Читать книгу Eine Milliarde für Süderlenau - Astrid Wenke - Страница 5

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Der Wille einer einzelnen Frau gegen die rollenden Räder der rasenden Maschinerie – so war das gewesen.

Ich saß mit Silvia am Bahnhofsvorplatz von Süderlenau auf der Terrasse unseres Stammcafés ATEMPAUSE, als es mit einem Mal gewaltig kreischte und quietschte. Aufstöhnend presste ich die Hände auf die Ohren. Lärm ist mir eine Qual.

Der Zug, der mit seiner Vollbremsung die Geräusche verursachte, kam allmählich hinter dem Bahnhofsgebäude zum Stehen. Die runde Schnauze und einige Waggons in Fahrtrichtung lugten dahinter hervor – putzig, als wäre er ein lebendes Wesen, das versuchte, sich zu verstecken und der verdienten Strafe zu entgehen: Es war nicht vorgesehen, dass ein ICE in unserem unbedeutenden Süderlenau hielt.

Ich freute mich an dem Bild des ebenso aufsässigen wie beschämten Fahrzeugs. Auf meinem Milchkaffee lag noch Schaum, und während ich genüsslich löffelte, grinste ich in mich hinein.

»Jemand muss die Notbremse gezogen haben«, schlussfolgerte Silvia, der die Vorstellung eines ICEs mit freiem Willen fremd war. Nicht zum ersten Mal staunte ich, wie anders sich die Welt von ihrer nüchternen Warte her betrachtet darstellte, aber natürlich hatte sie recht. Wie immer.

Am Nebentisch hörte ich Britta reden. Sie hatte diese stählerne Stimme, die ich aus Millionen herausgehört hätte. Britta und ich kannten uns, solange ich denken konnte, auch wenn wir beide taten, als kennten wir uns nicht. Wir hatten uns wie üblich nicht gegrüßt, doch nun horchte ich, was sie zu sagen hatte.

»Wie sie es angekündigt hat. 11.23 Uhr!«

Es war eine abrupte und gnadenlose Konfrontation mit der Uhrzeit. Überhaupt ist Britta eine gnadenlose Person. Ich spürte Mutlosigkeit mein Blut verdicken, als würde jemand Grieß in kochende Milch einrühren: Nur noch zwanzig Minuten, dann ging es zurück in die Mühle.

Silvia hatte mir einmal erklärt, dass die Tretmühlen seit dem sechzehnten, siebzehnten Jahrhundert in Armenhäusern eingesetzt worden waren, um das bürgerliche Leistungsprinzip in der Schicht der Bettler und Landstreicher durchzusetzen. In einem berüchtigten Arbeitshaus in Amsterdam, so Silvia, waren Arbeitsunwillige in einen Raum gesperrt worden, in den ein leichter steter Strom Wasser floss. Wer sich in diesem Raum nicht überwinden konnte, seinen adeligen Lebensstil abzulegen und unermüdlich das Rad zu treten, welches die Pumpe antrieb, ertrank.

Zugegeben, so schlimm stand es nicht um mich und meinen Arbeitsantrieb.

Ich lugte zu Silvia hinüber. Sie lebte noch jenseits der tickenden Uhr, schien Britta nicht gehört zu haben, wohl weil sie wie ein Luchs zum Bahnhof hinüberstarrte. Der ICE fuhr an, jaulte einmal klagend auf, bevor er sich routiniert säuselnd mit großer Geschwindigkeit entfernte. Währenddessen trat eine kleine Frau mit zögerlichen Schritten auf den Platz. Sie zog einen schwarzen Rollkoffer hinter sich her – neben ihr ein Bahnbeamter in Uniform, der in jeder Hand einen Koffer trug.

Mein Herz geriet ins Stolpern, nicht gefährlich, so hatte mir die Ärztin versichert, aber doch unangenehm und angsterregend drängten sich die Extraschläge, Extrasystolen, in seinen Rhythmus: Margot Krause war zurück!

»Dürrenmatt«, stellte Silvia fest, »Der Besuch der alten Dame.« Ich warf einen zweiten Blick hinüber zu dem Pärchen. Er hatte die Koffer abgestellt. Sie stand aufrecht, den Kopf erhoben, den Arm in seinen gehakt.

»Natürlich«, sagte ich, die Hand an mein Herz gepresst, »wie recht du hast.«

Ich war mir sicher, dass Margot die Situation genoss: war ein enormer Auftritt, das Ganze.

Britta erhob sich am Nebentisch.

»Das wird sie Tausende kosten«, bemerkte Wolfgang, der ebenfalls aufstand.

»Sie hat’s ja«, bügelte Britta ihn ab. »Ich frage mich allerdings, warum sie sich derart in Szene setzt, statt den Regionalzug zu nehmen, wie sonst. Sie hat etwas vor, dafür garantiere ich.«

Brittas flinke Beine transportierten ihren kompakten Körper zielstrebig über den Platz hinüber zu Margot, die dort stand, gelassen, so schien es, und mit nichts beschäftigt als zu atmen.

