oder am Meeresstrand, oder in meinen vier Wänden, das ist doch im Grunde ziemlich gleichgültig.«
»Sie müssen sich aber recht einsam gefühlt haben«, sagte Frau Ehrenberg.
»Das Alleinsein kommt einem allerdings etwas deutlicher zu Bewußtsein, wenn sich niemand in der Nähe befindet, der das Bedürfnis markiert, mit einem reden zu wollen ... Aber sprechen wir doch lieber von interessanteren und hoffnungsvollern Menschen, als ich es bin. Wie befinden sich die zahlreichen Freunde Ihres so beliebten Hauses?«
»Freunde!« wiederholte Else, »da müßte man doch erst wissen, wen Sie darunter verstehen.«
»Nun, alle Leute, die Ihnen aus irgendeinem Anlaß Angenehmes sagen und denen Sie es glauben.«
Die Schlafzimmertür tat sich auf, Herr Ehrenberg erschien und begrüßte Nürnberger.
»Hast du schon fertig gepackt?« fragte Else.
»Fix und fertig«, antwortete Ehrenberg, der einen viel zu weiten grauen Anzug anhatte und eine große Zigarre mit den Zähnen festhielt. Erklärend wandte er sich an Nürnberger. »Wie Sie mich da sehen, fahr ich heute nach Korfu ... vorläufig. Die Saison fangt an, und vor die Jours im Haus Ehrenberg is mir mieß.«
»Es verlangt ja niemand«, erwiderte Frau Ehrenberg mild, »daß du sie mit deiner Gegenwart beehrst.«
»Gut gibt sie das«, sagte Ehrenberg und dampfte. »Auf deine Jours möcht' ich natürlich verzichten. Aber wenn ich grad an einem Donnerstag ruhig zu Haus nachtmahlen möcht, und es sitzt in der einen Ecke ein Attaché, in der andern ein Husar, und dorten spielt einer seine eigenen Kompositionen zuguten vor, und auf'm Divan hat einer Esprit, und am Fenster verabredet die Frau Oberberger ein Rendezvous, mit wem sich's trefft ... so macht mich das nervös. Einmal vertragt mans, ein anderes Mal nicht.«
»Gedenken Sie den ganzen Winter fortzubleiben?« fragte Nürnberger.
»Es wär' möglich. Ich hab nämlich die Absicht weiter zu fahren, nach Ägypten, nach Syrien, wahrscheinlich auch nach Palästina. Ja, vielleicht ist es nur, weil man älter wird, vielleicht weil man soviel vom Zionismus liest und dergleichen, aber ich kann mir nicht helfen, ich möcht Jerusalem gesehen haben, eh ich sterbe.«
Frau Ehrenberg zuckte die Achseln.
»Das sind Sachen«, sagte Ehrenberg, »die meine Frau nicht versteht, und meine Kinder noch weniger. Was hast du davon, Else, du auch nicht. Aber wenn man so liest, was in der Welt vorgeht, man möcht selber manchmal glauben, es gibt für uns keinen andern Ausweg.«
»Für uns?« wiederholte Nürnberger. »Ich habe bisher nicht die Beobachtung gemacht, daß Ihnen der Antisemitismus auffallend geschadet hätte.«
»Sie meinen, weil ich ein reicher Mann geworden bin? Wenn ich Ihnen sagen möcht, ich mach mir nichts aus dem Geld, würden Sie mir natürlich nicht glauben, und Sie hätten Recht. Aber wie Sie mich da sehen, ich schwör Ihnen, die Hälfte von meinem Vermögen gäb ich her, wenn ich die ärgsten von unsern Feinden am Galgen säh.«
»Ich fürchte nur«, bemerkte Nürnberger, »Sie würden die Unrichtigen hängen lassen.«
»Die Gefahr ist nicht groß«, erwiderte Ehrenberg, »greifen Sie daneben, erwischen Sie auch einen.«
»Ich bemerke nicht zum erstenmal, lieber Herr Ehrenberg, daß Sie dieser Frage nicht mit der wünschenswerten Objektivität gegenüberstehen.«
Ehrenberg zerbiß plötzlich seine Zigarre und legte sie mit wutzitternden Fingern auf die Aschenschale. »Wenn mir einer damit kommt ... und gar ... entschuldigen Sie ... oder sind Sie vielleicht getauft ...? Man kann ja heutzutag nicht wissen.«
»Ich bin nicht getauft«, erwiderte Nürnberger ruhig. »Aber allerdings bin ich auch nicht Jude. Ich bin längst konfessionslos geworden; aus dem einfachen Grunde, weil ich mich nie als Jude gefühlt habe.«
»Wenn man Ihnen einmal den Zylinder einschlage auf der Ringstraße, weil Sie, mit Verlaub, eine etwas jüdische Nase haben, werden Sie sich schon als Jude getroffen fühlen, verlassen Sie sich darauf.«
»Aber Papa, was regst du dich denn so auf«, sagte Else und strich ihm über den kahlen, rötlich glänzenden Schädel.
Der alte Ehrenberg nahm ihre Hand, streichelte sie und fragte scheinbar ganz unvermittelt: »Werd ich übrigens noch das Vergnügen haben, meinen Herrn Sohn zu sehen, bevor ich abreise?«
Frau Ehrenberg antwortete: »Oskar kommt jedenfalls bald nach Hause.«
»Es wird Sie sicher freuen zu erfahren«, wandte sich Ehrenberg an Nürnberger, »daß auch mein Sohn Oskar ein Antisemit ist.«
Frau Ehrenberg seufzte leise. »Es ist eine fixe Idee von ihm«, sagte sie zu Nürnberger. »Überall sieht er Antisemiten, selbst in der eigenen Familie.«
»Das ist die neueste Nationalkrankheit der Juden«, sagte Nürnberger. »Mir selbst ist es bisher erst gelungen, einen einzigen echten Antisemiten kennen zu lernen. Ich kann Ihnen leider nicht verhehlen, lieber Herr Ehrenberg, daß der ein bekannter Zionistenführer war.«
Ehrenberg hatte nur eine vielsagende Handbewegung.
Demeter Stanzides und Willy Eißler traten ein und verbreiteten sofort lebhaften Glanz um sich. Leicht und prächtig, eher wie ein Kostüm, als wie ein militärisches Kleid trug Demeter seine Uniform; Willy, in Smoking, stand lang, blaß und übernächtig da, hatte sofort die Führung des Gesprächs in der Hand und seine Stimme, angenehm heiser, schwirrte befehlshaberisch und liebenswürdig zugleich durch die Luft. Er erzählte von den Vorbereitungen zu einer Aristokratenvorstellung, der er, wie schon im vorigen Jahr, als Berater, Regisseur und Mitwirkender beigezogen war, schilderte eine Sitzung der jungen Herren, in der es, wenn man ihm glauben durfte, zugegangen war wie in einer Versammlung von Schwachsinnigen, und gab ein komisches Gespräch zwischen zwei Komtessen zum besten, deren Redeweise er köstlich zu imitieren wußte. Ehrenberg war durch Willy Eißler immer sehr amüsiert. Die dunkle Empfindung, daß dieser ungarische Jude die ganze, ihm persönlich so verhaßte, Feudalbande in irgend einer Weise überlistete und zum Narren hielt, erfüllte ihn mit Hochachtung für den jungen Mann.
Else saß am kleinen Tisch in der Ecke mit Demeter und ließ sich über die Isle of Wight berichten.
