Читать книгу Alexa und das Zauberbuch - Astrid Seehaus - Страница 11

Ein neuer Tag

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Als Alexa aufwachte, hörte sie nur Blätterrauschen. Sie wähnte sich in Hasenwinkel, in dem Dorf am Weiher, das ihr mit seinen windschiefen, strohgedeckten Häuschen der liebste Ort von allen war.

Genießerisch beugte und streckte sie sich und gähnte herzhaft. Trotz eines furchtbaren Traums, der sich wie ein Warzenalb auf sie gelegt hatte, war ihr Schlaf tief und fest gewesen. Sie hatte von einem Feuer und von Strobel geträumt, und der Hölle, in der sie sich plötzlich befand, und von kreischenden Menschen, die sie würgten und an ihr rissen. Als sie an das Gesöff dachte, bei dem sie fast Feuer gespuckt hätte, kicherte sie.

Langsam arbeitete sie sich durch das Blätterdach und stellte fest, dass die Sonne schien. Die Strahlen kitzelten ihre Nase und ließen ihr Herz hüpfen. Sie glaubte sich auf ihrem Lieblingsbaum in Hasenwinkel. Als sie jedoch einen freien Blick durch eine Astgabel hatte, kam ihr die Umgebung doch äußerst befremdlich vor.

Sie stutzte. Hatte sie letzte Nacht etwa doch nicht geträumt?

Sie kniff die Augen zu und atmete tief ein und wieder aus. Das sollte helfen, wenn man dabei war, den Verstand zu verlieren. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen wieder. Erst das linke, dann das rechte. Aber alles sah noch genauso aus wie vorher. Es hatte sich nichts geändert. Der Weiher, ihr Lieblingsort, lag trist und kahl unter ihr. Kein Röhricht, das wie ein schützender Umhang seine Ufer säumte, in dem sich die Entenküken vor dem Fuchs verstecken konnten. Kein gelber Sumpfdotter oder rosa angehauchte Schwanenblumen, deren Blüten wie Schmetterlinge über dem Wasser schwebten. Alles fort. Die Wiese war kurz geschoren und sah völlig verbrannt aus, als ob eine Feuersbrunst darüber hinweggefegt wäre. Die vielen kleinen Trampelpfade, die sie stets mit Lust bewandert hatte, waren breiten, grauen Wegen gewichen und lockten nicht zu neugierigen Ausflügen. Sie lugte vorsichtig nach unten. Direkt unter ihr, auf einer Bank, sah Alexa jemanden sitzen und in einem Buch lesen. Es war ein Mädchen, vielleicht so alt wie sie. Sie schien alles um sich vergessen zu haben, so vertieft war sie in ihre Lektüre.

Ob sie eine Hexenschwester war?

Alexa schüttelte den Kopf. Das Mädchen sah nicht aus wie eine Hexe. Eher wie eine Tochter aus gutem Hause.

Sie blinzelte in die Sonne. Es war früh am Morgen und versprach, wieder heiß zu werden. Sollte sie sich hier im Verborgenen halten und abwarten, was diese Fremde da unten tat, oder sich ihr vorstellen und hoffen, dass sie ihr erklären konnte, was mit ihrem Dorf passiert war?

Das Mädchen könnte es möglicherweise wissen, denn es sah sehr gelehrt aus mit diesen Gläsern auf der Nase.

Die junge Hexe schaute sich noch einmal um. Von den Häusern des Dorfes war nichts zu sehen. Der Weiher mit seinem trübgrünen Wasser, der vertrocknete Rasen, die Bäume und Büsche, deren Blätter sich eingerollt hatten, alles machte einen trostlosen Eindruck. Es gab nur eine Erklärung für die Verwüstung ihrer geliebten Heimat. Das mit der Hölle, das musste sie geträumt haben – sie befand sich ganz offensichtlich nicht am Ort ewiger Finsternis –, aber vom Lindwurm, diesem feigen Biest von Drache, von dem hatte sie nicht geträumt, den hatte sie wirklich gesehen. Und die Menschen, die in seinem feurigen Bauch gefangen waren, waren womöglich ihre Leute. Und ihr Dorf, das hatte er, der Lindwurm, dem Erdboden gleichgemacht.

