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Erstes Buch

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Friedrich Vandekamp befindet sich auf seinem Morgenweg in sein Kontor. Es liegt auf der Speicherinsel, mitten im geschäftlichen Treiben der alten Hansestadt, die jetzt „Freie Stadt“ genannt wird. Sein Landhaus aber hat er sich draussen aufgebaut. In grün umkränzte Hügel hat er es gebettet mit weitem freien Blick auf den sanft aufsteigenden Wald und den blauenden Himmel über ihm. Kein Ton der aufgeregten Geschäftigkeit dringt in seine abgeschlossene Stille. Nur das Surren der elektrischen Bahn hört man aus verschleierter Ferne. Sonst nichts als Vogelgezwitscher und Bäumerauschen, und an Tagen, an denen die Luft besonders tragfähig ist, ein dumpf verhaltenes Murren und Grollen, als käme es vom Meere herüber. Aber vielleicht bildet er sich das nur ein. Denn seine Frau, die oben krank auf ihrem Zimmer liegt und für alles, was um sie her klingt und tönt, ein sehr feines Gehör besitzt, hat für seine Wahrnehmung nur ihr überlegenes Lächeln und meint, das Meer läge viel zu weit von ihrem waldumgebenen Hause, als dass man sein Rauschen bis hierher vernehmen könnte. Mag sein, dass er es sich einbildet. Schliesslich ist es ihm gleich. Er hat an soviel anderes zu denken, für soviel anderes zu sorgen, das wichtiger und gewinnbringender ist.

Er macht den Weg immer zu Fuss. Gewiss, er hat seinen Wagen. Aber er benutzt ihn nie. Sein Sohn Timm beansprucht ihn für seinen Sport, seine Jagden und galanten Ausflüge genügend, und er bedarf bei seiner angestrengten Tätigkeit der Bewegung und der frischen Luft.

Der Weg ist weit, aber sehr schön. Besonders in der Morgenfrühe, wenn alles um ihn her eben aufgestanden und noch jung und unverbraucht ist. In den Vorgärten, die sorgsam, manchmal bis zu gezierter Überkultur, gepflegt sind, erfreut ihn die bunte Üppigkeit der scheinbar wahllos und doch in wohlüberlegtem Gleichmass gepflanzten Bäume. Am Wegesrand sind die schattenden Kastanien beschäftigt, ihre ersten Kerzen anzuzünden, einige sind bereits weiter in der Arbeit, andere scheinen sich Zeit zu lassen. Gerade so ist es mit dem Flieder; der weisse ist in voller Blüte, der rotblaue hüllt sich noch in keusch verschlossene Knospen. Aber leiser, weicher Duft schwebt schon herüber, erquickt den Sinn und lenkt Vandekamp, für Augenblicke wenigstens, von den Gedanken und Sorgen ab, die nun einmal mit ihm gehen, wohin er den Fuss auch wendet. Dafür ist er der Inhaber einer der grössten Firmen der Stadt, und dafür hat er zu Hause die kranke Frau.

Nun ist er in die herrliche alte Allee eingebogen, die, zweireihig zu beiden Seiten der breiten, asphaltierten Strasse, den schmucken Vorort mit der Stadt verbindet.

Die Linden, die Spätlinge des Frühlings, haben weichschimmernde grüne Schleier angetan, die sich hier und da schon verdichten, so dass die Morgensonne einige Mühe hat, mit ihren des Kampfes noch wenig geübten Strahlen durch ihr im leichten Winde spielendes Gewirr hindurchzudringen.

Friedrich Vandekamp hat die Allee verlassen und wandert, den Schritt ein wenig beeilend, über die Nordpromenade, durch den winzigen Irrgarten, dessen Benennung einer übermütigen Ironie entsprungen scheint, der Stadt zu.

Der Frühling ist diesmal später und kälter als sonst wohl auf den Plan getreten. Er hat hier oben im herbgetönten Osten ja immer ein etwas sprödes Gesicht. Diesmal jedoch ganz besonders. Gerade so aber liebt ihn Friedrich Vandekamp. Denn in seiner durchsichtigen Klarheit und härtlichen Würze wirkt er um so wohltätiger auf angespannte Nerven und ein überarbeitetes Gehirn. Dankbar geniesst er ihn mit jedem Schritt, den er vorwärts kommt, zugleich mit einer leichten Wehmut, zu der er neigt. Denn er weiss, wie bald und unversehens, wenn man Tag für Tag dieselbe Strasse wandert, das Bild wechselt, wie dieser lachende Frühling dem schwülen Sommer, in dem ihm der lange Weg nicht mehr ganz leicht fällt, und dem Spätherbst, unter dessen fröstelnder Feuchtigkeit er leidet, den Platz räumen wird.

Wie pfeilschnell doch solche Jahre dahinfliessen, wenn jedes von ihnen genau dasselbe bringt: die streng geregelte Arbeit im Kontor, das anstrengende Disponieren, den niemals Ruhe lassenden Gelderwerb.

Aber diese wunderbaren Denkmäler altdeutscher Kunst, die er auch heute wieder mit stiller Ehrfurcht betrachtet, sie bleiben sich in ihrer Schönheit immer gleich, ob er sie im flimmernden Spiel der jungen Frühlingskinder, im satten Glühen der sommerreifen Sonne oder in den grotesk gezackten Gebilden des winterlichen Schnees erblickt.

Seltsam, dass das Geschaffene beständiger und dauerhafter sein kann als die Natur, ja, als das Leben selber, in dem der Wechsel das einzig Bestehende ist: dies goldgezierte Hohe Tor und gegenüber der altgotische Stockturm, über die Jahrhunderte hindurch Frühling und Herbst, Sommer und Winter dahingegangen sind und die so fest und trutzig dastehen, als gäbe es für sie weder einen Wechsel der Jahreszeiten noch der Schicksale.

Die Langgasse mit ihren alten Patrizierhäusern schreitet er hinunter, wird überall gegrüsst, hier und da auch angesprochen, obwohl er ungern stehen bleibt und Antworten gibt, deren Einsilbigkeit nicht zum Weiterreden ermuntert.

Pfeilschlank wie eine Nadel glüht der goldverbrämte Rathausturm zu ihm hinüber. Wie ein stiller Fingerzeig in Fernen, die man nur mit der Seele suchen und ersehnen kann. Feingemeisselte Spitzbogen lassen ihr wunderzartes Gewebe in der Sonne funkeln. Um den Neptunsbrunnen schwirren Tauben, flattern mit den silberglänzenden Schwingen hoch empor zum alten Artushof ...

Und nun? Was wächst ihm da entgegen? Reckt sich vor ihm empor aus dem steinernen Wald von Zinnen und Mauern, dem Geäst spitzgeschärfter Vasallentürmchen, aus dem weich und warm ihn umschmiegenden Häusergewirr? Etwas Massiges, Wuchtiges, Unaussprechliches, ein Recke, stark und gewaltig, einsam in seiner unnahbaren Majestät. Lässt den Blick auf ihn hinuntergleiten, den armen kleinen Wanderer dort, der mit seinen Geldgedanken und Geschäftssorgen seine Strasse zieht, so stolz und geringschätzig zugleich, dass Friedrich Vandekamp, der eben eine sehr gewichtige, heute abzuschliessende Berechnung durchkalkuliert hat, über sich selber den Kopf schütteln muss.

Der Turm von St. Marien ist es, das Wahrzeichen und der getreue Eckart der alten Hansestadt, der sturmverwitterte Zeuge ihrer Geschichte und Geschicke, ihrer Leiden, Kämpfe und Siege.

Friedrich Vandekamp ist kein Kunstkenner. Er will auch keiner sein. Er ist Kaufmann. Das ganze Wesen und Werk seines in nüchterner Gleichmässigkeit sich abwickelnden Daseins ist in dies eine Wort eingeschlossen wie in eine Festung. Aber die Liebe zu seiner Heimatstadt, in der er geboren ist, in der er auch sterben will, die trägt er im tiefsten Herzen, und ihre alten Bauten und Kunstdenkmäler sind ihm vertraut von seiner ersten Kindheit an.

Am Steffenshaus vorbei ist er durch das grüne Tor an die Mottlau gelangt. Und wieder ist ihm, als spürte er den Geruch der See, den der schärfer gewordene Wind von Neufahrwasser herüberträgt. Er liebt diesen Geruch. Eine erfrischende Würze ist in ihm und ein neubelebender Atem. Er muss an den Ausspruch eines süddeutschen Geschäftsfreundes denken: Dass die Leute im härtlichen Norden und Osten sich länger schaffensstark erhielten als die im weicheren Süden oder Westen.

Auch er?

Gewiss — — auch er.

Und doch — — da regt es sich wieder, dies schreckliche Gefühl der Leere, das vom Magen aufsteigt, schmerzend über Brust und Rücken streicht, auch das Herz auf einen bangen Augenblick aussetzen lässt, so dass er stehen bleiben muss ... mitten auf der Strasse.

Es sind einige Wochen her, dass sich diese Anfälle eingestellt haben, plötzlich und unvermutet, niemals mitten in der Arbeit, aber mehrere Male auf dem Wege zum Kontor, der vielleicht schon zu weit und anstrengend für ihn geworden.

Er hat mit niemand aus seinem Hause darüber gesprochen. Mit wem sollte er auch? Seine Frau ist mit dem eigenen Leiden vollauf beschäftigt, und er darf sie nicht aufregen. Seine Kinder aber, Timm in seiner strotzenden Gesundheit und Ina in ihrer abgesonderten Art, wären einer Klage von ihm gewiss wenig zugänglich gewesen.

Schliesslich hat er sich dem alten Meckbach, seinem vielbewährten Hausarzt, offenbart. Der hat ihn nach einer eingehenden Untersuchung für vollkommen gesund erklärt. „Ein bisschen Nerven- und Muskelüberanstrengung“, hatte er gesagt. „Das ist alles. In unseren Jahren muss man haushälterisch mit seinem Körper umgehen.“

Und er hatte recht behalten. Es ging vorüber, geht auch jetzt wieder so schnell vorüber, wie es gekommen ist. Und er kann seinen Weg, von Druck und Schmerz befreit, fortsetzen.

„Aber seltsam ist es doch“, denkt er bei sich selber, „komisch beinahe! Da beschäftigt man sich den ganzen Tag vom frühen Morgen bis zum späten Abend mit seinen Plänen und Geschäften, kauft die Zeit aus, wünscht der Sekunde Ewigkeitsdauer, nur um sie gewinnreich nutzen zu können. — — — Und eines Tages versagt der Körper seinen Dienst. Man wird schwach .. hinfällig .. krank .. Und dann — —“

Ja — — — und dann?

Durch die Luft schwimmt heller Glockenton. Das Uhrenspiel im Rathausturm lässt einen frommen Choral ertönen, kündet dann mit ehernen, bedächtig ausholenden Schlägen die neunte Stunde.

Es ist genau die Zeit, in der er Morgen für Morgen in die Speicherinsel einbiegt. Mit ihr beginnt die Welt, in der er lebt und wirkt. Wie ein weiter Lagerplatz dehnt sie sich mit den übereinandergetürmten Stockwerken, den scharf und spitz hervorspringenden Giebeln. Von den Stürmen der Zeit zerklüftet und zernagt stehen sie Schulter an Schulter, tragen noch ihre Inschriften, ihre meist der Tierwelt entnommenen Namen aus verklungenen Jahrhunderten.

Hier befindet sich, ein Fremdling in seiner schmalfrontigen, verträumten Umgebung und sich fast grotesk von ihr abhebend, ein nach moderner Sachlichkeit breit und hoch aufgeführtes Gebäude: das Holzexporthaus Vandekamp & Co. Und als Friedrich Vandekamp in seine weitangelegte Flurhalle tritt, lässt er Frühling und architektonische Schönheit hinter sich, denkt und lebt in ihm nichts als das Geschäft.

Im Kontor ist heute nicht die Ruhe, deren Vorbild er gibt und die er auch von den anderen verlangt. Alles ist in einer Erregung, deren Schwingungen sich von Pult zu Pult fortpflanzen. Man hat auf den Chef gewartet, gibt, scheinbar in eifriger Versenkung über seine Befrachtungstabellen und Konossemente gebeugt, gespannte Obacht, was er sagen, was er tun wird.

„Er weiss noch nichts“, flüstert Max Laudien, der Einkäufer, zu Herrn Siebenfreund hinüber, der der Abteilung für Polen und Pommerellen vorsteht.

„Er weiss alles“, gibt der zurück, „er sagt nur nichts.“

Indessen ist Friedrich Vandekamp in sein Privatkontor getreten. Es ist ein von allen anderen Räumen streng abgeschlossenes Zimmer, nicht umfangreich und mit nüchterner Einfachheit ausgestattet. In der Mitte, die grössere Hälfte des Zimmers einnehmend, befinden sich zwei gegenübergestellte Schreibtische. Auf dem des Chefs liegt ein Stoss der für ihn streng ausgesonderten Post. Der andere ist mit Geschäftsbüchern, Tabellen und Konnossementen belegt.

Von dem Augenblicke an, in dem Friedrich Vandekamp diesen Raum betritt, ist er für alle anderen gesperrt. Dafür sorgt schon Söna Sentland, die niemanden zum Chef lässt. Nur unaufschiebbare Dinge und solche von höchster Wichtigkeit werden ihm persönlich vorgetragen. Für alles andere ist Berthold Kernreif da, der schmächtige, von oben bis unten zugeknöpfte Prokurist, der im Verkehr mit den Kunden und Maklern die Unnahbarkeit und die schweigende Strenge der Zurückhaltung von seinem Chef gelernt hat, ihn überhaupt, wo es angebracht oder nur möglich ist, gern kopiert.

Und schon hat Friedrich Vandekamp den ersten Verdruss des Tages, gegen den er allmählich abgestumpft sein sollte, es aber immer noch nicht ist: der Stuhl ihm gegenüber ist leer.

„Er kann sich nicht an die Pünktlichkeit gewöhnen“, flüstert er mehr traurig als ärgerlich vor sich hin. „Vermutlich hat er wieder die halbe Nacht im Klub gesessen oder seine kleine Freundin nach dem Kino zu Lauterbach geladen ...“

Er nimmt seine Post zur Hand. Einige der zahlreich eingegangenen und meist ausführlichen Schreiben mustert er oberflächlich, um sie bald zur Seite zu legen, andere fliegt er durch, ohne ihnen weitere Beachtung zu schenken. Dann drückt er den roten Knopf auf dem umfangreichen Fernsprechapparat zu seiner Linken, nimmt den Hörer, ruft ein kurzes Wort hinein, und Theobald Kernreif, der im Dienste des Hauses ergraute Prokurist, erscheint.

Friedrich Vandekamp gibt ihm an der Hand der verschiedenen Schreiben und der zu ihnen gemachten Bemerkungen seine Weisungen, knapp, klar, ein jedes Wort wägend, damit er nicht eins zuviel sage. Denn er weiss, mit zu grossen Anforderungen darf er den nur auf sehr gerader Linie laufenden Gedankengang seines Prokuristen nicht beschweren. Schliesslich braucht er kaum einen Prokuristen. Er disponiert und verfügt allein, und Söna Sentland mit ihrem schnellen Erfassen und gewissenhaften Ausführen genügt ihm vollkommen.

So hat auch diesmal die ganze Unterredung nur wenige Minuten gedauert, und Friedrich Vandekamp gibt den üblichen kurzen Wink, der eigentlich nur ein ganz leichtes Aufheben des Armes von der Schreibtischplatte ist und bedeutet, dass Theobald Kernreif entlassen ist.

Der aber rührt sich nicht von der Stelle. Wie angewurzelt verharrt er auf seinem Platze, das ernste, in einem unbestimmbaren Blassgrau schimmernde Auge unter den gewölbten Brillengläsern mit einem halb besorgten, halb ängstlichen Blick auf seinen Chef gerichtet.

„Sie wissen wohl noch nicht, Herr Vandekamp — —“

Schon hält er inne, macht eine jener schwerwiegenden Pausen, die er als eine seiner stärksten Gesprächshilfen ansieht und die Friedrich Vandekamp unerträglich sind.

„Dass Brackmann und Collins, denen wir die grosse Lieferung von Eichenrund- und Exporthölzern übertrugen, in Schwierigkeiten geraten sind, dass die Nachrichten aus Spanien wenig günstig lauten, dass die Unruhen dort, die bereits im Abflauen sind, uns weniger Sorge machen dürften als die Mitteilung unseres Korrespondenten aus Madrid, dass die Firma, mit der wir abgeschlossen, auf nicht mehr ganz sicheren Füssen steht — nicht wahr, das wollten Sie sagen?“

„Ja, wenn Sie so genau unterrichtet sind — —“

Theobald Kernreif kaut an den Worten. Er will eine gewichtige Einwendung machen, überlegt sie aber hin und her. Denn er darf den Respekt nicht verletzen, den er seinem Chef schuldig ist und den er, solange er seine Stellung bekleidet, stets als sein höchstes Gesetz betrachtet hat.

„— — Dann verstehe ich nicht“, sagt er jetzt, „dass Sie einen so weitgehenden Vertrag mit Brackmann und Collins tätigen konnten.“

„Vertrag? Von einem Vertrag ist nie die Rede gewesen.“

„Wenn er auch nicht formuliert war, so hat ihn Herr Brackmann doch als solchen aufgefasst.“

„Das ist seine Sache.“

„Und hat danach gehandelt.“

„Das ist seine Torheit.“

„Das Material, dessen wir für unsere spanische Lieferung bedurften, überstieg das Gewohnte und ging gewiss über Philipp Brackmanns Kräfte.“

„So hätte er die Lieferung ablehnen müssen.“

„Der Auftrag war ihm zu verlockend. Er hat einen solchen seit langer Zeit nicht erhalten.“

„Man soll nicht Kaufmann werden, wenn man nicht das Zeug dazu hat.“

Die Tür öffnet sich ... behutsam und leise, als bewegte sie ein schlechtes Gewissen. Ein junger Mann mit einem für die frühe Jahreszeit stark gebräunten Gesicht tritt in das Zimmer, wirft einen etwas unsicheren Blick auf den Vater, geht auf ihn zu, streckt ihm die gleichfalls fast dunkel gebräunte Hand entgegen.

„Es wurde gestern ein bisschen später. Zudem —“

„Hattest du die fällige Autopanne.“

„Wie du immer alles weisst, bevor man es dir sagt. Auch in Kleinigkeiten. Es ist wirklich erstaunlich.“

Er hat den Prokuristen flüchtig begrüsst und sich an seinen Schreibtisch gesetzt. Eilig gleiten seine wohlgepflegten Finger durch die Postsachen, die ihm der Vater zugeschoben hat. Aber er ist nicht bei der Sache. Immer wieder schielt sein Blick zu dem Vater hinüber, der einige Tabellen und Konnossemente einer genauen Musterung unterzieht. „Ob er nichts sagen wird? Ob er wartet, bis ich die Sache anschneide?“

„Ich bringe dir dafür wichtige Nachrichten“, rafft er sich schliesslich auf und macht dazu ein ernst besorgtes Gesicht, das ihm selber fremd vorgekommen wäre, wenn er es gesehen hätte. „Freilich, ob sie gerade angenehm sind — —?“

Er merkt, wie der Prokurist, der die erledigten Befrachtungs- und Stapeltabellen wieder an sich genommen und in seine grosse Mappe versenkt hat, ihm einen Wink gibt.

