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Ewig schade

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Behutsam, als wolle sie den Sessel nicht belasten, nimmt Elisabeth Kemäter mir gegenüber Platz. Dabei ist sie eine kleine und sehr schlanke Person, geradezu zierlich.

Ich schenke ihr ein Glas lauwarmes Wasser ein und schiebe es über den kleinen Tisch. Mit einer leichten Verbeugung nimmt sie es und trinkt einen Schluck.

»Nun, was kann ich für Sie tun?«, frage ich, nachdem sie das Glas vorsichtig wieder abgestellt hat. Äußere Anzeichen einer Krankheit kann ich einstweilen nicht an ihr erkennen.

Elisabeth Kemäter seufzt leise. »Eigentlich weiß ich gar nicht … Vielleicht verschwende ich nur Ihre kostbare Zeit.« Verschämt senkt sie den Blick.

»Sie verschwenden meine kostbare Zeit«, antworte ich mit gespielter Strenge, »wenn Sie mir nicht sofort sagen, was los ist.«

Das erlaube ich mir, denn wir kennen uns flüchtig. Sie kommt aus dem Nachbarort. Bei diversen lokalen Feierlichkeiten sind wir einander bestimmt schon dutzende Male begegnet. Ich weiß, dass sie in einer Logistikfirma arbeitet und dass sie die gute Seele in ihrer Pfarrgemeinde ist. Deshalb hat es mich auch nicht gewundert, dass es ihr Pfarrer war, der mich um einen Termin für sie bat. »Also los«, sage ich.

Erneut seufzt Elisabeth Kemäter leise. »Ich weiß es nicht. Vielleicht komme ich nur zu früh in die Menopause. Ich fühle mich so …« Ihr Kopf sinkt noch tiefer.

»Kraftlos?«, frage ich.

»Ja. Dabei ernähre ich mich gesund, mache Nordic Walking, achte auf genügend Schlaf. Auch meine Laborwerte sind in Ordnung.«

Überraschend flink und mit jetzt beflissener Miene zieht sie einen Befund aus ihrer Handtasche und reicht ihn mir. Danach versinkt sie wieder zwischen ihren Schultern.

Ich überfliege den Befund. Tatsächlich unauffällig, abgesehen von einem leicht erhöhten Wert bei der Blutsenkung. Das kann alles und nichts bedeuten. Meistens steckt eine harmlose Entzündung dahinter. In seltenen Fällen kann es aber auch Krebs sein. Ich mustere sie eingehend. »Haben Sie Probleme mit dem Zahnfleisch?«

Sie schüttelt den Kopf. »Mein Zahnarzt sagt, wenn nach dem großen Atomkrieg irgendwas übrig bleibt, dann ist das mein Gebiss.« Immerhin lächelt sie jetzt und zeigt mir tatsächlich strahlende Zähne.

»Irgendwelche Schwellungen haben Sie auch nicht bemerkt?«, frage ich weiter.

Sie schüttelt den Kopf. »Keine Schwellungen, keine Schmerzen. Seit vier Monaten nehme ich alle erdenklichen Vitamine und Spurenelemente zusätzlich zum Essen. Und ich trinke zweieinhalb Liter Wasser am Tag.«

»Sehr brav.« Ich zwinkere. »Also stehen wir vor einem Rätsel.«

Ich frage nach ihren Lebensumständen. Dafür nehme ich mir Zeit. Aber es ist nichts weiter auffällig, außer dass sie sich offenbar sowohl im Beruf als auch in der Pfarrgemeinde sehr für andere einsetzt. Das mag zwar anstrengend sein, ist jedoch noch kein Grund für ein andauerndes Schwächegefühl. Zumal sie ansonsten alles richtig macht. Sie raucht nicht, trinkt nur selten Alkohol, ernährt und bewegt sich altersgemäß vorbildlich, erfährt auch viel Zuwendung von Familie und Freunden, weshalb sie meint, sie könne sich nicht wirklich als alleinstehend bezeichnen, obwohl sie allein lebt. Gemäß ihren Worten müsste sie kerngesund sein. Ihre zusammengesunkene Körperhaltung steht allerdings in krassem Gegensatz zu diesen Worten.

Da mir das Gespräch keine konkreten Anhaltspunkte liefert, wird es Zeit für die körperliche Untersuchung. Ich bitte sie, den Mund zu öffnen und sehe mir ihre Zunge an. Die ist unauffällig. Nun nehme ich ihre Hände und beginne mit der Pulsdiagnostik. Was ich dabei spüre, entspricht ganz ihrer Körperhaltung. Sie ist tatsächlich schwach. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr.

