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Zweites Kapitel

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Im schwarzen Ferkel

Der Wind peitschte den Regen an die Wagenfenster. Die Tropfen liefen in langen Strähnen die Scheiben entlang, so dass man nicht erkennen konnte, wo man sich befand. Das grelle Licht, das plötzlich aufblitzte, kam vom Friedrichstrassenbahnhof her, unter dem das Auto eben hindurchraste. Rechts und links spritzte es aus den Pfützen die Wagentüren hinauf, und ein paar Weiber liefen kreischend mit hochgeschürzten Röcken über den Damm. Dann verschwand die Helle wieder; man sah hier und da die Bogenlampen der grossen Hotels, deren Licht wie der Schein des Mondes hinter Wolken verschwamm.

Mit unverminderter Geschwindigkeit ging es über die Weidendammerbrücke, man streifte das Rad einer Droschke, die ins Wanken kam. Die Insassen schrien auf, der Kutscher schimpfte niederträchtig und ein Schutzmann, der triefend unter einer Laterne stand und in seinem langen Mantel aus Gummi wie ein Seehund glänzte, wühlte in der Tasche seines Rockes, aus der er mit gewichtiger Miene sein Wachtbuch zog.

Das Auto fuhr in die Elsasserstrasse und hielt auf der linken Seite vor einem jener alten Häuser, die da wie die Riesen stumpfsinnig und unterschiedslos in den Himmel wachsen.

Sie stiegen aus und liessen das Auto warten. Neben dem Haustor führte eine schmale Tür auf einen Gang, der zur Garderobe hergerichtet war. Werner warf ein Zweimarkstück hin. Eine alte Frau riss die verklebten Augen auf, staunte, nahm ihnen Hüte und Mäntel ab, schimpfte aufs Wetter und sagte, als Carl um die Garderobemarke bat:

„Aber Herr Iraf, ich kenne Ihnen doch. Sie brauchen doch keene Marke.“

Carl sah sie gross an.

„Sie – mich?“ fragte er allen Ernstes, „das muss wohl ein Irrtum sein.“

Werner musste lachen und sagte:

„Leugne nicht, Carl, du bist hier Stammgast.“

Nun war auch Carl im Bilde und sagte heiter:

„Ach so!“

„Siehste Carle!“ sagte die Alte, „de bist erkannt,“ dann öffnete sie eine alte verstaubte rote Plüschgardine und rief: „Emil! besorch’ mal ne jute Mittelloge for’n Irafen Koks mit Jefolge.“

Ein alter Mann mit krummem Rücken und abgeschabter grüner Livree kroch heran.

„’S wird schwer sein,“ sagte er und musterte Carl und Werner. Die Alte zwinkerte mit den Augen und zeigte ihm verstohlen das Zweimarkstück. „Aber ’s wird sich schon machen lassen.“ – Er bog den Rücken noch krummer, schob die Plüschportieren auseinander und sagte: „Bitte, Herr Iraf!“

Ein Dunstgeball von Rauch, Schweiss und schlechtem Parfüm, der von jedem der Tische aufkroch und sich an Decke, Wänden und Möbeln festsetzte, hing über dem Saal. Schwer, dick, dumpf, wie eine fest zusammengeballte Masse kroch es heran, und man hatte das Gefühl, sich daran zu stossen, wenn man tiefer in den Saal trat. Der fasste hundertfünfzig Personen und war überfüllt.

„Rauche!“ sagte Werner und steckte Carl, der den Atem anhielt, eine Zigarette in den Mund.

Der alte Mann nahm Carl bei der Hand und sagte:

„So!“

und schob sich und hinter sich Carl, dem wieder Werner folgte, durch den Saal. Es ging, da sie an Tische und Stühle stiessen, nicht ohne Stösse, Knüffe und ranzige Bemerkungen ab. Aber schliesslich standen sie doch vorn, vor einer primitiven Holzbühne, deren schmutziger Vorhang geschlossen war und von der ein paar Stufen in den Saal führten.

Der alte Mann sah sich der Reihe nach genau die Leute an, die vorn an den ersten Tischen sassen. Dann sagte er zu Carl und Werner:

„Warten Sie ’n Augenblick, ich bin gleich wieder da.“

Er ging an einen der vorderen Tische, an dem zwei junge Kerle mit einem nicht mehr jungen Mädchen sassen, heran, beugte sich zu ihnen und redete leise auf sie ein. Allem Anschein nach machte er ihnen einen Vorschlag. Der eine der beiden Burschen schien auch gleich bereit, darauf einzugehen; aber das Mädchen stellte eine Reihe von Fragen. Schliesslich nickte auch sie mit dem Kopfe. Und der Alte kam wieder zu Carl und Werner zurück.