„Auch das weiss der Vater schon?“ fragt er ein wenig enttäuscht und zugleich erleichtert. „Ja, was soll denn nun werden?“

Friedrich Vandekamp antwortet nicht. Der Prokurist sieht die Zeit gekommen, sich zu entfernen. Er weiss, dass die beiden Herren jetzt allein sein wollen.

„Ich wünsche Fräulein Sentland“, sagt Friedrich Vandekamp kurz. Dieser Auftrag berührt Theobald Kernreifs empfindlichste Stelle. Denn er hat es längst gemerkt, dass der Chef und auch der junge Herr, den er in die Obliegenheiten und Geheimnisse des Hauses Vandekamp & Co. seinerzeit mit Gewissenhaftigkeit und ernstem Eifer eingeführt, in wichtigen Angelegenheiten mit der kleinen Sentland, die auch noch als Lehrling unter ihm gearbeitet, lieber verhandeln als mit ihm, dem erprobten und verantwortlichen Vertreter des Hauses.

„Ja, was soll nun werden?“ wiederholt Timm seine Frage, als sie beide allein sind.

Friedrich Vandekamp erledigt eine telephonische Anfrage, beugt sich über die Papiere, die ihm der Prokurist zur Unterfertigung dagelassen.

„Mit Brackmann und Co. soll es mehr als wackelig stehen. Du gabst ihm die Lieferung ausgerechnet vor Toresschluss. Das wäre an sich ja nicht schlimm. Aber dass du ihm eine Vorausbezahlung bis zur Hälfte des Betrages zubilligtest — — —“

Er erwartet eine Antwort, sei sie auch eine Zurechtweisung.

Aber nichts von beiden. Dies verfluchte Schweigen! Diese Harthörigkeit, hinter die sich der Vater jedesmal wie hinter einen undurchbrechbaren Wall verschliesst! Wie oft haben sie ihn, den viel Lebhafteren und Impulsiveren, zur Verzweiflung gebracht!

„Freilich, dass seine Mittel damals schon erschöpft waren, das konntest du nicht wissen.“

Friedrich Vandekamp legt den Riesenbleistift, mit dem er, wenn er disponiert (und er disponiert eigentlich immer) ein paar Aufzeichnungen zu machen pflegt, auf die Schreibtischplatte.

„Wer sagt dir, dass ich es nicht wusste? Im übrigen brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Der Auftrag ist zurückgezogen. Brackmann wird meinen eingeschriebenen Brief heute morgen erhalten haben.“

„Aber die Anzahlung — —?“

„Konnte ich im letzten Augenblick noch zurückrufen.“

„Ja .. aber warum sagtest du das nicht gleich?“

„Weil du mich nicht zu Worte kommen liessest. Aber ich habe mich über die warme Anteilnahme gefreut, die du in diesem Falle meinen geschäftlichen Massnahmen entgegenbrachtest. Es war auch Zeit. In dir steckt ein besserer Kaufmann, als ich bis jetzt vermuten durfte.“

Timm lächelt sein halb überlegenes, halb geschmeicheltes Lächeln. Aber, was der Vater ihm da eben eröffnet, erscheint ihm nicht recht fassbar.

„Und Brackmann — —?“ fragt er schliesslich.

„Wie er sich damit abfindet, ist seine Sache. Im Geschäftsleben ist sich jeder selbst der Nächste. Das geht nun einmal nicht anders. Auch du wirst es lernen.“

Ein junges Mädchen steht in dem Zimmer. Unmerkbar ist es eingetreten. Es weiss, dass es leise kommen und gehen muss, dass das geringste Geräusch den Chef bei der Arbeit stört. Es kennt jede seiner Gepflogenheiten, seine Neigungen und Abneigungen, erfühlt sie mit jener feinsicheren Einpassung des weiblichen Instinktes, dem Gefühl alles, Lernen und Erfahrung nur Zubehilfe sind.

Kein Wunder! Ist es doch als fünfzehnjähriger Lehrling in das grosse Exporthaus eingetreten, vermöge seiner Begabung und Gewissenhaftigkeit bald höher gerückt, Friedrich Vandekamps persönliche, unentbehrliche Sekretärin geworden. Eine schmal, aber kraftvoll gebaute Erscheinung in schmuckem, blau und weiss kariertem Jumper mit freier Stirn unter dichten dunklen Haaren, Augen, deren überlegene Klugheit ihrer Jugend vorausgeeilt ist und denen ein leichter Hauch von mädchenhafter Schwärmerei etwas Eigenes und Anziehendes gibt, unter keck geschwungenen Lippen ein etwas hartgerundetes, energisches Kinn: Söna Sentland.

„Ich möchte diktieren“, sagt Friedrich Vandekamp. „Sie haben alles zur Hand?“

Söna Sentland setzt sich, nimmt Stenogrammheft und Stift, schreibt mit fliegender und sicherer Hand nach Friedrich Vandekamps Diktat.

Da dringen von draussen her die Töne eines leidenschaftlich geführten Zwiegesprächs. Die eine Stimme begehrt Einlass zum Chef, die andere wehrt ab, nachdrücklich und energisch. Aber ohne Erfolg.

Denn schon wird die streng bewahrte Tür mit einem harten Ruck aufgerissen. Ein Mann tritt in das Kontor, an dem alles heiss aufbegehrende Erregung ist: Philipp Brackmann.

„Ich möchte doch sehen, wer mir hier den Eintritt wehren will, wo es für mich um Sein oder Nichtsein geht.“

„Wenn Sie sich in der meinem Personal zur Pflicht gemachten Form hätten anmelden lassen“, erwidert Friedrich Vandekamp, indem er sich von seinem Stuhle erhebt, „wäre Ihnen dieser unliebsame Auftritt, den ich bedaure, erspart geblieben.“

Philipp Brackmann sieht die Hand nicht, die sich ihm entgegenstreckt, er nimmt auch den Stuhl nicht, den ihm Söna Sentland hinschiebt.

„Ich bin gekommen, mir mein Recht zu holen.“

„Von einem Recht kann wohl kaum die Rede sein.“

„Nun, dann von einem schreienden Unrecht, das Sie mir angetan haben, Herr Vandekamp.“

„Ich bitte, setzen Sie sich. Im Stehen verhandele ich nicht gern.“

Philipp Brackmann lässt den schweren Körper in den Sessel gleiten.

„Sie sandten mir heute diesen Brief.“

Er nimmt ein Schreiben aus der Brusttasche, dem man es ansieht, wie manches Mal wohl eine zornentbrannte Hand auf seine Seiten geschlagen, wie es zwischen zitternden Fingern gedrückt und zerknittert wurde.

„Sie kündigen mir eine Lieferung, für die Sie mir eine sichere, wenn nicht gewisse Aussicht gemacht, kündigen Sie mir, nachdem ich alle Vorbereitungen für sie getroffen —“

„Es hat mir sehr leid getan, Herr Brackmann, Ihnen eine so schwere Enttäuschung bereiten zu müssen. Sie können mir glauben, ich habe harte Stunden durchgemacht, bevor ich mich zu diesem Schritte entschloss. Aber er war eine Notwendigkeit, der ich mich nicht entziehen konnte, wenn ich mich nicht ruinieren wollte.“

Man hört es seinen Worten an, dass sie aus einem traurigen Herzen kommen.

Aber dazu ist Philipp Brackmann nicht hergekommen, um sich von dem, das weiss er längst und fühlt es in diesem Augenblick aufs neue, weit überlegenen Vandekamp mit ein paar freundlichen Worten abspeisen zu lassen.

„Ich kann mich mit dieser Erklärung, selbst mit Ihrem Bedauern, nicht abgefunden sehen. Entweder ziehen Sie Ihre Absage zurück und lassen mir die Lieferung —“

„Ich sagte Ihnen, dass es unmöglich ist.“

„So beanspruche ich eine Entschädigung.“

„Eine Entschädigung? Wofür?“

„Für die Arbeiten, die ich habe vornehmen lassen, für die grossen Kosten, die mir aus ihnen entstanden sind.“

„Ich wüsste nicht, welche Arbeiten und welche grossen Kosten das gewesen sein könnten.“

„Wenn ich eine so grosse Lieferung von Eichenrundhölzern und Kiefernschwellen übernehmen und zu einem festen Termin durchführen sollte, so musste ich sie entsprechend vorbereiten. Ich habe mir deshalb beim Grafen Patocki auf Brinczyn einen umfangreichen Waldbestand gesichert und eine Anzahlung auf ihn gemacht, habe vor allem ein lohnendes Angebot auf Lieferung von Exportschnitthölzern abschlagen müssen, weil man auf sofortige Entscheidung drang und ich es unmöglich mit Ihrem Auftrag in Einklang bringen konnte —“

„Bevor Sie dieses Auftrages sicher waren? Bevor Sie einen Vertrag oder irgend etwas Festes in Händen hatten —?“

„Ich meinte, wenn ein Vandekamp mir eine solche Lieferung in Aussicht stellte, dann wäre sie so gut wie getätigt.“

Ein so fester Glaube an Friedrich Vandekamp und seine unfehlbare Sicherheit spricht aus diesen Worten. Der aber hat kein Ohr für sie.

„Es tut mir leid, Herr Brackmann, aber ich verstehe Sie nicht mehr, verstehe nicht, wie ein erfahrener. Kaufmann so wenig überlegt und unvorsichtig handeln konnte. Wie durften Sie so weittragende Verpflichtungen eingehen oder ein für Sie günstiges, sicheres Angebot ausschlagen, wo zwischen uns keinerlei Bindungen, überhaupt nichts Festes vereinbart war und es sich lediglich um eine Aussicht handelte, die ich Ihnen eröffnete?“

Friedrich Vandekamp hat recht gesagt: Er ist an der Grenze seines Verstehens angelangt. Von Jugend an kaufmännisch geschult und eingestellt, nichts im Sinne habend und nichts erstrebend als sein Geschäft, dessen Nutzen und Aufblühen, kann er ein so unkaufmännisches Handeln nicht begreifen, ja, nicht einmal verzeihen.

„Sie werden einsehen, Herr Brackmann, dass Sie nicht den geringsten Anspruch auf eine Entschädigung an mich stellen können.“

Ein jäher Wechsel vollzieht sich in Philipp Brackmanns Zügen: die Zuversicht, die sie bis dahin erfüllt, ist einer Bestürzung gewichen, die zu verbergen, ihm nicht mehr möglich ist. Er erkennt, dass der Mann, der ihm mit einem Male unberührt und jedem seiner Worte unzugänglich gegenübersitzt, mit seiner nachsichtslosen Klarheit, seiner verstandesnüchternen Schlussfolge im Recht ist, dass er sein Spiel verloren hat.

Er ist Alt-Danziger Kaufmann, seine Vorfahren gehörten zu den Patriziern, genau so wie die Vandekamps. Er hat noch nie gebeten, in seinem ganzen Leben nicht. Aber jetzt ... in seiner bis zum äussersten gestiegenen Bedrängnis, in der Not, in die er sich und sein Geschäft durch eine, das kann er sich nicht länger verhehlen, übereilte Handlungsweise gestürzt hat.

„Wenn Sie die Verpflichtung zu einer Entschädigung nicht anerkennen können“, ringt es sich von der stockenden Zunge, „so gewähren Sie sie mir aus freien Stücken, und ich werde Ihnen dankbar sein.“

Sieht Friedrich Vandekamp die hilflose Verlegenheit nicht auf den fahlbleichen Zügen des bitter enttäuschten Mannes? Vernimmt er die mühsam erkämpfte Bitte nicht, die die stammelnden Lippen angsterfüllt ihm entgegentragen?

Nichts von alledem. Philipp Brackmann ist als Kaufmann für ihn gerichtet. Damit ist die Angelegenheit für ihn erledigt.

„Auch dazu kann ich mich nicht verstehen.“

Eine Pause. Nichts hört man als das dumpfe Anschlagen einer Schreibmaschine im Nebenraum, in dem Söna Sentland die Briefe fertigt, die ihr der Chef vorhin diktiert und die bis zur Mittagspost fertig sein müssen, ab und zu auch das Läuten eines Fernrufers oder einen eilenden Schritt über den Flurgang.

Philipp Brackmann sitzt nicht mehr auf seinem Platze. Mit unsicherem Schritt tastet er durch das kleine Kontor, bleibt stehen, wischt mit einem grossen blauseidenen Tuch den Schweiss ab, der ihm in hellen Tropfen von der glühenden Stirn rinnt.

„Also keine Hilfe mehr!“

Unstet, ziellos irrt sein Blick durch den stillen Raum, bleibt auf Friedrich Vandekamps geschäftlich eingestellten Zügen haften, als hoffte er immer noch etwas von ihm. In dessen Gesicht zuckt es wohl auf, er fühlt sich auch nicht mehr so sicher und geborgen in seinem Rechte. Einmal ist es, als wolle er etwas sagen, vielleicht ein Zugeständnis machen, das, und sei es noch so gering, Rettung bringen könnte. — — — Dann aber erhebt sich eine Macht, tritt zwischen ihn und sein besseres Wollen, eine Macht, der Friedrich Vandekamp gedient hat sein Leben lang, der er verfallen ist mit Leib und Seele, die sein Gott geworden ist, ein strenger und unerbittlicher Gott, der keine anderen Götter neben sich duldet ... nein, kein Gott, ein Dämon, der ihn am Gängelbande führt, dem er hörig geworden ist und untertan: das Geld.

„Ich kann nichts für Sie tun, Herr Brackmann“, sagt er nicht ohne eine gewisse Überwindung, aber kurz und unweigerlich, als könnte er gar nicht anders, als gäbe diese Macht das Wort ihm ein.

Nicht von der Stelle rührt sich Philipp Brackmann. Und wiederum nimmt sein Auge die unstete Wanderung auf, irrlichtert hin und her ...

Plötzlich findet es ein Ziel: die junge Männergestalt, die dem Chef gegenübersitzt, Friedrich Vandekamps Sohn Timm.

Und nun richtet es sich mit einer Inbrunst auf ihn, klammert sich an seine Gestalt, sein Antlitz, als müsste von ihm die Hilfe kommen, die letzte, die der Vater ihm versagt. Die Jugend ist ja verständnisvoller, ist auch mitleidiger als das hart und unzugänglich gewordene Alter, hat ein weniger beschwertes Herz. Er hat es manches Mal erfahren, warum sollte es ihm hier versagt sein, wo er seiner am nötigsten bedarf, wo es der letzte Halt sein könnte, ihn aus der Tiefe seiner Not zu retten?

Er hat sich verrechnet. Nichts begegnet dem flehend suchenden Blick als kühle Gleichgültigkeit.

Nicht als ob der da drüben ohne Mitleid oder menschliche Regung wäre. Er ist von Natur aus gutmütig und zum Geben bereit, wahllos oft und ohne Überlegung. Für ihn gibt es die Macht nicht, die hemmend und unwiderstehlich den Vater beherrscht. Gewiss, auch er liebt das Geld. Aber es ist ihm lediglich ein Gegenstand, für den man bessere Werte eintauscht, seinen Freunden Gutes tun und ihnen helfen kann, sein Diener, aber nicht sein Herr. Solche Angelegenheiten aber sind Sache des Vaters, gehen ihn nichts an. Wozu sich mit ihnen beschweren?

So hat ihn diese ganze Unterredung wenig berührt, und er hat nur den einen Wunsch, dass sie bald beendet sein möchte. Denn er hat für den Nachmittag eine Autofahrt und ist schon ungeduldig, dass dies Gespräch so lange sich hinzieht und er sich womöglich verspäten könnte. Denn bevor der Vater gegangen, wagt er nicht recht, das Kontor zu verlassen.

Philipp Brackmann ist endlich zu der Erkenntnis der völligen Zwecklosigkeit seines längeren Bleibens gelangt. Auch diesmal verabschiedet er sich ohne Händedruck.

Nun kommt über Friedrich Vandekamp eine merkbare Unruhe. Er will zu seiner kranken Frau. So lange hat er sie noch nie warten lassen. Die Mittagszeit ist bereits weit überschritten, und er weiss, dass er sie im Schlafe nicht stören darf. Er wirft einen flüchtigen Blick auf die Schreiben, die Söna Sentland ihm vorlegt, fertigt seine Unterschriften, nimmt Hut und Mantel.

Vor dem Hause steht sein Wagen. Er will der vorgeschrittenen Stunde halber diesmal nicht zu Fuss gehen. Aber Timm hat sich den Wagen bestellt. Er will ihm nicht im Wege sein. So nimmt er die Elektrische und findet, dass man auch auf ihr sehr gut fährt.

Wenige Minuten später steigt Timm in sein Auto und fährt in höchster zulässiger Geschwindigkeit der ersehnten Verabredung entgegen.

Das Haus, das sich Friedrich Vandekamp im schönen Langfuhr, dicht am Waldessaum, am Knie einer aufwärts führenden Bergstrasse als Ruhesitz hat bauen lassen, hat seinen Mittelpunkt in einer mit künstlerischen Kostbarkeiten aller Art geschmückten Diele, um die oben herum ein breiter, von einem holzgeschnitzten Geländer eingefasster Gang läuft, in den die einzelnen Schlaf- und Gastzimmer münden.

Eins dieser Zimmer, das geräumigste und sonnigste von allen, mit weit ausladendem, auf bewaldete Hügel schauendem Söller, gehört der Dame des Hauses.

Eine mattblaue Seidentapete mit behutsam gemustertem Untergrund, weisse bauschige Gardinen und sanft geschwungene Möbel neuesten Stiles aus hellgemasertem Ahornholz geben dem Raum das freundlich Heitere, zugleich das mild Beruhigende eines Krankenzimmers. An den Fenstern sind dichte, tiefdunkle Vorhänge angebracht, die auf einen Wink der Herrin jedes Licht abschliessen, denn ihre Stimmung und Neigung wechselt beständig in der Weise, dass sie einmal in den hellen Tag sehen, dann wieder von schweigender Nacht eingehüllt sein will. Ihr Bett ist in die Mitte des Zimmers gestellt; an seiner einen Seite steht ein kleiner Tisch mit Fernsprecher, Läuteapparat, einem Block mit Merkzetteln und gespitzten Bleistiften, auf der anderen ein grösserer mit Gläsern, Arzneien, einigen Zeitschriften und Büchern.

Ein Nachtgewand von olivenfarbener Seide mit eingestickter, sorgsam abgetönter Blumenzeichnung umfliesst die früher zur Fülle neigende, jetzt etwas abgemagerte, aber immer noch wohlgebaute, vornehm-kühle Frauengestalt mit dem gelblich-blassen Gesicht, strenger Stirn und herrischem Kinn.

