Читать книгу Christmas Time - Asmodina Tear - Страница 9

Karina Reiß

Оглавление

»Es riecht eindeutig nach Schnee. Was meinst du?«

»Hm, ja, kann sein.« Im Grunde ist es mir egal, ob wir weiße Weihnachten bekommen oder nicht. Der ganze Quatsch mit dem Fest der Liebe wird ohnehin überbewertet. Rose hält mir sanft lächelnd die Tür auf und ich trete ins Freie. Sofort erschlägt mich die für New York City so typische Geräuschkulisse.

»Mensch Lucy, du bist wirklich nicht in Weihnachtsstimmung, oder?«

Resigniert zucke ich mit den Schultern, während Rose den Buchladen absperrt. Seit einem Jahr arbeite ich für sie und inzwischen ist sie nicht nur meine Chefin, sondern so etwas wie ein Mutterersatz für mich geworden. Eine Mutter, auf die ich schon sehr lange verzichten musste.

»Dann nimm doch meine Einladung an und feiere mit uns. Du kannst doch nicht über die Feiertage allein zu Hause sitzen und Trübsal blasen.«

»Ich bin ja nicht allein. Ich habe Stella!«, entgegne ich schnell, weil ich unter gar keinen Umständen mit ihrer Familie das Fest der Liebe verbringen möchte. Ich würde mir wie ein Eindringling vorkommen, der versucht, sich in eine fremde Familie einzuschleichen. Aber das sage ich lieber nicht laut, sonst ist Rose wieder beleidigt.

»Stella ist ein Hund. Das ist doch kein Ersatz für menschlichen Kontakt.«

Jetzt bin ich es, die beleidigt die Nase kräuselt. »Sie ist nicht bloß ein Hund. Sie tut mir gut«, presse ich hervor und schlage den Kragen meines Mantels hoch, da ein eisiger Wind durch die Straße fegt. Die süße Mischlingshündin macht meinen Alltag jetzt seit einigen Wochen bunter und aufregender und ich möchte sie nicht mehr missen.

»Jetzt sei nicht eingeschnappt, Lucy. Du darfst den Zwerg auch gern mitbringen, solange er nicht den Weihnachtsbaum anpinkelt.«

Obwohl ich es nicht will, kann ich mir ein Lachen nicht verkneifen. »Sie wird ihr Beinchen nicht an deinem Baum heben, weil wir Weihnachten zu Hause feiern«, sage ich dann aber trotzig und hoffe, dass die Diskussion damit beendet ist.

»Wie du meinst, Lucy. Du bist jederzeit willkommen. Denk drüber nach.«

Ich nicke, aber Rose hat gerade ihre Mütze so tief ins Gesicht gezogen, dass sie mich kaum noch sehen kann.

»Frohe Weihnachten.«

»Frohe Weihnachten, Lucy.« Rose nimmt mich in den Arm und drückt mich mütterlich an ihre Brust, bevor wir in verschiedene Richtungen nach Hause gehen. Spontan entscheide ich mich gegen die U-Bahn und beschließe, die zwanzig Minuten bis zu meiner Wohnung zu laufen. Denn auch wenn ich mich nach außen hin unbeeindruckt von dem ganzen Festtagstrubel zeige, tief in meinem Inneren sehne ich mich danach, endlich wieder ein friedliches und glückliches Weihnachten feiern zu können. Deshalb schlendere ich an den verspielt dekorierten Schaufenstern vorbei und lasse mich von dem Lichterglanz verzaubern. Die Atmosphäre zu dieser Jahreszeit ist ganz besonders in dieser Stadt, die nie schläft. Meiner Meinung nach fängt keine andere Stadt der Welt diese festliche Stimmung besser ein als New York City. Hinter jeder Ecke scheint es zu glitzern und zu funkeln und stimmungsvolle Musik dringt leise aus verschiedenen Lautsprechern.

Wie fast jedes Mal, wenn ich am Winter Village im Bryant Park vorbeikomme, kann ich dem himmlischen Duftpotpourri nicht widerstehen und kaufe mir eine Tüte der leckersten gebrannten Mandeln der ganzen Stadt. Genussvoll stecke ich mir eine in den Mund und stöhne unwillkürlich vor Wohlbehagen auf, während ich einen Moment lang den kunstvollen Pirouetten der Eisläufer zusehe. Die restlichen Mandeln packe ich schließlich in meine Manteltasche, damit ich sie in Ruhe zu Hause mit einer Tasse heißer Schokolade genießen kann. Die habe ich auch bitter nötig, denn ich bin bis auf die Knochen durchgefroren, als ich endlich meine Straße erreiche.