„Die Herrschaften da,“ sagte er und wies auf den Tisch, an dem er eben verhandelt hatte, „sind so freundlich, for Ihnen zusammenzurücken.“

Werner sah Carl an, der ganz unter dem Eindruck dieses neuen Bildes stand. Wie ungeheuerlich kontrastierte das von dem, dem er eben glücklich entronnen war.

Wieder nahm der Alte Carls Hand und schob ihn an den Tischen der ersten Reihe vorbei zu dem Mädchen und den beiden Kerlen, die keinen Blick von ihm und Werner liessen, ihre Stühle zusammenschoben und Platz machten.

„Aber wir wollen nicht stören,“ sagte Carl.

Die Drei sahen ihn an.

„Ne doch!“ sagte das Mädchen, „davon kann gar keene Rede sind. Kommen Se man hier nieder!“ und sie fasste Carl bei der Hand und zog ihn auf einen Stuhl. „So! An meine jrüne Seite! Det is der beste Tisch von die janze Bude.“

„Sehr freundlich!“ sagte Carl und meinte es auch so.

„Det will ick meinen! Na und Sie olle Stange,“ wandte sie sich an Werner, „heben Se doch den dicken Heinrich da nebenan aus die Fotölje; der is schon blau und merkt nich, wenn er ’ne Etage tiefer rückt!“

Aber der Alte hatte schon einen Stuhl zur Hand, auf den sich Werner setzte.

Dann winkte Werner eine Kellnerin heran. Und das Mädchen an ihrem Tisch, das beide mit einer Ungeniertheit und Gründlichkeit musterte, die beispiellos war, stiess Carl mit dem Ellenbogen an, wies auf ihr leeres Glas und die der beiden Kerle und sagte:

„Na, Iraf – wie wär’s denn?“

Carl begriff nicht, was sie wollte, aber Werner sagte zu der Kellnerin:

„Fünf Dunkle!“

und einer der beiden Kerle gab dem Mädchen durch Zeichen zu verstehen, dass nicht der Alte, sondern Werner „derjenige welcher“ war.

Hinten am Ausgang begann man an ein paar Tischen zu trampeln. Andere folgten dem Beispiel und in wenigen Augenblicken waren sämtliche Beine des Saals in Bewegung.

Carl war über diese ungenierte und kräftige Willensäusserung belustigt und trampelte zu Werners Vergnügen kräftig mit.

„Die Vorstellung hat wohl noch gar nicht begonnen?“ fragte er das Mädchen.

Die fühlte sich verulkt und sagte:

„Aber jewiss doch! Wenn der Vorhang uff jeht, denn fängt de jrosse Pause an.“

„Sei doch nich so dreiste, Ida!“ sagte der Kerl, der neben ihr sass.

„Was? for das dunkle Bier lass ick mir doch nich dumm machen. Bei mir muss eener erst mit Schampus ranfahren, denn kann er mir erzählen, in Himmel is Jahrmarkt, denn jlob ick’s ooch. Aber von wejen det eene Dunkle? Ne, Männeken,“ und sie wollte das volle Glas gerade umstülpen und ihm auf die Hose giessen, als der Kerl rechts mit einem schnellen Ruck nach ihrer Hand griff, sie festhielt und sagte:

„Dir hab’n se woll mit de Muffe geschmissen, seh dir bloss vor, Ida, saj ick dir.“

Ida geriet in Wut und wollte sich eben auf ihren Kerl stürzen, als jemand auf ein altes Klavier, das links der Bühne stand, loshackte. Sofort legte sich Idas Wut, schwanden die giftigen Falten um ihren Mund, bekamen die toten Augen einen leichten Glanz, öffneten sich die schmalen Lippen, hoben und senkten sich die schweren Brüste, ging ein Zucken durch den ganzen Körper – und sie glitt, wie magnetisiert, auf ihren Stuhl zurück, hakte die feisten Arme in die ihrer Nachbarn und gröhlte mit einer Stimme, die hart und rauh wie die Töne eines verrosteten Grammophons klang, im selben abgehackten Tempo, in dem die steifen Finger des Klavierspielers auf die Tasten schlugen, den Refrain mit:

Träume der Jugend, ihr mein höchstes Glück,

Träume der Jugend, wann kehrt ihr zurück.

Ach, ihr zerrannet, mein Herz ist öd und leer,

Sehnt sich zu träumen noch einmal so sehr.