Unfassbar! Absolut unfassbar!

In ihr sträubte sich alles, aber dann kam ihr eine Idee. Hatte Meister Schrawak sie womöglich nicht nur vor dem Scheiterhaufen gerettet, was lange genug gedauert hatte, sondern auch noch vor diesem Ungeheuer? Hatte er deswegen so lange gezögert, sie von einem Ort zum anderen zu hexen, weil er sie nicht in weitere Gefahr bringen wollte? Hätte er sie zu früh aus dem Kerker, in dem sie bis zur Urteilsvollstreckung hatte ausharren müssen, fort zu ihrem geliebten Weiher geschickt, dann wäre sie möglicherweise dem todbringenden Feuer des Drachens ausgeliefert worden. Sie lächelte. Ihr guter Meister Schrawak hat sie zwei Mal gerettet.

Das Mädchen auf der Holzbank bewegte sich und zog erneut Alexas Aufmerksamkeit auf sich. Jetzt war die Gelegenheit herauszufinden, ob ihr Dorf vernichtet worden war und wer es getan hatte. Nach einem kurzen Fingerschnippen saß sie auf der Rückenlehne der Bank und linste dem Mädchen neugierig über die Schulter. Sie hatte Alexa nicht bemerkt. Ihr kinnlanges Haar fiel nach vorne in ihr rundes Gesicht. Die großen Gläser, zusammengehalten von einem Drahtgestell, drohten von ihrer zierlichen Nase zu rutschen. Ihr Mund war breit und bewegte sich ständig. Nervös flüsterte sie einzelne Worte vor sich hin.

Alexa hörte ihr zu, verstand jedoch nichts von dem, was ihre Sitznachbarin murmelte. Sie betrachtete das geheimnisvolle Buch. Die Bilder faszinierten sie. Interessant sah das Städtchen auf dem Bild aus, wie ihre Stadt Salzbrunne. Sie wollte schon etwas Freundliches sagen, als die andere eine Seite umblätterte und Alexa erschrocken aufmerkte. Es war nur eine kleine, unscheinbare Zeichnung, die sie schockierte. Eine Zeichnung, die nicht von der Hand eines großen Künstlers stammte, sondern so einfach war, als ob ein Kind sie gekritzelt hätte. Aber das, was darauf zu sehen war, machte Alexa höllische Angst. Sie sah eine Frau, die an Händen und Füßen gefesselt in einem Fluss versank. Alexa wusste sofort, was das zu bedeuten hatte: Diese Zeichnung war das sichtbare Zeugnis einer Hexenprobe. Ohne lange nachzudenken, schnippte Alexa sich hinter den Baumriesen, auf dem sie geschlafen hatte. Der dicke Stamm verbarg sie vollständig.

Sie wartete.

Dann, zögerlich, beugte sie sich vorsichtig zur Seite und beobachtete misstrauisch diese fremde Gestalt auf der Bank. Genau in diesem Augenblick hielt das Mädchen mit Lesen inne und drehte sich um. Als sie niemanden hinter sich sah, schüttelte sie den Kopf und widmete sich wieder der Lektüre.

Alexas Gedanken schlugen Purzelbäume. Sollte dieses Mädchen da vor ihr wirklich – wirklich und wahrhaftig eine Hexenjägerin sein?

Sie stöhnte leise auf. Wenn sie das war, und zwei Mal fiele sie ganz bestimmt nicht auf die Hexenjäger herein, musste diese Person da gebannt werden, damit sie keine Gefahr mehr darstellte. Und zwar, bevor Schaden angerichtet werden konnte.

Sie streckte einen Arm aus und nuschelte: „Schlangenei und Rattenhirn, heb dich fort, du Jägerin.“

Die Hexenjägerin stand plötzlich auf und machte sich davon.

Alexa runzelte die Stirn. Das war nicht der Sinn ihres Zaubers. Dass die Hexenjägerin fort war, war schon ganz richtig, aber sie sollte sich in Luft auflösen. Nun sah Alexa sie zwar davonrennen wie ein zweibeiniger Hase, aber damit war ihr Problem nicht gelöst.