Verdammt! Warum habe ich nur meine Handschuhe heute Morgen zu Hause vergessen? Mit tauben Fingern versuche ich, den Schlüssel in die Haustür zu stecken, was so lange dauert, dass ich schon darauf warte von einem Cop angesprochen zu werden, weil er mich für einen Einbrecher hält. Noch bevor es mir gelingt, fliegt die Tür auf und ich stolpere einen Schritt nach vorn.

»Lexie! Du hast mich aber erschreckt«, begrüße ich meine Nachbarin aus der Wohnung schräg gegenüber.

»Hi Lucy. Ich wollte gerade mit Stella eine Runde drehen. Sie war so unruhig. Aber das kannst du ja nun selbst machen.« Mit diesen Worten drückt sie mir meinen Welpen in den Arm und wendet sich wieder zum Treppenhaus um, während Stella vor lauter Freude versucht, mein Gesicht abzuschlecken. Welche Laus ist der denn heute über die Leber gelaufen? Normalerweise passt sie gern auf den kleinen Racker auf, während ich arbeiten bin. Lexie ist ein total verrückter Paradiesvogel und legt nachts in einem angesagten Club auf, deshalb ist sie tagsüber zu Hause und hat sich sofort bereit erklärt, auf Stella aufzupassen.

»Geht es dir gut?«, will ich deshalb von ihr wissen, denn sie sieht auch irgendwie blasser aus als sonst.

Lexie dreht sich halb um und winkt ab. »Alles bestens, Lucy. Ich hatte nur vergessen dir zu sagen, dass ich zu Kyle fahre. Ich will gleich los.«

»Oh!« Ich merke, wie ich ein Stück in mich zusammensacke. Natürlich wünsche ich ihr alles Glück der Welt und freue mich für sie und ihr neues Liebesglück, aber trotzdem versetzt mir die Nachricht einen Stich ins Herz. Tief in meinem Inneren wünsche ich mir auch nichts sehnlicher, als Weihnachten nicht mehr allein verbringen zu müssen. Schon seit einiger Zeit ist mein Dad alles, was ich noch an Familie habe, aber er lebt inzwischen mit seiner neuen Frau in Europa und wir sehen uns fast nur noch über Videotelefonie. Zu allem Überfluss hat mich mein Ex vor zwei Jahren wegen einem magersüchtigen Model sitzen lassen und dabei meinem Selbstwertgefühl einen heftigen Knacks verpasst.

»Frohe Weihnachten, Lucy«, ruft sie mir vom Treppenabsatz entgegen, nachdem sie die Stufen hochgesprintet ist.

»Ja, euch auch«, murmele ich vor mich hin, denn gerade in dem Moment fällt schon ihre Wohnungstür ins Schloss.

Nachdenklich öffne ich wieder die Haustür und kehre zurück in die Eiseskälte. Mit Stella auf dem Arm gehe ich die Steintreppe nach unten und setze den Welpen auf dem Gehweg ab. Es dauert keine fünf Sekunden und die kleine Maus verrichtet auch schon ihr dringendes Geschäft.

»Na, das war aber höchste Eisenbahn«, sage ich leise, mehr zu mir selbst, beseitige die Hinterlassenschaft meines Hundes und entsorge alles im nächsten Mülleimer. Etwas kitzelt mich an der Nase und ich blinzle in den Himmel, aus dem ganz feine Flöckchen angeflogen kommen. Tatsächlich, der Schnee kommt pünktlich zu Weihnachten. Da uns beiden Bewegung guttut, entschließe ich mich, in den Central Park zu gehen. Wenn es etwas gibt, das ich zu dieser Jahreszeit an New York City liebe, dann ist es der Central Park mit Schnee. Einfach magisch!

Außerdem hoffe ich insgeheim, dass wir auf Henry und sein Herrchen treffen. Henry ist ein bildschöner Border Collie Rüde, der sich perfekt mit Stella verträgt. Als wir uns vor ein paar Wochen das erste Mal im Park begegnet sind, war es beinahe wie Liebe auf den ersten Blick zwischen den Hunden. Ich muss zugeben, der Anblick seines Herrchens wirbelt bei mir auch ziemlich die Hormone durcheinander. Seine funkelnden grünen Augen sind mir sofort aufgefallen und haben mich in ihren Bann gezogen. Aber mehr als ein paar Worte haben wir bisher nicht miteinander gewechselt und über etwas anderes als die Hunde sprechen wir nie. Ich weiß noch nicht mal seinen Namen. Trotzdem ertappe ich mich die letzten Tage immer wieder dabei, wie meine Gedanken um diesen geheimnisvollen Mann kreisen.