Und auch die beiden Kerle hakten sich ein; der eine fasste Werner unter den Arm und Werner schloss sich an Carl. Dann lehnten sich alle zurück, bildeten einen geschlossenen Kreis und sangen aus Leibeskräften den Refrain mit.

Und wie an diesem Tische, so war’s an allen anderen. Jedes Denken war ausgeschaltet. Was hier herrschte, war ausschliesslich der Trieb. Dieser holperige Kasten, der noch dazu von einem Dilettanten misshandelt wurde, besass eine Macht über diese Menschen, die ohnegleichen war.

Wie leicht, dachte Werner, müssen diese Menschen zu leiten sein, wenn man in ihrer Sprache zu ihnen spräche; und Carls Dichterauge suchte diesen Menschen in die Seele zu schauen, die sich hinter dem primitiven Ausdruck ihres Gefühls verbarg.

Plötzlich ertönte ein Klingelzeichen; im selben Augenblick brachen Klavierspieler und Publikum mitten im Refrain ab. Es wurde ganz still im Saal. Der Vorhang ging auf und aus einer schmutzigen Kulisse, die unglaubwürdig genug eine Gebirgslandschaft vorzutäuschen suchte, trat der alte Mann im Frack und verkündete:

„Ich bitte das verehrliche Publikum um Aufmerksamkeit für die Hauptnummer des Programms und zwar ‚Das Schäferspiel‘, Ballett in einem Akt mit Gesang und Tanz, ausgeführt von Fräulein ‚Sybilla‘ genannt ‚die Lilie vom Manzanares‘.“

Das Publikum trampelte und rief:

„Sybilla!“

Eine nicht mehr junge, grässlich gepuderte und bemalte, faltenreiche, spindeldürre Soubrette mit langem, blondem, offenem Haar trat auf, lächelte geziert wie ein junges Mädchen, hob mit je zwei Fingerspitzen ihren an sich schon kniekurzen Rock, spreizte und verbeugte sich.

Das Publikum trampelte und klatschte.

Der alte Mann, der noch immer auf der Bühne stand, verkündete weiter:

„Fräulein Elfrida, genannt ‚die Perle des Ganges‘, Star des Orpheums in Kiel, seit zwölf Jahren zum ersten Male wieder in Berlin.“

Abermals trampelten die Leute und riefen:

„Elfrida!“

Und Elfrida, die Perle des Ganges, schwebte, zwei Zentner schwer, auf den Fussspitzen auf die Bühne; ein übler Geruch von Schweiss und Moschus und schlechtem Puder stieg Carl, der unmittelbar vor der Bühne sass, in die Nase.

Endloser Jubel brach los.

Elfrida war als Baby gekleidet, trug Wadenstrümpfe, ein ganz kurzes Hängekleid, das vorn weit ausgeschnitten war und die klobigen Brüste ungehindert hervorquellen liess. Elfrida teilte mit ihren fleischigen Armen, die sich nicht einmal nach den Knöcheln hin verjüngten, vielmehr dort eine Reihe tiefer Falten schlugen, nach allen Seiten hin Kusshände aus.

Das Publikum raste.

Der alte Mann im Frack trat ab, der Klavierspieler schlug wieder auf die Tasten. Elfrida, die Perle des Ganges, hob mit einem mächtigen Satz das rechte Bein. Carl zitterte vor dem Augenblick, wo sie es wieder niedersetzen würde. Sybilla, die Lilie vom Manzanares, machte eine lächerlich affektierte Armbewegung, wies auf Elfrida, verzog den Mund erst, öffnete ihn dann und sagte:

Seht dort Elfrida, die Perle des Ganges,

Königin des Tanzes und des Gesanges.

Wenn sie zum Tanze das Bein erhebt,

Das Herz jedes Mannes zittert und bebt.

Im selben Augenblick schnellte auch Sybilla eines ihrer Stockbeine wie ein Signal in die Höhe und Elfrida, die zu Carls Entsetzen noch immer auf einem Beine stand, wies mit der fleischigen beringten Hand auf sie und sang:

Seht Sybilla, die Lilie vom Manzanares,

Seht den Schmelz der Gestalt, die Fülle des Haares,

Wer ihr naht, der liebt, drum nehmt euch in acht,

Ihre Liebe hat vielen schon Unglück gebracht.