Schwer und müde öffnen sich die in ihrer Farbe wie in ihrem Ausdruck oft wechselnden Augen, als Friedrich Vandekamp auf Zehenspitzen an ihr Lager tritt.

„Nein, nicht auf den Bettrand, bitte! Du weisst, ich kann es nicht vertragen. Nimm einen Stuhl!“

Er tut, wie sie geheissen. Zagende Besorgnis, liebendes Mitleid umfassen ihre matt ruhende Gestalt.

„Als ich nach Hause kam, liess sich Pfarrer Wendland anmelden. Vielleicht willst du ihn auch noch sehen.“

„Nein, heute nicht. Er kommt ja doch nur Inas wegen.“

„Sie schien nicht allzu erfreut über seinen Besuch.“

„Über wen freut sie sich? Wen hat sie gern? Nicht einmal die Mutter.“

Sie legt sich das Kopfkissen zurecht, scheint eine Weile teilnahmslos.

„Ich muss es verschmerzen“, fährt sie mit nachdenklicher Stimme fort. „Es ist mir mit der eigenen Mutter nicht anders gegangen, wenn auch die Schuld an ihr liegt. Alles wiederholt sich im Leben. Alles vererbt sich. Alles rächt sich.“

Er ist erstaunt über ihre Worte. So hat sie noch niemals gesprochen. Ist es das lange Krankenlager?

„Aber um ihretwillen tut es mir leid. Sie hat nie eine Freundin gehabt, wird nie eine haben. Oft fürchte ich, sie ist einer grossen Liebe gar nicht fähig. Vielleicht haben wir sie, besonders du, zu sehr verwöhnt.“

„Und den Jungen weniger?“

Schon verdriesst es ihn, dass er es gesagt hat. Über diesen Punkt ist mit ihr nicht zu reden, und er hat sich fest vorgenommen, sie nicht aufzuregen.

„Genug. Geh jetzt! Ich muss ausruhen.“

Auf der Diele trifft er mit Pfarrer Wendland zusammen.

„Haben Sie meine Tochter nicht angetroffen?“ fragt er zerstreut.

„Mein Besuch galt Ihnen. Nicht Ihrer Tochter.“

Sofort weiss Friedrich Vandekamp, weshalb er gekommen ist.

„Ich wählte diese Mittagsstunde, weil ich sicher war, Sie jetzt anzutreffen.“

Und als Friedrich Vandekamp ihn in sein Bibliothekszimmer gebeten, in dem er persönliche Besuche zu empfangen pflegt:

„Ich möchte über den Fall Brackmann mit Ihnen sprechen. Der Mann ist heute in heller Verzweiflung von Ihnen in sein Kontor zurückgekehrt.“

„Er steht Ihnen nahe?“

„Er ist meiner Seelsorge anvertraut. Man hat sich an mich gewandt, dass ich ihm zur Seite stehe in seiner Not.“

„Und was soll ich dabei tun?“ fragt Friedrich Vandekamp in der ihm zur Natur gewordenen Geschäftigkeit. Aber ein Schatten fliegt über sein Gesicht. „Ich weiss nicht, ob man Sie in die Angelegenheit, um die es sich handelt, eingeweiht hat. Es ist wohl auch gleich. Denn im letzten Grunde kann sie nur vom kaufmännischen Standpunkt beurteilt werden.“

„Ich bin in diesen Dingen wenig bewandert. Das Kaufmännische liegt mir ganz und gar nicht. Sie mögen in Ihrem Rechte sein, ich bezweifele es nicht. Aber es gibt ein anderes Recht, ein ungeschriebenes, das in unserer eigenen Brust wohnt und von höherer Geltung ist als das geschriebene.“

Friedrich Vandekamp erhebt sich von seinem Stuhle, macht einige Schritte durch das Zimmer, bleibt stehen.

„Ich meine“, fährt der junge Geistliche fort, „im letzten Grunde können Handel und Wandel, können die Gesetze des Geschäftes und Kontors das Entscheidende nicht sein. Sondern die Verpflichtung, die der Mensch gegen den Menschen hat.“

„Und in welcher Weise, meinen Sie, könnte ich dieser Verpflichtung nachkommen?“

„Indem Sie mir helfen, den niedergebrochenen Mann aufzurichten, ihm einen Beruf, ein Lebensziel zu weisen, das ihm wieder Lust und Kraft zur Arbeit gibt.“

„Er hat sein Geschäft.“

„Mit dem ist es zu Ende. Mit der grossen Lieferung, die Sie ihm in Aussicht stellten, hoffte er es noch einmal aufzubauen. Wo nun aber auch diese fehlgeschlagen — und vielleicht nicht ganz ohne Ihre Schuld —“

In Friedrich Vandekamps eisernen Zügen zuckt es auf. Er will widersprechen, will, ganz gegen seine Art, heftig werden. Er unterdrückt das aufwallende Wort. Aber diese Unterredung fängt an, ihn zu peinigen.

„Ich bin bereit, ihm einen Betrag gegen geringe Zinsen vorzuschiessen.“

„Damit ist ihm nicht geholfen. Das Geld, die dringendsten und notwendigsten Verpflichtungen zu erfüllen, hat ihm seine Tochter zur Verfügung gestellt.“

„Seine Tochter?“

Ein grosses Erstaunen ist in Friedrich Vandekamps Frage. ‚Seltsam‘, denkt er, ‚auch einmal eine Tochter, die für ihren Vater eintritt!‘

„Sie hat ihm das Erbteil ihrer Mutter zum Opfer gebracht. Nein, wir müssen andere Wege suchen, müssen ihn irgendwo unterzubringen, ihm eine Stellung zu verschaffen suchen. Denn wenn er jetzt arbeitslos würde, so wäre es sein Untergang. Und schliesslich lebt der Mensch ja nicht vom Brot allein. Aber wenn Sie mir nicht helfen wollen, nicht helfen können, so werde ich andere Wege finden.“

Friedrich Vandekamp kämpft einen harten Kampf.

„Ich werde sehen“, sagt er.

Da läutet der Fernrufer. Er nimmt den Hörer.

„Man fragt, ob Sie noch bei mir sind“, wendet er sich an den Pfarrer, indem er ihm den Hörer hinüberreicht.

Schweigend vernimmt Jürgen Wendland, was ihm durch den Fernrufer verkündet wird. Es ist nur eine kurze Botschaft.

„Es ist zu spät“, sagt er zu Friedrich Vandekamp, indem er den Hörer auf die Gabel legt. „Herr Brackmann hat einen schweren Nervenzusammenbruch erlitten und ist soeben in das Städtische Krankenhaus gebracht worden.“

Nein, ins Kontor will Friedrich Vandekamp heute nicht mehr gehen.

Was der junge Geistliche da zu ihm gesprochen, ist nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben.

„Recht hat er“, sagt er zu sich selber. „Nein, der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Und wenn ich das Dasein bedenke, das ich so Tag für Tag führe, in dem sich alles um das Verdienen dreht und immer wieder um das Verdienen — — —

Und für wen?“

Er denkt an die Tochter des alten Brackmann, die ihr Letztes für den Vater hingibt.

Wer würde ein Gleiches für ihn tun?

Timm?

Er lebt nur seinem Sport und den Vergnügungen, die er mit sich bringt.

Ina?

Manchmal hat er das Empfinden, als hänge sie an ihm mit einer gewissen Liebe. Aber sie ist viel zu sehr in sich geschlossen und mit sich beschäftigt, um diese in irgendeiner Weise offenbaren zu können.

„Ja ... für wen lebe ich? Für wen placke ich mich vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht?

Und ... wer liebt mich?

Ein Einsamer bin ich ... ein Fremdling im eigenen Hause.“

Mit einer solchen Gewalt kommt dies Empfinden über ihn, dass ein Wunsch, der verborgen in ihm geruht, den er oft genug unterdrückt und der sich doch immer von neuem in ihm geregt, in dieser Stunde zur brennenden Sehnsucht wird: Einmal einem Menschen zu begegnen, der nicht nur von ihm fordert, sondern ihm auch etwas gibt, der ihn lieb hat ... nicht um seines Geldes und seines Verdienens, sondern um seiner selbst willen.

Aber der wird wohl nie kommen ... niemals.

So muss er sich mit dem abfinden, was ihm beschieden.

Und schliesslich gibt es ja auch in diesem Hause noch einen, der ihm zugetan ist. Und ist es auch nur eine alte verkümmerte Frau!

Er wird Frau Sabinchen einen Besuch machen. Er geht immer zu ihr, wenn ihm das Herz so recht voll ist. Ihr ist es eine grosse Freude und für ihn eine Befreiung von allerlei quälenden Gedanken.

Er schreitet einen langen schmalen Gang entlang, der auf einen vom Garten abgezäunten Hof führt, tritt in eine niedrige, aber von der Sonne freundlich durchspielte Stube.

Ein altertümliches Spind mit zwei Glastüren, durch deren eine ein Sprung geht, ein Biedermeiersofa mit hellgrünem, von der Sonne ausgezogenem Seidenüberzug und reichlicher Goldverzierung, zwei hochlehnige, geschnitzte Stühle, ein Prachtstück von antikem Schreibtisch aus hellem Mahagoni ... alles das steht geduckt und gedrückt, manchmal fast bis an die stuckverzierte Decke stossend, ein Zeichen verschwundener Herrlichkeit, die einmal weite, hohe Räume schmückte und sich jetzt ein bisschen missstimmig in diese für so anspruchsvolle und von sich eingenommene Möbel kaum ausersehene Stube einpferchen lässt.

Und wie das für diese Umrahmung geschaffene Bild sitzt in einem mit verschlissener mattrosa Seide bezogenen Sessel eine alte, aber in ihrer Haltung wie in ihren Bewegungen erstaunlich frische Dame: Frau Sabine Wallburg-Werra, Frau Dörthes zweiendachtzigjährige Mutter.

„Schön, dass du kommst!“

Eine Hand mit bläulich schwarzen Tupfen und prall gespannten Adern, aber immer noch die edlen Linien zeigend, streckt sich aus fadenscheinigem, an manchen Stellen geflicktem Ärmel entgegen.

„Ich bringe dir eine Karte für den Ufapalast, Sabinchen.“

Über das Gesicht mit der kreuz und quer durchfurchten Stirn und den grau hervortretenden Backenknochen geht ein Aufleuchten.

„Der Wagen steht um sechs Uhr hier an der Hinterpforte.“

„Damit Frau Vandekamp“ — sie nennt ihre Tochter nie anders — „nur nichts merkt!“

„Damit es sie in ihrer Nachmittagsruhe nicht stört.“

„Stören? So spät? Unsinn! Aber ärgern würde sie es. Sie gönnt mir nichts und ist erbost, dass ich in meinen Jahren noch an Kino und Theater denke. ‚Senile Vergnügungssucht‘ nennt sie es. Alles im Leben, das kannst du mir schon glauben, mein Junge, kommt aus dem Neid ... nur aus dem Neid. Er ist der Beelzebub unter den bösen Geistern.“

Eine energisch abweisende Bewegung antwortet ihr.

„Du weisst, Sabinchen“ — er hat diese für sie wirklich ein wenig komisch klingende Anrede, da sie die Bezeichnung ‚Mutter‘ nicht liebte, früher einmal im Scherz gebraucht und jetzt beibehalten, wie sie ihn nie anders als ‚mein Junge‘ nennt —, „dass ich Verständnis für deine Wünsche und Neigungen habe und gern bemüht bin, dir dein einsames Alter zu versüssen —“

„Ja, du bist der einzige —!“

„Nun gut — wenn du mich nicht auch verlieren willst —“

„Dann hätte ich keinen mehr —“

Wie hilfesuchend greift die gichtische Hand nach der seinen.

„So darfst du über meine Frau in dieser Weise nicht reden, darfst auf sie nicht schelten. Sie ist eine arme kranke Frau — und sie ist deine Tochter.“

„Meine Tochter war sie einmal. Ober handelt eine Tochter so an ihrer Mutter? Verbannt mich aus ihrem Gesichtskreise, steckt mich in dies Mauseloch, wo ihr die besten Zimmer zur Verfügung stehen, auf die ich einen Anspruch hätte wie sie. Hier soll ich glücklich und zufrieden sein und mich christlich auf mein Ende vorbereiten, wie es sich für eine alte Frau geziemt. Besucht mich nicht einmal —“

„Du weisst, dass sie seit Monaten ihr Bett nicht verlassen hat —“

„Aber lässt sie mich zu sich kommen? Hat sie mich ein einziges Mal um meinen Besuch gebeten? Und als ich ihn ihr ankündigte, weil mich die Sehnsucht trieb — jawohl, die Sehnsucht nach meinem Kinde! — was liess sie mir durch ihre Zofe antworten, diese unverschämte Person, die nichts anderes im Sinne hat, als uns völlig auseinanderzutreiben? Meine Gegenwart würde sie aufregen!“

„Hat sie damit unrecht? Du weisst, dass ausser mir und den Kindern niemand zu ihr darf.“

„Die Kinder sind wie die Mutter. Timm kümmert sich überhaupt nicht um mich. Und Ina macht mir alle acht Tage ihren kühl höflichen Besuch. Ich wundere mich nur, dass sie mir den Pastor noch lassen. Aber wer weiss, wie lange noch. Das letztemal war er schon so sonderbar.“

Er kennt den Wahn der alten Frau, die in allen Menschen ihre geschworenen Feinde sieht. Die traurige Lage, in die sie, die einmal in Glanz und Reichtum gelebt und alles zu ihren Füssen gesehen, durch ihre völlige Verarmung gekommen, die Erbstreitigkeiten mit der eigenen Tochter, der heiss erbitterte Kampf, den sie gegen sie zu führen hatte, die darauf folgende kühl gleichgültige Zurückziehung ihrer nächsten Angehörigen, an der sie wegen ihres verbitterten und herrschsüchtigen Wesens den grösseren Teil der Schuld trug, die Nichtachtung einer Dienerschaft, die einmal jeden Winkes ihrer Augen gewärtig war, alles das hat die hochmütige Frau gebrochen — er versteht es und hat Mitleid mit ihr.

„Du darfst mit Dörthe nicht so streng ins Gericht gehen. Es bringt ihr Leiden nun einmal mit sich.“

„Ihr Leiden!“ wiederholt sie geringschätzig. „Sie ist nicht so krank, wie sie und ihr immer tut. Vielleicht bist du kränker als sie.“

Er versteht nicht, was sie mit diesem Wort sagen will. Aber der blinzelnde Blick, der aus den trüben Schleiern ihrer Augen plötzlich mit seltsam zufassender Klarheit hervorbrechen kann, macht ihn stutzig.

„Ich bin gesund —“

„So seid ihr es beide. Und dazu jung. Ich aber bin alt.“

„Das glaubt dir nur, wer deinen Taufschein liest. In deinem Aussehen und Wesen bist du jung, Sabinchen!“

Jeden Tag muss er es ihr bestätigen, dass sie nicht alt ist. Tut er es einmal nicht, so weiss sie mit Sicherheit eine Gelegenheit herbeizuführen, die solch eine Erklärung herausfordert.

„Wenn es wahr ist“, erwidert sie beruhigt und geschmeichelt, „dass der Mensch so alt ist, wie er sich fühlt, kann ich zufrieden sein. Ich weiss, dass ich so bald nicht sterben werde ... nicht sterben will! Und nie ist etwas geschehen, was ich nicht wollte. Niemals! Schon, um Frau Vandekamp zu ärgern, möchte ich leben ... lange ... ewig, wenn es ginge. Zum mindesten so lange wie sie!“

Sie merkt, dass er eine Bewegung auf seinem Stuhl macht, als wolle er sich erheben. Das ist das einzige, was sie in Schach hält, den im geheimen glimmenden und immer wieder hervorbrechenden Groll jedesmal zügelt.

„Meine Mutter wurde neunzig, meine Grossmutter hundert Jahre.“

Auch das erzählt sie täglich und fügt mit unfehlbarer Gewissheit hinzu, dass ihre Grossmutter bis an ihr neunzigstes Jahr jedes neue Buch gelesen, jede neue Theateraufführung besucht, ja, noch ziemlich vollendet Französisch gesprochen habe.

„Nun aber habe ich noch eine Bitte, mein Junge“, bricht sie in einem Tone ab, der plötzlich ganz verändert und von fast schamhafter Verlegenheit ist. „Der alte Kullack, der Joseph, weisst du, der Jahrzehnte hindurch der herrschaftliche Kutscher auf Schloss Werra gewesen ist und der dich auch so manches Mal gefahren, wenn du zu uns kamst, feiert seinen fünfundsiebenzigjährigen Geburtstag. Es geht ihm jetzt schlecht. Ich möchte ihm eine Kleinigkeit schenken. Vielleicht zwanzig Mark. Du streckst sie mir vor, nicht wahr, das tust du? Du sollst sie mir nicht schenken, nein, mein Junge, das sollst du nicht. Du weisst, wenn ich meinen Prozess gewonnen und all das viele Geld in Händen habe —“

Da ist sie wieder bei ihrem Lieblingsgegenstand, und er lächelt, wie er es immer tut, wenn sie auf ihn kommt. Denn er glaubt nicht, dass sie diesen Prozess, der jetzt bereits in der zweiten Instanz läuft, gewinnen wird.

„Ich weiss, Sabinchen, ich werde alles wiederbekommen. Darüber bin ich nicht im mindesten beunruhigt. Aber hat dir Doktor Wolter nicht gesagt, dass den Gründen, aus denen die Gesellschaft dir damals das von deinem Manne eingezahlte Kapital zurückbehalten hat, schwer beizukommen sein wird?“

„Weshalb übernahm er denn den Prozess?“

Er will ihr nicht sagen, dass es aus Rücksicht für ihn und aus Mitleid mit ihr geschah.

„Mein seliger Mann gründete die Gesellschaft. Er war ihr Leiter. Und das ist der Dank. Aber sei ganz ruhig, mein Junge! Ich werde ihn gewinnen. Die Zeiten haben sich geändert. Recht und Gerechtigkeit stehen wieder obenauf im deutschen Vaterland. Da wird man für die berechtigten Ansprüche einer armen alten Frau Verständnis haben und nicht dulden, dass sie übervorteilt und von gewissenlosen Ausbeutern hinters Licht geführt wird.“

Nein, er bekommt es nicht übers Herz, einem so zuversichtlichen Glauben zu widersprechen, den letzten Trost ihr zu rauben.

„Ja — wenn du ihn gewinnst!“

„Dann werde ich noch an demselben Tage aus dem dumpfen Loch hier entfliehen, auf Reisen gehen, in einem grossen vornehmen Hotel wohnen. Und dich lade ich dazu ein. Hast dich ja genug abgeschuftet. Alles nur für dich und für mich.“

Da wird ihre Unterhaltung unterbrochen.

Iduna Karsten, Frau Dörthes langjährige, hager hässliche Zofe, die Todfeindin der Alten, bei der sie einmal als junges Ding auf Werra gedient, erscheint.