Ein Blick auf die Uhr meines Smartphones sagt mir, dass die Chancen gut stehen, um die beiden anzutreffen, und ich beschleunige unwillkürlich meine Schritte, um schneller im Park zu sein. Ich eile förmlich über die 5th Avenue, vorbei an der St. Patrick’s Cathedral. Diesmal habe ich keine Augen für die liebevollen Dekorationen in den Schaufenstern, meine Gedanken sind bei Henry und seiner menschlichen Begleitung.

Außer Atem erreiche ich den Central Park und steuere unsere übliche Wiese an. Das Schneetreiben ist in der Zwischenzeit dichter geworden und hat die Stadt bereits mit einer dünnen Puderzuckerschicht überzogen. Ich kneife meine Augen zusammen und versuche, durch die immer dichter fallenden Flocken Henry zu entdecken. Doch leider ist von ihm und seinem charmanten Herrchen weit und breit nichts zu sehen. Ich spüre, wie mein Herz schwer wird. Verdammt Lucy, sei mal nicht albern!, schimpfe ich leise vor mich hin. Warum sollte er überhaupt an mir interessiert sein? Ich bin lediglich ein stinknormales, durchschnittliches Mädchen, habe keine wallende, blonde Lockenmähne und auch nicht die Traummaße eines Topmodels. Damit zähle ich zu jenen Menschen, die schlicht in der Masse untergehen. Ich gebe zu, es hat mich schwer getroffen, dass mein Freund mich verlassen hat. Die ersten Monate nach der Trennung wollte ich mich gar nicht mehr im Spiegel anschauen, so hässlich habe ich mich gefühlt. Die einzige Genugtuung, die ich inzwischen spüre, ist, dass Miss Platinblond ihn nach kurzer Zeit in den Wind geschossen hat.

Meine Gedanken driften so weit ab, dass ich kaum bemerke, wie aus dem lockeren Schneefall ein heftiger Blizzard geworden ist. Du meine Güte! Der Park ist inzwischen komplett in einem Schneemantel eingehüllt. Wäre der frostige Wind nicht, könnte ich diesen Anblick sogar genießen. So beschließe ich aber, dass es höchste Zeit wird, nach Hause zu gehen, bevor der Sturm schlimmer wird. Außerdem werden sich Henry und sein Herrchen bei diesem Wetter sicher kaum hierher verirren.

»Komm, Stella! Lass uns in die warme Wohnung zurückgehen.«

Der Wind schlägt mir zusammen mit unendlich vielen Eiskristallen ins Gesicht und meine Hände sind bereits taub, denn meine Handschuhe liegen noch immer zu Hause. Auf dem Weg rechts von mir kämpft ein Obdachloser damit, seinen Einkaufswagen, der mit all seinen Habseligkeiten gefüllt ist, durch den Schnee zu schieben. Er tut mir leid und ich hoffe inständig, dass er einen Unterschlupf hat, in dem er sich vor dem Schneesturm schützen kann. Zum Glück hat die Stadt ausreichend Anlaufstellen für obdachlose Menschen, wo sie eine warme Mahlzeit und einen trockenen Platz zum Schlafen bekommen können. Die Vorstellung, dass dieser arme Mensch bei diesem Wetter allein hier draußen herumirrt und noch dazu an Weihnachten, bricht mir beinahe das Herz. Ob ich ihn ansprechen und fragen soll, ob er Hilfe benötigt?

Ich fasse mir ein Herz, biege auf den Weg ein und gehe zögerlich auf ihn zu, während er fluchend versucht, den Einkaufswagen aus einer Schneewehe zu wuchten. Als ich keine zwei Meter mehr von ihm entfernt bin, kippt plötzlich der Wagen zur Seite und der Inhalt verteilt sich scheppernd auf dem Weg. Dann geht alles furchtbar schnell. Stella zu Tode verängstigt, befreit sich panisch aus ihrem Halsband und rennt blindlings in das dichte Schneegestöber hinein. Hysterisch rufe ich ihr hinterher und renne in die Richtung, in die sie verschwunden ist. Hinter mir höre ich den Obdachlosen weiter vor sich hin fluchen und meine, auch wüste Beschimpfungen gegen mich herauszuhören. Undankbarer Flegel, denke ich mir, schenke ihm jedoch keine weitere Beachtung. Ich muss Stella finden, und zwar schnell. Sie ist doch noch so klein und diesem unschönen Wetter hilflos ausgesetzt. Mein Magen verkrampft sich schmerzhaft und ich kämpfe tapfer gegen die Tränen an. Wie besessen renne ich durch den Park, halb blind, meine Beine schmerzen, meine Lunge brennt, aber von meiner Hündin ist keine Spur zu sehen.