Dann reichten sich die Perle des Ganges und die Lilie vom Manzanares die Hände, das Schäferspiel begann. Zuerst kam ein sentimentaler Gesang, dann Zoten, eindeutig und plump, am Schluss ein Verstellen der Beine, ein unrhythmisches Heben, Senken und Verzerren des Körpers, was Tanz bedeuten sollte, und Elfrida und Sybilla traten unter dem jubelnden Gejohle der begeisterten Menge ab.

„Scheusslich!“ sagte Werner und Carl erwiderte:

„Widerwärtig, aber psychologisch interessant.“

„Nicht wahr,“ sagte Ida und stiess Carl an, „da kribbelt’s einen orntlich in die Knie. Wenn Se wollen, mit die Perle vom Ganges kann ick Ihnen bekannt machen; mit die war ick zusammen in Konfirmationsstunde.“

Der alte Mann stand schon wieder auf der Bühne und sagte etwas, was Carl infolge des Lärms nicht hören konnte. Er sah nur, dass aller Augen wieder auf die Bühne gerichtet waren und dass im selben Augenblick auch schon ein auffallend hübsches und junges Mädchen aus der Kulisse trat.

„Bravo!“ rief der Kerl, der neben Werner sass und klatschte in die Hände. Auch viele andere klatschten jetzt und riefen dem jungen Dinge, das ungezwungen, keck und heiter an die Rampe trat, aufmunternde Worte zu. Aber mit dem Jubel wie die Perle des Ganges und deren Partnerin wurde sie nicht begrüsst.

„Jeden Se acht,“ sagte das Mädchen am Tisch, „das is de schwarze Agnes, een dolles Ding. Vor sechs Wochen war se noch in Fürsorge, und heute fadient se siebenundzwanzig Märker de Woche, ausser was se sich nebenbei macht.“

Carl liess kein Auge von ihr; er hörte auch nicht, was das Mädchen am Tische sagte; er sah sie nur immer an und erkannte, dass es die Lieblichkeit und Anmut in Menschengestalt war. Auch auf das, was sie sang, hörte er nicht. Aber er folgte ihren Bewegungen und sah, wie sich der junge Körper unabsichtlich in den Hüften wiegte, sah ihre gazellenhafte Schlankheit und Gewandtheit, sah die zarten Knöchel an den feinen Händen und den schmalen Füssen, sah unter dem weissen Hals die straffe Brust, die knospengleich verriet, wie wenig sie vom Leben wusste, und sah ein Gesicht, in dem zwei schwarze Augen träumten, als wenn in ihnen eine grosse Sehnsucht nach dem Leben schliefe.

„Die fällt ja völlig aus dem Rahmen,“ sagte Werner und wandte sich an Carl, der, die Augen weit aufgerissen, da sass und auf die Bühne starrte.

„Was tut se?“ sagte das Mädchen am Tisch. „Ick saje Ihnen, beleidjen Se die schwarze Agnes nich, sonst kriegen Se’s mit den da zu tun!“ und sie wies auf den Kerl, der neben Werner sass.

Die schwarze Agnes sang erst ein Lied, das gewiss genau so rührselig oder zotig war, wie die Lieder der beiden anderen. Aber sonderbar! Hatten ihm die gepfefferten und aufdringlich gebrachten Spässe der anderen bedrückt und körperlich wehgetan, so wich angesichts dieser Erscheinung, ohne dass er darauf achtete, was sie sang, alles, was ihn beschwerte und niederdrückte. Es war das wie, von dem diese reinigende und befreiende Wirkung ausging.

Und dass ihr Vortrag sich inhaltlich nicht wesentlich von dem der anderen unterschied, bewies der Beifall, der nach jedem Vers lärmend einsetzte.

„Die möchte ich tanzen sehen!“ sagte Carl ohne ernste Absicht vor sich hin.

„Das Vajnüjen kenn Se haben,“ sagte der Kerl, der neben Werner sass.

„Wie?“ wandte sich Carl zu ihm um. „Sie meinen, sie wird noch tanzen?“

„Wenn ick will – und Sie zahlen – warum nich?“

„Wirklich? Das liesse sich machen?“ fragte Carl ganz erregt und wandte sich an Werner: „Weisst du, dafür bliebe ich noch einen Tag länger in Berlin.“

„Nanu!“ sagte Werner erstaunt und sah jetzt erst, dass Carl völlig unter dem Eindruck dieses Mädchens stand.

„Dazu brauchen Se Ihre Reise janich zu vaschieben,“ sagte der Kerl. „Bis morjen früh is noch de halbe Nacht.“

„Liegt dir sehr viel daran?“ fragte Werner.