»Sie waren mit Ihrem Freund dort?« fragte sie, »nicht wahr, mit dem Prinzen Karl Friedrich.«
»Mein Freund der Prinz? ... das stimmt nicht ganz, Fräulein Else. Der Prinz hat keinen Freund, und ich hab keinen. Wir sind beide nicht von der Art.«
»Er muß ein interessanter Mensch sein, nach allem, was man hört.«
»Interessant, weiß ich nicht einmal. Jedenfalls hat er über mancherlei nachgedacht, worüber seinesgleichen sich sonst nicht viel Gedanken zu machen pflegen. Vielleicht hätte er auch allerlei leisten können, wenn man ihn hätte gewähren lassen. Na, wer weiß, es ist vielleicht besser für ihn, daß sie ihn kurz gehalten haben, für ihn und am End auch fürs Land. Einer allein kann ja doch nichts machen. Nirgends und nie. Da ist's schon am besten, man laßts gehen und zieht sich zurück, wie er's getan hat.«
Else sah ihn etwas befremdet an. »Sie sind ja heute so philosophisch, was ist denn das? Mir scheint, der Willy Eißler hat Sie verdorben.«
»Der Willy mich?«
»Ja wissen Sie, Sie sollten nicht mit so gescheiten Leuten verkehren.«
»Warum denn nicht?«
»Sie sollten einfach jung sein, leuchten, leben, und dann, wenns halt nicht weiter geht tun was Ihnen beliebt ... aber ohne über sich und die Welt nachzudenken.«
»Das hätten Sie mir früher sagen müssen, Fräulein Else. Wenn man einmal angefangen hat, gescheit zu werden ...«
Else schüttelte den Kopf. »Aber bei Ihnen wäre es vielleicht zu vermeiden gewesen«, sagte sie ganz ernsthaft. Und dann mußten beide lachen.
Die Flammen des Lusters glühten auf. Georg von Wergenthin und Heinrich Bermann waren eingetreten. Durch ein Lächeln Elses eingeladen, nahm Georg an ihrer Seite Platz.
»Ich habs gewußt, daß Sie kommen werden«, sagte sie unaufrichtig, aber herzlich und drückte seine Hand. Daß er ihr wieder gegenübersaß nach so langer Zeit, daß sie sein anmutig stolzes Gesicht wiedersehen, seine etwas leise, aber warme Stimme hören durfte, freute sie mehr, als sie geahnt hatte.
Frau Wyner erschien; klein, hochrot, lustig und verlegen. Ihre Tochter Sissy mit ihr. Im Hin und Her der Begrüßung lösten sich die Gruppen.
»Nun, haben Sie mir schon das Lied komponiert?« fragte Sissy Georg mit lachenden Augen und lachenden Lippen, spielte mit einem ihrer Handschuhe und bewegte sich in ihrem dunkelgrünen schillernden Kleid wie eine Schlange.
»Ein Lied?« fragte Georg. Er erinnerte sich wirklich nicht.
»Oder auch einen Walzer oder so was. Aber daß Sie mir etwas widmen werden, haben Sie mir versprochen.« Während sie sprach, wanderten ihre Blicke umher. Sie glühten in die Augen Willys, schmeichelten sich an Demeter vorbei, stellten an Heinrich Bermann eine rätselhafte Frage. Es war, wie wenn Irrlichter durch den Salon tanzten.
Frau Wyner stand plötzlich neben ihrer Tochter, tief errötend: »Sissy ist ja so dumm ... was glaubst du denn, Sissy, der Baron Georg hat heuer wichtigeres zu tun gehabt, als für dich zu komponieren.«
»O gewiß nicht«, sagte Georg höflich.
»Sie haben Ihren Vater begraben, das ist keine Kleinigkeit.«
Georg sah vor sich hin. Frau Wyner aber sprach unbeirrt weiter: »Ihr Vater war noch nicht alt, nicht wahr? Und ein so schöner Mann ... ist es wahr, daß er Chemiker gewesen ist?«
»Nein«, erwiderte Georg gefaßt, »er war Präsident der botanischen Gesellschaft.«
Heinrich, einen Arm auf dem geschlossenen Klavierdeckel, sprach mit Else.
»Sie waren also doch in Deutschland?« fragte sie.
»Ja«, erwiderte Heinrich, »es ist schon ziemlich lange her, vier, fünf Wochen.«
»Und wann fahren Sie wieder hin?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht nie.«
»Ach, das glauben Sie selbst nicht. Was arbeiten Sie?« setzte sie rasch hinzu.
»Allerlei«, entgegnete er. »Ich bin in einer ziemlich unruhigen Zeit. Ich entwerfe viel, aber ich mache nichts fertig. Das Vollenden interessiert mich über haupt selten. Offenbar bin ich innerlich zu rasch fertig mit den Dingen.«
»Und den Menschen«, fügte Else bei.
»Mag sein. Es ist nur das Unglück, daß das Gefühl zuweilen an Menschen weiter hängen bleibt, während der Verstand schon längst nichts mehr mit ihnen zu tun hat. Ein Dichter wenn Sie mir das Wort gestatten müßte sich von jedem zurückziehen, der für ihn kein Rätsel mehr hat ... also besonders von jedem, den er liebt.«
»Es heißt doch«, wandte Else ein, »daß wir gerade diejenigen am wenigsten kennen, die wir lieben.«
»Das behauptet Nürnberger, aber es stimmt nicht ganz. Wäre es wirklich so, liebe Else, dann wäre das Leben wahrscheinlich schöner, als es ist. Nein, diejenigen, die wir lieben, kennen wir sogar besser als wir andere kennen, nur kennen wir sie mit Scham, mit Erbitterung und mit der Furcht, daß auch andre sie ebensogut kennen als wir. Lieben heißt: Angst davor haben, daß andern die Fehler offenbar werden, die wir an dem geliebten Wesen entdeckt haben. Lieben heißt: in die Zukunft schauen können und diese Gabe verfluchen ... lieben heißt: jemanden so kennen, daß man daran zugrunde geht.«
Else lehnte am Klavier, in ihrer damenhaft-kindlichen Art, neugierig gelassen, und hörte ihm zu. Wie gut gefiel er ihr in solchen Augenblicken. Sie hätte ihm wieder tröstend übers Haar streichen wollen wie damals auf dem See, als er von der Liebe zu jener andern wie zerrissen war. Aber wenn er sich dann plötzlich zurückzog, kühl, trocken und wie ausgelöscht erschien, da fühlte sie, daß sie mit ihm nie leben könnte, daß sie ihm nach ein paar Wochen davonlaufen müßte ... mit einem spanischen Offizier oder einem Violinvirtuosen.
»Es ist gut«, sagte sie, etwas gönnerhaft, »daß Sie mit Georg Wergenthin verkehren. Er wird günstig auf Sie wirken. Er ist ruhiger als Sie. Ich glaube ja nicht, daß er so begabt und gewiß nicht, daß er so klug ist wie Sie ...«
»Was wissen Sie von seiner Begabung«, unterbrach sie Heinrich beinahe grob.
Georg trat hinzu und fragte Else, ob man heute nicht das Vergnügen haben werde, ein Lied von ihr zu hören. Sie hatte keine Lust. Übrigens studiere sie hauptsächlich Opernpartien in der letzten Zeit. Das interessiere sie mehr. Sie sei doch eigentlich keine lyrische Natur. Georg fragte sie zum Scherz, ob sie nicht vielleicht die geheime Absicht habe zur Bühne zu gehen.
»Mit dem bissel Stimme!« sagte Else.
Nürnberger stand neben ihnen. »Das wäre doch kein Hindernis«, bemerkte er. »Ich bin sogar überzeugt, daß sich sehr bald ein moderner Kritiker fände, der Sie gerade deswegen als bedeutende Sängerin ausriefe, Fräulein Else, weil Sie keine Stimme besitzen, der aber dafür irgend eine andere Gabe, zum Beispiel die der Charakteristik bei Ihnen entdeckte. So wie es heutzutage namhafte Maler gibt, die keinen Farbensinn haben, aber Geist; und Dichter von Ruf, denen zwar nicht das geringste einfällt, denen es aber gelingt zu jedem Hauptwort das falscheste Epitheton zu finden.«
Else merkte, daß die Redeweise Nürnbergers Georg nervös machte und wandte sich an diesen. »Ich wollte Ihnen ja etwas zeigen«, sagte sie und machte ein paar Schritte zu der Notenetagere. Georg folgte ihr.
»Hier die Sammlung alt-italienischer Volkslieder. Ich möchte, daß Sie mir die wertvollsten bezeichnen. Ich selber verstehe doch nicht genug davon.«
»Ich begreife gar nicht«, sagte Georg leise, »daß Sie Menschen wie diesen Nürnberger in Ihrer Nähe ertragen. Er verbreitet einen wahren Dunstkreis von Mißtrauen und Übelwollen um sich.«
»Das hab ich Ihnen schon öfters gesagt, Georg, ein Menschenkenner sind Sie nicht. Was wissen Sie denn überhaupt von ihm? Er ist anders, als Sie glauben. Fragen Sie nur einmal Ihren Freund Heinrich Bermann.«
»O ich weiß ja, daß der auch für ihn schwärmt«, erwiderte Georg.