Mit fliegendem Atem berichtet sie, dass ihre Herrin mit einem jähen Aufschrei aus kaum gewonnenem Schlaf erwacht sei. Dass der Anfall, der sie vor einigen Tagen bereits einmal erschreckt, sich unter neuen Begleiterscheinungen und heftiger als das erstemal wiederholt habe, dass sie sofort den Arzt angerufen, dass die gnädige Frau aber auch nach dem Pfarrer gefragt habe, dessen Besuch sie noch kurz vor dem Einschlafen entschieden abgelehnt habe, und dass dieser ebenfalls benachrichtigt sei.

Bevor sie zu Ende gesprochen, hat Friedrich Vandekamp das Zimmer verlassen, ist nach oben gestürzt.

Geheimrat Meckbach, der Hausarzt der Familie, wenn auch nicht Frau Dörthes Freund und ohne den geringsten Einfluss auf sie, ist bereits zur Stelle, untersucht die Leidende in seiner gründlich umständlichen Art, gibt auf das genaueste seine Anweisungen und Verordnungen, die Frau Dörthe mit einem matt ungläubigen Lächeln und schon entschlossen, keine von ihnen zu befolgen, entgegennimmt, und empfiehlt sich in dem verlegenen Bewusstsein seiner Überflüssigkeit.

„Herr Pastor Wendland wartet draussen“, meldet Iduna Karsten.

Aber Frau Dörthe schüttelt den Kopf. „Ich kann ihn jetzt nicht haben. Ich fühle mich zu schwach. Der Pinsel von Arzt hat mich um den letzten Rest meiner Zurechnungsfähigkeit gebracht.“

Tief und müde liegen die Augen in den Höhlen; eine leichte Starrheit ist in den bleichen Zügen.

Ein beklemmendes Furchtgefühl steigt in Friedrich Vandekamp auf. Sollte sie den Geistlichen — —?

„Du hattest ihn kommen lassen“, wirft er ein. „Ich würde ihn nicht wieder abweisen. Vielleicht willst du mit ihm allein sein.“

Ein Lächeln huscht über den blassen Mund.

„Nein, so weit sind wir noch nicht. Du kannst ganz ruhig sein.“

Wieder trifft Friedrich Vandekamp auf der Diele mit dem Geistlichen zusammen.

„Vielleicht hätte mir dieser zweite vergebliche Gang in Ihr für mich ein wenig entlegenes Landhaus erspart werden können“, erwidert er mit leicht vernehmbarem Vorwurf, als er hört, dass Frau Dörthe ihn nicht zu empfangen wünsche.

Jürgen Wendland ist noch jung. Aber er ist ein Mann. Er ist gütig und verstehend, rastlos und aufopfernd in seinem Berufe, hilfsbereit gegen jeden, ein Idealist mit einem leichten Hang zur Schwärmerei. Aber er lässt es nicht zu, dass die Reichen und Angesehenen seiner Gemeinde ein grösseres Vorrecht auf ihn zu haben glauben als die Geringen und Armen, für die er sich in erster Reihe berufen fühlt.

Friedrich Vandekamp gefällt sein offenes Wort. Wie er das Mutige und Aufrechte an einem Menschen immer schätzt.

„Es ist nicht meine Schuld, Herr Pfarrer. Sie sind verstehend genug, um mit der Stimmung und den Launen einer schwerkranken Frau nicht allzu streng ins Gericht zu gehen.“

Etwas gütig Verbindliches liegt in seiner Antwort, etwas Entschuldigendes zugleich für seine Frau, die er gegen eine Welt von Widersachern in Schutz genommen hätte.

„Wenn es Ihnen recht ist, lasse ich sofort einen Wagen kommen, der Sie nach Hause fährt, oder wo Sie sonst noch zu tun haben.“

„Ich danke Ihnen. Aber da ich einmal hier bin, möchte ich der alten Dame einen Besuch abstatten und ihr ein bisschen vorlesen. Ich weiss, dass ich ihr damit eine Freude mache. Vorher allerdings hätte ich gern noch ein Wort mit Ihnen gesprochen, Herr Vandekamp.“

„So bitte ich, hier eintreten zu wollen.“

‚Wenn es nur nicht wieder der unselige Fall Brackmann ist!‘ denkt Friedrich Vandekamp, indem er die Tür zu seinem Bibliothekzimmer öffnet.

Nein, es ist nicht der Fall Brackmann. Es ist etwas anderes. Aber auch etwas, das Friedrich Vandekamp heute nicht gelegen kommt.

„Es handelt sich um meine Armen. Wir haben im vergangenen Jahre sehr viel Ausgaben gehabt. Die Not war gross, und wir mussten helfen. Es gilt jetzt, einige Fehlbeträge zu decken. Da wollte ich mich zuerst an Sie wenden.“

Das ist das Seltsame bei Friedrich Vandekamp: er gibt gern und mit vollen Händen, nicht nur seiner Frau und seinen Kindern, sondern auch einer ganzen Anzahl näherer und weiterer Verwandter. Aber für Gaben, die hierüber hinaus in das Gebiet der allgemeinen Wohltätigkeit fallen, fehlen ihm Sinn und Neigung. Wenn er so vielen hilft, tut er nach seiner Meinung genug und braucht nicht für ihm ferner liegende Dinge zu opfern. So scheint der junge Geistliche von der Gabe, die er ihm nach einigem Hin- und Herwägen auf den Tisch legt, wenig befriedigt.

„Von Friedrich Vandekamp hätte ich eine andere Unterstützung erwartet“, sagt er in seiner ruhigen Offenheit.

„Lieber Herr Pfarrer, wenn Sie wüssten, was auf mir ruht —“

„Ich weiss das sehr wohl, Herr Vandekamp, weiss, dass Sie viel geben, manchmal, verzeihen Sie, wohl zuviel. Dies aber ist wichtiger und dringender als alles andere. Denn in einer Zeit wie dieser muss der einzelne und sein Wohlleben zurücktreten gegen das, was wir dem Ganzen schulden. Nur, was wir hier geben, ist Selbstlosigkeit.“

„Gewiss ... gewiss“, erwidert Friedrich Vandekamp, bereits ein wenig zerstreut und mit seinen Angelegenheiten beschäftigt, „aber wenn man so grosse Opfer im engeren Kreise bringen muss —“

„Opfer? Ich bin auch hierin nicht ganz Ihrer Meinung. Wo opfern Sie? Sie kommen Ihren Verpflichtungen nach. Für wen legen Sie sich Entbehrungen auf? Vielleicht wird der Tag für Sie, für uns alle kommen, an dem auch das Letzte von uns gefordert wird. Dann erst wird es sich erweisen, wer der Liebe fähig ist und wer nicht.“

Ohne jeden Predigtton, schlicht und einfach hat er es gesagt. Aber eine mitschwingende Wärme ist in seinen Worten, eine still innere Begeisterung, der man es anhört, dass er, wenn es von ihm gefordert würde, auch das Letzte hinzugeben bereit wäre.

Auf Friedrich Vandekamp bleiben seine Worte nicht ohne Eindruck. Er erwägt wohl, ob er seine Gabe verdoppeln soll. Aber wieder ist es das Geld, das sich zwischen ihn und seinen guten Vorsatz stellt, das Geld, das er jeden Tag aufs neue verdienen muss und von dem sich zu trennen, ihn immer einen Entschluss kostet.

„Wir wollen sehen, Herr Pfarrer ... ein andermal. Heute habe ich noch einige Verpflichtungen, die ich zuerst erfüllen möchte.“

Jürgen Wendland hat der alten Wallburg-Werra vorgelesen und mit unerschütterlicher Geduld ihre Klagen und Vorwürfe über sich ergehen lassen.

Jetzt lässt er sich bei Ina melden, denn sie hat ihm sagen lassen, dass sie ihn noch einen Augenblick zu sprechen wünsche.

„Sie sind schon eine Stunde im Hause?“ empfängt sie ihn. „Und schon zum zweiten Male.“

„Ich kam nicht freiwillig.“

„Ich hörte es. Die Mutter liess Sie bitten. Aber Sie sprachen den Vater. Und der enttäuschte Sie auch.“

Sie weiss, dass er ihr nicht antworten wird.

„Sie dürfen es ihm nicht übelnehmen. Er kann Geld verdienen. Aber er kann es nicht ausgeben. Das ist sein Schicksal, und das tut mir immer so leid.“

Er freut sich ihrer Offenherzigkeit. In dieser Weise ist sie ihm bisher nicht begegnet.

Aber der Widerstand, den er im Geheimen gegen sie hegt und der wohl in der Verschiedenheit, ja, im Gegensatz ihrer Weltanschauung begründet ist, lässt sich auch jetzt nicht zum Schweigen bringen.

„Komisch“, erwidert er, „dass sich im Leben der meisten Menschen immer alles um das Geld dreht. Wenn ich von mir sprechen darf, mich interessiert es wenig. Es ist mir etwas völlig Nebensächliches, das mein Denken und Tun nicht im leisesten berührt.“

„Dann geht es Ihnen wie mir. Und wir haben bei allem Auseinandergehen unserer Ansichten wenigstens hier den einigenden Punkt.“

Er lächelt. „Nur dass Ihnen zu jeder Zeit so viel Geld zur Verfügung gestanden hat, wie Sie nur haben wollten. Da ist es vielleicht keine Kunst, ihm mit vornehmer Herablassung zu begegnen.“

Es kommt schärfer heraus, als es beabsichtigt ist. Aber es liegt einmal nicht in seiner Art, das Wort zu wägen, bevor er es ausspricht, sondern es zu gebrauchen, wie es ihm richtig und gut dünkt.

Sie aber, die in ihrem gesellschaftlichen Verkehr und im Umgang mit den verschiedensten Menschen, die ihr als der Tochter Friedrich Vandekamps mit einer gewissen Ehrerbietung entgegenkommen, an eine glattere und mehr verhüllende Sprache gewöhnt ist, fühlt sich verletzt.

„Und doch waren Sie enttäuscht, als mein Vater Ihnen eine kleinere Summe zur Verfügung stellte, als Sie erwartet hatten.“

„Nicht für mich, sondern für ihn war ich enttäuscht. Weil ich mir dachte, dem Armen in seiner Not zu helfen, das müsste etwas Herrliches sein für den, der im Besitze wohnt.“

„Es wird überall gesammelt und sehr viel.“

„Aber lange nicht genug.“

„Da müssten wir schliesslich teilen.“

„Gewiss. Das müssten wir.“

Ihr Gespräch hat die ruhige Bahn verlassen, der Ton an Schärfe zugenommen. Auf beiden Seiten. Die trennenden Gegensätze flackern auf.

„In diesem Punkte werden wir uns nie verstehen.“

Es scheint, als wolle sie eine zwecklose Unterredung abbrechen.

„Nein, das werden wir nicht“, gibt er hart zurück. „Sie wissen, wie hoch ich Ihren Vater einschätze, wie ich seinen klugen Sinn, seinen rastlosen Fleiss bewundere. Er ist für mich die ausgesprochene Kampfnatur. Und darin stehe ich ihm nahe. Aber wenn ich mich frage: Wozu das alles? Wozu dies aufreibende, nervenpeitschende Hetzen vom frühen Morgen bis zum späten Abend? Alles um des eigensüchtigen Erwerbens und Gewinnens halber —“

„Über meinen Vater und seine Art glaubte ich Sie genügend aufgeklärt zu haben.“

„Aber geht es mir mit den anderen in Ihrem Hause nicht ebenso? Wenn ich zu Ihrer Grossmutter komme und sage mir: Sie ist eine achtzigjährige Frau, die unmittelbar am Grabesrande steht, mit ihr musst du über Dinge sprechen, die über diese Welt hinausreichen, musst ihren Sinn auf etwas Höheres und Bleibendes richten — gelingt es mir? Sie hört mir nur mit halbem Ohre zu. Immer kommt sie auf das eine, das unablässig Wiederkehrende zurück: Dass sie einmal ein grosses Vermögen, Schlösser und Gärten besessen, prunkhafte Gesellschaften und rauschende Feste gegeben. Und woran klammert sie ihre ganze Hoffnung, das Glück ihrer letzten, kümmerlich bemessenen Jahre? An einen Prozess, der ihr wiedergeben soll, was sie verloren hat und nicht zu verschmerzen vermag.“

„Sie sind ein strenger Richter, Herr Pfarrer Wendland. Ja, begreifen Sie denn nicht, dass, was Sie so hart an der alten Frau tadeln, der einzige Halt ist, an den sie sich wie an einen Strohhalm klammert? Dass ihr das Leben unerträglich sein würde, wenn sie dieser schöne Traum nicht aufrecht erhielte, gleichviel ob er einmal Erfüllung werden wird oder nicht? Nehmen Sie einem Menschen die Illusion, und Sie nehmen ihm das Leben. Ja, warum sehen Sie mich denn so an?“

„Weil ich Ihnen auch hierin nicht zu folgen vermag. Und weil ich bisher nicht wusste, dass Sie ein so tiefgehendes Verständnis für die alte Dame haben könnten.“

In ihren Augen blitzt es auf.

„Ich glaube nicht, dass Sie auch hierüber zum Richter berufen sind. Wenigstens erkenne ich Sie als solchen nicht an.“

„Ich wollte nicht richten, sondern nur erklären.“

„Und ich vergesse, dass Ihnen Ihr Amt vielleicht das Recht gibt —“

„Ich sprach nicht zu Ihnen aus meinem Amte heraus, das ich hier nicht auszuüben habe. Als Mensch nur wollte ich zu Ihnen sprechen. Habe ich mich im Ton vergriffen, so halten Sie es meiner Ungeübtheit in diesen Dingen zugute. Ich wollte Sie nicht kränken — nein, wirklich, das wollte ich nicht.“

Ein fast um Entschuldigung bittender Ton ist in seinen Worten. Sie weiss, dass er ihm nicht leicht fällt. Ihr Blick weilt auf ihm. Etwas wie aufsteigendes Wohlgefallen ist darin.

„Vielleicht war es die Zeit, in die ich hineingestellt bin, die aus mir sprach.“

Sie zuckt die Achseln.

„Die Zeit! Ich fürchte, Herr Pfarrer, auch hier werden wir beide uns nicht verstehen.“

„Es mag sein. Ich habe nie verstanden, dass Sie an dem, was jetzt die Welt bewegt, mit kühler Teilnahmlosigkeit vorübergehen.“

„Weil es mich nicht berührt“, gibt sie in hörbarer Auflehnung zurück.

„Und weshalb berührt es Sie nicht? Warum verschliessen Sie sich einer Sache, die andere fortreisst?“

„Ich bin immer selbständig meinen Weg gegangen. Diese Zeit, der Sie dienen, sie mag für unbefangene und begeisterungsfähige Gemüter sein. Für mich ist sie nicht.“

„Und weshalb nicht?“

„Weil sie der Überlieferung widerspricht, in der ich gross geworden bin.“

„Also die Aristokratin ist es, die sich auflehnt. Da kann ich freilich nicht mit, der ich von der Mutter her aus Bauernblut, vom Vater aus dem Volkslehrerstande stamme.“

Einen Augenblick denkt sie nach.

Und als hätte sie das Gefühl, dass sie in diesem Augenblick irgend etwas tun müsse, ihren guten Willen zu bekunden, geht sie an ihren Schreibtisch, öffnet ein verborgenes kleines Fach in ihm, entnimmt ihm wahllos eine Anzahl von Scheinen, legt sie in sichtbarer Verlegenheit vor ihn auf den Tisch.

„Ich weiss, dass es kein Opfer ist, wie Sie es fordern. Ich will nur versuchen, gut zu machen, was der Vater vorhin versäumt hat.“

„Vielleicht ist es doch ein Opfer“, erwidert er, über die Grösse der Gabe verwundert und zugleich beglückt.

„Ach nein“, wehrt sie mit leicht scherzendem Ton ab, „ich gebe es nur von dem Übrigen.“

„Aber vielleicht versagen Sie sich manches dadurch: einen kostbaren Schmuck, ein neues Kleid —“

„Gar nichts. Gesellschaften und Bälle, zu denen man sich neue Kleider machen lässt, gibt es heutzutage ja nicht mehr.“

„Und Sie bedauern, dass das nun ein Ende hat?“

„Gewiss bedauere ich es. Man ist doch gern einmal fröhlich, wo seit der Krankheit der Mutter hier im Hause alles so ernst und schwer hergeht. Und man zieht sich gern einmal ein schönes Kleid an, wenn einem die alten, die man zum dritten oder vierten Male trägt, über sind.“

‚Seltsam‘, denkt er bei sich, ‚dass auch bei den klügsten Mädchen das neue Kleid immer die Hauptsache bleibt.‘

Wieder ist beides in ihm: die geheime Anziehungskraft, die dieses Mädchen auf ihn ausübt. Und das Scheidende, das er in dieser Stunde mit neuer Gewissheit empfunden hat, und das stärker ist als jenes andere.

Timm ist besser dran als seine Schwester Ina. Er hat die schöne Gabe, alles leicht zu nehmen: das Leben, die Arbeit, das Leid. Und doch allen dreien gegenüber seinen Mann zu stehen.

Da der Vater, obwohl er im Aufsichtsrat mehrerer Gesellschaften sitzt und durch allerlei andere Ehrenämter sehr in Anspruch genommen ist, seine Arbeit im Kontor niemals hintenan stellt, so ist er im letzten Grunde nur dessen Helfer, eine eigentliche Selbständigkeit hat er kaum.

Es ist ihm durchaus recht so. Er bereitet der Arbeit freundlichen Empfang, wenn sie zu ihm kommt. Aber er ruft sie nicht. Sie ist kein unentbehrlicher Bestandteil, nicht einmal Erfordernis seines Lebens.

Sein Geschmack ist Reiten und Jagen, überhaupt jede Art des Sportes, seine Sehnsucht das Land, Pferdezucht und wildreiche Forsten. Er hat dem Leben gegenüber die leichte Hand des Reiters und sitzt um so fester in seinem Sattel, je weniger er die Sporen braucht.

Nun ist in sein reichbewegtes Sportsleben etwas Neues eingetreten: ein Paddelboot.

Aber beileibe kein Paddelboot, wie es Herr Hinz mit Fräulein Kunz paddelt. Ein Rennzweier, den er sich aus Tölz verschrieben, gertenschlank und nadelschmal, dabei von so biegsamer Spannkraft, dass er nicht wie ein Boot, sondern wie ein Pfeil dahinflitzt, die Wasser und die Fische mit den Spuren des Entsetzens unter ihm davonfleuchen und die Vögel im dichtesten Rohr sich verstecken, wenn sie das gurgelnde Gleiten seines Nahens vernehmen, wirklich ein Paddelboot, wie es das Herz des Sportsmannes höher schlagen macht.