„Unendlich viel! Mehr als du überhaupt ahnen kannst.“

„Carl, Carl!“ drohte Werner scherzhaft, „du bist kein Jüngling mehr.“

„Ich war es nie!“ erwiderte Carl. „Aber ich glaube, ich könnte es trotz meiner Jahre noch mal werden.“

„Also,“ wandte sich Werner an den Kerl, „wollen Sie das in die Hand nehmen?“

Das Mädchen am Tisch gab ihm einen Wink und sagte:

„Mach doch, Otto!“

Und Otto hielt Werner unter dem Tisch die flache Hand hin.

Werner griff in die Tasche, holte ein Fünfmarkstück heraus, sagte: „Da!“ und legte es Otto in die Hand. Der besah es, verzog den Mund und schüttelte den Kopf. Das Mädchen hob sich ein wenig in die Höhe, beugte sich über den Tisch und sah auf Ottos Hand, in der das Geldstück lag.

Sie prutschte los, machte zu Werner hin ein Zeichen, dass er wohl nicht ganz richtig im Kopfe sei und sagte:

„Hab’n Sie ’n Schimmer von die schwarze Agnes.“

Werner, der Carls Interesse sah, legte ein zweites Fünfmarkstück drauf. Wieder besah es Otto und schüttelte den Kopf. Wieder hob sich das Mädchen in die Höhe und beugte sich über den Tisch – diesmal mit dem ganzen Oberkörper – und schlug wütend von unten gegen die Hand Ottos, so dass die nach oben schnellte und beide Geldstücke in einem mächtigen Bogen durch den Saal flogen.

Irgendwo kreischte ein Weib, ein paar Menschen fielen übereinander her, jemand schwang einen Stuhl, Gläser klirrten, Stimmen dröhnten, Schläge fielen dumpf und kurz, irgendwer schlug zu Boden – dann brach der Lärm plötzlich ab.

„Sau!“ sagte Otto und schlug Ida die Faust ins Gesicht. Die verzog keine Miene. Keiner tat auch nur einen Blick nach der Stelle, von der der Lärm kam.

Aber Carl war aufgesprungen; kerzengerade stand er da, die Lippen zusammengepresst, starr den Blick nach dem Tisch gerichtet, von dem der Lärm kam, keine Spur von Scheu war mehr an ihm. Sein Ausdruck war straff, scharf, bestimmt. Plötzlich huschte ein Schatten über seine Stirn. Es war der Augenblick, in dem die Gläser klirrten. Carl schaffte sich rücksichtslos Bahn, stiess rechts und links alles beiseite, stand an dem Tisch, beugte sich über einen Stuhl, riss ihn mitsamt einem Weib, das sich an ihn klammerte und schrie, in die Höhe, hielt ihn fest, als ein Schlag dumpf seinen Kopf traf, und trug ihn, selbst erstaunt über seine Kraft, hinaus, über den dunklen Flur, auf die Strasse.

Werner sah es mit an und wusste keine Erklärung. Er warf ein Zehnmarkstück auf den Tisch und folgte Carl.

Der stand bei strömendem Regen ohne Hut und Mantel mitten in der Nacht auf der Strasse und hielt in seinen Armen ein junges Weib, das er mit Leidenschaft ohnegleichen an sich drückte.

*

Keiner sprach ein Wort.

Werner winkte das Auto heran, öffnete den Schlag und Carl barg seine Beute mit grosser Sorgfalt in den Wagen.

Werner nannte dem Chauffeur seine Wohnung.

„Wo bringst du mich hin?“ fragte müde eine weiche Stimme, die Werner zu kennen glaubte.

Es waren die ersten Worte, die einer von ihnen sprach.

Carl beugte sich über sie, schob das Tuch zurück, das sie sich hastig über Gesicht und Kopf geschlagen hatte, und sagte sanft:

„Zu mir, mein Vögelchen!“

Jetzt sah Werner zwei grosse schwarze Augen und erkannte sie wieder. Eine weisse Hand strich die Haare aus der Stirn. Ein feines, schmales Gesicht kam zum Vorschein.

Die schwarze Agnes war es, die neben Carl sass.

„Wer bist du?“ fragte sie, und unter ihrem Tuch kam das verstaubte Soubrettenkleid zum Vorschein.

„Ein Dichter,“ erwiderte Carl.

Sie sah ihn gross an, lächelte, fuhr ihm mit der Hand durchs Haar und sagte:

„Komisch! – Wo hast du deinen Hut?“

„Ich weiss nicht – is dir nicht kalt?“

Sie schüttelte den Kopf, nahm seine Hand und führte sie an ihr Gesicht.