Nun, was blieb ihr anderes übrig: Sie schlich der Hexenjägerin nach. Da diese es sehr eilig hatte, musste sich Alexa ihren weit ausholenden Schritten anpassen. Und jedes Mal, wenn die andere sich umdrehte und prüfend zurückblickte, schnippte sie sich hinter einen Baum oder einen Busch, bis sie eine Stimme sie erstarren ließ.

„Hey!“ Verärgert musterte sie ein alter Mann, der unter mehreren Lagen Zeitungspapier geschlafen hatte. „Mach dich dünne!“

„Verzeih, guter Mann“, entschuldigte sich Alexa sofort und stieg von ihm herunter. „Ich habe dich nicht gesehen.“

„Hast wohl keine Augen im Kopp, was? Ich liege immer hier.“

„Ich hatte meinen Blick in die Ferne gerichtet“, antwortete Alexa pflichtschuldigst und suchte die Umgebung ab. Aber das Mädchen mit den Gläsern auf der Nase war fort.

„Dann pass das nächste Mal besser auf“, grunzte der Alte und schloss wieder die Augen.

Alexa ärgerte sich über ihre Unvorsichtigkeit. Sie hätte es besser wissen müssen. Überall lauerten die Gefahren. Nun war die Hexenjägerin verschwunden, und sie hatte keine Möglichkeit mehr, sie zu bannen. Aber es war vordringlich, sie zu verhexen, sonst würde erneuter Schaden auf sie zukommen.

Hastig schaute sie sich um, aber nein … sie war wirklich weg.

DONG-DONG-DONG.

Das tief tönende Läuten einer Glocke lenkte sie ab. Gespannt lauschte sie dem rasselnden Brummen und den dumpfen Schlägen, die auf sie zukamen, konnte aber nicht herausfinden, um was es sich handelte. Nichts von dem klang nach Pferd oder Wagen, nach Blöken von Schafen oder Scharren von Hufen. Waren das Schwerthiebe? Möglicherweise ein Kampf? Oder waren das die Tatzen des Drachen, die sich in die Erde gruben? Sie bekam eine Gänsehaut. Ängstlich duckte sie sich hinter eine Hecke und hielt den Atem an.

Und diese Gerüche! Abscheuliche Gerüche, die sie noch nie zuvor gerochen hatte. Konnte es möglich sein, dass die Geschichte von dem Wilden Heer doch stimmte? Dass die Wilden Reiter umherzogen, um sich Menschen zu holen? Für ihren Kampf, dem man nicht entfliehen konnte?

Alexa warf sich auf den Boden. Jedes Kind in ihrem Dorf wusste, dass man sich hinwerfen musste, um dem Wilden Heer zu entgehen. Nach einer Weile wurde es ihr jedoch langweilig, toter Regenwurm zu spielen. Gebückt wie ein Hühnerdieb trippelte sie von Busch zu Busch, bis sich ein spitzer Finger zwischen ihre Schulterblätter bohrte. Sie drehte sich nach dem Finger um und sah sich unvermittelt, Nasenspitze an Nasenspitze, einem verschrumpelten Gesichtchen gegenüber, das ihr freundlich zulächelte.

„Mädchen, wenn du einem dringenden Bedürfnis nachgehen musst, dann findest du dort die Toiletten.“ Die Alte unterstrich ihre Worte, indem sie Alexa am Arm nahm, ihn in eine andere Richtung drehte und mit dem ausgestreckten Finger auf ein kleines, viereckiges Häuschen zeigte. „Aber hier kannst du nicht, auf gar keinen Fall, das gehört sich nicht, weißt du.“ Wasserhelle Augen blickten sie aufmerksam an, und Alexa nickte stumm.

Wieder hörte man die Glocke: DONG-DONG.

„Ich muss aber eigentlich dahin“, wollte Alexa erklären. Sie zeigte mit ihrem Finger Richtung Geläut, und die alte Frau verstand sofort.

„Aber ja, natürlich, du musst in die Schule. Dann beeil dich, Mädchen, du kommst sonst zu spät.“

Alexa nickte erleichtert. „Schule. Gewiss. Das ist mein Begehr.“ Und ehe die Alte etwas erwidern konnte, war Alexa bereits verschwunden.

