Читать книгу Loverboy - Astrid Seehaus - Страница 12
Erfurt - zwölf Stunden früher - nachts
ОглавлениеDas Arschloch war ihm doch tatsächlich entwischt. Carel konnte nicht fassen, dass ihm das passiert war. So ein Fehler! Seit dem ersten Kontakt mit Zascha versuchte er, an ihm dranzubleiben. Er begleitete ihn zum Abkassieren in die Zimmerbordelle, lungerte mit ihm in diversen Cafés und Bars herum, besuchte Vorstellungen von irgendwelchen Schauspielgruppen, ließ sich sogar zu Schulveranstaltungen mitschleppen, bis er an akutem Schlafmangel litt. Und dennoch schaffte es Zascha immer wieder zu entwischen, und niemand wusste, wo er sich aufhielt.
Auch wenn Zascha die Veranstaltungen nutzte, um Mädchen kennenzulernen – je jünger, desto besser –, nahm Carel ihm das Interesse am Theater ab. Irgendwie blieb Zascha undurchschaubar. Auf der einen Seite teilte er die Mädchen in „verführbar“ und „nicht verführbar“ ein. Er bewertete sie als „gute“ und „schlechte“ Ware, und bewies damit seine abgrundtiefe Bösartigkeit. Auf der anderen Seite hatte er einen Sinn für Kultur, kannte die aufgeführten Stücke, die sie sich gemeinsam ansahen, bis ins kleinste Detail. Anspruchsvolle Bühnenfassungen. Theaterstücke, von denen Carel noch nie gehört hatte. Seitdem Carel im Anschluss an das Desaster mit dem Vergewaltigungsvideo Zascha bis zu dessen Wohnung gefolgt war, um sich zähneknirschend zu entschuldigen, hatte sich sein Boss wieder zutraulich gezeigt und redete mit ihm. Nach der Aussöhnung unter Männern, besiegelt mit einem Bier, waren sie stundenlang herumgefahren. In Gotha hatte Zascha sich ziemlich schnell zu langweilen begonnen, und so waren sie nach Weimar gebrettert. Dort kannte Zascha eine Studentengruppe, die Theater spielte. Sie hatten sich deren neuestes Stück angesehen, das Carel nicht verstanden, Zascha aber zu Begeisterungsstürmen hingerissen hatte. Auf der Rückfahrt hatte Carel Zaschas Ausführungen, wie man das Stück noch hätte spielen oder interpretieren können, stumm über sich ergehen lassen. Er hatte kein Wort davon kapiert. Er hatte doch noch nicht einmal das Stück verstanden, wie hätte er da fähig sein sollen, Zaschas wirre Variationen nachzuvollziehen? Als sie schließlich zurück in Erfurt gewesen waren, hatte ihm Zascha einen Botengang aufgedrückt. Carel hatte alles versucht, diesen Auftrag abzulehnen. Er war sogar so weit gegangen, Zascha in ein Gespräch über Schauspielerei zu verwickeln. Dabei hatte ihm die Angst im Nacken gesessen, dass er sich mit seinem übertriebenen Eifer verraten könnte. Doch Zascha hatte seine Einwände vom Tisch gewischt und die Crystallieferung telefonisch angekündigt. Ihm war nichts anderes übrig geblieben, als ihn allein zu lassen, um zu liefern.
Und jetzt war der Vogel ausgeflogen.
Carel stand im Schatten eines Hauseingangs und beobachtete die gegenüberliegenden Fenster, hinter denen er Zaschas Wohnung vermutete. Er tätigte mehrere Anrufe, die ergebnislos blieben. Niemand aus der Szene konnte oder wollte ihm sagen, wo Zascha steckte. Es half nichts, er musste über die aktuelle Situation Meldung machen. Einen Moment lang starrte er auf das Smartphone in seiner Hand und verfluchte sich. Er wollte nicht anrufen und tat es doch. Auf keinen Fall würde er zugeben, dass er einen Fehler gemacht hatte.
Während es auf der anderen Seite klingelte, rang er mit sich, spielte Möglichkeiten durch, überlegte, ob er auflegen sollte. Das Gespräch nicht zu führen bedeutete, nicht zugeben zu müssen, dass ihm Zascha entwischt war. Am liebsten hätte er die Augen davor verschlossen und so getan, als ob nichts passiert wäre. Aber es ließ sich nicht leugnen. Zascha musste ihm auf die Schliche gekommen sein.