»Stella!« Meine Stimme überschlägt sich, kommt kaum gegen den Schneesturm an. Blindlings renne ich weiter, spüre meine Füße kaum noch und schaue in jedes Gebüsch. Mit jeder Minute wächst meine Verzweiflung und meine Kräfte schwinden immer mehr. Aber ich bin nicht bereit, diesen Park ohne meinen Hund zu verlassen. Sie muss einfach hier irgendwo in der Nähe sein. Wie von einer unsichtbaren Macht getrieben kämpfe ich mich weiter durch das Schneegestöber. Viel sehen kann ich nicht mehr und das Einzige, was ich noch höre, ist der pfeifende Wind und mein rasselnder Atem.

»Um Himmels willen, was machen Sie denn bei diesem Sturm hier?«, höre ich plötzlich eine Stimme hinter mir rufen. Erschrocken wirbele ich herum und erkenne, dass ich mich am Rand des Parks befinde. Ein Streifenwagen hat angehalten und der Cop schaut mich durch das heruntergelassene Seitenfenster an.

»Ich ... Mein Hund ...«, stammele ich atemlos.

»Was ist mit Ihrem Hund?« Der Cop steigt aus, geht um den Streifenwagen herum und kommt auf mich zu.

»Er hat sich ... sie ist mir entwischt«, antworte ich mit zittriger Stimme und streiche mir erschöpft eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Jetzt steigen Sie erst mal ein und erzählen mir in Ruhe, was passiert ist.« Vorsichtig legt der Polizist eine Hand auf meine Schulter und versucht mich in Richtung seines Wagens zu schieben. Doch ich halte dagegen.

»Nein! Ich muss weitersuchen.«

»Ms. ...?«

»McBride«, lasse ich ihn schniefend wissen.

»Ms. McBride, Sie können unmöglich weiter hier draußen herumlaufen. Der Schneesturm soll sogar noch schlimmer werden. Bitte, steigen Sie ein.«

Während ich fortwährend den Kopf schüttele, lasse ich mich dennoch von ihm zum Streifenwagen führen und steige wie in Trance ein. Erst jetzt wird mir bewusst, wie erschöpft ich eigentlich bin.

»Soll ich Sie nach Hause fahren oder möchten Sie in ein Krankenhaus?«

»Nach Hause, bitte«, antworte ich kraftlos und gebe ihm noch meine Adresse.

Müde und durchgefroren wie ein Eiszapfen sperre ich meine Wohnungstür auf. Doch auch hier drin empfängt mich nichts als Kälte. Alles, was in der letzten Stunde passiert ist, erscheint mir irreal. Der Gedanke an Stella lässt mein Herz vor Schmerzen beinahe zerspringen. Wie konnte das nur passieren? Kraftlos lasse ich mich auf meine ausladende Couch sinken, wo ich erschöpft nach der Decke greife und sie über meinen schlotternden Körper ziehe. Wie schön wäre es, wenn ich jetzt in einen tiefen, erholsamen Schlaf fallen würde und wenn ich aufwache, würde sich alles nur als ein böser Traum herausstellen. Doch so müde ich auch bin, der erlösende Schlaf will nicht kommen.

Sobald ich meine Arme und Beine wieder spüren kann, stehe ich deshalb wieder auf und fahre meinen Laptop hoch. Da ich sowieso nicht schlafen kann, möchte ich die Zeit nutzen, Suchzettel zu gestalten und auszudrucken. Ich kann und will die Hoffnung nicht aufgeben. Schließlich ist Weihnachten. Ist das nicht auch das Fest der Wunder und der Liebe? Ich lache bitter auf, während ich mir eine Tasse Kaffee koche. Von wegen Wunder und Liebe. Das Wunder der Liebe hat sich schon vor einiger Zeit aus dem Staub gemacht, gemeinsam mit einer anderen. Obwohl es schon über ein Jahr her ist, schmecke ich noch immer den bitteren Beigeschmack dieser Demütigung. Mit einem energischen Kopfschütteln schiebe ich die Gedanken beiseite, denn in diesem Moment zählt nur Stella. Nachdem ich auf meinem Smartphone nach einem passenden Foto gesucht habe, schicke ich es an meinen Laptop, um es in den Flyer einbauen und ausdrucken zu können.

Irgendwann hat mich dann doch die Müdigkeit übermannt und ich bin auf dem Sofa eingeschlafen. Nach ein paar Stunden unruhigem Schlaf bin ich mit höllischen Kopfschmerzen wieder aufgewacht und die Erinnerung an Stellas Verschwinden hat mir einen stahlharten Schlag in die Magengrube verpasst.

Nachdem ich mich endlich geduscht und umgezogen habe, spüle ich noch schnell eine Excedrin herunter und stelle das leere Glas achtlos in die Spüle. In Gedanken bin ich schon wieder im Central Park und verteile die Flugzettel mit Stellas Foto darauf. Im Vorbeigehen ziehe ich mir meinen Mantel über, greife den Stapel Flugblätter und verlasse beinahe fluchtartig die Wohnung. Erst als ich atemlos auf die Straße trete, bemerke ich, dass ich schon wieder meine Handschuhe vergessen habe. Ich dachte immer, aus Schaden wird man klug? Das trifft wohl auf mich nicht zu.