Es war still geworden. Die Schulglocke hatte ihre Arbeit eingestellt. Alexa stand vor einem großen, grauen Haus und betrachtete es eingehend. Die Figuren über dem Portal erinnerten sie ein wenig an die Kirche in Salzbrunne, aber sonst gab es keine Ähnlichkeiten zwischen beiden Gebäuden. Wo war sie eigentlich? In ihrem Dorf hatte es nie solch ein Haus gegeben. So groß und so breit und so – mächtig. Sie setzte sich auf eine Bank unter einem Baum und entschied, gründlich nachzudenken, während sie auf die Hexenjägerin wartete. Mit dem Rückkehrzauber konnte sie sie dazu zwingen, sich ihr zu zeigen. Aber das würde eine gewisse Gefahr heraufbeschwören: Die Hexenjägerin könnte auf sie aufmerksam werden und sie bannen.

Alexa wiegte ihren Kopf hin und her und entschied, der drohenden Gefahr ins Auge zu blicken.

Leise schnurrte sie: „Wirbelsturm und Sommerregen, Kugelblitz und Hagelschlag, wenn ich will, sollst du dich regen und du kommst, da ich es sag.“

Sie wartete.

Und wartete.

Sommerspross und Rattenwanze, Läusemist und Ziegenschwanze, meine Macht ruft dich herbei, eins und zwei und hexendrei.“

Nichts.

Es blieb still.

Keine Menschenseele weit und breit. Vor der Schultür tat sich nichts. Auf der Straße davor nicht, und die Wege und die Flächen bis zum Weiher breiteten sich wie ausgestorben vor ihr aus. Ob gerade die Pest wütete? So leer sah es nur in den Dörfern aus, die der Hauch des Todes durchweht hatte. Entsetzt sprang sie auf. Die Pest? Das war kein Spaß, wenn hier wirklich Meister Schnitter, der Sensenmann, eine blutige Ernte einbrachte.

Sie lief zum Weiher, sah dort die Enten gründeln, beobachtete die Tauben, die gurrend umhertippelten, und fand alles zwar unbelebt, aber nicht bedrückend. Es war ein ruhiger Ort, aber sicherlich kein gefährlicher.

Ein Hündchen sprang plötzlich an ihr hoch.

Alexa bückte sich, um es zu streicheln. „Du bist aber ein liebes Hündchen.“

„Ja, das ist er wohl, nur gehorchen tut er nicht, der kleine Struppi.“ Die Frau, die neben Alexa stand, war kaum größer als das Mädchen. „Er läuft mir immer davon.“

„Oh, da kann ich dir einen Ratschlag erteilen“, erwiderte Alexa freundlich. „Wenn du ihn rufst und er kommt nicht, knurrst du ihn an und sprichst: ‘Mäusewind und Bienenstich, gehorchst du nicht, dann beiß ich dich!’

Die Frau brach in schallendes Gelächter aus. „Wie reizend! Vielleicht sollte ich meinen Struppi wirklich mal anknurren und ein wenig beißen. Vielen Dank für den Tipp.“ Sie lachte noch immer, als sie sich mit ihrem Hund entfernte.

„Nicht der Rede wert, es war mir eine Ehre, dir geholfen zu haben“, murmelte Alexa.

Mehr und mehr Menschen schienen nun die Wege zu bevölkern, um die wärmenden Strahlen der Sonne zu genießen. Sie gingen die grauen Wege entlang, sprachen miteinander und lachten. Sie schienen guter Dinge zu sein, niemand von ihnen wirkte böse oder gefährlich, und dennoch wusste Alexa, dass es nicht ihr Zuhause war.

Die Hexenjägerin war nicht wieder erschienen, auch wenn Alexa den Rückkehrzauber mehrfach gewirkt hatte. Als sie die Arme für eine weitere Beschwörung hob, öffnete sich das Schulportal, und die Hexenjägerin erschien. Sie war allein.

„Los geht’s!“ murmelte Alexa. „Dann war mein Rückkehrzauber doch noch erfolgreich.“

Alexa und das Zauberbuch

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