Auf der anderen Seite meldete sich eine Stimme. Ungeduldig und kurz angebunden. Carel hasste es, wenn sie kurz angebunden klang. Diese Situation zementierte geradezu sein Gefühl der Unzulänglichkeit.
„Ich habe ihn verloren“, hörte er sich verzweifelt flüstern.
Zu verzweifelt, wie er fand, sodass der anschließende Satz auf seinen Lippen erstarb und er es vorzog, schweigend zuzuhören. Das Gespräch endete mit einem knappen Befehl.
Genervt kehrte Carel zum Auto zurück, einer älteren Studentenkarre mit diversen Aufklebern: „Sponsored By Papa“. Dass er nicht lachte. Den Mercedes hatte er kurzfristig gegen diese „Leihgabe“ eingetauscht.
„Bleib dran! Bleib dran!“, wiederholte er die letzten Worte des Telefonats. Wussten sie überhaupt, dass er seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen hatte.
Carel stieg ein und deckte sich mit seiner Jacke zu. Zaschas Haus im Blick. Den Abstecher zu seiner Unterkunft – ein armseliges Zimmer, das ihm Zascha besorgt hatte, nicht ohne Miete für dieses Loch zu kassieren – konnte er vergessen. Dort hätte er zwar mal wieder richtig ausschlafen können, aber der Befehl lautete: auf Zascha zu warten und dann an ihm dran zu bleiben.
Er legte sein Telefon in greifbare Nähe – vielleicht würde dieser elende Mistkerl von unterwegs aus anrufen – und ging verschiedene Möglichkeiten durch: Was hatte Zascha vor? Wo könnte er sein? Hatte er etwas eingeworfen?
Überwältigt von schier unglaublicher Müdigkeit schlief Carel ein, noch ehe er über eine Antwort auf diese Fragen auch nur nachdenken konnte.
„Ach du Scheiße!“
Er war doch tatsächlich eingenickt. Verdammt!
Fluchend starrte Carel auf die Uhr am Armaturenbrett und versuchte abzuschätzen, wie lange er geschlafen hatte.
Sein Blick streifte den Eingang des Hauses, das er eigentlich hätte beobachten müssen. Er reckte den Hals, um zu überprüfen, ob irgendwo auf einer Etage Licht brannte, und rieb sich mit den Händen hart über die Wangen. Hinter den Fenstern war es dunkel. War Zascha in der Zwischenzeit überhaupt zurückgekommen? Und wenn ja, sollte er das überprüfen, indem er die Wohnungen durchklingelte? Würde Zascha ihm überhaupt öffnen oder es vorziehen, die Klingel zu ignorieren?
Carel verwarf seine Idee gleich wieder und überlegte, was zu tun übrig blieb. Wenn nirgendwo Licht brannte, war Zascha vielleicht noch nicht zurückgekommen. Oder er war da gewesen und schon wieder weg? Oh Mann! Das ließe sich dann wirklich nicht mehr erklären, wenn ihm der Kerl in derselben Nacht ein zweites Mal entwischt wäre.
Er kurbelte das Fenster herunter. Die nächtliche Kälte vertrieb die letzten Reste von Müdigkeit. Als er aussteigen wollte, um sich die eingeschlafenen Beine zu vertreten, sah er Zaschas Subaru am Ende der Straße einbiegen. Er konnte sein Glück kaum fassen. Regungslos blieb Carel im Auto und beobachtete, wie Zascha ausstieg und das Haus betrat. Befriedigt sah er, wie im dritten Stock rechts das Licht anging. Es dauerte keine Minute, bis Zascha mit einem Stück weißem Stoff in der Hand zurückkehrte und in den Subaru sprang. Ganz eindeutig hatte er etwas vor.