»Ihr sprecht von Nürnberger?« fragte Frau Ehrenberg, die eben dazutrat.
»Der Georg kann ihn nicht leiden«, sagte Else in ihrer beiläufigen Art.
»Da tun Sie aber sehr Unrecht daran; haben Sie überhaupt je was von ihm gelesen?«
Georg schüttelte den Kopf.
»Nicht einmal seinen Roman, der vor fünfzehn oder sechzehn Jahren so großes Aufsehen gemacht hat? Das ist ja beinah eine Schand! Neulich haben wir ihn dem Hofrat Wilt geliehen. Ich sag Ihnen, der war paff, wie in dem Buch eigentlich schon das ganze heutige Österreich vorausgeahnt ist.«
»So, so«, sagte Georg ohne Überzeugung.
»Sie können sich gar nicht vorstellen«, fuhr Frau Ehrenberg fort, »mit welchem Jubel Nürnberger damals begrüßt worden ist. Man könnte sagen, alle Tore sind vor ihm aufgesprungen.«
»Vielleicht war ihm das genug«, bemerkte Else nachdenklich altklug.
Heinrich stand am Klavier im Gespräch mit Nürnberger und bemühte sich, wie er es oftmals tat, ihn zu einer neuen Arbeit oder zu einer Herausgabe älterer Schriften zu bestimmen.
Nürnberger wehrte ab. Der Gedanke, seinen Namen wieder in die Öffentlichkeit gezerrt zu sehen, im literarischen Wirbel der Zeit mitzutreiben, der ihm widerlich und albern zugleich erschien, erfüllte ihn geradezu mit Schaudern. Er hatte keine Lust, da mit zu konkurrieren. Wozu? Cliquenwirtschaft, die sich kein Mäntelchen mehr umnahm, war überall am Werke. Gab es noch ein tüchtig, ehrlich strebendes Talent, das nicht jeden Augenblick gefaßt sein mußte, in den Kot gezogen zu werden; war noch ein Flachkopf zu finden, der sich nicht ausweisen konnte, in irgend einem Blättchen als Genie erklärt worden zu sein? Hatte Ruhm in diesen Tagen noch das geringste mit Ehre zu tun? Und übersehen, vergessen werden, war das auch nur ein Achselzucken des Bedauerns wert? Und wer konnte am Ende wissen, welche Urteile sich in der Zukunft als die richtigen erweisen würden? Waren nicht die Tröpfe wirklich die Genies und die Genies die Tröpfe? Es war lächerlich, sich mit dem Einsatz seiner Ruhe ja seiner Selbstachtung in ein Spiel einzulassen, in dem auch der höchstmögliche Gewinn keine Befriedigung versprach.
»Gar keine?« fragte Heinrich. »Ich will Ihnen ja allerlei preisgeben, Ruhm, Reichtum, Wirkung in die Weite; aber daß man, weil alle diese Güter zweifelhaft sind, auch auf etwas so Unzweifelhaftes verzichten soll, wie es die Augenblicke des innern Kraftgefühls sind ...«
»Inneres Kraftgefühl! Warum sagen Sie nicht gleich Seligkeit des Schaffens? ...«
»Gibts, Nürnberger!«
»Mag sein. Ich glaube mich sogar zu erinnern, vor sehr langer Zeit gelegentlich selbst irgend was derart empfunden zu haben ... Nur ist mir, Sie wissen es ja, die Fähigkeit, mich selbst zu betrügen, im Lauf der Jahre völlig abhanden gekommen.«
»Das glauben Sie vielleicht nur«, erwiderte Heinrich. »Wer weiß, ob es nicht gerade diese Fähigkeit des Sichselbstbetrügens ist, die Sie im Laufe der Zeit am stärksten in sich ausgebildet haben!«
Nürnberger lachte. »Wissen Sie, wie mir zu Mute ist, wenn ich Sie so reden höre? Ungefähr wie einem Fechtmeister, der von seinem eigenen Schüler einen Stich ins Herz bekommt.«
»Und nicht einmal von seinem besten«, sagte Heinrich.
Plötzlich erschien in der Türe Herr Ehrenberg, zur Verwunderung seiner Frau, die ihn schon auf dem Wege zur Bahn vermutet hatte. Er führte eine junge Dame an der Hand, die einfach schwarz gekleidet war und das Haar nach einer verflossenen Mode auffallend hoch frisiert trug. Ihre Lippen waren voll und rot, die Augen in dem lebendig blassen Gesicht blickten klar und hart.
»Kommen Sie nur«, sagte Ehrenberg mit einiger Bosheit in den kleinen Augen und führte den Gast geradewegs zu Else, die eben mit Stanzides plauderte. »Hier bring ich dir einen Besuch.«
Else streckte ihr die Hand entgegen. »Das ist aber nett.« Sie stellte vor: »Herr Demeter Stanzides. Fräulein Therese Golowski.«
Therese nickte kurz und ließ eine Weile ihren Blick auf ihm ruhen, unbefangen, als betrachtete sie ein schönes Tier.
Dann wandte sie sich an Else: »Wenn ich gewußt hätte, daß Ihr so große Gesellschaft habt ...«
»Wissen Sie, wie die ausschaut?« sagte Stanzides leise zu Georg, »wie eine russische Studentin, nicht wahr?«
Georg nickte. »Ungefähr. Ich kenn sie. Es ist eine Institutsfreundin von Fräulein Else, und jetzt, denken Sie sich, spielt sie eine führende Rolle bei den Sozialisten. Neulich ist sie sogar gesessen, wegen Majestätsbeleidigung, glaub ich.«
»Ja, mir scheint, ich hab so was gelesen«, erwiderte Demeter. »So eine Art von Geschöpf sollte man wirklich einmal näher kennen lernen. Hübsch ist sie. Ein Gesicht wie aus Elfenbein.«
»Und viel Energie liegt in den Zügen«, fügte Georg hinzu. »Ihr Bruder ist übrigens auch ein merkwürdiger Mensch. Klavierspieler und Mathematiker. Ich hab ihn neulich kennen gelernt. Und der Vater soll ein zugrund gegangener jüdischer Fellhändler sein.«
»Es ist schon eine sonderbare Rass'«, bemerkte Demeter.
Indessen war Frau Ehrenberg auf Therese zugekommen und hielt es für richtig, keinerlei Überraschung zu zeigen. »Nehmen Sie doch Platz, Therese«, sagte sie. »Wie gehts Ihnen denn immer? Seit Sie sich ins politische Leben begeben haben, kümmern Sie sich ja um Ihre früheren Bekannten gar nicht mehr.«
»Ja leider läßt mir mein Beruf wenig Zeit, Familienverkehr zu pflegen«, erwiderte Therese und schob ihr Kinn vor, was ihr Antlitz plötzlich männlich und beinah häßlich machte.
Frau Ehrenberg schwankte, ob sie etwas von der abgelaufenen Kerkerhaft Theresens erwähnen sollte oder nicht. Immerhin war zu bedenken, daß es kaum ein anderes Haus in Wien gab, wo Damen verkehrten, die kurz zuvor eingesperrt waren.
»Wie gehts denn deinem Bruder?« fragte Else.
»Er dient heuer«, antwortete Therese. »Du kannst dir ja ungefähr denken, wie's ihm da geht ...« und sie warf einen ironischen Blick auf die Husarenuniform Demeters.
»Da kommt er wohl nicht viel zum Klavierspielen«, sagte Frau Ehrenberg.
»Ach er denkt gar nicht mehr daran, Pianist zu werden«, erwiderte Therese. »Er steckt ganz in der Politik.« Und sich lächelnd zu Demeter wendend fügte sie hinzu: »Sie werden ihn doch nicht verraten, Herr Oberleutnant.«
Stanzides lachte etwas verlegen.