„Da! Fühle, wie ich warm bin – so glühe ich am ganzen Körper.“

„Hat man dich sehr geschlagen?“ fragte Carl.

„Ja!“

„Weshalb?“

Agnes lachte verschmitzt und wies auf ihre Hand, die sie fest geschlossen hielt.

„Was hast du da?“

„Aber nicht fortnehmen,“ sagte sie und spreizte die Finger. Es war das Fünfmarkstück, das das Mädchen am Tisch dem Kerl neben Werner aus der Hand geschlagen hatte.

„Ich sah, wie du von der Bühne aus an den Tisch stürztest – du wirbeltest förmlich.“

„Ja, ich bin flink.“

„Willst du, dass ich dir zu dem Gelde was hinzutue?“

Agnes fiel Carl um den Hals und küsste ihn ins Gesicht.

„Bitte! Bitte!“

„Später!“

„Nein, jetzt!“ Sie liess ihn wieder los. „Du hast es versprochen! Jetzt gleich! Oder ...“ Und sie machte sich an der Tür des Wagens zu schaffen.

Carl griff ängstlich nach ihr und zog sie zurück.

„So komm!“

Er griff in die Tasche und holte eine Handvoll Silber heraus.

Agnes stand vor ihm. Werner kümmerte sie gar nicht.

„Gib! Gib!“ rief sie und leerte hastig seine Hände. Dann schlang sie die Arme wieder um seinen Hals und sagte:

„Ich habe dich lieb! – Sag, du bist wohl sehr reich?“

„Wozu brauchst du das Geld?“ fragte Carl.

„Für ein neues Kleid – um nicht so herumzulaufen!“ und sie wies auf das abgenutzte Kostüm. „Aber die Kerls sind ja so schäbig – und dann ...“ sie unterbrach plötzlich und sagte: „Na! – bex!“

„Ich will dir ein neues Kostüm kaufen – das heisst, dahin, in diese Gesellschaft solltest du nicht mehr ...“

Was er weiter sagte, ging in Agnes’ Jubel unter.

„Wirklich!“ rief sie, „das willst du tun?“

Und wie sie jetzt in diesem engen Raum ihrer Freude Ausdruck gab, wie sie die Arme hob, die Hände bewegte, wie unzählige Nuancen ihr Gesicht belebten, wie ihr ganzer Körper nur noch einer Verkündung höchsten Glücksgefühls glich, das mit anzusehen war ein Genuss sondergleichen.

„Sieh nach der Uhr!“ sagte sie endlich.

„Es ist eins vorbei.“

„Also noch sieben Stunden. Um acht werden die Geschäfte geöffnet. Kennst du Baruch am Alexanderplatz? Da gehen wir hin. Du, aber der ist teuer. Dafür hat er aber die schönsten Kostüme! Ja, und lumpen wirst du dich doch nicht lassen. Otto sagt, da kaufen sogar die richtigen Schauspielerinnen aus den grossen Theatern.“

Wieder verwischte der ästhetische Anblick das Hässliche ihrer Rede so vollkommen, dass man nicht einmal das Gefühl hatte, wenn sie doch schweigen wollte.

„Was sagst du dazu?“ fragte Carl mit einem Blick auf Agnes seinen jungen Freund.

„Ich bin, wie du, voller Bewunderung,“ erwiderte Werner, „trotzdem staune ich über dich.“

„Weil du meine jahrelange Sehnsucht nicht kanntest.“

„Wonach hast du dich gesehnt?“ fragte Werner.

„Danach!“ sagte Carl und riss Agnes an sich.

Wie ein Jüngling, dachte Werner und schüttelte den Kopf, als er Carls Rausch und Begeisterung sah.

Als das Auto hielt, fragte Agnes:

„Wo sind wir hier?“

Werner sagte:

„Bei mir.“

„Wo ist das?“

„Im Tiergarten.“

Agnes sah zum Fenster.

„Aber da stehen ja Häuser,“ sie beugte sich nach vorn. „Oh!“ rief sie voller Bewunderung, „das ist ja ein Palast! Wohnst du hier?“

„Ja!“

„Bist du auch Dichter?“

Werner nickte.

„Verdient man als Dichter denn so viel Geld?“ fragte sie, als sie jetzt in ihr Tuch gehüllt, das Carl besorgt am Halse festhielt, vor dem Hause stand.

„Das Haus gehört meinem Vater.“

Werner schloss die Haustür auf.

„Ich gehe voraus!“ sagte er.

Carl und Agnes blieben stehen.