„Puck“ tauft er es, und von Stunde an wird es sein ausgesprochener Favorit, hinter dem alles andere spurlos, als wäre es nie dagewesen, verschwindet. Nicht nur die Jagd, die in dieser Jahreszeit an sich ohne Bedeutung ist, nein auch die Fahrten auf dem englischen Motorrad mit seiner Hundertvierzig-Kilometer-Geschwindigkeik, das er auch erst vor einem halben Jahr für einen nicht unansehnlichen Preis gekauft und das sich jetzt in ungeahnten Ruhestand versetzt sieht. Tennis und Fussball, in denen beiden er Meister ist, sind verbannt. Allein Puck beherrscht das Feld und seines Herrn Leben und Gedanken. Jede Mussestunde, die der Vater und das Kontor ihm lassen und die nicht zu karg bemessen sind, gehört ihm und den Trainingsfahrten, die oft bis in den späten Abend unternommen werden, auf den Vorflutern und Deichgräben, an denen die Umgebung Danzigs so reich ist. Und weiter, bis auf die Weichsel, erstrecken sie sich und sollen von Tag zu Tag ausgiebiger geübt werden ... ohne Ende und Ziel, von denen für den trainierenden Paddler weder das eine noch das andere besteht.

Bis jetzt ist er immer allein gefahren. So ein Rennfahrer von der Art Pucks ist wie ein junges edles Pferd, das nicht jeden aufsitzen lässt. Es gehört schon eine gewisse Übung dazu, seinen Platz einzunehmen und zu behaupten. Und besonders der Sitz vorne für den Schlagmann, der noch schmaler und kippeliger ist, erfordert alle Künste des Schwedens und Ausbalancierens, wenn er nicht uneinnehmbar bleiben soll.

Locki aber verfügt über beide. Sie wird schon die Rechte auf dem Schlagmannssitze sein. Denn sie ist das schmissigste Mädchen, das ihm je begegnet ... von einer körperlichen Gewandtheit und Leichtigkeit der Bewegungen, wie sie ihm bei keinem anderen vorgekommen sind. Im Tennis ist sie ihm beinahe überlegen, und auf dem Soziussitze seines Hundertvierzig-Kilometer-Motors hat er sie immer mit sich gehabt und sich gefreut, wie sie sich jeder Wendung des Rades, jeder leisesten, manchmal unerwarteten Bewegung mit dem schmiegsamen Körper angepasst hat, unbewusst mitlenkend, mitsteuernd.

Locki wird er auf der ersten grossen Fahrt, die er weit hinein in das Weichselgebiet geplant hat, mitnehmen. Bisher hat er ihr immer nur von seinem Puck erzählt und sie nicht nur auf den unbekannten Nebenbuhler eifersüchtig, sondern bis zum höchsten Grade neugierig gemacht. Nun soll es eine Überraschung für sie werden, und er freut sich darauf, sie auf dem schmalen, kampeligen Schlagmannssitze vor sich zu sehen.

Locki ist, was zu sagen sich hiernach erübrigt, Timms Freundin, die letzte und die einzige nach vollen zwei Monaten. Er hat viele Freundinnen gehabt, ist aber niemals ein Frauenjäger und niemals so recht verliebt gewesen.

Auch für die Auswahl seiner Freundinnen hat es immer nur eine Richtschnur gegeben: den Sport. So ist ihm der Verkehr mit hübschen Frauen oder Mädchen kaum Selbstzweck gewesen, denn, recht genommen, hat er für Flirt und Liebelei weder Zeit noch Neigung gehabt. Aber das sportlich durchbildete Mädchen flösste ihm Gefallen ein.

Am längsten währte einmal seine Freundschaft mit einer Gymnastiklehrerin. Als er sie im Zoppoter Familienbade zwölfmal hintereinander ohne die leiseste Mühe oder Kraftaufwendung Rad schlagen und nachher im Wasser die unerhörtesten Schwimmübungen ausführen sah, bei denen sie wie eine Ente in unaufhörlicher Reihenfolge auf- und untertauchte — sie wollte die gehörige Reklame für ihre eben errichtete Gymnastikschule in Szene setzen —, war seine Neigung entschieden.

Als sie sich dann aber infolge ihrer bis in den November ausgedehnten Freibäder ein gelindes Rheuma zugezogen hatte und im Höchstfalle nur noch drei Räder, und auch diese nur mit Aufbietung einer sichtbaren körperlichen Energie, zu schlagen vermochte, sank seine Neigung in demselben Verhältnis.

Da lernte er Locki im Tennisklub kennen.

Schon von vornherein hatte sie seine Aufmerksamkeit erregt, weil er verwundert war, sie in dem vornehm abgeschlossenen Klub aufgenommen zu sehen. Denn Locki war eine blutjunge Anfängerin an der Oper des Danziger Staatstheaters und hatte ihren Namen von einer Operette, die „Lockvogel“ hiess und in der sie zum ersten Male aufgetreten war. Von bestrickender Anmut, wie alles an ihr, war auch ihre Stimme, ohne irgendwelchen grösseren Anforderungen gewachsen zu sein oder gar eine Verheissung für die Zukunft in sich zu tragen. Für die Operette aber war Locki vermöge ihrer heisswirbelnden Lustigkeit und eines bis zur Ausgelassenheit gesteigerten Temperamentes von Natur aus geschaffen. Da sie mit sehr guten Empfehlungen nach Danzig kam, wegen ihrer rheinländischen Fröhlichkeit und Unbekümmertheit die Herzen der jungen und noch mehr der alten Herren im Sturm eroberte, zudem eine ausgezeichnete Tennisspielerin war, die schon auf verschiedenen Turnieren Preise davongetragen hatte, sah man keinen Grund, sie nicht in den Klub aufzunehmen.

Gleich bei der ersten Partie hatte Timm sie als Gegnerin und wurde nach erbitterter Gegenwehr von ihr geschlagen.

Und das entschied.

Ein Frühlingstag, wie er schöner nicht gedacht werden kann, umschmiegt die alte Hansestadt mit jungen Liebesarmen.

Nicht in dunstige Schleier mehr gewoben, wie in der Frühe des Morgens, scheint die Sonne des Mai. Von hell durchsichtiger Klarheit ist ihr Licht geworden, sendet seine mitleidsvoll suchenden Strahlen bis in die engsten Gassen, liegt in weithin leuchtendem Gold auf der Ratsturmspitze, windet einen Kranz von mattsilbernen Perlen um das trutzige Haupt von St. Marien, weckt aus dem Schlafe von Trägheit und Gleichgültigkeit, der Nacht von Sorgen und Finsternissen, macht alles froh und lind und lebensstark.

Keiner freut sich des schönen Tages mehr als Timm. Denn er kann ihn für seine Paddelfahrt brauchen. Wohlzusammengepackt liegt das Faltboot in seinem Auto, in dem er mit Locki der Stelle des Umfluters entgegenfährt, an der die grosse Fahrt beginnen soll.

Nun sind sie am Ziele, legen Mäntel, Kappen, Autobrillen ab und freuen sich, der lastenden Hüllen entledigt, einer an dem anderen.

Aber Locki sieht auch wirklich aus wie ein Kind des lachenden Frühlingstages da draussen. Weich schmiegt sich das von einem feschen Ledergürtel umschlossene rohseidene Kleid an den jungblühenden Körper.

Die schönen, in einem matten Bronzeton gefärbten Arme bleiben frei, und die kleinen Füsse stecken in zierlichen Sandaletten. Die Strümpfe, von derselben goldbraunen Tönung wie die Arme und an den Knien ein bisschen kokett aufgewirbelt, umschliessen tadellos gebaute Beine.

Aber auch Timm kann sich sehen lassen in seinem kurzärmeligen Seidenhemd, über dem das dunkelgebräunte Gesicht und der muskulöse Hals fast kupfern funkeln. Schwarze Satinhosen fallen weit und luftig bis hart an die Knie, während die Füsse von weissen Gummischuhen und ebensolchen Seidensocken eingeschlossen sind — wirklich ein schmuckes Paddlerpaar, das zur verheissenden Fahrt sich rüstet.

Mit liebevoller Sorgfalt, in der zugleich eine merkbare Wichtigkeit sich kundgibt, packt Timm sein Faltboot aus, baut es mit derselben Sorgfalt auf, setzt es aufs Wasser, sieht es mit kindlichem Stolz auf den leise flutenden Wogen schaukeln und plantschen, wie ein Junge, der zum ersten Male das von dem Vater geschenkte kleine Segelboot am Bindfaden auf dem Wasser schwimmen lässt.

Jetzt steigt er ein, nimmt seinen Platz, balanciert aus, verfrachtet einen kleinen Korb mit einer Flasche Sherry und einigen wohlverpackten Leckerbissen, die ihnen gute Dienste tun sollen, verstaut das Zelt, das er für alle Fälle mitgenommen, und hat sein stilles Ergötzen, als er sieht, wie die kleine, sonst so sichere Locki mit allerlei mühsamen Kletterversuchen, bei denen sie ängstlich auf ihr rohseidenes Kleid und die zierlichen Sandaletten achtgibt, ihren Schlagmannssitz erobert und sich, beseligt über das endlich gelungene Werk, zu ihm umwendet.

Aber sofort erstirbt das triumphierende Lächeln auf den kecken Lippen. Denn „Puck“ ist ein gar empfindsames Geschöpf, das so unvermutete Bewegungen nicht ohne gehörigen Widerspruch hinnimmt. Er bäumt sich leicht auf, macht einen Seitenschwupser, stampft und zittert am ganzen Leibe, dass Locki voller Erschrecken den Kopf wieder vorwärts wendet und, den Blick starr geradeaus gerichtet, regungslos auf ihrem Schlagmannssitz verharrt.

Jetzt ist alles klar. Die Fahrt kann beginnen.

Schon sind sie auf der Mitte des Umfluters, schon gleitet „Puck“, von den schnell und ebenmässig auf und nieder schwingenden Paddeln getrieben, über die aufkräuselnde, lustig gurgelnde Flut.

Unbeschreiblich schön ist die Fahrt. Wie ein Riesenfächer liegt die reife Nachmittagssonne über dem Vorfluter, sendet ihre wärmenden Strahlen hinüber auf das Land, das mit lichtem Ausblick auf weich dämmernde Fernen in einem Meer von Duft und Blüten sich vor ihnen breitet.

Hochbuschige Kastanienbäume stehen am Ufer. Ein leichter Wind treibt mit ihren kerzengerade sich reckenden Blüten sein Wesen, wirbelt die Flocken, die sie ihm nach kurzem Widerstreben preisgeben müssen, im lustigen Durcheinander auf die von ihnen bereits weiss besäte Erde, streicht mit sanft zärtlicher Hand über das im ersten jungen Grün erschimmernde Gelände, über die Teppiche und Decken von braunem Brokat, die zwischen ihnen sich breiten. In den Koppeln tummeln sich die Fohlen, kommen mit ungelenken Sätzen herbeigesprungen, beäugen das hurtig dahingleitende Boot.

Häuser, niedrig, aber behaglich gebaut, manchmal noch mit strohgedeckten Dächern und geruhig sich sonnenden Gärten mit rohgezimmerten Bänken vor der Tür, auf denen man am Feierabend Rast macht, höher aufragende Scheunen, Verschläge, die sich hinter dichten Bäumen kuscheln, Ställe, weidendes Vieh, ab und zu ein Wagen, der geringe Lasten fährt, troddelnde Pferde, in Arbeitstracht schwerfällig ihre Strasse ziehende Männer und Frauen, alles das kommt auf sie zu, entgleitet, ist wieder da.

Manchmal lässt Timm die Paddel ruhen. Dann fliegt und flitzt „Puck“ eine ganze Weile, als triebe ihn eine unaufhaltsam in ihm sprudelnde Kraft ganz von selber, als trügen und schöben ihn die Kräfte der geheimnisvollen Tiefe.

Und wieder hebt und senkt Timm die Paddel. Heidi, wie „Puck“ jetzt volle Fahrt nimmt! Als hätte er eine neue Gestalt erhalten, wäre gar kein Faltboot mehr, sondern ein schlank und rassig gebautes Rennpferd, vielleicht ein Wasserrennpferd, das die unter ihm geschäftig fliessende, eilig schwindende Bahn mit Blitzesschnelle durchrast.

Bis dahin hat Locki in derselben starren Gebundenheit vorn auf ihrem Schlagmannssitze verharrt und sich kaum zu rühren gewagt, als fürchtete sie, durch die Willkür einer Bewegung, auf die „Puck“ nicht vorbereitet oder die seiner empfindsamen Veranlagung nicht genehm ist, in neue Ungelegenheit zu geraten. Allmählich aber wird sie freier und ungebundener. Denn sie empfindet, wie sich eine leichte Annäherung zwischen ihr und dem Boot vollzieht, wie sie beide gewissermassen Fühlung miteinander gewinnen. Und diese Wahrnehmung bereitet ihr ein kindliches Vergnügen.

Sie hat noch nie in einem Paddelboot gesessen. Bei allem Sport, den sie getrieben, ist ihr dies etwas ganz Neues und, wie alles Neue, ergreift sie es mit der ganzen Lust ihres lebhaften Temperamentes.

Immer mehr wird sie inne, dass diese wohltuende Übereinstimmung zwischen Boot und Mensch auf einer verborgen schwingenden Schwebefähigkeit des Körpers beruht, über die sie in hohem Masse verfügen muss. Denn sie ist ihr schon bei anderen Sportübungen, beim Tennis und Reiten, zustatten gekommen.

Nun ist sie kein untätiger, kein nur mitgenommener Fahrgast mehr, sondern ein mitwirkender, mitlenkender Teil und Glied dieses wunderbaren Bootes, das immer sichtbarer die Form eines lebenden Wesens für sie annimmt, zu ihm gehörig und mit ihm verwachsen. Und nicht nur mit ihm, nein, mit dem Wasser selber.

Das Wasser hat sie von je geliebt und sich mit ihm vertraut gefühlt.

Jetzt aber ist ihr, als wäre sie nie, selbst beim Schwimmen nicht, mit ihm in eine so nahe und innige Berührung gekommen, wie auf dieser Fahrt.

Manchmal hat sie das Gefühl, als sässe sie gar nicht auf ihrem Schlagmannssitz, sondern schwebte auf dem Wasser selber, würde von seinen weichen Armen wie auf einer Sänfte davongetragen.

Dann steigert sich das Gefühl: Nicht auf dem Wasser, in ihm befindet sie sich, ist eine lustige kleine Nymphe, die unter seinem Spiegel dahingleitet, sich der lüsternen Faune entwehren muss, die von allen Seiten auf sie eindringen, ihr verwegenes Spiel mit ihr treiben.

Sie ist mutiger geworden und nicht mehr so schweigsam wie am Anfang der Fahrt. Durch keine Hemmung länger gehindert, wendet sie sich nach Timm um, sooft es ihr gefällt. Manch neckisches Wort, manch übermütiger Scherz fliegt zu ihm hinüber. Das lebhafte Auge, in dem, besonders wenn sie aufgeräumt ist, die verschiedensten Farben aufsprühen, gleitet wohlgefällig über seine sehnige Erscheinung, in der vom Kopf bis zu den Füssen, wohlig gelöst, jede Muskel spielt.

Dann ist ihr wohl, als wäre er einer der beutegierigen Faune da unten, mit denen sie sich eben in lustigem Geplänkel herumgeschlagen hat.

Nicht minder empfindet Timm die Hochstimmung der Fahrt.

Es ist doch ein unerhörtes Gefühl, mit ganz leichten Bewegungen das geschmeidige Ding da unter sich vorwärtszutreiben. Keine Motor-, nicht einmal eine Segelfahrt, so sehr er sie auch liebt, scheint ihm heute dagegen aufkommen zu können.

Sie sind nun schon einige Stunden unterwegs. Die Sonne steht noch hoch am Himmel, brennt glühend, einmal von oben her, dann auch durch die Widerspiegelung unten vom Wasser herauf. Aber sie sind tüchtig eingekremt und fürchten sie nicht.

Nur eine leichte Rückenermüdung spürt er. Dann nimmt er seine Doppelpaddel mit gestrecktem Arm weit über seinen Kopf, beugt den Oberkörper so weit zurück, dass die Paddel den Heck des Bootes berührt.

Durch diese mechanische Übung hat er eine neue Stärkezufuhr erhalten. Und nun geht es noch einmal so gut, und er jagt, von der hier ziemlich starken Strömung wirksam unterstützt, den kleinen Renner förmlich vor sich hin. Denn er möchte bis zum Weichselgebiet vordringen, möchte weiter ... immer weiter ... ins Unbegrenzte ... Uferlose. Ihm ist heute so recht danach zumute. Etwas Unbegrenztes ist in ihm, etwas, das er gar nicht abebben kann, vielleicht auch gar nicht abebben will, ein Innewerden seiner Kraft, ein Aufwallen seines sonst gar nicht so leicht erregbaren Blutes.

Irgendwo an einer geschützten Stelle, unter rauschenden Bäumen, im Dufte der jungen Wiese wird er sein Zelt bauen, werden sie unter dem blauenden Abendhimmel, im Glanze der Sterne die wundervolle Frühlingsnacht zubringen.

Eine Sehnsucht steigt in ihm empor, wie er, der Sportgehärtete, sie lange nicht empfunden, prickelt durch sein Blut, in dem die Schwingungen der unablässigen Bewegung pulsieren, setzt es in heftigere Wallung. Ihm ist zumute, als sähe er die kleine hübsche Locki in dieser Stunde zum ersten Male, als hätten ihre lustigen Augen, in denen, wenn sie schalkhaft zu ihm hinüberwinken, ein ganzes Heer wirbelichter Kobolde aufblitzt, ihm noch nie so leuchtend und lockend geschienen, ihre keckgewölbten Lippen ihm noch nie so verheissend entgegengeblüht.

Seltsame Frühlingsfahrt! Nicht nur die geheimnisvolle Verbindung zwischen dem Boot und seinen Insassen, sondern die viel geheimnisvollere zwischen Mensch und Mensch stellt sie wie mit einem Zauberschlage her, weckt Herz und Sinnen aus Schlaf und Verborgenheit, steigt auf und nieder wie der in hurtiger Unbekümmertheit seine Wasserbahn stampfende „Puck“, der, ohne es zu wissen oder zu wollen, der kleine gefügige Kuppler geworden ist.

Einige Wolken ziehen auf, unschuldige, weissgeschuppte, die sich wie eine feinziselierte Verzierung des Horizontes ansehen, und mit denen die Sonne, wenn sie sich einmal ein bisschen vordrängen, leichtes Spiel hat. Tiefer sinkt diese, wirft ein Bündel schon blass violett gefärbter Strahlen auf das Wasser. Aber bis zum Abend ist es noch weit. Und je mehr seine Sehnsucht wächst, um so stärker regen sich die Bedenken. Wer weiss, ob die kleine Locki mit ihm unter seinem Zeltdach wird übernachten wollen? Sie könnte eine Absicht wittern, könnte meinen, es wäre ein wohlüberlegter Plan. Sie würde irren. Erst auf dieser Fahrt, in diesem Wogen und Branden des jungen Frühlings, der auf den Wassern gärt, durch die Lüfte braust, in jeder Pore der neugeborenen Erde prickelt, einem durch Blut und Schläfen hämmert, dass man sich gar nicht wiedererkennt ...