Da der Schneesturm sich gelegt hat und nur noch kleine Flocken durch die Luft schweben, verzichte ich darauf, noch mal die zwei Etagen nach oben zu steigen, und mache mich direkt auf den Weg in den Park.

An einem normalen Wintertag hätte ich diesen atemberaubenden Anblick sehr genossen. Aber heute ist absolut nichts normal und das schreckliche Bild meines womöglich erfrorenen Hundes, das sich jäh vor mein inneres Auge schiebt, lässt mir die Tränen in die Augen schießen. Ich sehe nichts von der Schönheit dieser Winter-Wunderlandschaft, bemerke nicht, wie verzaubert der Park in der Sonne glitzert. Mein Fokus ist auf die Zettel in meiner Hand gerichtet, die ich in einem großen Radius rund um die Stelle, an der gestern mein Hund weggelaufen ist, aufhänge und meine einzige Motivation, mit dieser sinnlosen Tätigkeit weiterzumachen, ist die schwache Hoffnung, dass Stella irgendwo Unterschlupf gefunden hat.

Inzwischen muss über eine Stunde vergangen sein, seit ich von zu Hause losgelaufen bin. Ich habe nicht bemerkt, dass sich erneut mit Schnee gefüllte Wolken vor die Sonne geschoben haben und der Schneefall wieder dichter geworden ist. Meine Finger sind taub vor Kälte und ich kann die restlichen paar Flugblätter kaum noch in den Händen halten. Durchhalten, Lucy!, feuere ich mich still an und will gerade den nächsten Zettel an einen Baum pinnen, als sich zwei düstere Gestalten vor mir aufbauen.

»Hey, Sugarbabe. So ganz allein unterwegs«, spricht mich der größere der beiden an und sein fauliger Atem schlägt mir gnadenlos ins Gesicht. Das hat mir zu meinem Weihnachtswunderglück gerade noch gefehlt! Da ich nicht im Geringsten Lust auf Ärger verspüre, trete ich einen Schritt zur Seite, um an den beiden abgefuckten Typen vorbeizugehen, und hoffe, dass sie betrunken genug sind, um einfach weiterzuziehen. Doch der Kleinere der beiden, offenkundig der Stärkere, packt mich unsanft am Arm und wirbelt mich herum. »Wo willst du so schnell hin, Puppe?«

Der beißende Alkoholgestank vermischt mit der ekligen Feuchtigkeit seiner Aussprache führt dazu, dass mir bitterer Magensaft hochkommt. Ich schlucke kräftig dagegen an und versuche, auch mein mulmiges Gefühl zu unterdrücken.

»Fass mich nicht an«, fauche ich dem Kerl wütend entgegen und zerre kräftig an meinem Arm, um mich aus seinem eisernen Griff zu befreien. Keine Chance. Als Antwort ernte ich nur schallendes Gelächter der beiden.

»Was wollt ihr? Lasst mich los«, starte ich einen weiteren verzweifelten Versuch, die Situation zu entschärfen und schaue mich verstohlen im Park um, ob ich andere Personen ausmachen kann. Doch in unserer unmittelbaren Nähe ist niemand zu sehen, der mir helfen könnte.

»Lass uns doch mal mit deiner Brieftasche anfangen, Babe! Rück sie schon raus!« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, packt der Größere mich rabiat an der Kehle und drückt zu. Panik, ich bekomme keine Luft, versuche zu schreien, doch aus meiner Kehle dringt nur ein lächerliches Krächzen. In Todesangst rudere ich wild mit den Händen, versuche, mich gegen den Angreifer zu wehren. Der Kleinere greift erstaunlich geschickt nach meinen Armen und dreht sie mir schmerzhaft auf den Rücken. Die mangelnde Luftzufuhr macht sich bemerkbar, mir wird schwindlig und ich habe das Gefühl, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden.

Plötzlich höre ich aus der Ferne das Bellen eines Hundes. Habe ich mir das eingebildet? Nein! Denn schon in der nächsten Sekunde erspähe ich aus dem Augenwinkel einen Border Collie, der rasend schnell auf uns zuspringt, dem Größeren ins Hosenbein beißt und kräftig an ihm zerrt. Vor Schreck lässt dieser sofort von mir ab und versucht, das Tier abzuschütteln. Der Hund nutzt diesen Moment und schiebt sich zwischen mich und meine Angreifer, fletscht die Zähne und knurrt bedrohlich. Zu meinem Glück lassen sich die beiden Kerle davon beeindrucken und treten fluchend den Rückzug an.