Plötzlich lag die weite Diele hellerleuchtet vor ihnen.

Agnes hielt sich die Hände vor die Augen, zitterte in Carls Armen und rief ängstlich:

„Was ist das?“

„Blendet’s dich?“ fragte Carl.

„Nein!“ rief Agnes, deren Augen sich an die Helle gewöhnten, und staunte den Raum an. „Gehört das alles dir? – Oder was bist du hier?“

„Ich wohne hier zusammen mit meinem Vater,“ sagte Werner. „Gefällt’s dir hier? Sonst gehen wir da hinein; da ist es wohnlicher.“

Er öffnete die Tür und ging voraus. Agnes folgte an Carls Hand mit aufgerissenen Augen – wie ein Kind, dem man von einem Wunderlande erzählt. Sie wagte kaum, die Füsse aufzusetzen und hielt Carls Hand so fest, dass der unwillkürlich den Druck erwiderte.

Werner, der ihr Erstaunen sah und es als Freude deutete, öffnete Portieren und Türen, die in die Nebenzimmer führten und erleuchtete alle Räume.

Carl nahm ihr das Tuch ab.

Wie eine Bettelprinzessin stand sie in all dem Reichtum. Sie rührte sich nicht vom Fleck. Ihre Augen gingen die Decken und Wände entlang, hingen an Bildern, Statuen und Möbeln, sahen zu den schimmernden Kronen auf, hefteten sich auf die Gobelins und Perser, sahen staunend all die Pracht, leuchteten hell auf und füllten sich dann mit Tränen.

„Was ist dir?“ fragte Carl besorgt.

Agnes biss die Lippen aufeinander. Ein harter, herber Zug trat um den Mund, sie ballte die Faust, krampfte die Finger, stampfte mit den Füssen auf, zitterte am ganzen Körper und sagte mit einer Stimme, die wie die eines unartigen Kindes klang:

„Ich will ... ich will!“

„Was willst du?“ fragte Carl.

Sie sah ihn mit Augen, die noch voll Tränen standen und doch schon wieder lachten, an, warf sich auf eine Chaiselongue, auf der ein schwerer seidener Perser lag, dehnte und streckte sich, rief Carl zu:

„Komm!“ Carl trat zu ihr heran. „Hier – so!“ zog ihn zu sich herab, so dass er kniend vor ihr sass, und spielte wieder in seinem vollen Haar.

„Ganz grau bist du, Onkelchen – altes Onkelchen! – Aber ich hab dich lieb.“ Dann betrachtete sie sich, fuhr mit der Hand über ihr Kleid und sagte:

„Pfui! die ollen Fetzen! – Willst du, dass ich sie runterreisse?“

„Morgen, Vögelchen, morgen!“ sagte Carl. „Wir müssen erst neue kaufen.“

„I was!“ rief Agnes übermütig. „Heute!“ Und zu Carls Erstaunen zerrte sie mit ihren Füssen den Rock herunter, öffnete die Taille, hob sich kaum hoch, schlüpfte heraus, warf die Sachen in weitem Bogen ins Zimmer, tastete den Körper, dessen ganze Schönheit erst jetzt voll zur Geltung kam, mit ihren weissen Händen ab, sagte zu Carl:

„Zieh mir die Schuhe aus!“

dehnte und streckte sich voller Behagen, hob an beiden Seiten den seidenen Perser, der bis über den Boden reichte, hoch, und wickelte sich darin ein; nur den Kopf und die weissen Arme liess sie draussen.

Werner, der des eigenartigen Besuches und der späten Stunde wegen den Diener nicht wecken wollte, war selbst hinausgegangen, um Champagner zu holen, mit dem er eben wieder ins Zimmer trat.

Als Agnes es sah, fuhr sie wie der Blitz auf, strahlte über das ganze Gesicht, warf die Arme hoch und rief:

„Champagner! – her! her! Ich verdurste!“

Sie jauchzte vor Freude laut auf, als der Pfropfen knallte, und stürzte das erste Glas, das Werner ihr reichte, ehe er Carl und sich noch eingegossen hatte, in einem Zuge herunter.

„Mehr! mehr!“ rief sie und streckte Werner das leere Glas hin, das er füllte, und das sie im selben Tempo heruntergoss. Dann jauchzte sie laut auf und rief:

„Kinder! ist die Welt schön!“

„Kennst du sie denn?“ fragte Carl, der sich ein Kissen herangerückt hatte und neben der Chaiselongue zu ihren Füssen sass.

Agnes lachte; sie verstand ihn nicht.