Ich bitte sie hinüber zur Liege hinter den Paravent und ersuche sie, den Oberkörper freizumachen. Aber auch das Abklopfen und Abhören bringt kein spezifisches Ergebnis, außer dass Herz und Lunge sich normal anhören.

Mit ihrer Erlaubnis taste ich auch ihre Brust ab, fühle jedoch zum Glück keine Knoten. Sollte sich irgendwo ein Tumor verstecken, dann ist er entweder noch klein oder er versteckt sich sehr gut.

Fazit: Ich kann nicht genau sagen, woher diese große Schwäche kommt. Genau dieser Umstand bereitet mir Sorgen.

Ich ersuche Elisabeth Kemäter, sich wieder anzuziehen und auf dem Patientenstuhl Platz zu nehmen. Dessen Stabilität wird sie jetzt brauchen. Ich teile ihr das Ergebnis meiner Untersuchung mit. »Es muss nicht Krebs sein, aber es könnte Krebs sein.«

Sie sackt noch weiter in sich zusammen und wendet sich ab. »Das ist ein Albtraum«, murmelt sie.

»Wie gesagt, es muss nicht Krebs sein«, versuche ich ihr ein wenig Mut zu machen. Aber ich muss ihr auch sagen, dass es etwas Ernstes sein kann. Das gehört so schnell wie möglich abgeklärt.

Zum Glück gibt es Möglichkeiten, Genaueres herauszufinden. Ich schreibe ihr eine Überweisung zur Computertomographie und zur Mammographie und empfehle ihr ein Spital mit einem Brustkompetenzzentrum. Vorsicht ist besser als Nachsicht. Der schlimmste Fall, also in diesem Fall Krebs, sollte entweder durch exakte Untersuchungsmethoden ausgeschlossen oder so schnell wie möglich erkannt und behandelt werden. Außerdem verschreibe ich ihr einige Kräuter, damit es ihr von der Kraft und von der Psyche her besser geht.

Ein ganzes Jahr lang höre und sehe ich nichts mehr von Elisabeth Kemäter. Das ist in meiner Ordination nichts Ungewöhnliches. Ich bin kein Hausarzt, der für eine fixe Gruppe von Patienten die zentrale Ansprechstelle in Sachen Gesundheit ist. Ich bin Wahlarzt. Nur jene Patienten, für die ich einen Therapieplan mache, will ich zur Kontrolle wiedersehen. Wenn ich Personen an andere Stellen weiter verweise, dann erwarte ich nicht unbedingt, dass sie wiederkommen.

Über die Terminanfrage von Elisabeth Kemäter nach einem Jahr freue ich mich. Schließlich bin ich neugierig zu hören, wie es ihr ergangen ist.

Ich nehme meine Patienten gerne wie ein guter Gastgeber in Empfang. Daher gehe ich üblicherweise durch den kleinen Gang, der zu meinem Behandlungsraum führt, hinaus ins Wartezimmer.

Auch Elisabeth Kemäter gehe ich entgegen. Bei ihrem Anblick erschrecke ich innerlich. Sie sieht elend aus. Den Kopf hält sie zwar nicht gesenkt wie bei ihrem Besuch vor einem Jahr. Aber dass sie schwer krank ist, sieht auch jemand, der keine medizinische Ausbildung hat. Sie ist blass, ihre Wangen sind eingefallen. Vor einem Jahr war sie schlank, jetzt wirkt sie ausgezehrt. Ihre Körperhaltung hingegen wirkt trotzig. Erhobenen Hauptes reicht sie mir die Hand, sichtlich bemüht um einen kräftigen Händedruck, der gleichwohl schwach ausfällt.

Ich beginne unser Gespräch trotz meiner Bestürzung mit der Frage, was seit ihrem letzten Besuch passiert ist.