Zitternd von dem Schock und vor Kälte gehe ich in die Knie, lege einen Arm um Henry und drücke ihn fest an mich.

»Na du, wo kommst du denn her? Du bist doch bestimmt nicht allein unterwegs?« Dankbar kraule ich Henry hinterm Ohr und lasse ihn meine durchgefrorene Hand schlecken. Nur langsam komme ich wieder zu Atem, mein Hals schmerzt, aber die beruhigende Anwesenheit von Henry hilft mir, meinen Puls und das Zittern unter Kontrolle zu bringen. Ich nehme ein paar tiefe Atemzüge, um mich zu sammeln, stehe auf, drehe mich langsam im Kreis und ... erblicke ihn: meinen schönen Unbekannten. Aufrecht und selbstbewusst kommt er mit großen Schritten auf uns zu und ich spüre, wie mir trotz des frostigen Winds heiß wird. Mein Magen fängt an zu kribbeln und meine Knie fühlen sich an, wie Butter, die gerade in der Sonne schmilzt. Das liegt nicht an der Tatsache, dass zwei Kriminelle gerade versucht haben, mich auszurauben. Als Henrys Herrchen uns fast erreicht hat, bemerke ich, dass er etwas im Arm hält und vor der Kälte schützt.

»Stella!« Ich kann meine Tränen nicht zurückhalten, als meine kleine Maus aufgeregt mit dem Schwanz wedelnd in seinen Armen bellt. Ich nehme sie ihm ab und drücke sie fest an mich.

»Oh Stella! Da bist du ja.«

»Du erdrückst sie ja«, mahnt mich Henrys Herrchen.

»Oh! Ja, ich bin nur so froh, sie wieder zu haben. Wie hast du ...? Wo ...?«

»Bedank dich bei Henry. Er hat sie gestern unter einem Strauch entdeckt. Wir wollten gerade nach Hause gehen, weil der Schneesturm immer heftiger wurde.«

»Henry, du bist mein Held!« Ich knuddle den Border Collie herzlich durch und habe dabei meine Emotionen kaum unter Kontrolle.

»Ich hätte sie dir gern gleich gestern noch vorbeigebracht. Aber ...« Er zuckt mit einem schiefen Grinsen im Gesicht die Schultern. »... Ich kenne ja weder deinen Namen noch deine Telefonnummer, geschweige denn deine Adresse. Deshalb habe ich Stella mit zu uns genommen und gehofft, dass ich dich heute im Park treffe.«

Endlich schaffe ich es, Stellas Retter in die Augen zu schauen und ihn schüchtern anzulächeln. Ich stoße einen Seufzer der Erleichterung aus, bevor ich antworten kann. »Und ohne Henry weiß ich nicht, was diese zwei Idioten mit mir gemacht hätten.«

»Was genau ist eigentlich passiert?«

Mit wenigen Worten berichte ich von dem Überfall und der heldenhaften Rettung durch Henry.

»Dann waren wir ja wie durch ein Wunder genau zur richtigen Zeit im Park. Das muss Schicksal sein.«

Ich nicke zustimmend, krame in meiner Hosentasche nach einem Taschentuch und putze mir meine Nase, die sich so kalt anfühlt, als würde sie jeden Moment aus dem Gesicht fallen.

»Du zitterst. Was hältst du davon, wenn du erst mal mit zu mir kommst, dich aufwärmst und von dem Schreck erholst? Mein Appartement liegt nur fünf Minuten von hier entfernt.«

Für einen Moment zögere ich, aber ein kurzer Blick in seine grünen Augen lässt mein Herz erneut flattern und ich stimme lächelnd zu.

»Na dann, lass uns gehen, bevor wir aussehen wie Frosty. Ich heiße übrigens Ethan.«

»Lucy«, antworte ich, während wir uns in Bewegung setzen.

»Ein so schöner Name wie dein zauberhaftes Lächeln, Lucy.« Sein schelmisches Augenzwinkern startet den Schmetterlingsturbo in meinem Magen und ich befürchte, dass mein Grinsen bei diesen Temperaturen einfriert.

Tatsächlich verlangsamt Ethan schon wenige Minuten später vor einem der schicken Appartementhäuser auf der 5th Avenue seine Schritte und bleibt schließlich stehen. Unsicher lasse ich meinen Blick die Fassade nach oben gleiten und bin beeindruckt von der prachtvollen Architektur.

»Da wären wir.« Mit einer Handbewegung deutet er auf die imposante Glastür, die in diesem Moment von einem Typ in Uniform und mit weißen Handschuhen aufgehalten wird. Er wohnt tatsächlich in diesem noblen Kasten? Wer zur Hölle ist er?