Mit Aufheulen wurde der Motor gestartet, und Zascha brauste davon. Mit wohldosiertem Abstand, so dass Zascha ihn nicht bemerkte, er ihn aber umgekehrt nicht aus den Augen verlor, folgte Carel ihm in die Krämpfervorstadt. Vor einem leer stehenden Mietshaus, nicht weit vom Güterbahnhof, hielt der Subaru, und das gleiche Spielchen begann von vorn: Carel wartete von Neuem, während Zascha in einem dunklen Hauseingang verschwand. Dieses Mal kehrte er mit einer jungen Frau zurück, die wie eine Puppe in seinen Armen lag. Das dunkle Haar hob sich von ihrem weißen Kleid ab und fiel in glänzenden Kaskaden herab. Carel konnte aus dieser Entfernung nicht einschätzen, ob das Mädchen schlief oder womöglich bewusstlos war. Um das herauszufinden, verließ er den Wagen und schlich zwischen den parkenden Autos näher heran. Dabei hoffte er, dass Zascha ihn nicht entdecken würde. Doch der war mit dem Mädchen beschäftigt, das er umständlich auf den Beifahrersitz setzte.
Ehe Carel jedoch irgendetwas ausmachen konnte, saß Zascha schon wieder hinter dem Lenkrad und rauschte davon.
„So eine Scheißnacht“, presste Carel durch die Zähne hervor und hieb wütend auf das Dach des Fahrzeugs ein, hinter dem er sich vor Zascha versteckt hatte. „Was hat dieses Arschloch denn jetzt schon wieder angestellt?“
Carel stürzte zurück zu seinem Wagen und folgte Zascha. Zwei Querstraßen weiter hatte er ihn eingeholt und fingerte nach seinem Smartphone. Blind tippte er auf dem Display herum und wartete, bis sich am anderen Ende jemand meldete.
„Ich bin dran. Er nimmt die Schnellstraße Richtung Norden. Will vermutlich auf die Autobahn … Mit einem Mädchen … Nein“, stieß Carel atemlos hervor. Er lauschte, wiederholte, gab eine Adresse durch und sagte: „Wenn ich das wüsste. Ich kann jetzt nicht, das musst du tun.“
Er beendete das Gespräch und trat das Gaspedal durch. Der Subaru drehte auf und erst kurz vor dem Abzweig auf die A 71 war er wieder näher an ihm dran. Zascha fuhr, als ob der Teufel hinter ihm her wäre, und wieder hegte Carel die Befürchtung, dass dieser Mistbock etwas ahnte.
Als Carel auf die Ausfahrt Mittelhausen zusteuerte, sah er links die Lichter der Stadt. Er verließ die Autobahn und glaubte, es ginge zurück zur Innenstadt, er wäre wieder einer von Zaschas Launen ausgesetzt, stundenlang herumzufahren, auf der Suche nach dem nächsten Kick. Aber dieses Mal wohl kaum mit einem Mädchen, das bewusstlos war.
Carel vergrößerte den Abstand, um zu vermeiden, erkannt zu werden. Und verlor den Subaru prompt aus den Augen.
„Nicht schon wieder!“, brüllte er völlig genervt.
Die durchgemachten Nächte forderten ihren Tribut, er konnte nicht mehr klar denken. Ihm entglitt die Kontrolle. Mit einem Ruck brachte er den Wagen zum Stehen, riss die Tür auf und sprang raus. Er sah sich um.
Wo verdammt war er nur hin?
Die von der Autobahn zerschnittenen Äcker verloren sich im Dunkel. Die quaderförmigen Gebäude der Gewerbegebiete, angestrahlt durch die Straßenbeleuchtung, hoben sich vom Nachthimmel ab. Was wollte Zascha hier?
Er musste sich zusammenreißen. Er musste nachdenken. Man verließ sich auf ihn. Zascha war seine Aufgabe, und nun war ihm ein weiterer Fehler unterlaufen. Carel presste seine Fingerkuppen gegen die Schläfen, dass es schon schmerzte.
„Was geht in Zascha vor? Versuch es, du Idiot! Was geht in diesem Verrückten vor? Was? Denk nach, Carolus! Denk nach!“
Die Erkenntnis kam so schlagartig, dass er sich vor Übelkeit krümmte.
Das Mädchen hatte nicht geschlafen. Sie war auch nicht bewusstlos. Sie war tot. Und nun würde Zascha versuchen, die Leiche zu beseitigen. Natürlich würde er das. Es war Zascha, um den es ging, und der war zu allem fähig. Der würde die Leiche beseitigen.