»Was heißt das: Politik?« fragte Herr Ehrenberg. »Will er Minister werden?«
»In Österreich keineswegs«, erwiderte Therese. »Er ist nämlich Zionist.«
»Was!?« rief Ehrenberg aus, und sein Gesicht strahlte.
»Das ist allerdings ein Gebiet, auf dem wir uns nicht ganz verstehen«, setzte Therese hinzu.
»Liebe Therese ...«, begann Ehrenberg.
»Du wirst den Zug versäumen«, unterbrach ihn seine Frau.
»Ich werd den Zug nicht versäumen, und morgen geht auch noch einer. Liebe Therese, ich sage nur: es soll jeder nach seiner Fasson selig werden. Aber in dem Fall ist Ihr Bruder der Gescheitere und nicht Sie. Entschuldigen Sie, ich bin vielleicht ein Laie in politischen Dingen, aber ich versichere Sie, Therese, es wird euch jüdischen Sozialdemokraten geradeso ergehen, wie es den jüdischen Liberalen und Deutschnationalen ergangen ist.«
»Inwiefern?« fragte Therese hochmütig. »Inwiefern wird es uns geradeso ergehen?«
»Inwiefern ...? das werd ich Ihnen gleich sagen. Wer hat die liberale Bewegung in Österreich geschaffen? ... Die Juden! ... Von wem sind die Juden verraten und verlassen worden? Von den Liberalen. Wer hat die deutschnationale Bewegung in Österreich geschaffen? Die Juden. Von wem sind die Juden im Stich gelassen ... was sag ich im Stich gelassen ... bespuckt worden wie die Hund'? ... von den Deutschen! Und geradeso wirds ihnen jetzt ergehen mit dem Sozialismus und dem Kommunismus. Wenn die Suppe erst aufgetragen ist, so jagen sie euch vom Tisch. Das war immer so und wird immer so sein.«
»Wir wollens abwarten«, erwiderte Therese ruhig.
Georg und Demeter blickten einander an, wie zwei Freunde, die gemeinsam auf eine Insel verschlagen worden sind. Oskar, der gerade während der Rede seines Vaters eingetreten war, hatte schmale Lippen und war sehr verlegen. Allen aber schien es eine Art Befreiung, als Ehrenberg plötzlich auf die Uhr sah und sich empfahl.
»Wir werden ja heut doch nicht mehr einig«, sagte er zu Therese.
Therese lächelte: »Kaum. Glückliche Reise und noch einmal im Namen ...«
»Pst«, sagte Ehrenberg und verschwand.
»Wofür dankst du eigentlich dem Papa?« fragte Else sie leise.
»Für eine Spende, um die ich ihn unverschämterweise bitten kam. Aber es gibt sonst keinen reichen Mann in meinem Bekanntenkreis. Über den Zweck zu reden bin ich nicht berechtigt.«
Frau Ehrenberg trat zu Bermann und Nürnberger hin, die über den Klavierdeckel hinweg mit einander sprachen, und sagte leise: »Sie wissen doch, daß sie ...«, sie wies mit den Augen auf Therese, »eben aus dem Gefängnis entlassen worden ist?«
»Ich habe davon gelesen«, erwiderte Heinrich ...
Nürnberger kniff die Augen zusammen und warf einen Blick auf die Gruppe in der Ecke, wo die drei Mädchen mit Stanzides und Willy Eißler plauderten, und schüttelte den Kopf. »Was für eine Bosheit unterdrücken Sie?« fragte Frau Ehrenberg.
»Ich denke eben, wie leicht es sich hätte fügen können, daß Fräulein Else zwei Monate im Gefängnis hätte schmachten müssen, und daß Fräulein Therese in einem eleganten Salon als Tochter des Hauses Cercle hielte.«
»Leicht fügen ...?«
»Herr Ehrenberg hat Glück gehabt, Herr Golowski Pech ... das ist vielleicht der ganze Unterschied.«
»Na hören Sie, Nürnberger«, sagte Heinrich, »Sie werden das Individuelle doch nicht vollkommen aus der Welt leugnen wollen ... Else und Therese sind doch ziemlich verschiedene Naturen.«
»Das denke ich auch«, bemerkte Frau Ehrenberg.
Nürnberger zuckte die Achseln. »Beide sind junge Mädchen, recht begabt, recht hübsch ... alles übrige ist wie bei den meisten jungen Damen und wohl bei den meisten Menschen, mehr oder weniger angeflogen.«
Heinrich schüttelte lebhaft den Kopf. »Nein, nein«, sagte er, »so einfach ist das Leben doch nicht.«
»Es ist darum nicht einfacher, lieber Heinrich.«
Frau Ehrenbergs Blick war auf die Tür gerichtet und leuchtete. Felician war eben eingetreten. Mit nachtwandlerischer Sicherheit ging er auf die Hausfrau zu und küßte ihr die Hand. »Ich habe eben das Vergnügen gehabt, Herrn Ehrenberg auf der Stiege zu begegnen ... Er fährt nach Corfu, wie er mir sagt. Dort muß es jetzt wunderschön sein.«
»Sie kennen Corfu?«
»Ja, gnädige Frau, eine Kindheitserinnerung.« Er begrüßte Nürnberger und Bermann, und sie redeten alle über den Süden, nach dem Bermann sich sehnte und an den Nürnberger nicht glaubte.
Georg drückte seinem Bruder zur Begrüßung und zugleich zum Abschied die Hand. Wie er, unauffällig durch die offene Tür des Speisezimmers verschwindend, sich noch einmal umsah, bemerkte er Marianne, die in der entferntesten Ecke des Salons saß und ihm mit dem Lorgnon spöttisch nachblickte. Es war immer die rätselhafte Gabe dieser Frau gewesen, plötzlich da zu sein, ohne daß man wußte, wo sie herkam. Noch auf der Stiege trat ihm eine verschleierte Dame in den Weg. »Eilen Sie doch nicht so, sie kann schon noch einen Moment warten«, sagte sie. »Man darf die Frauen überhaupt nicht so verwöhnen ... Ob Sie's auch so eilig hätten, wenn Sie zu einem Rendezvous mit mir gingen ...? Aber davon wollen ja Sie nichts wissen. Wahrscheinlich, weil Sie Angst haben, daß Sie mein Mann niederschießt, wenn er aus Stockholm zurückkommt, das heißt, heute ist er wohl schon in Kopenhagen. Aber er setzt vollkommenes Vertrauen in mich. Mit Recht übrigens. Denn ich kann Ihnen schwören, weiter als bis zu einem Kuß auf die Hand ... nein, um nicht zu lügen, auf diesen Hals, hat es noch niemand gebracht. Sie glauben gewiß auch, daß ich mit dem Stanzides ein Verhältnis gehabt habe? Nein, der wäre nichts für mich! Schöne Männer sind mir überhaupt ein Graus. Auch an Ihrem Bruder Felician kann ich nichts finden ...«
Es war nicht abzusehen, wann die verschleierte Dame zu reden aufhören würde, denn es war Frau Oberberger. Bei andern Frauen hätte das gleiche Benehmen ein gewisses Entgegenkommen bedeutet, nicht so bei ihr, der man, so zweifelhaft ihre ganze Art erscheinen mochte, noch nie einen Liebhaber hatte nachsagen können. Sie lebte in einer sonderbaren, aber anscheinend glücklichen, kinderlosen Ehe. Ihr schöner und glänzender Gemahl, Geologe von Beruf, hatte in früherer Zeit Entdeckungsreisen unternommen, wobei er, wie Hofrat Wilt behauptete, nicht so sehr auf die Unerforschtheit der betreffenden Landstriche als auf gute Fahrgelegenheiten und einwandfreie Küche Wert gelegt haben sollte. Seit einigen Jahren aber begab er sich nur mehr auf Reisen, um Vorträge zu halten und Frauen zu erobern. Wenn er wieder daheim war, lebte er mit seiner Gattin in bester Kameradschaft. Schon manchmal, aber immer flüchtig, hatte Georg die Möglichkeit eines Verhältnisses mit Frau Oberberger erwogen. Er war sogar einer von jenen, die ihren Hals geküßt hatten, woran sie sich wahrscheinlich selbst nicht mehr erinnerte. Und als sie jetzt den Schleier zurückschlug, ließ Georg wieder einmal den Reiz dieses nicht mehr ganz jugendlichen, aber anmutig-bewegten Gesichts mit Vergnügen auf sich wirken. Er wollte ihr ins Wort fallen, sie aber sprach weiter: »Wissen Sie, daß Sie sehr blaß sind? Sie müssen ein nettes Leben führen. Was ist das übrigens für ein Weib, durch das Sie mir diesmal entrissen werden?«
Hofrat Wilt, unhörbar wie meistens, stand plötzlich neben ihnen. Beiläufig, überlegen und galant warf er hin: »Küß die Hand schöne Frau, grüß Sie Gott Baron ...« und wollte weiter.