»Beeindruckend«, lasse ich ihn wissen und betrete ehrfürchtig das Gebäude. Ethan folgt mir und ich höre, wie er den Angestellten an der Tür begrüßt. Wie schon von außen vermutet empfängt mich im Inneren der pure Luxus. Unsicher stoppe ich, als mich der Concierge stirnrunzelnd anschaut. Ethan legt sanft einen Arm um meine Schulter und nickt dem Mann zu. Dieser versteht sofort und lächelt.

»Mr. Fletcher. Es ist ein Einschreiben für Sie gekommen.«

»Danke, Benjamin.« Ethan nimmt den Umschlag entgegen und schiebt mich dann sanft in Richtung der glänzenden Fahrstuhltüren. Der herbe Duft seines Aftershaves dringt in meine Nase und vernebelt mir die Sinne. Ich atme tief ein und wünschte, ich könnte diesen Duft für immer in meinem Gedächtnis bewahren. Die Lifttüren schließen sich hinter uns und der Fahrstuhl bewegt sich von einem leisen Surren begleitet nach oben. Die Stille zwischen uns ist nicht unangenehm, auch wenn ich es vermeide, Ethan anzuschauen. Was er wohl gerade denkt? Über mich?

Der Fahrstuhl stoppt in der 33. Etage und wir steigen aus. Von dem hellen Flur gehen nur zwei Türen ab, demnach müssen die Wohnungen hier oben riesig sein. Ehrfurchtsvoll folge ich Ethan zu einer der beiden Türen.

»Nach dir!«, sagt er und lächelt mir unverschämt sexy zu. Doch Henry und Stella sind schneller als ich und stürmen gemeinsam in das Appartement, bevor ich ihnen folgen kann. Ethan schließt hinter mir die Tür, während ich aus dem Staunen nicht herauskomme.

»Wow!«, entfährt es mir begeistert. »Der Ausblick ist grandios.« Ich bin geradewegs durch das offene Wohnzimmer auf die breite Fensterfront zugegangen und betrachte fasziniert den verschneiten Central Park. Die Aussicht reicht weit über Manhattan samt dem Hudson River und haut mich beinahe um.

»Ja, die Aussicht ist unbezahlbar, nicht wahr?« Ethan steht plötzlich ganz dicht hinter mir und ich kann seinen Atem in meinem Nacken spüren. Unwillkürlich stellen sich die feinen Härchen auf meinen Armen auf und ein Schauer rieselt meinen Rücken hinunter.

»Absolut traumhaft«, gebe ich zurück und muss kräftig gegen den Kloß in meinem Hals schlucken. Die plötzliche Nähe von Ethan bringt mich ganz durcheinander. Mehr, als ich es je für möglich gehalten hätte.

»Die Wohnung wurde mir von der Anwaltskanzlei, in der ich arbeite, zur Verfügung gestellt. Aber wir sollten dich erst mal aufwärmen, Lucy. Du zitterst immer noch schrecklich.« Behutsam hilft er mir aus dem Mantel und schiebt mich dann in Richtung Sofalandschaft, auf der ich mich erschöpft niederlasse. Henry und Stella haben sich gemeinsam auf einer Decke eingerollt und Henry schleckt herzlich über ihr Welpenfell. Was für eine Top-Kanzlei muss das sein, wenn die sich solche Immobilien für die Mitarbeiter leisten kann?

»Tee, einen Kaffee oder lieber etwas Stärkeres?«

Ethan steht mit zwei Tassen in der Hand hinter der Küchenzeile, die gleichzeitig als Theke dient.

»Was hast du denn Stärkeres anzubieten?«, frage ich schmunzelnd.

»Ich habe einen wirklich guten Bourbon da. Passender wäre aber wohl ein Eierpunsch.« Die Art, wie Ethan bei dem Wort Eierpunsch seine Stirn in Falten legt, lässt mich herzhaft auflachen.

»Lass mal. Ich nehme den Tee. Mit einem Punsch kann ich nicht dafür garantieren, nicht sofort einzuschlafen.«

Wenige Minuten später setzt sich Ethan zu mir und stellt zwei dampfende Tassen auf dem Tisch ab. Der Tee wirkt wahre Wunder und mit jedem Schluck spüre ich, wie ich von innen heraus auftaue. Eine Weile sitzen wir schweigend nebeneinander, aber die Stille zwischen uns fühlt sich nicht unangenehm, sondern überraschend vertraut an. Fast, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen.

»Wird es besser?«, durchbricht Ethan plötzlich die Stille und seine Stimme klingt rauchig hart dabei.