Carel stürzte zurück zum Auto. Er war sich sicher. Zascha würde nicht in die Stadt fahren. Nicht mit einem Mädchen, das tot war. Noch nicht einmal Zascha war so irre und fern der Realität. Aber was hatte er mit ihr gemacht? Was hatte das Schwein angestellt?
Irgendwo in dieser Umgebung musste Zascha eine Stelle kennen, wo er eine Leiche entsorgen konnte, ohne entdeckt zu werden. Irgendwo hier am nördlichen Stadtrand. Carel zermarterte sich das Hirn, was Zascha ihm einmal in zugekokstem Zustand, nicht mehr ganz Herr seiner Zunge, zugeraunt hatte. Der beste Platz, um eine Leiche loszuwerden, sei eine Stelle im Norden. Dort kenne er einen Ort, wo sich nur noch herrenlose Hunde verkröchen – und Ratten. Da gebe es nichts, außer Dreck. „Dreck gehört zu Dreck“, hatte Zascha gelallt, und Carel hatte nur gedacht: Was für ein affiges Gequatsche! Doch Zascha hatte nicht aufgehört mit dem Gebrabbel. Der Müll stapele sich bis zur Dachrinne und niemals seien dort Menschen anzutreffen, außer deren Geister. Dabei hatte Zascha gelacht, und Carel hatte es als Fantasie eines durchgeknallten Junkies abgetan.
Jetzt fragte er sich, ob Zascha einen Friedhof gemeint haben könnte, verwarf den Gedanken jedoch. Die Erwähnung von Geistern war wieder mal nur Zaschas Hang zur Theatralik zu verdanken gewesen und der Müll passte nicht ins Bild. Es musste sich um einen anderen Platz handeln.
Carel kannte den Norden Erfurts nicht. Hierher war Zascha nie mit ihm gefahren. Warum auch? Hier gab es nichts außer Feldern und Gewerbe. Intuitiv nahm er die Straße Richtung Westen. Die Gegend wirkte ruhig, fast wie ausgestorben. Auch eine pulsierende Stadt hatte ihre stillen Momente. Wenn er an den Seitenstraßen vorbeirollte, sah er nach links und rechts, in der Hoffnung, den schwarzen Subaru zu entdecken. In der Ferne hörte er die Autobahn. Ein aufgemotzter Trabi zog qualmend an ihm vorbei.
Als er sich den Bahngleisen näherte, war die Schranke unten. Vor ihm knatterte der Trabi, auf der anderen Seite der Gleise sah er weitere Fahrzeuge geduldig warten. Er stellte sich die Frage, ob Zascha darunter wäre. Bei dem grellen Scheinwerferlicht konnte er nichts erkennen, und so bog er spontan rechts in einen schmalen Weg ein. Das Abblendlicht schaltete er aus und rollte langsam vorwärts. Es war nur eine kurze Sackgasse, wie er bald erkannte, und die einzige Beleuchtung, die es gab, hatte er nach wenigen Metern passiert. Nur mit Mühe gelang es ihm, die Schlaglöcher zu umfahren, zumal Wasser sie in Pfützen unabsehbarer Tiefe verwandelt hatte. Die schwachen Lichtreflexe auf dem Wasser halfen kaum, um etwas zu erkennen. Er parkte schließlich hinter dornigem Gestrüpp.
Von Zaschas Auto fehlte jede Spur, und trotzdem war Carel sich sicher, dass er in der Nähe war. Sein Gehirn war auf Zascha-Modus eingestellt. Er fühlte sich in das unrhythmische Ticken eines Junkies ein. Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, checkte er die Umgebung. Er nahm alles in sich auf: den Wind, die Nachtgeräusche, das leichte Nieseln, das sein Gesicht kitzelte und ihm eine Gänsehaut verursachte. Die Anspannung ließ ihn schaudern. Vielleicht war es aber auch Angst, belebt durch die zahllosen Horrorfilme, denen er sich als Jugendlicher ausgesetzt hatte.