Frau Oberberger aber fand es angemessen, ihm vorerst noch mitzuteilen, daß Baron Georg sich soeben zu einer Orgie begebe, wie das so seine Art sei, dann folgte sie dem Hofrat in den zweiten Stock, auf die Gefahr hin, wie sie bemerkte, daß man ihn, wenn er zugleich mit ihr bei Ehrenbergs erschiene, für ihren fünfundneunzigsten Liebhaber halten würde.
Es war sieben Uhr, als Georg sich endlich in einen Wagen setzen konnte, um nach Mariahilf zu fahren. Er fühlte sich von den zwei Stunden bei Ehrenbergs geradezu abgespannt, und mehr noch als sonst freute er sich auf das Zusammensein mit Anna, das ihm bevorstand. Seit jenem Vormittag in der Miniaturenausstellung hatten sie einander beinahe täglich gesehen; in Gärten, in Bildergalerien, bei ihr zu Hause. Meist unterhielten sie sich über die kleinen Begebenheiten ihres Daseins, oder plauderten von Büchern und Musik. Von vergangenen Zeiten sprachen sie nicht oft; und wenn es geschah, ohne Mißtrauen und Zweifel. Denn noch waren die Abenteuer, aus denen Georg kam, für Anna nicht vom beängstigenden Dufte des Geheimnisvollen umwoben; und daß sie selbst schon manche schwärmerische Neigung empfunden hatte, vernahm Georg aus ihren scherzenden Andeutungen heiter, unbesorgt, ja ohne weiter zu fragen. In einem menschenleeren Saal der Liechtensteingalerie hatte er sie vor acht Tagen zum erstenmal geküßt, und von diesem Augenblick an nannte Anna ihn du, als wäre eine fremdere Anrede ihr von nun an wie etwas Lügenhaftes erschienen.
Der Wagen hielt an einer Straßenecke. Georg stieg aus, zündete sich eine Zigarette an und ging auf und ab, dem Hause gegenüber, aus dem Anna kommen mußte.
Nach wenigen Minuten schon trat sie aus dem Tor. Er eilte über die Straße ihr entgegen, und beglückt küßte er ihr die Hand. Wie gewöhnlich, weil sie auf ihren Fahrten meist zu lesen pflegte, hatte sie ein Buch mit sich, in einem Einband von gepreßtem Leder.
»Es ist ja kühl, Anna«, sagte Georg, nahm ihr das Buch aus der Hand und half ihr in die Jacke, die sie über dem Arm getragen hatte.
»Ich habe mich nämlich ein bißchen verspätet«, sagte sie »und war sehr ungeduldig, dich zu sehen. Ja«, setzte sie lächelnd hinzu, »man hat auch seine Temperamentsausbrüche. Was sagst du denn zu meinem neuen Kostüm«, fragte sie, indem sie weiterspazierten.
»Steht dir sehr gut.«
»In meiner Lektion hat man gefunden, ich sähe aus wie eine Hofdame.«
»Wer hat das gefunden?«
»Frau Bittner selbst, und ihre beiden Töchter, die ich unterrichte.«
»Ich würde lieber sagen: wie eine Erzherzogin.«
Anna nickte befriedigt.
»Also jetzt erzähl mir Anna, was du seit gestern alles erlebt hast.«
Ernsthaft begann sie. »Um zwölf, nachdem ich mich am Haustor von dir getrennt, Mittagessen im Familienkreis. Nachmittag ein wenig geruht und an dich gedacht. Von vier bis halb sieben Schülerinnen bei mir, dann gelesen, »grüner Heinrich« und Abendblatt. Zu faul, um noch auf die Straße zu gehen, im Hause herumgetrenderlt. Nachtmahl. Die übliche häusliche Szene.«
»Bruder?« fragte Georg.
Sie antwortete mit einem »ja«, das weitere Fragen abschnitt. »Nach dem Nachtmahl ein bißchen musiziert ... sogar zu singen versucht.«
»Warst du zufrieden?«
»Für mich reicht es ja immer aus«, sagte sie, und Georg glaubte eine leichte Traurigkeit im Klang ihrer Worte zu vernehmen.
Rasch berichtete sie weiter: »Um halb elf im Bett gelegen, gut geschlafen, um acht Uhr früh auf ... man kann ja bei uns nicht länger liegen ... Toilette gemacht bis halb zehn, bis elf im Haus herum ...«
»... getrenderlt«, ergänzte Georg.
»Richtig. Dann zu Weils, den Buben unterrichtet.«
»Wie alt ist der eigentlich?« fragte Georg.
»Dreizehn«, erwiderte Anna mit einem komisch-bedenklichen Gesicht.
»Na das ist wirklich nicht so jung.«
»Gewiß nicht«, sagte Anna. »Aber erfahre zu deiner Beruhigung, daß er seine Tante Adele liebt, eine zarte Blondine von dreiunddreißig Jahren und vorläufig nicht daran denkt, ihr die Treue zu brechen ... Also Fortsetzung der Chronik. Um halb zwei zu Hause angelangt, allein gegessen Gott sei Dank, Papa schon im Bureau, Mama in schlafendem Zustand. Von drei bis vier wieder geruht, noch mehr und noch bedeutender an dich gedacht, als gestern, dann Besorgungen in der Stadt, Handschuhe, Sicherheitsnadeln und etwas für Mama, und endlich mit der Tramway lesend nach Mariahilf herausgefahren zu den zwei Bittner Fratzen ... So nun weißt du alles. Zufriedenstellend?«
»Abgesehen von dem dreizehnjährigen Jüngling.«
»Also ich gebe ja zu, daß das beunruhigend sein mag, aber jetzt wollen wir einmal hören, ob du mir nicht düsterere Geständnisse zu machen hast.«
Sie waren in einer schmalen, stillen Gasse, die Georg ganz fremd vorkam, und Anna nahm seinen Arm.
»Ich komme eben von Ehrenbergs«, begann er.
»Nun«, fragte Anna, »hat man dich sehr zu umstricken gesucht?«
»Das kann ich eben nicht sagen. Man schien sogar ein wenig froissiert, daß ich diesen Sommer gar nicht im Auhof war«, setzte er hinzu.
»Hat Klein-Elschen sich produziert?« fragte Anna weiter.
»Nein. Was sich nach meinem Fortgehen ereignet haben mag, das weiß ich natürlich nicht.«
»Jetzt wirds ja wohl nicht mehr der Mühe wert sein«, sagte Anna mit überquellendem Spott.
»Du irrst dich, Anna. Es sind Leute oben, für die zu singen es sich sehr verlohnte.«
»Wer denn?«
»Heinrich Bermann, Willy Eißler, Demeter Stanzides ...«
»O, Stanzides!« rief Anna aus. »Jetzt tut es mir eigentlich leid, daß ich nicht auch oben war.«
»Mir scheint«, sagte Georg, »das ist nicht so spaßhaft gemeint als gesagt.«
»Gewiß nicht«, erwiderte Anna. »Ich finde diesen Demeter zum Totschießen schön.«
Georg schwieg ein paar Sekunden und plötzlich, erregter als es sonst seine Art war, fragte er: »Ist es am Ende er? ...«
»Was für ein Er?«
»Der, den du ... mehr geliebt hast als mich!«
Sie lächelte, drängte sich fester an ihn und erwiderte einfach, aber doch ein bißchen spöttisch: »Sollt ich wirklich jemanden lieber gehabt haben als dich?«
»Du hast es mir ja selber gestanden«, erwiderte Georg.