„Da ich doch lebe, muss ich sie doch kennen,“ sagte sie.

„Ich meine die ganze Welt da draussen – weisst du, die Berge und die Seen und all, die fremden Völker, zu denen man Tage und Wochen reist, um zu ihnen zu gelangen.“

„Ja, aber dazu gehört doch Geld, viel Geld – das können doch nur die Reichen.“

„Möchtest du das?“

Ihre Augen glänzten.

„Ja!“ sagte sie lebhaft. „Wenn ich reich wäre!!“

„Was tätest du dann?“

Agnes sah ihn an und lachte, dann setzte sie das volle Glas an und trank es aus.

„Das täte ich! Alle Tage! Und dann hätte ich eine Wohnung wie diese.“ Sie sah sich um. „Vielleicht auch anders, weisst du, nicht so schwer, das macht traurig; mehr schlanke Möbel und Schränke aus Glas und viel viel Vasen und Gläser.“

Werner öffnete die zweite Flasche.

„Gib mir die Propfen! sonst glaubt’s mir die dicke Ida morgen nicht.“ Sie besah den Korken. „Du, is das ’ne feine Marke?“ Sie buchstabierte: Mo – ett et Schandon.“

„Gewiss,“ sagte Werner. „Soll ich dir ein paar Flaschen davon schicken?“

„Ja!“ rief sie freudig – zog dann aber, noch ehe sie den Mund wieder geschlossen hatte, die Stirn in Falten, schien nachdenklich und sagte schnell:

„Nein, nein, lass; ich will nicht!“

„Aber ich tue es gern.“

„Wozu?“ sagte sie fast ärgerlich. „Ich will nicht – es hat ja doch keinen Sinn. Ihr wisst ja nicht ... Wenn das so wäre, ja!“ – und dabei wies sie wieder auf den Glanz der Wohnung. „Aber da oben,“ und dabei streckte sie verzweifelt die Arme aus und rief: „Ach wenn das doch nicht wäre!“ Sie richtete sich jetzt ganz auf und stand, nichts am Körper als Hemd und Strümpfe, auf der Chaiselongue: „Aber ich will nicht, will nicht – helft mir doch! du! du!“ rief sie und warf sich an Carls Hals. „Du musst mir helfen!“

Werner war von der Traurigkeit, die in jeder Bewegung lag und sich wie ein Schatten, den man mehr fühlte als sah, auf den ganzen Körper übertrug, erschüttert. Er musste an Chopin denken, wie ihn die Derp tanzte. Hier, bei Agnes empfand er die Wirkung, schon weil sie unbewusst war und nicht durch den Verstand ging, verhundertfacht.

„Willst du nicht tanzen?“ fragte er ganz unvermittelt.

Sie liess Carl los und sah ihn an.

„Willst du’s?“ fragte sie, und Carl sagte:

„Bitte!“

„Wirst du mir helfen?“

Carl nickte.

„Spiel!“ rief sie Werner zu.

„Was soll ich spielen?“

„Was du willst.“

„Aber ich muss doch wissen, was du tanzen willst.“

„Das weiss ich selbst nicht.“

„Wie?“ fragte Werner.

„Das hängt davon ab, was du spielst.“

„Soll es traurig sein oder heiter?“

„Heiter! Denn ihr wollt mir ja helfen!“

Und Werner ging an den Flügel und spielte ...

Agnes zog von einem der Tische eine Decke herunter und warf sie sich über. Wie einen langen Schal band sie sie fest um ihren Leib und liess sie lose über die Beine fallen, so dass sie bis zu den Knien bedeckt waren. Brust und Schultern blieben entblösst. Dann zuckte im Takte der Musik der ganze Körper ein paarmal heftig zusammen – und Agnes tanzte, dass Lust und Fröhlichkeit sich auf Tische, Stühle und Bilder übertrugen und alle Zimmer lebendig wurden.

Und Carl stand mit leuchtenden Augen am Flügel, den Kopf ein wenig nach vorn gestreckt, den Mund, um den ein Lächeln spielte, leicht geöffnet, die Arme halb erhoben, die Finger in Bewegung und merkte nicht, wie ein Gefühl in ihm erwachte, emporwuchs, über ihn Macht ergriff, ihn schliesslich ganz erfüllte.

Werner, der ohne Noten spielte, und mit seinen Augen an Agnes hing, folgte ihrem Tempo, raste über die Tasten und hielt erst inne, als sie plötzlich laut aufschrie, die Arme hochwarf und vor Carl zusammenstürzte.

Lache Bajazzo

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