Daraufhin erzählt mir Elisabeth Kemäter, dass sie vor vielen Jahren einmal auf einer Krebsstation zu Besuch war. Die von der Chemotherapie aufgedunsenen Gesichter haben sie danach bis in ihre Träume verfolgt. Aus dem Schlaf aufgeschreckt sei sie immer an dem Punkt, wo sie im Traum in die Krebsstation eingeliefert wurde. Daher habe sie es nicht über sich gebracht, in das von mir empfohlene Spital zu gehen. Mit anderen Menschen über ihr Problem reden wollte sie auch nicht, denn sie habe niemanden belasten wollen. Stattdessen habe sie sich im Internet schlau gemacht, was man bei Krebs so alles tun könne. Da sei sie auf einen Arzt gestoßen, also einen echten Schulmediziner, keinen seltsamen Kurpfuscher. Über diesen Arzt wurde von mehreren Seiten berichtet, dass er Krebspatientinnen ohne Chemotherapie geheilt habe. Deshalb sei sie zu ihm gegangen. Er habe eine Mammographie mit ihr gemacht, und tatsächlich: Brustkrebs. Daraufhin habe sie mit ihm die Alternativen zur Chemotherapie erörtert und sich für Vitamininfusionen, Hyperthermie und Ozonspritzen entschieden.

An dieser Stelle muss ich den Impuls unterdrücken, die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen. Alle diese Therapien wurden wissenschaftlich untersucht und haben bei Krebs nachweislich keinen Effekt gezeigt.

»Bei den Therapien habe ich sofort gemerkt, dass sie gut wirken«, fährt Elisabeth Kemäter mit ihrer Erzählung fort. Sie habe natürlich auch brav die Kräuterpillen genommen, die ich ihr verschrieben habe. Die Kombination habe der Arzt auch ausdrücklich befürwortet. Dann habe sie die Frau des Arztes kennengelernt. Sie beschreibt sie als »beeindruckende, feine Dame«. Die lud sie einmal zum Tee ein, weil der Herr Doktor noch mit einem anderen Patienten beschäftigt war. Sie seien auf die Heilkraft der geistigen Welt zu sprechen gekommen und darauf, dass es viel mehr zwischen Himmel und Erde gäbe, als wir uns vorstellen können. »Da konnte ich als Gläubige der Frau Doktor nur zustimmen«, sagt sie.

Die »Frau Doktor« habe ihr anvertraut, dass sie schon in der Kindheit die Strahlungen, die von Menschen, Tieren und Pflanzen ausgehen, gesehen habe. Das sei für sie so normal gewesen, dass sie erst mit der Zeit herausgefunden habe, dass andere Menschen diese Fähigkeit nicht haben. Sie habe dann jahrelang kein Wort mehr darüber verloren. Aber sie habe gelernt, die Menschen anhand ihrer Strahlung einzuschätzen. In ihren Mann habe sie sich deswegen auf den ersten Blick verliebt. Aber erst nach der Hochzeit habe sie sich ihm anvertraut. Er habe ihr geraten, eine Ausbildung als Medium zu machen.

Der Arzt habe das Gespräch unterbrochen, indem er sie zur Therapie bat, aber sie sei nun neugierig gewesen. Sie habe sich ein Herz gefasst und beim Arzt nachgefragt. Er habe ihr gesagt, dass seine Frau ausgewählte Patienten von ihm als therapeutisches Medium begleite. So habe es angefangen.

Die »Frau Doktor« habe sie wirklich intensiv mental unterstützt. Erst in letzter Zeit habe Elisabeth Kemäter bemerkt, dass sie wieder etwas schwächer geworden sei. Da habe sie gedacht, vielleicht habe sich die Wirkung der Kräuter in Verbindung mit der Ozontherapie abgenutzt. Sie wollte von mir wissen, ob ich nicht noch andere Kräuter habe, die ihr neue Kraft geben können.

Es gibt Momente, da muss ich in meinem Berufsleben als Arzt erst einmal tief durchatmen. Um nicht vorschnell zu urteilen, untersuche ich sie gründlich. Fazit: Ihr Zustand ist noch schlimmer, als die Blickdiagnose offenbart. Obwohl es mir menschlich schwerfällt, ist es meine Pflicht, ihre Hoffnung in die unnütze Therapie zu zerstören. Allerdings versuche ich, ihr die Wahrheit so schonend wie möglich beizubringen. Ich erkläre ihr, warum es möglich ist, dass speziell im Internet Therapien von Patienten empfohlen werden, obwohl diese Therapien erwiesenermaßen nichts bringen.