Ob es ihr anders ergeht? Ein grosser Frauenkenner ist er trotz all seiner Liebeleien und Abenteuer nie gewesen. Aber das hat er doch erfahren, dass diese harmlos fröhlichen blonden Frauen trotz aller Sprühteufelchen, die in ihrem Temperamente hausen, im tiefsten Grunde ihres Herzens unbewegt und unberührt bleiben.

Doch nein — — was aus diesen Augen zu ihm herüberleuchtet, herüberlockt ...

Er ist müde. Er hat genug gepaddelt, fühlt den hellen Schweiss über Stirn und Wangen, über den ganz und gar durchgearbeiteten Körper rieseln.

Jetzt ein Bad im kühlenden Wasser! Herrlicher Gedanke. Gut, dass er seinen Badeanzug mitgenommen! Sowie er das Boot an Land gebracht, wird er sich in die Fluten stürzen.

Und dann ... ein Ruhestündchen da unten am grünenden Ufer, über das sich bereits die ersten Schatten lagern und von dem weicher Blütenduft zu ihnen hinüberweht, bei einem Becher Sherry, den er im Wasser kühlen wird, bei all den netten Gabelbissen, die er sorgsam in einem Feinkostgeschäft ausgewählt hat!

Sie sind an einer Stelle angelangt, an der ein breiter Graben einmündet. Die Reste einer alten, längst ausser Gebrauch gesetzten Schleuse ragen aus dem Wasser.

An ihren Holzpfeilern hält er mit dem Boot. Die Böschung ist ein wenig steil. Schadet nichts, da kann die behende Locki wieder ihre Kletterkünste zeigen, und er wird seine Freude haben.

Sie macht zwar ein bedenkliches Gesicht, lacht sich dann aber selber aus, erhebt sich von ihrem Sitze, steigt vorn aus, indem er, auf seinem Platze verharrend, das Boot festhält, klettert langsam und bedächtig, aber sehr geschickt die abfallende Schleusenwand empor ... ist oben, winkt ihm triumphierend mit der Hand zu.

Nun ist die Reihe an ihm, und er wird ihr zeigen, was er kann und wie ein gewandter Sportsmann solche Hindernisse nimmt ... spielend, mit Boot, mit allem ... mit einem Satz ... ohne die umständlich zaghafte Kletterei. Ein wenig Eindruck möchte er doch auf sie machen ... gerade heute!

Richtig! Schon steht er mit dem rechten Fuss auf der Wand, sieht mit überlegen lächelndem Blick zu ihr hinauf ...

Das Boot aber will er doch ein wenig weiter auf das Land ziehen. Es könnte sonst ... er wendet sich nach ihm um, macht dabei einen Fehltritt, kommt ins Wanken.

Sie merkt es, springt hinzu, reicht ihm die Hand.

Er nimmt sie. Aber nicht zu seiner Unterstützung ... er wird sich vor ihr doch keine Blösse geben. Nein, ritterlich nimmt er sie, führt sie in leichter Dankbarkeit an seine Lippen, drückt bei dieser hurtigen Bewegung aber mit dem linken Fuss das Boot ins Wasser, will nach ihm greifen, es an sich ziehen — — zu spät! Es entgleitet ihm ... rutscht ab ... treibt mit der Strömung ... ist weg.

Dabei kommt er selber aus dem Gleichgewicht, stürzt mit gespreizten Beinen ins Wasser, zieht sie nach sich ... pardauz, da liegen sie beide, Ritter wie Retterin, plantschen und strampeln in dem gleichgültig und unbekümmert über sie dahinströmenden Vorfluter, der zudem eisig kalt ist.

Dem Himmel sei Dank! Zu tief ist es hier am Ufer nicht. Aber unten ist lehmiger, aufgeweichter Grund. Kein Wehren, keine verzweifelte Schwimmbewegung mit den Armen hilft ihnen ... bis an den Hals sinken sie beide unter.

Er will ihr behilflich sein, erfasst ihren Ledergürtel, will sie hochziehen. Sie aber entwindet sich ihm, greift mit dem Arm nach dem Schleusenpfeiler, arbeitet sich dank ihrer behenden Geschicklichkeit aus eigener Kraft empor, erklimmt das Ufer noch vor ihm, der pustend und schnaubend nachkeucht, triefend am ganzen Leibe, einem Nickelmann ähnlicher als dem grossen Sportsmann Timm Vandekamp.

Nun stehen sie sich beide gegenüber.

Nein, wie sehen sie aus! Seidenes Kleid und seidenes Hemd kleben, mit Schlingpflanzen, Entengrütze und allerlei Tang und Kraut bunt bemalt, an den durchnässten Körpern. Die reizenden Sandaletten, die schmucken Gummischuhe, die einmal im schneeigen Weiss leuchteten, die feschen Strümpfe vom schmutzigen Lehm und Grund bis zur Unkenntlichkeit entstellt!

Vorbei mit Scherz und Lust, vorbei mit lockenden Liebesträumen und seligem Harren auf eine Frühlingsnacht unter verschwiegenem Segelzelt!

Er zwar sucht sich männlich zu fassen, die Sache von der komischen Seite zu nehmen, schlägt sogar ein etwas erzwungenes Lachen an.

Aber bei ihr findet er keinen Widerhall.

Als sie ihn, der ihr eben noch als das Urbild jugendlicher Kraft erschienen, ein Mittelding zwischen Apoll und Faun, in dieser grotesken Gestaltung vor sich sieht, als ihr entsetzter Blick dann an dem eigenen Körper hinuntergleitet und sie zu der Erkenntnis kommt, dass sie noch viel abscheulicher zugerichtet ist, da versucht sie wohl, es ihm gleichzutun.

Aber jäh und unvermittelt bricht ihr flackerndes Auflachen ab, geht in ein heisses Schluchzen über.

Auf dem alten Brückenrand lässt sie sich nieder, hält die beiden Hände vor das Gesicht und weint ... weint unaufhaltsam, herzzerbrechend.

Dabei zittert sie vor Kälte am ganzen Leibe, fühlt das widerliche kalte Nass an ihrem Körper förmlich auf- und niederkriechen, bis in ihr Innerstes dringen, verwünscht Paddelboot und „Puck“, die sie beide eben noch so tief in ihr begeistertes Herz geschlossen, gibt ihrem Abscheu in drastischen Verwünschungen ohnmächtigen Ausdruck.

Timm aber steht dabei wie ein grosser geschlagener Junge, kennt die kleine, immer lustige Locki gar nicht wieder, kann nicht glauben, dass es dieselbe ist, die er eben noch in wundersüssen Träumen zärtlich umfangen, weiss sich in dieser verzwickten, für ihn ganz ungewöhnlichen Lage gar nicht zurechtzufinden, hat dann wieder ein tiefes Mitleid mit ihr, nimmt ihre arme verklammte Hand in die seine, drückt, reibt sie, zieht sie durch seine starken Finger, versucht allerlei, sie ein bisschen zu erwärmen, redet ihr mit guten, scherzenden und ernsten Worten zu — je mehr er zu ihr spricht und tröstet, um so herzzerbrechender schluchzt und weint sie.

Zudem friert er selber und fühlt sich in seinen nassklebenden Kleidern alles andere eher als behaglich.

Da kommt ihm ein rettender Gedanke: Er wird ihr von dem Sherry einflössen, den er mitgenommen und der jetzt seinen Dienst tun soll!

Verdammt! Der schwimmt ja mit all den schönen Leckerbissen im Zweirenner auf dem Vorfluter, und wenn er irgendwo an Land treibt, wird sich ein anderer an ihm ergötzen.

Horch! Fröhlicher Gesang von jugendlich frischen Stimmen ertönt in der Nähe ... vielstimmig, ein wenig ungehobelt und nicht ganz im Takt, aber um so kräftiger und unbekümmerter.

Er blickt um sich.

Das fehlte gerade noch!

Eine ganze Rotte von Jungens und Mädchen zieht, vom anfsteigenden Staube verhüllt, die lange, am Vorfluter vorbeiführende Strasse entlang ... gewiss eine Schule, die von ihrem Ausfluge zurückkehrt.

Schon wird die regelrechte Marschreihe durchbrochen, einige Jungen lösen sich aus ihr, kommen mit schnellen Schritten hinzugelaufen, zu sehen, was sich da ereignet. Andere folgen, nun auch Mädchen, eine ganze Schar ... mehr ... immer mehr ... starren mit weitgeöffneten Augen und Mäulern auf das wunderliche Paar mit den eng anliegenden, phantastisch grau und grün und schwarz gesprenkelten Kleidern.

„Guckste, Emil, det is der Bajazzo von jestern!“ ruft ein grosser Bengel und zeigt mit erhobenen Fingern auf den armen Timm.

„Und die da, det is de Colombine!“ lässt sich ein ausgelassenes Mädel vernehmen.

Und nun bilden sie einen Kreis um die beiden, zeigen sie einer dem anderen und den immer neu Hinzueilenden, lachen und spotten sie mitleidlos aus vollem Halse aus, dass der Brückenkopf vor ihrem Kreischen und Johlen erzittert, die erschreckte Locki aus ihrem Schluchzen emporfährt, entsetzt und empört auf die kleinen frechen Eindringlinge blickt, gegen die der grosse Timm, der, Eindruck zu machen, allmählich aufgegeben, hilf- und ratlos dasteht.

Da vernimmt er einen rasch hinzutretenden Schritt hinter sich und gleich darauf eine Stimme, die die ausgelassene Schar mit tadelndem Wort zurechtweist, und zwar mit einem solchen Erfolg, dass die ganze Rotte ertappt und erschreckt auseinanderstiebt und an die Stelle lärmender Ausgelassenheit beklommenes Schweigen eintritt.

„Die Herrschaften haben Unglück gehabt, sind mit ihrem Boot bei der heftigen Strömung gekentert und müssen sich nun noch die Belästigungen dieser ungezogenen Gören gefallen lassen, für die ich sehr um Entschuldigung bitte.“

Eine wohlklingende, etwas tiefgefärbte Stimme sagt es, und vor ihnen steht eine Dame im einfachen lichten Sommerkleid mit grüngebändertem Strohhut auf dem vollen dunkelblonden Haar, die für eine Lehrerin sehr jung, durch die Bestimmtheit ihres Wesens und ihrer Worte aber wohl angetan erscheint, Achtung und Respekt einzuflössen.

Dabei liegt gar nichts Strenges, gar nichts Pedantisches weder in ihrer mädchenhaften Erscheinung noch in dem anziehenden klugen Gesicht, und durch die tiefblauen Augen, die eben noch so ernst und gemessen dreinschauen konnten, sprüht beim Anblick der beiden in ihrer wunderlichen Gewandung ein unwiderstehlich sich emporringender Schalk.

„Freilich ... so ganz böse darf man den Kindern wohl nicht sein. Ein bisschen phantastisch sehen Sie schon aus.“

Locki macht diese Begegnung sichtbares Vergnügen. Timm aber ist die ganze Angelegenheit im höchsten Grade peinlich, und nichts wünscht er so sehr, als möglichst bald von ihr befreit zu sein.

Die junge Lehrerin hat ihre Marschkolonne auf der grossen Strasse wiederhergestellt, die Führung einem der älteren Mädchen übergeben und kehrt zu den beiden zurück.

„Ich darf Sie jetzt wohl bitten, mit mir in meine Wohnung zu kommen. Sie ist nur wenige Minuten von hier entfernt. Wir können die Strasse vermeiden und einen Feldweg einschlagen. Wenn wir erst dort sind, wird sich alles finden.“

Timm zeigt sich wenig geneigt, sieht auf Locki, weiss nicht recht — —

„Wenn Sie meinen“ — er stockt: wie soll er sie nennen? „meine Freundin“, will er sagen. Aber nein, das wäre hier nicht angebracht. Komisch! Dieses fremde junge Mädchen flösst ihm einen Respekt ein, den er sonst kaum empfunden hat. Aber auch „Locki“ bekommt er nicht über die Zunge, und ihr eigentlicher Name ist ihm in der Verwirrung des Augenblickes und der Ereignisse völlig abhanden gekommen.

„Wenn Sie die Freundlichkeit haben wollen“, sagt er schliesslich, „die junge Dame mit in Ihr Haus zu nehmen und ihr ein wenig behilflich zu sein, so wäre ich Ihnen dankbar. Mir aber gestatten Sie, Ihren gütigen Vorschlag abzulehnen. Ich möchte vor allem mein Boot suchen.“

„Über Ihr Boot brauchen Sie sich keine Sorge zu machen. Es wird bald geborgen sein. Da drüben, schon bei Conradswalde, wird die Strömung geringer. Da ist auch mein Boot, als mir ein ähnliches, wenn auch nicht ganz so arges Missgeschick geschah, eine Stunde später ans Ufer getrieben.“

„Sie haben auch ein Boot?“ fragt er, immer noch zerstreut, aber mit erwachter Anteilnahme.

„Und ob ich eins habe! Es ist mein bester, mein einziger Gefährte in dieser Einsamkeit. Wenn wir nicht Wandertage haben, die jetzt viel häufiger anberaumt werden, als früher, liege ich den ganzen Nachmittag, ja, oft bis in den späten Abend, auf dem Wasser. Es fährt sich wundervoll auf diesem Umfluter. In einer Stunde, wenn ich mich ein bisschen beeile, bin ich auf der Weichsel, und dann liegt die ganze Welt vor einem.“

„Und immer allein?“

In demselben Augenblick ärgert er sich, dass er eine so törichte Frage gestellt, noch dazu an eine ihm völlig Fremde.

„Mit wem sollte ich wohl fahren? Und ausserdem — es gibt doch gar nichts Schöneres, als auf solch einem Faltboot allein und durch niemand gestört, zu paddeln, wohin es einem gefällt. Aber nun, bitte, schlagen Sie sich Ihre Bedenken aus dem Kopf. Ich habe bereits ein paar aufgeweckten Mädels, deren Eltern in Conradswalde wohnen, Auftrag gegeben, nach Ihrem Boot Umschau zu halten. Sie werden sehen, nach kurzer Zeit können Sie es dort in Empfang nehmen.“

„Dann möchte ich doch gleich —“

„In diesem Anzug? Sie müssen doch einsehen, dass es nicht gut möglich ist. Oder wollten Sie sich zum zweiten Male ...?“

Ja, er sieht es ein. Sie hat eine so bestimmte Art zu sprechen. Er erkennt auch, dass sie recht hat. Zudem gefällt ihm die umsichtige Art, mit der sie sofort ihre Kinder angewiesen, nach seinem Boote Nachforschungen anzustellen.

So gibt er seinen Widerstand auf, und sie machen sich auf den Weg, ihrer Wohnung entgegen.

Ganz kann ihnen die Strasse nicht erspart bleiben. Eine kurze Strecke müssen sie sie aufwärts wandern. Aber sie hat Obacht gegeben, ein paar polternde Wagen, auch eine flott bespannte ländliche Kutsche vorüberfahren lassen. Nun ist die Bahn frei und sie können ungehindert gehen. Nur wenige Minuten. Dann schlägt sie einen Pfad ein, der sich zwischen blühenden Wiesen und Feldern wie ein anmutig schillerndes Band dahinschlängelt.

Schwarz und weiss gesprenkelte Kühe weiden auf der Wiese, rupfen voller Behagen das saftige Gras. Über ein Roggenfeld streicht die starke Hand des Windes dahin, lässt es in dampfenden Wogen aufwallen.

Tiefer schon neigt sich die Sonne, sendet ihre geruhigen in allerlei Lichtern spielenden Strahlen wie Friedensboten auf das bis an den Horizont in flacher Ebenmässigkeit sich dehnende Land.

Alles ist Stille und Geborgenheit. Drüben von der Strasse her hört man gedämpft den Gesang der heimwärts ziehenden Kinderschar.

Ein Haus taucht auf, niedrig mit schräg abfallendem Dach hingekuschelt in den Hang frisch grünender Triften und Wiesen. Die blühende Symphonie des Frühlings, licht emporschimmernde Kastanien, Hecken bunten Flieders, roter und weisser Dorn in verschwenderischer Fülle, umgibt es von allen Seiten. Und unter ihrem Duften und Rauschen liegt es in weltentfernter Stille.

Durch einen muffigen, mit roten Ziegeln getäfelten Flur treten sie ein. Rechts sieht man ein grosses Schulzimmer mit geöffnetem Fenster, einer Menge eben gescheuerter Bänke und Tische und einer sehr grossen schwarzen Wandtafel.

Sie aber öffnet eine Tür zur Linken. Eine quadratmässig gebaute Stube empfängt sie, deren Einrichtung von einer gewissen gediegenen Wohlhabenheit zeugt: ein antiker Mahagonischreibtisch, der auf den ersten Blick Timms Entzücken hervorruft, ein gleichfalls alter Bücherschrank mit kühn geschweiften Bogen und Glastüren, eine noch ältere Servante mit altchinesischem Porzellan, einigen Götzenbildern und anderen Kostbarkeiten von künstlerischem Wert.

„Alles, was Sie hier sehen“, erklärt sie, „und was Ihnen für die Wohnung einer Lehrerin wohl ein bisschen kostbar vorkommt, stammt aus dem Erbe meiner verstorbenen Mutter. Wir haben, wie so viele jetzt, auch einmal bessere Tage gesehen.“

Und als hätte sie schon zuviel gesagt: „Doch jetzt werde ich uns schnell eine Tasse warmen Kaffee machen. Zuerst aber begleitet mich die Dame wohl in mein Schlafzimmer und zieht sich einige von meinen Sachen an.“

Das Schlafzimmer ist auch quadratförmig und wiederum mit vornehmer Gediegenheit eingerichtet. Alles in ihm ist von feingemasertem dunkelpoliertem Nussholz: der geräumige Kleiderschrank, die von einem altchinesischen, mit reichen Stickereien versehenen Seidenstoff bedeckte Couch und das ebenfalls von einer gestickten Decke verhüllte sehr grosse Bett, in dem man, von den Kastanienbäumen umrauscht, prachtvoll schlafen muss.

„Für Sie bin ich auch ein wenig vorbereitet“, wendet sie sich an Timm, indem sie für die kleine mit schlecht verhehlter Neugierde dreinblickende Locki die beiden starken Flügel des Kleiderschrankes öffnet: „Mein Bruder ist Forstmeister auf der Danziger Höhe, und da er ein fanatischer Fischer und Angler ist und mich des öfteren besucht, so lässt er immer einige von seinen Zivilsachen zurück, die er hier für seinen Sport braucht. Sie finden sie drüben in meinem Fremdenzimmer in dem kleinen Eckschrank.

Eine Viertelstunde später sieht man sich an dem mit saftigem Schinken und anderen ländlichen Erzeugnissen lecker zugerichteten Kaffeetisch wieder, der unter ihren flinken Händen wie ein Tischleindeckdich aus der Versenkung hervorgezaubert ist.