Vor ihm zeichneten sich im schwachen Licht der nahen Gleisfeldleuchten die Umrisse mehrerer Baracken ab. Wenn Zascha eine Leiche loswerden wollte, dann war das der ideale Platz. Aber es würde für ihn schwer werden, Zascha und das tote Mädchen zu finden. Dieses Gelände sah aus wie die Hölle, wie ein Schlachtfeld, auf dem Giganten einen Kampf auf Leben und Tod ausgefochten hatten. So würde es Zascha ausdrücken. Carel sah es nüchterner: Die Gebäude waren Ruinen. Die Dächer waren eingestürzt, die Wände eingefallen, überall lag Bauschutt vermischt mit dem Unrat vieler Jahre. Vom Sperrmüll bis zu unzähligen Müllsäcken, aufgerissen und zerfetzt, der Inhalt vom Wind verteilt – hier war alles abgeladen worden, was man nicht mehr brauchte. Ein ideales Versteck für Dinge oder Menschen, die verschwinden sollten. Bis jemand sich ein Herz fassen, das Grundstück übernehmen und aufräumen würde. Nur wann würde das sein? Niemand schien Interesse an diesem heruntergekommenen Gelände zu haben.
Nur mit Mühe erkannte Carel Umrisse von Maschinen und Containern, die Regen und Wind ausgesetzt waren und vermutlich schon seit Jahren vor sich hin rosteten. Maschinen, die einst einen Wert besessen hatten. Fässer waren offensichtlich für einen Abtransport zusammengestellt und dann doch nicht abgeholt worden. Der Wind fuhr unter eine Kunststofffolie, und das plötzliche Knattern ließ Carel zusammenfahren.
Hatte er sich vielleicht doch geirrt? War es nicht Zaschas krankes Hirn, das ihn aufrieb, sondern sein eigenes? Warum war er sich so sicher, dass das Mädchen tot war? Vielleicht hatte sie wirklich geschlafen. Doch was, wenn sie bewusstlos war? Was würde Zascha dann mit ihr tun?
Carel rieb sich die Augen. Diese Müdigkeit nervte ihn. Sie machte ihn unkonzentriert. Ratlos lauschte er in die Nacht hinein. Der Wind hatte zugenommen, und es war schwer, etwas in diesem böigen Rauschen auszumachen. Weit entfernt hörte er das zornige Hupen eines Lastwagens, etwas flatterte neben ihm auf. Erschrocken fuhr er herum und versuchte seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen, als er einen Nachtvogel davonfliegen sah. Das nahe Aufheulen eines Motors ließ ihn auf einmal hoffen. Er stolperte um ein Häuschen herum, in dem vielleicht einst das Büro untergebracht gewesen war, und erspähte einen rollenden Schatten, der sich vom Gelände entfernte.
Noch einmal war der Zufall in dieser Nacht Carels bester Freund. Das Mädchen war in seiner Nähe. Er spürte es. Er spürte es so sehr, als ob jemand ihn an die Hand nähme und zu ihm führte. Als Carel sich langsam vortastete, fiel er über eine räudige Katze, die ihm aufkreischend die Krallen in den Knöchel hieb. Fluchend rieb er sich die schmerzende Stelle, und dann sah er sie. Vielmehr zuerst das Kleid. Zascha hatte sich nicht die Mühe gemacht, das Mädchen zu verstecken. In dem weißen Kleid wirkte es auf den schwarzen Müllsäcken wie die umgefallene Marzipanfigur einer Hochzeitstorte. Er musste sich sehr sicher gewesen sein, dass niemand diese Hölle betreten würde. Wer kam auch schon freiwillig hierher?
Nun, Zascha hatte sich getäuscht, Carel war hier, und das wiederum bedeutete, dass Zascha keine Ahnung hatte, dass er verfolgt worden war.
Carel suchte mit zittrigen Fingern den Puls des Mädchens. Seine Haut war weich und samten. Aber es war kein Leben auszumachen. Er war zu spät gekommen. Zu spät. Wie profan das doch klang. Man kam zu spät zu einer Verabredung. Zu spät zum Unterricht. Man verpasste den Bus, weil man zu spät war. Aber zu spät zu sein, um das Leben eines Menschen zu retten? Das war so … unglaublich banal. Er ballte die Fäuste und wusste eines: Dieses Schwein würde ihm nicht so einfach davonkommen!