»Ich hab dir aber auch ›gestanden‹, daß ich mit der Zeit dich mehr lieben werde, als ich je einen andern geliebt habe, oder lieben könnte.«
»Weißt du das ganz bestimmt, Anna?«
»Ja, Georg, das weiß ich ganz bestimmt.«
Sie waren wieder in einer belebteren Straße, und unwillkürlich lösten sie die Arme. Sie blieben vor verschiedenen Auslagen stehen, entdeckten unter einem Haustor den Glaskasten eines Photographen und waren sehr belustigt von der mühselig-ungezwungenen Haltung, in der hier Jubelpaare, Kadettoffiziersstellvertreter, Köchinnen im Sonntagsstaat und für den Maskenball kostümierte Damen aufgenommen waren.
Georg, in leichterm Tone, fragte wieder: »Also war es Stanzides?«
»Aber was fällt dir denn ein. Ich hab in meinem Leben keine hundert Worte mit ihm gesprochen.«
Sie spazierten weiter.
»Also doch Leo Golowski?« fragte Georg.
Sie schüttelte den Kopf und lächelte. »Das war die Jugendliebe«, erwiderte sie, »das gilt überhaupt nicht. Übrigens möcht ich das 16jährige Mädel kennen, das sich auf dem Land nicht in einen schönen Jüngling verliebt hätte, der sich mit einem veritabeln Grafen schlägt und dann acht Tage mit dem Arm in der Schlinge herumspaziert.«
»Aber er hat es doch nicht deinetwegen getan, sondern sozusagen für die Ehre seiner Schwester.«
»Für Theresens Ehre? Wie kommst du auf die Idee?«
»Du hast mir doch erzählt, daß der junge Mensch Therese im Walde angesprochen hatte, während sie die ›Emilia Galotti‹ studierte.«
»Ja das ist schon wahr. Übrigens hat sie sich ganz gern ansprechen lassen. Dem Leo war es aber nur deswegen zuwider, weil der junge Graf zu einer Gesellschaft von jungen Leuten gehört hat, die sich wirklich ziemlich frech und halt ein bissel antisemitisch benommen haben. Und wie Therese einmal mit ihrem Bruder am See spazieren geht und der Graf kommt daher und redet Therese an wie eine gute Bekannte und murmelt nur so beiläufig für Leo seinen Namen, da hat Leo ein Buckerl gemacht und sich ihm mit den Worten vorgestellt: ›Leo Golowski, Jüd aus Krakau.‹ Was es weiter gegeben hat, weiß ich nicht genau. Es ist zu einem Wortwechsel gekommen, und am nächsten Tag war dann das Duell in Klagenfurt in der Kavalleriekaserne.«
»Da hab ich doch recht«, beharrte Georg spöttisch, »für die Ehre seiner Schwester hat er sich geschlagen.«
»Nein, sag ich dir. Ich bin ja dabei gewesen, wie er später einmal mit Therese über die Geschichte gesprochen und ihr gesagt hat: ›Von mir aus kannst du tun, was dir Spaß macht, kannst dir den Hof machen lassen, von wem du willst‹ ...«
»Nur ein Jud muß es halt sein ...«, ergänzte Georg.
Anna schüttelte den Kopf. »So ist er wirklich nicht.«
»Ich weiß«, erwiderte Georg mild. »Wir sind ja sehr gute Freunde geworden in der letzten Zeit, dein Leo und ich. Gestern Abend erst sind wir wieder im Kaffeehaus zusammen gewesen, und er war wirklich sehr herablassend zu mir. Ich glaube, mir verzeiht er sogar meine Abstammung. Im übrigen hab ich dir noch gar nicht erzählt, daß auch Therese heute bei Ehrenbergs oben war.« Und er berichtete von dem Erscheinen des jungen Mädchens im Salon Ehrenberg und von dem Eindruck, den sie auf Demeter gemacht hatte.
Anna lächelte vergnügt dazu.
Später, während sie wieder in einer stilleren Straße Arm in Arm spazierten, begann Georg von neuem: »Jetzt weiß ich aber noch immer nicht, wer die große Liebe gewesen ist.«
Anna schwieg und sah vor sich hin.
»Nun, Anna! Du hast mir ja versprochen, nicht wahr?«
Ohne ihn anzusehen, erwiderte sie: »Wenn du nur ahntest, wie sonderbar mir heute die Geschichte vorkommt.«
»Warum sonderbar?«
»Weil der, nach dem du fragst, eigentlich ein alter Mann gewesen ist.«
»Fünfunddreißig«, scherzte Georg, »nicht wahr?«
Sie schüttelte ernsthaft den Kopf. »Er war achtundfünfzig oder sechzig.«
»Und du?« fragte Georg langsam.
»Im Sommer waren es zwei Jahre. Einundzwanzig war ich damals.«
Georg blieb plötzlich stehen. »Nun weiß ich es, dein Gesangslehrer war es. Nicht wahr?«
Anna antwortete nicht.
»Also wirklich«, sagte Georg, ohne sich eigentlich zu wundern, denn es war ihm nicht unbekannt, daß sich in den berühmten Meister, trotz seiner grauen Haare, alle Schülerinnen verliebten.
»Und den«, fragte Georg, »hast du am meisten geliebt von allen Menschen, die dir begegnet sind?«
»Seltsam, nicht wahr? Aber es ist doch so ...«
»Hat er es gewußt?«
»Ich glaub schon.«
Sie waren auf einen ausgeweiteten Platz gekommen mit einer kleinen Gartenanlage, die nur spärlich beleuchtet war. Hinten erhob sich rötlich schimmernd eine Kirche. Dorthin, als zög es sie an einen stillern Ort, wandelten sie unter dunkeln, leise schwankenden Ästen.
»Und was ist denn eigentlich zwischen euch vorgefallen, wenn man fragen darf?«
Anna schwieg, und Georg hielt in diesem Augenblick alles für möglich. Selbst, daß Anna die Geliebte jenes Menschen gewesen wäre. Aber innerhalb des Unbehagens, das er bei diesem Gedanken empfand, regte sich leise und kaum bewußt der Wunsch in ihm, seine Befürchtung bestätigt zu hören. Denn wie leicht und verantwortungslos ließ dies Abenteuer sich an, wenn Anna schon einem andern gehört hatte, eh sie die Seine wurde.
»Ich will dir die ganze Geschichte erzählen«, sagte Anna endlich. »Sie ist wirklich nicht so schrecklich.«
»Also?« fragte Georg, seltsam gespannt.
»Einmal nach der Stunde«, begann Anna zögernd, »hat er mir galant in die Jacke hineingeholfen. Und plötzlich hat er mich an sich gezogen und mich umarmt und geküßt.«
»Und du ...?«
»Ich ... ich war ganz berauscht.«
»Berauscht ...«
»Ja, es war etwas Unbeschreibliches. Er hat mich auf die Stirn geküßt und auf den Mund und aufs Haar ... und dann hat er meine Hand genommen und hat allerlei Worte gemurmelt, die ich gar nicht recht gehört hab ...«
»Und ...«
»Und dann ... dann waren Stimmen daneben ... er hat meine Hand losgelassen ... und es war aus.«
»Aus?«
»Ja, aus. Selbstverständlich war es aus.«
»Gar so selbstverständlich find ich das eigentlich nicht. Du hast ihn doch wiedergesehen.«
»Freilich, ich hab ja weiter bei ihm gelernt.«
»Und ...?«
»Ich sag dir doch, es war aus ... vollkommen, als wär überhaupt nie was gewesen.«
Georg wunderte sich, daß er sich beruhigt fühlte. »Und er hat nie wieder den Versuch gemacht?« fragte er.