Locki lässt auf sich warten. Sie hat solange mit ihrem Umkleiden und der sorgfältigen Bearbeitung von Gesicht und Haar zu tun, die beide durch das unfreiwillige Bad, vor allem aber durch die für sie ganz ungewohnte seelische Erschütterung und das anhaltende Weinen in eine recht krause und verwirrte Verfassung geraten sind.

Als sie dann aber zu den beiden an den Kaffeetisch tritt, geht ein Leuchten von ihren Augen aus. Sie hat aus dem reich ausgestatteten Schrank nach sorgfältiger Auswahl ein schmuckes weisses Kleid von leichter Wolle gewählt, und, obwohl ihre Gastgeberin grösser, auch etwas voller und abgerundeter in den Hüften ist, steht es ihrem bildungsfähigen und jeder Gewandung mit Leichtigkeit sich anschmiegenden Körper so ausgezeichnet, wie ihr weder das spitzen- und perlenübersäte Staatskleid einer Königin noch das fescheste aller Pagenröckchen auf der Bühne je gestanden hat.

So gross auch ihr Hunger nach all den überstandenen Strapazen geworden ist und so herrlich der auf der Zunge zergehende Schinken ihr mundet, wieder und wieder hebt sich das lebhafte Auge von Teller und Tasse, mal zu Timm, der ihrem fröhlichen Geplapper wenig zugänglich erscheint, sich überhaupt nur mit knapp gemessenem Wort an der Unterhaltung beteiligt, mal zu ihrer jungen Wirtin. Dann stellt sie Vergleiche an, bei denen sie sicher nicht den Kürzeren zieht.

Timm gefällt ihr, und sie findet, dass die dunkelgrüne mit Hornknöpfen versehene Joppe, die er dem forstmeisterlichen Aufbewahrungsschranke nach Überwindung einiger peinlicher Bedenken entnommen, die Vorzüge seiner sehnig gestrafften Erscheinung vorteilhafter noch als Abendjacke oder Frack hervorhebt.

Vielleicht ahnt sie nicht, dass auch er Vergleiche anstellt, unwillkürlich und ohne die leiseste Absichtlichkeit.

Aber dass sein wägender Blick von der eben noch so heiss begehrten Locki dann doch wieder zu der anderen hinübergleitet, die mit feiner, immer ein wenig gemessener Liebenswürdigkeit die Wirtin macht, das kann er bei allem männlichen Willen nicht hindern.

Alles an ihr ist schlicht und ungekünstelt, alles von einer wundervollen Frische und Gesundheit: der aus dem lichtblauen Sommerkleid emporblühende Körper mit seinem Ebenmass und seiner in jeder Bewegung spielenden Anmut, der behende, leicht sich wiegende Gang, mit dem, als sie vorhin über den grünenden Wiesenhang wanderten, die kleine ermüdete Locki, die doch sonst tapfer und geschmeidig einherzugehen vermochte, fast Mühe hatte Schritt zu halten, das wellige dunkelblonde Haar über der freien, klugen Stirn und dem frischen Gesicht, das keine Kunstmittel, sondern nur Sonne und Luft gefärbt hatten.

Sicher würde dies Gesicht in seiner herben Natürlichkeit gegen Puderquaste und Schminkdose rebellisch sich auflehnen — er muss lächeln, als solche Gedanken ungerufen in ihm aufsteigen.

Nun hört er sie sprechen, nachdem sie bis dahin schweigend gesessen und Lockis temperamentvollsten Theatergeschichten in ihrer stillernsten Art und doch mit einem merkbaren Vergnügen zugehört hat.

Von ihrem Beruf erzählt sie, den sie, einmal gezwungen, weil die veränderte Lage es gebot, ergriffen, jetzt aber so liebgewonnen hat, dass sie ihn mit keinem anderen vertauschen möchte, von den Kindern, die sie zu unterrichten hat, von denen bei aller scheinbaren Gleichförmigkeit jedes eine kleine Welt für sich bedeutet und von ihr auch als solche genommen wird, von den freien Nachmittagen und den herrlichen Sonntagen, wo sie im Winter in ihrer behaglichen Stube sitzt und gute Bücher liest oder, wenn der Umfluter zugefroren ist, auf dem Schlittschuh sich tummelt. Der Sommer aber gehört dem Boot oder dem Bruder, den sie zu seinen Fischzügen oder an seine Angelstelle rudert. Alle Ferien verlebt sie bei ihm, denn zum Reisen, wie in früheren Zeiten, reicht es nicht mehr, zumal sie noch andere Verpflichtungen hat. Schadet auch nichts. Denn etwas Schöneres gibt es gar nicht als sein schmuckes Forsthaus, an das von zwei Seiten der Wald stösst, während an den beiden anderen seine Felder und Äcker liegen, die er selbst bewirtschaftet. Und keine bessere Abwechslung gegen die von Wassern durchflutete Niederung, die mit ihren immer wiederkehrenden Weidenbäumen und ihrer durch keine Wellung oder Höhe unterbrochene Gleichmässigkeit, besonders im Herbst, etwas recht Eintöniges und Melancholisches hat.

Es ist ein seltsames Gemisch in ihrer Art zu erzählen. Manchmal kommen die Worte auf frohen Schwingen von ihren Lippen; besonders wenn sie von ihren Kindern spricht, tut sie es mit einem entzückenden Humor.

Dann aber ist wieder etwas Nachdenkliches, etwas Selbsterfahrenes, geradezu Trauriges in ihren Worten, als wäre sie trotz ihrer Jugend wissend geworden über die Sorge und das Leid des Lebens.

Timm hört ihr mit einer Aufmerksamkeit zu, die er sonst fremden Erzählungen nicht entgegenzubringen pflegt. Es ist ein so neuer, ungewohnter Ton in allem, was sie sagt, in ihrer ganzen Art.

Locki hat sich an den kleinen selbstgebackenen Mürbkuchen und den eingemachten Früchten, die es als Nachtisch gibt, genug getan und beginnt ihr lustiges Geplänkel mit frisch gewonnener Kraft.

Aber dieses Mal kommt sie nicht weit.

Ein hurtig trappelnder Schritt wird von draussen hörbar, fliegt durch den kleinen Vorgarten. Am geöffneten Fenster erscheint ein kleines Mädel, äugt mit hochrotem Gesicht, auf das ein paar lose Haarsträhnen wirr herunterhängen, in die Stube.

„Fräulein! Fräulein!“ jubelt eine in froher Erregung hell kreischende Stimme. „Wir haben’s! Es is jefunde! Vater hat’s ans Land jezoge — — das Boot!“

„Nun? Habe ich Ihnen zuviel gesagt?“ ruft die junge Lehrerin zu Timm hinüber, springt auf, nimmt das junge Mädel bei der Hand, führt es an den Tisch.

„Du sollst deinen Finderlohn haben, klein Tilling!“

Sie lässt das freudig verdutzte Mädchen neben sich Platz nehmen, nötigt ihm, als es vor Verlegenheit nicht zuzugreifen wagt, mit freundlicher Bestimmtheit ein Stück Kuchen auf, spricht mit ihm in einer auf das kindliche Gemüt eingehenden Art, dass es Scheu und Verlegenheit vergisst.

Timm aber steht dabei, und wieder ist ihm, als täte sich ihm in diesem Vorgang eine Welt auf, in der er nie zu Hause gewesen ist, selbst in seinen Kinderjahren nicht.

Zugleich aber fasst ihn eine wachsende Ungeduld: er möchte sein Boot wiederhaben!

„Es ist Zeit, dass wir uns auf den Heimweg machen“, sagt er zu Locki, die sich nun auch zu dem Kinde begeben hat, jedoch nichts Rechtes mit ihm anzufangen weiss.

„Aber doch nicht mit dem Boote?“

„Nein, dazu ist uns wohl die Lust vergangen, selbst wenn es heil und unversehrt geblieben wäre. Ausserdem würden wir es vor Mitternacht nicht schaffen. Ich werde unseren Wagen kommen lassen. Ist hier in der Nähe ein Fernsprecher, den ich für wenige Minuten benutzen könnte?“ wendet er sich an seine junge Wirtin.

„Gewiss. In der Postablage drüben im Dorf. Wenn es Ihnen recht ist, führe ich Sie hin.“

Durch einen weissgekalkten Flur treten sie in eine niedrig gebälkte Stube, in der ein wurmstichiger Tisch mit zwei grossen, weit ausgezogenen Schubladen, ein auf seinen altersschwachen Beinen nicht mehr ganz sicherer Stuhl und ein Fernsprecher älterer Gattung die einzigen Merkmale ihres amtlichen Charakters sind.

„Darf ich Sie verbinden?“ fragt sie. „Ihre Nummer, wenn ich bitten darf.“

„Mein Vater wird noch im Kontor sein“, erwidert er. „Also bitte: Danzig Nr. zweiundvierzigtausendsiebenhundert-achtundfünfzig Vandekamp und Co.“

„Und Sie sind der Sohn — — —!“

Sie hat den Hörer sinken lassen, sieht ihn an. Nichts als ein schmerzhaft verhaltenes Zucken um den Mund, das ihm wehe tut.

Aber schon hat sie sich in der Gewalt, wiederholt mit langsamer Deutlichkeit die Worte, die er ihr vorspricht.

„Ihr Herr Vater ist bereits nach Hause gegangen. Das Fräulein aber, das am Apparat war, wird alles besorgen. Der Wagen wird sofort abgesandt werden. Sie dürfen ihn in kurzer Zeit erwarten. Warme Decken und Mäntel werden mitgegeben werden.“

Zwei Stunden hatten sie in dem gastlichen Schulhause gesessen, und sie waren wie ein Nichts, waren viel zu schnell entschwunden.

Diese eine aber kriecht wie eine Schnecke, wird zur Ewigkeit.

Es ist etwas zwischen sie getreten, etwas Unerklärliches und doch deutlich Spürbares, etwas, das sich mit hartem Druck auf die Herzen, auf die Sprache legt, die nicht mehr in harmloser Unbefangenheit, sondern gepresst und erzwungen, ohne Gedanken und Sinn über die lähmende Länge der Zeit hinweghelfen soll. Ein Reif ist auf den langsam seinem Ende entgegendämmernden Frühlingstag gefallen, hat mit kalter Hand über seine jungen Blüten dahingestrichen, dass sie im weissen Sterben zu Boden fallen, wie da draussen vor der Tür die hellschimmernden Kerzen der Kastanie.

Selbst die kleine Locki, die ahnungslos von dem bleibt, was sich hier vor ihren Augen, ihr völlig undeutbar, vollzieht, hat Laune und Mut verloren, den lustigen Faden ihrer Geschichten und Erlebnisse fortzuspinnen, tröstet sich damit, dass Timm immer ein wunderlicher Kauz gewesen, dem ein Schnippchen zu schlagen einer Frau nicht schwerfallen dürfte, freut sich auf das Abendessen, zu dem er sie bei Lauterbach einladen wird.

Dann ist die Zeit gekommen, wo sie sich beide in ihre Gemächer zurückziehen, die geliehenen Kleidungsstücke abzulegen, die eigenen, die sorgsam gereinigt und am Herdfeuer schnell getrocknet sind, wieder anzuziehen.

Vor der Tür hält der Wagen.

Ein kurzer Abschied, merkbar kühl und befangen. Ein warmer Dank, der mit der Begründung abgelehnt wird, dass man dasselbe für jeden anderen getan hätte.

„Was ist nur geschehen?“ fragt sich Timm, fragt es sich wieder und wieder, indes Locki sich mit sichtbarem Behagen in den flauschigen Abendmantel hüllt, der sicher Ina gehört, auch die mollige Decke um die seidenumspannten Beine legt. Denn das Gefühl des Frierens ist noch immer in ihr.

Timm nimmt weder Decke noch Mantel. Teilnahmlos und ganz in seine Gedanken versunken lehnt er sich in seine Ecke.

Aber sowie der Wagen auf die grosse, neben dem Vorfluter herlaufende Strasse gelangt ist, wendet er sich zu dem kleinen Mädchen, das man bis zu ihrem Heimatorte mitgenommen hat und das vorne beim Führer sitzt. „Sag mal, wie heisst eigentlich eure Lehrerin?“

Mit verdutztem Lächeln sieht die Kleine ihn an.

„Wie soll sie denn heissen? Fräulein Anna Katharina. Die kennt doch jeder.“

„Anna Katharina!“ wiederholt Timm vor sich hin. Ja, das Mädel hat recht. Wie sollte sie auch anders heissen? Noch nie hat er einen Namen gehört, der so mit der Erscheinung und dem Wesen eines Menschen zusammengehört wie dieser.

„Aber nur, wenn wir in der Schule ein Lob bekommen oder manchmal auch auf den Spaziergängen, wenn wir sehr artig und vernünftig sind, dürfen wir sie so nennen. Sonst heisst sie Fräulein Brackmann.“

Der Wagen hält. Sie sind in Conradswalde angelangt.

Timm nimmt sein Boot in Empfang, baut es auseinander, verstaut es im Wagen. Aber nicht mehr mit der Wichtigkeit und dem Vergnügen wie heute nachmittag beim Beginne der Fahrt. Mechanisch tut er es wie eine lästige Pflicht.

Dann geht es weiter. Die Nacht ist hell und frisch. Auch der Blütenduft, der in der Luft liegt und durch das geöffnete Fenster zu ihnen hineindringt, hat etwas Herbes.

Lockis spielerische Hand streicht über Timms Wangen, liegt dann weich und beschwichtigend auf der seinen, als fühlte sie, dass in ihm etwas getroffen ist, das sie zur Ruhe bringen muss, wie sie es so manches Mal getan hat, wenn er, über eine sportliche Niederlage verstimmt, in diesem Wagen mit ihr heimwärts fuhr.

Er erwidert ihren zärtlichen Druck, nimmt wohl auch ihre Hand. Aber was er heute sagt und tut, erscheint ihr nicht wie sonst. Und darüber ist sie traurig. Denn sie liebt ihn wirklich aus der Tiefe ihres Herzens, wenn diese Tiefe auch nicht gerade grundlos ist.

Er fühlt, dass er ihr weh tut und dass sie es nicht um ihn verdient hat. Aber er kann nicht anders.

Unaufhörlich muss er an das Schicksal dieser Begegnung denken. Dass es so kommen musste! Dass das Mädchen, das ihm aus schwerer Verlegenheit geholfen, ihm und seiner kleinen Freundin gastlich ihr Haus geöffnet, und das — warum soll er es leugnen? — in ihrer jungblühenden Erscheinung, ihrem klugen, so ganz und gar naturverwandten Wesen einen Eindruck auf ihn hervorgerufen wie bisher noch nie ein anderes, die Tochter des Mannes sein muss, der erst vor wenigen Tagen, von der äussersten Not gepeitscht, in seines Vaters Kontor gestanden und jetzt schwer leidend daniederliegt!

Als sie in Danzig ankommen, erlebt die arme Locki eine neue Enttäuschung, und das ist die schwerste für sie: Timm lädt sie nicht zum Abendessen bei Lauterbach ein, lässt sie vor ihrer Wohnung an der Reitbahn absetzen und lehnt ihre Bitte, noch eine Tasse Tee bei ihr zu trinken, mit höflicher Bestimmtheit ab.

Vom Rathausturm erklingt das alte Glockenspiel.

„Morgenglanz der Ewigkeit.“ In feierlichen Akkorden flutet es über den Langen Markt, auf dem alles Leben und Tätigkeit ist.

Denn es ist die achte Stunde, die der eherne Glockenmund von da oben mit seiner weit vernehmbaren Stimme verkündet.

Die Türen der Geschäfte öffnen sich. Die mit regelmässiger Unaufhörlichkeit vom Langgasser wie vom Grünen Tor auf den Markt surrenden Elektrischen entlassen ganze Ströme von jungen, auch mehreren älteren Leuten, die sich beeilten Schrittes über den Langen Markt, seine vielen auf ihn mündenden kleineren Gassen oder durch das Grüne Tor auf die bereits von polternden Wagen und einer ganzen Kette von Eisenbahnwaggons durchlärmte Speicherinsel ergiessen. Denn es ist die höchste Zeit, in sein Büro oder an sein Pult zu gelangen.

Bei Vandekamp und Co. vollends ist ein Zuspätkommen eine eigene und für den, der es wagt, nicht ganz ungefährliche Sache.

Denn auf den ersten Wächterruf des Glockenspiels wird der Betrieb in vollem Umfang aufgenommen, und Theobald Kernreif ist ein gewissenhafter Prokurist, der seine Ehre darein setzt, des Morgens der Erste und des Abends der Letzte im Geschäft zu sein. Was er aber in zäher Pflichtstrenge und in unerschütterlicher Pünktlichkeit von sich selber fordert, das setzt er als selbstverständlich auch bei den seiner Obhut anvertrauten Angestellten voraus.

Nur Traute Pallasch, die jüngst erst von Walter Döring zu ihnen hinübergekommene Buchhalterin, die dort an mehr Grosszügigkeit im Kommen und Gehen gewöhnt war, schlägt ihm ab und zu ein Schnippchen. Denn sie ist ein so gewandtes und durchtriebenes Ding, dass sie, selbst wenn er mitten im Kontor steht, wie eine geschmeidige Katze an ihm vorbei auf ihren Platz zu schleichen weiss und ihn dann mit ihren grossen unverschämten Augen ganz erstaunt anblickt, wenn er es unternimmt, auch nur den leisesten Zweifel in ihre unbedingte Pünktlichkeit zu setzen.

Sowie er mit Söna Sentland, der einzigen, die zu seinem steten Verdruss nicht ihm, sondern als seine Privatsekretärin dem Chef unterstellt ist, die eben eingegangene, in noch ungeklärten Haufen und Paketen auf dem grossen Auslegetisch gelagerte Post für die verschiedenen Abteilungen ausgesondert hat, begibt er sich ans Telephon.

Er tut es jetzt schon, nicht weil seine Gespräche nicht noch Zeit hätten, im Gegenteil, für sie ist es noch reichlich früh. Aber er will sich überzeugen, ob die Telephonistin, die in ihrer abgeschlossenen Zentrale etwas ausserhalb seines Machtbereiches und seiner Aufsicht steht, auch pünktlich dort und nicht mit allerlei Privatgesprächen beschäftigt ist, die er ihr, freilich ohne grossen Erfolg, auf das Strengste untersagt hat. Denn die kleine Petronella, die im ganzen Hause nur das „Peterle von der Zentrale“ heisst, hat viele Verehrer, nicht nur im Kontor, sondern unter den Geschäftsfreunden und Kunden des Hauses. Und wer Vandekamp und Co. anruft, lässt die Gelegenheit nicht vorübergehen, mit dem aufgeweckten Mädel zuerst einmal ein bisschen zu plaudern und zu schäkern, wofür sie in erlaubter Weise jederzeit gern zu haben ist. Dass dabei die Grenzen zwischen „geschäftlich“ und „persönlich“ bisweilen recht fliessend werden, ist schliesslich nicht ihre Schuld, und selbst Theobald Kernreif kann wenig dabei machen. Aber es verdriesst sein für die überflüssige Ausschmückung des Lebens wenig empfängliches Gemüt, dass, wenn er zu ihr kommt, ihre kleine Bude mehr einem Gewächshause als einer ernsthaften Zentrale in einem grossen Kaufmannshause gleicht.