Ich nicke zaghaft, denn ich fühle mich wie versteinert, unfähig auch nur ein Wort zu sagen, während mein Herz in einem schnellen, unregelmäßigen Rhythmus fest in meiner Brust hämmert. Seine blonden, wilden Locken, der gepflegte Dreitagebart und seine markanten Gesichtszüge lassen mich dahinschmelzen.

»Mein Gott, da hast du aber ziemlich derbe Druckstellen am Hals. Soll ich dich nicht lieber in ein Krankenhaus bringen?«

Kopfschüttelnd betaste ich meinen Hals, dort, wo der Kerl im Park zugedrückt hat, und erst jetzt wird mir bewusst, dass mir das Schlucken Schmerzen bereitet. »Das sieht schlimmer aus, als es ist«, beruhige ich Ethan und schaue ihn tapfer lächelnd an.

»Eine schöne Bescherung, was?« Vorsichtig streicht Ethan mir eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht und hinterlässt eine brennende Spur auf meiner Haut.

»Nicht gerade das, was man sich an Weihnachten wünscht«, gebe ich lachend als Antwort und überspiele damit meine Nervosität.

»Was machst du eigentlich an Weihnachten? Familie?«

In diesem Moment ist es mir peinlich, keine Pläne für die Feiertage zu haben und anstatt zu antworten, schaue ich in meine inzwischen leere Tasse und zucke mit den Schultern.

»Ich bin auch allein.«

Erstaunt schaue ich auf und direkt in seine sinnlichen grünen Augen. Sein Blick dringt bis in meine Seele vor und verursacht bei mir ein angenehmes Prickeln im Magen. »Was ist mit deiner Familie?«

»Weißt du, auf die Party bei meinen Eltern habe ich absolut keine Lust. Da tummeln sich Dutzende Geschäftspartner und Mitarbeiter. Jeder versucht dabei den anderen zu übertrumpfen. Das ist einfach nichts für mich. Und seit Mary nicht mehr da ist ...«

»Mary?«, frage ich vorsichtig nach, denn ich bemerke einen seltsamen Glanz in Ethans Augen, den ich nicht deuten kann.

»Sie war meine Verlobte. Ich habe sie vor zwei Jahren bei einem Flugzeugunglück verloren.«

Verdammt! Ohne es zu wissen, habe ich wohl eine empfindliche Wunde aufgerissen und würde am liebsten im Boden verschwinden.

»Das tut mir leid, Ethan.«

»Schon gut. Du konntest das ja nicht wissen. Was ist mit dir?«

»Oh, mein Dad wohnt in Paris. Seine Frau, also meine Stiefmutter ist Französin.«

»Und deine Mom?«

»Ich kannte sie leider kaum, kann mich nur ganz schwach an sie erinnern. Sie ist gestorben, als ich sechs Jahre alt war.«

»Jetzt bin ich wohl dran, mit einem Es tut mir leid

»Wie gesagt, es ist lange her. Mir fehlt nur Dad. Wir sehen uns zu selten.«

»Was hältst du davon, Weihnachten mit mir zu verbringen?«

Hat er das gerade wirklich gefragt?

»Ich ...« Überrascht suche ich nach Worten und versuche, das verräterische Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. »Ich weiß nicht ...«

»Bitte, Lucy. Ich würde mich sehr über deine Gesellschaft freuen.« Zaghaft greift er nach meiner Hand und nimmt sie in seine.

»In Ordnung«, stimme ich schließlich zu und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Bilde ich mir das nur ein, oder spüre ich wirklich ein leises Knistern zwischen uns? Für eine kleine Ewigkeit schauen wir uns intensiv in die Augen und wie zufällig berührt sein Bein meins. Sofort jagen winzige Stromstöße durch meinen Körper. Ich schlucke kräftig und befürchte, im Meer seiner grünen Augen zu ertrinken. Als er sanft mein Kinn ergreift und mich so zwingt, ihn anzusehen, halte ich angespannt für einen Moment den Atem an. Mein Herz hämmert wild gegen meine Brust und mein Körper kribbelt vor Aufregung.

»Das hier möchte ich schon, seit ich dich das erste Mal im Park gesehen habe«, raunt Ethan mir zu. Erwartungsvoll schließe ich die Augen. Sein heißer Atem streift meine Wange und verursacht eine Gänsehaut. Dann endlich fühle ich seine Lippen auf meinen und werde in einen wilden Strudel hineingerissen. Ich schlinge meine Arme um seinen Nacken und ziehe ihn sanft ein Stück näher an mich heran. Ungestüm erwidere ich seinen Kuss und fahre mit meiner Zunge an seinen Zähnen entlang. In diesem Moment fühle ich nichts mehr als pures Glück, denn so wie es aussieht, bekomme ich doch noch mein ganz persönliches Weihnachtswunder.

Karina Reiß

Christmas Time

Подняться наверх