»Nie wieder. Es wäre auch lächerlich gewesen. Und da er sehr klug war, hat er das selbst ganz gut gewußt. Vorher, es ist ja wahr, hatt ich ihn sehr geliebt. Aber nach diesem Vorfall war er nichts andres mehr für mich, als mein alter Lehrer. Gewissermaßen sogar älter, als er in Wirklichkeit war. Ich weiß nicht, ob du das so ganz verstehen kannst. Es war, als ob er den ganzen Rest seiner Jugend verschwendet hätte in jenem Augenblick.«
»Ich verstehe es ganz gut«, sagte Georg. Er glaubte ihr und liebte sie mehr als früher. Sie traten in die Kirche. Es war fast dunkel in dem weiten Raum. Nur vor einem Seitenaltar brannten trübe Kerzen, und drüben, hinter einer kleinen Heiligenstatue, schimmerte ein armes Licht. Ein breiter Strom von Weihrauchduft floß zwischen Wölbung und Steinfliesen hin. Der Meßner ging umher und klapperte leise mit den Schlüsseln. In den Bänken rückwärts, regungslos, dämmerten Gestalten. Langsam schritt Georg mit Anna vorwärts und fühlte sich wie ein junger Gatte auf Reisen, der mit seiner jungen Frau eine Kirche besichtigt. Er sagte es Anna. Sie nickte nur. »Es wär aber noch viel schöner«, flüsterte Georg, während sie eng aneinander geschmiegt vor der Kanzel standen, »wenn man wirklich miteinander irgendwo in der Fremde wäre ...«
Sie sah ihn an, wie beglückt und doch wie fragend; und er erschrak über seine eigenen Worte. Wenn Anna sie als ernsthafte Aufforderung oder gar als eine Art von Werbung aufgefaßt hätte? War er nicht verpflichtet sie aufzuklären, daß sie nicht so gemeint waren? ... Ein Gespräch fiel ihm ein, von neulich, als sie an einem windig-regnerischen Tag unter dem Schirm eingehängt über die Linie hinaus gegen Schönbrunn spaziert waren. Er hatte ihr den Vorschlag gemacht, mit ihm in die Stadt zu fahren und in irgend einem abgeschiedenen Gasthauszimmer mit ihm zu nachtmahlen; sie mit jener Frostigkeit, in der ihr ganzes Wesen manchmal erstarrte, hatte darauf erwidert: »für solche Sachen bin ich nicht.« Er hatte nicht weiter in sie gedrungen. Doch eine Viertelstunde später, allerdings im Lauf einer Unterhaltung über Georgs Lebensführung, aber vieldeutig lächelnd hatte sie die Worte zu ihm gesprochen: »Du hast keine Initiative, Georg.« Und in diesem Augenblick war ihm plötzlich gewesen, als täten sich Untiefen ihrer Seele auf, niemals vermutete und gefährliche, vor denen es gut war, sich in acht zu nehmen. Daran mußte er jetzt wieder denken. Was mochte in ihr denn vorgehen? ... Was wünschte sie und worauf war sie gefaßt? ... Und was wünschte, was ahnte er selbst? Das Leben war ja so unberechenbar. War es nicht sehr gut möglich, daß er wirklich einmal mir ihr draußen in der Welt herumreisen, eine Zeit des Glücks mit ihr durchleben ... und endlich von ihr scheiden würde, wie er von mancher andern geschieden war? Doch wenn er an das Ende dachte, das jedenfalls kommen mußte, ob es nun der Tod bringen mochte oder das Leben selbst, so fühlte er es wie ein gelindes Weh im Herzen ... Noch immer schwieg sie. Fand sie wieder, daß es ihm an Initiative fehlte? ... Oder dachte sie vielleicht: Es wird mir ja doch gelingen, ich werde seine Frau sein ...?
Da fühlte er ihre Hand ganz leise über die seine streichen, mit einer ihm wie neuen, sehr wohltuenden Zärtlichkeit. »Du, Georg«, sagte sie.
»Was denn?« fragte er.
»Wenn ich fromm wäre«, erwiderte sie, »möcht ich jetzt um was beten.«
»Um was?« fragte Georg beinahe ängstlich.
»Daß was aus dir wird, Georg. Was sehr Bedeutendes! Ein wirklicher, ein großer Künstler.«
Unwillkürlich blickte er zu Boden, wie in Beschämung, daß ihre Gedanken um soviel reinere Wege gegangen waren als die seinen.
Ein Bettler hielt den dicken, grünen Vorhang offen, Georg gab dem Mann ein Geldstück; sie waren im Freien. Straßenlichter glänzten auf, Geräusche von Wagen und Rolläden waren nah, Georg fühlte, wie ein feiner Schleier zerriß, den der Kirchendämmer um ihn und sie gewoben hatte, und in befreitem Ton schlug er eine kleine Spazierfahrt vor. Anna war gern einverstanden. In einem offenen Fiaker, dessen Dach sie über sich aufspannen ließen, fuhren sie die Straße hinab, ließen sich um den Ring führen, ohne viel von Gebäuden und Gärten zu sehen, sprachen kein Wort und schmiegten sich enger aneinander. Sie fühlten jeder die eigne und des andern Ungeduld und wußten, daß es kein Zurück mehr gab.
In der Nähe von Annas Wohnung sagte Georg: »Wie schade, daß du schon nach Hause mußt.«
Sie zuckte die Achseln und lächelte sonderbar. Die Untiefen, dachte Georg wieder, aber ohne Angst, heiter beinahe. Eh der Wagen an der Ecke hielt, verabredeten sie ein Rendezvous für den nächsten Vormittag, im Schwarzenberggarten, dann stiegen sie aus. Anna eilte nach Hause, und Georg bummelte langsam gegen die Stadt zu.
Er überlegte, ob er ins Kaffeehaus gehen sollte. Er hatte keine rechte Lust dazu. Bermann blieb heute wohl bei Ehrenbergs zum Souper, auf Leo Golowskis Kommen war nur selten zu rechnen; und die andern jungen Leute, meist jüdische Literaten, die Georg in der letzten Zeit flüchtig kennen gelernt hatte, lockten ihn nicht eben an, wenn er auch manche von ihnen nicht uninteressant gefunden hatte. Im ganzen fand er den Ton der jungen Leute untereinander bald zu intim, bald zu fremd, bald zu witzelnd, bald zu pathetisch; keiner schien sich dem andern, kaum einer sich selbst mit Unbefangenheit zu geben. Heinrich hatte übrigens neulich erklärt, er wollte mit dem ganzen Kreis nichts mehr zu tun haben, der ihm seit seinen Erfolgen durchaus gehässig gesinnt sei. Georg hielt es allerdings für möglich, daß Heinrich in seiner eiteln und hypochondrischen Art Feindseligkeiten und Verfolgungen auch dort witterte, wo vielleicht nur Gleichgültigkeit oder Antipathie vorhanden waren. Er für seinen Teil wußte, daß es weniger Freundschaft war, die ihn zu dem jungen Schriftsteller hinzog, als Neugier, einen seltsamen Menschen näher kennen zu lernen; vielleicht auch das Interesse, in eine Welt hineinzuschauen, die ihm bisher ziemlich fremd geblieben war. Denn während er selbst nach wie vor sich ziemlich zurückhaltend verhalten und insbesondere über seine Beziehungen zu Frauen jede Andeutung vermieden, hatte ihm Heinrich nicht nur von der fernen Geliebten erzählt, für die er Qualen der Eifersucht zu leiden behauptete, sondern auch von einer hübschen, blonden Person, mit der er in der letzten Zeit seine Abende zu verbringen pflegte, um sich zu betäuben, wie er mit Selbstironie hinzufügte; nicht nur von seinen Wiener Studenten- und Journalistenjahren, die noch nicht weit zurücklagen, sondern auch von der Kinder- und Knabenzeit in der kleinen böhmischen Provinzstadt, wo er vor dreißig Jahren zur Welt gekommen war. Sonderbar und zuweilen fast peinlich erschien Georg der wie aus Zärtlichkeit und Widerwillen, aus Gefühlen von Anhänglichkeit und von Losgerissensein gemischte Ton, in dem Heinrich von den Seinen, insbesondere von dem kranken Vater sprach, der in jener kleinen Stadt Advokat, und eine Zeitlang Reichsratsabgeordneter gewesen war. Ja, er schien sogar ein wenig stolz darauf zu sein, daß er als Zwanzigjähriger schon dem allzu Vertrauensseligen sein Schicksal vorausgesagt hatte, genau so wie es