Sie aber kennt ihre Leute und weiss ganz genau, wie weit ihre Macht reicht und dass sie einem so sachlichen Manne wie Theobald Kernreif, mit dem zu plaudern nicht gut möglich und zu schäkern ein wenig lockendes Vergnügen ist, gegenüber versagt. Deshalb ist sie ihm gegenüber nichts als eifrig beflissene, freilich immer etwas schnippisch eingestellte Dienstfertigkeit, lässt andere Gespräche ruhen, lässt selbst den jungen Chef, der ihr gelegentlich auch einmal etwas Nettes sagt oder tut, getrost am Apparat warten, wenn des Prokuristen gebietender Ruf ertönt.

Dann wickelt Theobald Kernreif sein wohldurchdachtes Morgenprogramm ab, lässt sich mit den Maklern verbinden und den Versicherungsgesellschaften, gibt Aufträge für Lieferungen von Kiefernschwellen, lässt sich einen Kostenanschlag über Schnitt- oder hochwertige Exporthölzer durchsagen. Und sind es auch nur unverbindliche Gespräche, denn die endgültigen Abmachungen und Bestimmungen hat sich der Chef vorbehalten, er hat doch alles wohlvorbereitet, wie es der Chef wünscht, hat vor allem den kleinen Racker von der Zentrale, dem er nachher für seine Mussestunden noch einige Befrachtungstabellen zur Berechnung herüberschicken wird, gehörig in Zug gebracht, damit ihm die Lust zu seinen Privatgesprächen vergehen soll.

Nachdem also auch dies zu seiner Befriedigung erledigt ist, tritt Theobald Kernreif mit gewichtig gemessenem Schritt und schnüffelnd einherwanderndem Späherblick seinen Rundgang durch die verschiedenen Abteilungen an, begrüsst zuerst kollegialisch Herrn Max Laudien, der als Einkäufer einen bedeutsamen Posten im Kontor bekleidet, begibt sich dann in die ihm am meisten am Herzen liegende Abteilung für Polen und Pommerellen, wechselt einige Worte mit Rolf Siebenfrank, ihrem Leiter, lässt sich dabei aber nicht genügen, sondern überzeugt sich an den einzelnen Tischen und Pulten persönlich, ob alles in der von ihm für gut befundenen und seinen Anordnungen gemässen Weise erledigt wird, die Konnossemente und die Stapeltabellen mit der ihnen gebührenden Sorgfältigkeit aufgestellt und genau für die Stunde ihres Ablieferungstermins fertig werden.

„Haben Sie schon das Konnossement von Rebitzki und Co.?“ wendet er sich an die polnische Korrespondentin. „Es sollte doch bis heute morgen zugestellt werden.“

„Jawohl. Der Kapitän der ‚Hero‘ wollte es mitnehmen. Die ‚Hero‘ aber ist, wie mir der Hafenausschuss auf meinen telephonischen Anruf eben mitteilt, noch nicht eingelaufen.“

„Der alte Kasten kommt immer ein paar Tage später. Wer weiss, ob er überhaupt noch einmal ankommen wird. Jedenfalls müssen wir —“

„Eine stärkere Transportversicherung nehmen als bei der letzten Ladung der Fichtenschwellen nach Hull. Ich werde es veranlassen, auch gleich das Inkasso für die Bank besorgen. Die Kopie schicke ich dann nach London an Lawdol, auch nach Greenwich. Das Original behalte ich zu den Akten.“

„Ja, was soll das denn heissen, Fräulein Kochalski? Weshalb nehmen Sie mir in dieser Ihnen wohl nicht ganz zukommenden Weise die Worte vom Munde?“

„Damit Sie mir nicht dasselbe genau zu derselben Stunde, genau mit denselben Worten heute zum zehnten Male sagen. Wenn Sie glauben, dass ich von gestern bin und nicht die einfachsten, sich jeden Tag wiederholenden Dinge von selber abwickeln kann, dann irren Sie sich, Herr Kernreif.“

Ganz verdutzt sieht er sie an, weiss nicht, was für ein Geist in das sonst immer gefügige Mädchen gefahren ist. Aber die Geduld der rassigen Polin ist erschöpft, und all die Teufelchen sind losgelassen, die in ihrem feurigen Blut ihr Spiel treiben und nun über den erschreckten Prokuristen herfallen.

Er will auffahren, will mit einer gehörigen Bestrafung, mit Dienstentlassung drohen, da fällt ihm ein, dass sich die hübsche Helenka der höchsten Gunst von Söna Sentland erfreut, dass diese sie in seiner Gegenwart dem Chef gegenüber als die tüchtigste Kraft im ganzen Kontor bezeichnet und dass das unverschämte Ding das natürlich sehr gut weiss.

Mit den männlichen Angestellten kommt er schon aus. Aber diese Mädel, die alle Söna Sentland, eine nach der anderen und eine immer jünger als die andere, hier eingestellt hat und die ohne Ausnahme für sie durchs Feuer gehen, während er jeden Tag aufs neue seine Plage mit ihnen hat! Unerhört, dass in einer Zeit wie dieser, die den Frauen die einzige ihrer Art und Anlage entsprechende Stelle im Hause anweist, ausgerechnet bei Vandekamp und Co. noch soviel weibliche Kräfte ihr unheilvolles Wesen treiben. Aber Söna Sentland meint, dass für diese Art von Arbeiten junge Mädchen eben geschickter und gewissenhafter sind. Und was sie meint, ist bei Vandekamp und Co. Evangelium.

Er aber denkt gar nicht daran, sich derartiges von einem naseweisen Ding wie dieser Polin bieten zu lassen. Er wird ihr einen Teil ihrer Obliegenheiten nehmen und auf Mable Country übertragen. Die ist aus dem gefährlichen Alter heraus und hat erst vor wenigen Tagen unter der Anteilnahme des ganzen Kontors ihr 25jähriges Jubiläum als englische Korrespondentin gefeiert.

Er würdigt die überhebliche Helenka keines Blickes mehr, will sich in die andere Abteilung zu Mable Country begeben — da singt es drüben vom Rathausturm her, dessen Glockenspiel jede gerade und ungerade Stunde mit seinen Chorälen wechselt: „So nimm denn meine Hände.“

Und nachdem der letzte Ton verklungen, hallen neun eherne Schläge durch die nur von dem Klappern der Maschinen und dem Läuten des Fernrufers unterbrochene Stille des Kontors.

Eine Minute später betritt Friedrich Vandekamp die Räume, sendet seinen kurzgemessenen Gruss zu den Tischen und Pulten hinüber, an denen der Weg ihn vorbeiführt, und begibt sich in sein Privatkontor.

Sofort nimmt Theobald Kernreif die bereits fertig gepackte Mappe, folgt dem Chef, ihm den Geschäftsbericht zu erstatten.

Der aber schneidet ihm das erste Wort ab:

„Haben Sie Erkundigungen über Philipp Brackmann eingezogen?“

„Jawohl, Herr Vandekamp. Ein Konkurs ist bisher nicht angemeldet. Man meint auch, dass es zu ihm nicht kommen wird, sondern nur zu einer Geschäftsauflösung, da die notwendigsten Verpflichtungen —“

„Und er selber?“

Theobald Kernreif nimmt jene bedenklich bedauernde Haltung an, mit der er sich gegen jede Art geschäftlicher oder sonstiger Unannehmlichkeiten zur Wehr zu setzen sucht.

„Es soll nicht gut stehen, Herr Vandekamp, gar nicht gut. Wie ich höre — aber, wie gesagt, ich habe es nur gehört — soll man ihn gestern abend aufgegeben haben.“

Über die eisernen Züge gleitet ein Zucken. Die Hand, die nach dem Hörer greift, sinkt sogleich wieder.

„Verbinden Sie mich mit dem Städtischen Krankenhaus. Innere Abteilung. Ich wünsche den leitenden Arzt persönlich ...“

Es dauert eine Weile, bis die Verbindung hergestellt und Professor Oppermann, der um diese Zeit seine Besuche macht, zur Verfügung ist.

Ein kurzes Gespräch. Dann legt Friedrich Vandekamp den Hörer auf die Gabel.

„Sie sind schlecht unterrichtet. Herr Brackmann hat gestern einen aus der Art seines Leidens leicht erklärlichen Schwächeanfall gehabt, von dem er sich bereits erholt hat. Von einer Verschlechterung, gar einem Aufgegebensein, ist keine Rede. Ich danke Ihnen für jetzt und bitte, mir Fräulein Sentland zu schicken. Für die nächsten zwei Stunden wird kein Besuch, auch niemand aus dem Kontor, zu mir gelassen. Sie haben dafür zu sorgen.“

Timm tritt in das Zimmer. Mit der Verspätung, die den Vater trotz aller Vorsätze auch heute wieder verstimmt.

Kurz und kühl ist die Begrüssung. Timm ist zerstreut und einsilbig, hat nicht einmal die übliche Entschuldigung bereit.

Aber sowie er mit dem Vater allein ist, wendet er sich, anscheinend gleichgültig und wenig beteiligt, zu ihm hinüber:

„Wie ist es eigentlich mit der Brackmannschen Sache geworden? Du weisst ja, dass ich mich ungern in deine Massnahmen mische.“

„Und diesmal?“

„Nun ... ob es ganz richtig war, den armen Kerl, der vielleicht etwas unüberlegt und voreilig, aber immerhin doch im festen Glauben an dich und an deine Zusage gehandelt hat, so erbarmungslos abzufertigen?“

Friedrich Vandekamp rückt seinen Stuhl ein wenig nach vorn, stützt den Kopf in die Hand, sagt nichts.

Aber Timm merkt, dass ihm seine Worte wenig gelegen kommen.

„Schliesslich habe ich ja ebensoviel Schuld.“

„Weshalb du?“

„Weil ich wohl empfand, wie der arme Deibel mit seinen Jammeraugen immer zu mir hinüberschielte, gleich als hoffte er, ich würde ihm zu Hilfe kommen, mich seiner Sache irgendwie annehmen.“

„Unsinn!“ erwidert Friedrich Vandekamp. Und dann ganz langsam und zögernd, als brächte er die Worte schwer über die Lippen:

„Wenn hier von einer Schuld die Rede sein kann, dann trage ich sie ... ich ganz allein. Und ich bin willens, sie auf mich zu nehmen. Aber ich denke, wir lassen die Sache jetzt ruhen.“

„Da bin ich anderer Meinung. Ich glaube, wir müssen etwas für ihn tun. Dass er in Konkurs gerät, kannst du auf keinen Fall zulassen. Da wir mit ihm in geschäftlicher Verbindung stehen, wäre es unser eigener Schade.“

„Er wird nicht in Konkurs geraten.“

Timm atmet auf.

„Hast du ihn gehalten?“

„Ich wollte es. Aber es war nicht mehr nötig. Er hat das Geld von anderer Seite erhalten.“

„Von wem?“ fragt Timm nebenhin.

„Von seiner Tochter.“

Timm lässt den Stift, mit dem er einige Zahlen hingekritzelt, auf die Platte des Schreibtisches sinken.

„Was sagst du? Von seiner Tochter? Das ist ja gar nicht möglich!“

„Ja, das könnt ihr nicht fassen. Doch warum sollte nicht einmal ein Kind seinem Vater beistehen? Besonders wenn er in Not geraten ist.“

„Aber sie ist eine Lehrerin auf dem Lande, die sicher auch nichts hat.“

„Eine Lehrerin? Woher weisst du das?“

Timm erzählt sonst nichts so gern als seine sportlichen Erlebnisse und Abenteuer. Von seiner gestrigen Fahrt wird er nie sprechen. Das weiss er. Am wenigsten dem Vater gegenüber.

„Du kennst sie?“

Timm fühlt den forschenden Blick zu sich hinübergleiten.

„Flüchtig“, weicht er aus. „Deshalb setzte mich deine Mitteilung in einige Verwunderung.“

„Die Brackmanns gehörten einmal zu den reichsten und angesehensten Kaufmannsfamilien Danzigs“, fährt Friedrich Vandekamp fort, sichtbar bestrebt, dem Gespräch eine mehr sachliche Wendung zu geben. „Es war noch vor deiner Zeit. Die Frau war eine geborene Henkels. Sie brachte ihrem Manne ein bedeutendes Vermögen in die Ehe, das er wohl irgendwie sichergestellt haben muss. Wenigstens einen Teil von ihm, der dann auf die Tochter überging.“

„Und mit diesem Erbteil — —“

„Hat sie den Vater gerettet.“

„Alle Achtung!“ sagt Timm, erhebt sich, tritt an das Fenster, bleibt eine Weile dort stehen, kehrt dann an den Schreibtisch zurück.

Schweigend sitzen sich Sohn und Vater gegenüber, ein jeder in seine Arbeit vertieft.

Von draussen dringt die helle Sonne des letzten Maitages in das Zimmer.

Als Friedrich Vandekamp um die gewohnte Mittagsstunde nach Hause zurückkehrt, findet er in einer Dielennische Ina mit Pfarrer Wendland in einem Gespräch, dessen lebhafter Eifer ihm zeigt, dass ihre Meinungen wieder einmal aufeinandergestossen.

Er hat das schon des öfteren beobachtet. Er weiss, dass der junge Geistliche mit Ina gern über Dinge spricht, die ihn beschäftigen oder bewegen, dass er vielleicht den stillen Wunsch hegt, ihre Teilnahme für die Angelegenheiten seiner Gemeinde zu erwecken, sie womöglich zu einer Art von Mitarbeit zu erziehen, weiss aber auch, dass seine zurückhaltende Tochter schwer zu gewinnen ist und dass auch Jürgen Wendland nicht viel bei ihr erreichen wird.

Oder irrt er?

Welcher Vater dringt in das Innere seines Kindes?

Von einem Fleisch und Blut, in der Gemeinschaft und Gewohnheit des Lebens täglich aufeinander angewiesen, bleiben sie sich im Grunde ihres Seins vollkommen fremd, und es bedarf schon besonderer Ereignisse oder aufrüttelnden Geschehens, dass einer von dem anderen Kunde empfängt.

Und vollends bei einem Mädchen, das von ihren Kinderjahren an allen Werbungsversuchen ein nie unfreundliches, aber streng in sich verschlossenes Wesen entgegensetzte.

Dabei kennt er das im Grunde lebhafte Temperament seiner Tochter, weiss auch, dass sie einer tieferen, ja, einer leidenschaftlichen Empfindung ganz und gar fähig wäre. Aber beides lebt in ihr, ohne sich je nach aussen zu betätigen oder in irgendeiner Form sich zu offenbaren. Oft ist es ihm, als habe sie geradezu Furcht, dass man in ihr Inneres eindringen, das, was sie denkt oder fühlt, irgendwie enträtseln oder gar blosslegen könnte.

Aber gerade ihm ist diese knospenhafte Zuschliessung an seinem Mädchen nie unangenehm, ja, sie ist ihm lieb gewesen. Vielleicht weil sie einen Teil von ihm selber, ein Erbe seiner eigenen Veranlagung ist, für das er eine gewisse Verantwortung trägt. Und er weiss, dass auch in ihr, so streng sie es verschliesst, ein Etwas ist, das ihm zustrebt.

„Da ist der Vater!“ hört er sie bei seinem Eintritt sagen. „Wir wollen ihn fragen. Aber er wird Ihnen nicht anders antworten, als ich es tat.“

„Worum handelt es sich?“ fragt Friedrich Vandekamp, indem er sich zu den beiden setzt.

„Um die Grossmutter“, schneidet Ina dem Geistlichen das Wort ab. „Denke: sie hat es sich in den Kopf gesetzt, die Mutter auf ihrer Krankenstube zu besuchen.“

„Frau Wallburg-Werra“, sagt dieser in seiner ruhigen Bestimmtheit, „hat das Verlangen, ihre Tochter, deren neulicher Anfall ihr schwere Sorge bereitet, nach langer Zeit wiederzusehen. Das hat sie mich wissen lassen und mich um meine Vermittelung gebeten. Sie hat den aufrichtigen Wunsch, den Zwist und Hader, die zu ihrem Schmerz nun bereits seit Jahren zwischen ihr und ihrer Tochter bestehen, endlich beigelegt zu sehen. Sie leidet unter dieser Entfremdung und will die versöhnende Hand reichen, auch tun, was in ihren Kräften steht, dass wieder Friede und Eintracht herrschen.“

Er sieht das halb mitleidige, halb ironische Lächeln, das um Inas Lippen schwebt.

„Sie sind ein Idealist, Herr Pfarrer“, sagt Ina, „der grösste vielleicht, der mir in meinem Leben begegnet ist. Ich weiss nicht, ob ich Sie bewundern oder beneiden soll.“

„Ich bin ein Mann, der seine ihm übertragene Sendung darin sieht, den Mühseligen und Beladenen beizustehen.“

Ein tiefes Durchdrungensein von seiner Aufgabe spricht aus den wenigen Worten.

„Und Sie meinen wirklich, dass eine so eingewurzelte Abneigung, eine durch lange Zeit hindurchgeschleppte, nie verstummende Feindschaft zwischen zwei Menschen durch eine einzige Begegnung, eine Auseinandersetzung, die selten klärt, meist aber zu schweren Missverständnissen führt, aus der Welt geschafft werden kann?“

„Sie sind Mutter und Tochter.“

„Das verschärft den Gegensatz.“

„Die Bande des Blutes lassen sich nicht lösen.“

„Aber wenn sie gelöst sind, kommen sie schwer wieder zusammen.“

„Auch Ihre Mutter ist eine kranke Frau —“

„Ein so tief eingefressener Zwiespalt macht selbst vor dem Tode nicht halt.“

„Ich aber glaube an die Macht des Guten. Denn ich liebe die Menschen.“

„Ja, Sie lieben die Menschen. Da haben Sie recht gesagt“, erwidert Ina, und ein wärmerer Ton ist in ihren Worten. „Aber Sie kennen sie nicht.“

„Wir werden uns hierin nicht verstehen, wie wir uns so manches Mal nicht verstanden haben“, bricht Pfarrer Wendland mit jener fast schroffen Härte das Gespräch ab, die ihm zu eigen ist, wenn das, was ihm Überzeugung und Glaube ist, auf Widerspruch stösst oder in Zweifel gezogen wird. „Und wenn Sie oder Ihr Herr Vater es nicht für richtig befinden, die Kranke auf den Besuch ihrer Mutter vorzubereiten, so werde ich selber zu ihr hinaufgehen.“

„Ich danke Ihnen, Herr Pfarrer“, sagt Friedrich Vandekamp mit kurzem Entschluss. „Ich werde mit meiner Frau sprechen.“

Der Ruf der Heimat

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