Das Problem ist, dass Patienten in manchen Fällen nicht einschätzen können, ob die Behandlung erfolgreich war. Das ist besonders häufig bei Krebs der Fall, denn Krebs spüren die Betroffenen die längste Zeit nicht. Manche Behandlungen wirken zwar nicht gegen den Krebs, aber sie sorgen dafür, dass die Patienten ein besonderes körperliches Wohlbefinden entwickeln. Sie fühlen sich gestärkt. Ich habe oft Krebspatienten, die sich bestens fühlen. Wenn sie nicht wüssten, dass sie an Krebs leiden, hätten sie gar kein Problem. Sie hätten gar keinen Grund, zu mir zu kommen. Ihre Lebensqualität wäre nicht gemindert. Bis zu einem gewissen Punkt.

Mit der falschen Therapie wächst der Krebs im Körper ungehindert weiter. Viele Krebsarten bilden Metastasen, also Tochtergewebe, die sich über den ganzen Körper verbreiten können. Irgendwann kommt der Punkt, ab dem das Immunsystem gegen zu vieles gleichzeitig kämpfen muss. Dann wird der Körper ganz schwach und verfällt.

Elisabeth Kemäters Augen weiten sich vor Entsetzen, als sie das hört.

Offenbar habe ich genau den Prozess beschrieben, den auch sie durchmacht. Ich nehme ihre Hände in meine und beschwöre sie. »Bitte fahren Sie ins Spital. Immerhin haben Sie noch keine Schmerzen. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.«

Elisabeth Kemäter verlässt meine Praxis heulend. Ich bin nicht sicher, ob ich jemals wieder von ihr hören werde.

Zwei Monate später bekomme ich von ihr einen Anruf. »Ich bin geheilt«, berichtet sie mir mit jubelnder Stimme.

Sie erzählt, dass sie nach dem Besuch bei mir geradewegs zu jenem Arzt und seiner »Frau Doktor« gefahren ist und ihnen berichtet hat, was ich gesagt habe. Das hätten die beiden sehr ernst genommen und sie an eine Klinik in Deutschland verwiesen. Dort sei sie nun acht Wochen lang wirklich intensiv von früh bis spät behandelt worden. Heute ist sie endlich entlassen worden. Der Chefarzt habe ihr persönlich attestiert, dass ihr Körper krebsfrei sei.

Da kann ich nur den Kopf schütteln. »Frau Kemäter, bitte verzeihen Sie, aber das kann ich beim besten Willen nicht glauben. Bei Ihrem Zustand wäre eine vollständige Heilung in nur acht Wochen wirklich ein Wunder.«

Ich erkläre ihr, dass sie mir das nicht glauben muss, dass sie es aber überprüfen soll. Sie hat eine Möglichkeit, festzustellen, ob ihr Körper wirklich frei von Krebszellen ist. Eine histologische Untersuchung kann ihr hundertprozentige Sicherheit geben.

Sie seufzt hörbar. »Herr Doktor Bhalla, ich hätte gehofft, dass Sie sich mit mir freuen. Vielleicht schaffen Sie das, wenn wir uns das nächste Mal begegnen. Bis dahin wünsche ich Ihnen alles Gute.«

Bevor ich weiter auf sie einreden kann, beendet sie das Gespräch.

Wenige Wochen später erhalte ich einen Anruf von ihrem Pfarrer. Elisabeth Kemäter hat ganz plötzlich starke Schmerzen an der Wirbelsäule bekommen. Die Rettung musste sie ins Spital bringen. Die Ärzte dort haben festgestellt, dass ihr ganzer Körper voller Metastasen ist. Der Pfarrer sagt, sie wolle in ihren letzten Tagen keine Besuche. Aber er solle mir etwas ausrichten. Elisabeth Kemäter möchte mir danken für meine Warnungen und sich entschuldigen für das letzte Telefonat, das sie so vorschnell beendet hat.

Zwei Wochen später informiert mich der Pfarrer vom Tod von Elisabeth Kemäter. Zum Glück musste sie nicht mehr sehr lange leiden. Der Pfarrer sagt mir auch, welche Art von Krebs sie getötet hat. Es war eine besonders aggressive Krebsart, bei der allerdings mit einer rechtzeitigen Chemotherapie hohe Heilungschancen bestanden hätten.

Elisabeth Kemäter könnte heute noch leben, wäre sie nicht einem Arzt auf vermeintlich alternativmedizinischen Abwegen in die Hände gefallen und seiner »Frau Doktor«, die selbst natürlich nie Medizin studiert, sondern den Titel quasi informell mit der Ehe übernommen und daraus gemeinsam mit ihrem Mann ein zweifellos lukratives Geschäftsmodell entwickelt hat. Zum Zeitpunkt ihres Todes war Elisabeth Kemäter erst 48 Jahre alt.

Böse Heiler

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