sich später erfüllen sollte: nach einer kurzen Epoche der Beliebtheit und des Erfolgs hatte das Anwachsen der antisemitischen Bewegung ihn aus der deutsch-liberalen Partei gedrängt, die meisten Freunde hatten ihn verlassen und verraten, und ein verbummeltet Kouleurstudent, der in den Versammlungen die Tschechen und Juden als die gefährlichsten Feinde deutscher Zucht und Sitte hinstellte, daheim seine Frau prügelte und seinen Mägden Kinder machte, war sein Nachfolger im Vertrauen der Wähler und im Parlament geworden. Heinrich, dem die Phrasen des Vaters von Deutschtum, Freiheit, Fortschritt in all ihrer Ehrlichkeit immer gegen den Strich gegangen waren, hatte dem Niedergang des alternden Mannes anfangs wie mit Schadenfreude zugesehen; allmählich erst, als der einst gesuchte Anwalt auch seine Klienten zu verlieren begann, und die materiellen Verhältnisse der Familie sich von Tag zu Tag verschlechterten, stellte bei dem Sohne sich ein verspätetes Mitleid ein. Er hatte seine juristischen Studien früh genug aufgegeben und mußte den Seinen durch journalistische Tagesarbeit zu Hilfe kommen. Seine ersten künstlerischen Erfolge fanden in dem verdüsterten Hause der Heimat kein Echo mehr. Dem Vater nahte unter schweren Zeichen der Wahnsinn, und der Mutter, für die gleichsam Staat und Vaterland zu existieren aufgehört hatten, als ihr Mann nicht wieder ins Parlament gewählt wurde, versank nun, da dieser in geistige Nacht fiel, die ganze Welt. Die einzige Schwester Heinrichs, einst ein blühendes und tüchtiges Geschöpf, war nach einer unglücklichen Leidenschaft für eine Art von Provinz-Don Juan in Schwermut verfallen, und krankhaft eigensinnig gab sie dem Bruder, mit dem sie sich in der Jugend vortrefflich verstanden hatte, die Schuld an dem Unglück des elterlichen Hauses. Auch von andern Verwandten erzählte Heinrich, deren er aus früherer Zeit sich erinnerte, und ein teils lächerlicher, teils rührender Zug fromm beschränkter alter Juden und Jüdinnen schwebte an Georg vorüber, wie Gestalten einer andern Welt. Er mußte es am Ende begreifen, daß Heinrich durch keinerlei Heimweh nach jener kleinen, von kläglichem Parteihader zerrissenen Stadt, in die dumpfe Enge des zugrunde gehenden Elternhauses sich zurückgerufen fühlte, und sah ein, daß Heinrichs Egoismus ihm zugleich Rettung und Befreiung bedeutete.
Vom Turm der Michaelerkirche schlug es neun, als Georg vor dem Kaffeehaus stand. An einem Fenster, das der Vorhang nicht verhüllte, sah er den Kritiker Rapp sitzen, einen Stoß von Zeitungen vor sich auf dem Tisch. Eben hatte er den Zwicker von der Nase genommen, putzte ihn, und so sah das blasse, sonst so hämisch-kluge Gesicht, mir den stumpfen Augen wie tot aus. Ihm gegenüber, mit ins Leere gehenden Gesten, saß der Dichter Gleißner, im Glanze seiner falschen Eleganz, mir einer ungeheuern, schwarzen Krawatte, darin ein roter Stein funkelte. Als Georg, ohne ihre Stimmen zu hören, nur die Lippen der beiden sich bewegen und ihre Blicke hin- und hergehen sah, faßte er es kaum, wie sie es ertragen konnten in dieser Wolke von Haß sich eine Viertelstunde lang gegenüber zu sitzen. Er fühlte mit einemmal, daß dies die Atmosphäre war, in der das Leben dieses ganzen Kreises sich abspielte, und durch die nur manchmal erlösende Blitze von Geist und von Selbsterkenntnis zuckten. Was hatte er mit diesen Leuten zu tun? Eine Art von Grauen erfaßte ihn, er wandte sich ab und entschloß sich, statt ins Kaffeehaus zu gehen, endlich wieder einmal den Klub aufzusuchen, dessen Räume er seit Monaten nicht betreten hatte. Es waren nur wenige Schritte bis dahin. Bald stieg Georg die breite Marmortreppe hinauf, begab sich in den kleinen Speisesaal mit den lichtgrünen Vorhängen und wurde von Ralph Skelton, dem Attaché der englischen Botschaft, und Doktor von Breitner, die in einer Ecke beim Souper saßen, als ein lang Vermißter mit gedämpfter Herzlichkeit begrüßt. Man sprach von dem Turnier, das bevorstand, von dem Bankett, das zu Ehren der ausländischen Fechtmeister veranstaltet werden sollte; plauderte über die neue Operette am Wiedner Theater, in der Fräulein Lovan als Bajadere beinahe nackt aufgetreten war, und über das Duell des Fabrikanten Heidenfeld mit dem Leutnant Novotny, in dem der beleidigte Ehemann gefallen war. Nach dem Essen spielte Georg mit Skelton eine Partie Billard und gewann. Er fühlte sich immer behaglicher und nahm sich vor, von nun an wieder öfters diese luftigen und hübsch ausgestatteten Räume zu besuchen, in denen angenehme, gut angezogene junge Leute verkehrten, mit denen man sich in guter und leichter Weise unterhalten konnte. Felician erschien, erzählte seinem Bruder, daß es bei Ehrenbergs noch ganz amüsant geworden war und brachte ihm Grüße von Frau Marianne. Breitner, eine seiner berühmten Riesenzigarren im Mund, gesellte sich zu den Brüdern und sprach davon, daß im Speisesaal nächstens die Bilder einiger verdienter Klubmitglieder aufgehängt werden sollten, vor allem das des jungen Labinski, der im vorigen Jahr durch Selbstmord geendet hatte. Und Georg mußte an Grace denken, an das seltsam glühend-kalte Gespräch mit ihr auf dem Friedhof im schmelzenden Februarschnee und an jene wundervolle Nacht, auf dem mondbeglänzten Deck des Dampfers, der sie beide von Palermo nach Neapel gebracht hatte. Er wußte kaum, nach welcher Frau er sich am meisten sehnte in diesem Augenblick: nach Marianne, der Verlassenen, nach Grace, der Entschwundenen, oder nach dem anmutigen jungen Geschöpf, mit dem er vor ein paar Stunden in einer dämmrigen Kirche herumspaziert war, wie Hochzeitsreisende in einer fremden Stadt, und das den Himmel hatte anflehen wollen, daß ein großer Künstler aus ihm würde. In der Erinnerung daran verspürte er eine gelinde Rührung. War es nicht beinahe, als läge ihr mehr an seiner künstlerischen Zukunft als ihm selbst? ... Nein, ... nicht mehr. Sie hatte ja doch nur ausgesprochen, was immer tief im Grunde seiner Seele schlummerte. Er vergaß nur sozusagen manchmal, daß er ein Künstler war. Aber das mußte anders werden. So viel war begonnen und vorbereitet. Nur etwas Fleiß, und es konnte am Erfolg nicht fehlen. Und im nächsten Jahr ging es hinaus in die Welt. Eine Kapellmeisterstelle war bald gefunden, und mit einem kräftigen Sprung stand man mitten in einem Beruf, der Geld und Ehren brachte. Neue Menschen lernte er kennen, ein anderer Himmel glänzte über ihm, und geheimnisvoll wie aus fernem Nebel, streckten unbekannte weiße Arme sich nach ihm aus. Und während die jungen Leute neben ihm sehr ernsthaft die Chancen der Kämpfer bei dem bevorstehenden Turnier erwogen, träumte Georg in seiner Ecke weiter von einer Zukunft voll Arbeit, Ruhm und Liebe.
Zur gleichen Stunde lag Anna in ihrem dunkeln Zimmer, ohne zu schlafen, die weit offenen Augen zur Decke gerichtet; zum erstenmal in ihrem Leben mit dem untrüglichen Gefühl, daß es einen Menschen auf der Welt gab, der aus ihr machen konnte, was ihm beliebte; mit dem festen Entschluß, alle Seligkeit und alles Leid hinzunehmen, das ihr bevorstehen mochte; und mit einer leisen Hoffnung, schöner, als alle, die ihr je erschienen waren, auf ein beständiges und ruhevolles Glück.