Es hat mich immer schon fasziniert, wie Britta sich bewegte – das genaue Gegenteil zu meiner Art, mich durchs Leben treiben zu lassen. Wolfgang folgte ihr wie gewöhnlich, groß, schlank, ruhig. Drüben Händedrücken. Wolfgang nahm die Koffer.

Nun fragte ich mich ebenfalls, was Margot zu uns trieb. Sie hatte sich seit Jahren nicht blicken lassen. So lange ich mich zurückerinnere, ist es so gewesen: Alle Jubeljahre tauchte Margot auf und versetzte die Stadt in helle Aufregung. Grund dafür war ihr Geld. Margot war reich, stinkreich, wie man so sagt. Bei jedem ihrer Besuche ließ sie einen guten Batzen ihres Vermögens in der Stadt, begleitet von genauen Anweisungen, was damit zu tun wäre.

Britta versuchte regelmäßig, das Geld in die von ihr gewünschten Kanäle zu lenken. Sie mochte Margot nicht, verabscheute sie geradezu. Oft genug hatte ich sie mit verächtlich herabgezogenen Mundwinkeln über ›die Alte‹ herziehen hören. Trotzdem hofierte Britta Margot, holte sie wie heute von der Bahn ab, um sie zu Margots Süderlenauer Wohnung chauffieren zu lassen. Silvia zuckte die Achseln, wenn ich mich darüber ereiferte. Das sei eben die Macht des Geldes. Mag sein, aber warum spielte Margot mit? Warum informierte sie von allen Menschen in Süderlenau ausgerechnet Britta über ihre Besuchspläne? Das kratzte an mir. Ich hatte zuweilen richtige Striemen an den Unterarmen. Silvia hatte versucht, mich zu beruhigen: Letzten Endes bliebe Margot unbestechlich; sie investierte ihr Geld, wie sie es für richtig hielte. Das stimmte allerdings. Margot unterstützte vor allem die Kunst und die Musik. Mir kam das entgegen, denn ich bin die Musiklehrerin von Süderlenau.

Die Liebe zur Musik ist wohl der Grund gewesen, weshalb es zwischen Margot und mir immer etwas Besonderes gegeben hat. Die Begegnungen mit Margot gehören zu meinen eindrücklichsten Kindheitserlebnissen. Wann immer sie sich in jenen Jahren in Süderlenau aufgehalten hat, hatte sie meine Schule besucht und mich aus dem Unterricht rufen lassen, um zu erfragen, wie das »musikalisch hochbegabte Kind« sich entwickelte.

»Man könnte meinen, sie fördere die Stadt nur deinetwegen«, meinte der Zahnarzt, der mein Vater war, und fragte mich: »Na, wie wäre das?«

Die Frau, die ich Mutter nannte, schnaubte verärgert und verließ geräuschvoll den Raum. Merkwürdig hatte ich das gefunden und verwirrend.

Auch an jenem Tag, an dem der ICE in Süderlenau hielt, war ich mir gewiss, dass Margot mir in den folgenden Tagen noch einmal und wie zufällig über den Weg laufen würde. Sie würde stehenbleiben und mir Fragen stellen. Sie würde mich ansehen und mir zuhören mit einem Interesse und einer Anteilnahme, die ich sonst nirgends erfuhr.

Ich saß in der Sonne eines warmen Herbsttages neben meiner Freundin Silvia im Café ATEMPAUSE, senkte den Kopf in beide Hände, legte ihn schief und ließ das Glück in meinen Körper. Ich lächelte.

Inzwischen hatte Wolfgang Margots Gepäck im Kofferraum einer Taxe verstaut. Formvollendet öffnete er die Beifahrertür, um die alte Dame einsteigen zu lassen. Dann duckte er sich zu Britta auf die Rückbank. Der Fahrer war derweil auf seinem Sitz kleben geblieben. Jedenfalls hatten wir nichts von ihm zu sehen bekommen. Ich stellte mir vor, wie er nun, während er die Kupplung kommen ließ, mürrisch Mund und Stirn verzog. Der Wagen wendete, fuhr wenig später an uns vorüber, und für einen Moment trafen mich Margots Augen, nachdenklich und interessiert, um mir gleich darauf zu entgleiten; die Taxe brauste weiter, nur noch die Hinterköpfe der Insassen waren zu sehen.

»Dieser Altersunterschied!«

Unter Silvias schriller Stimme zersprang das Bild von Margots ruhigem Blick.

Wenn nur diese Stimme nicht wäre – das hatte ich schon oft gedacht in dem Vierteljahrhundert, das ich mit Silvia befreundet war.

»Das kann auf Dauer nicht gutgehen.«

Dieses Gespräch gehörte zu unserem eingeübten Repertoire, zu dem ich widerwillig und gelangweilt meinen Text lieferte: »Immerhin sind sie seit vierzehn Jahren verheiratet.«

»Trotzdem – er sieht zu gut aus für sie.«

»Solange Britta Firmeneigentümerin ist und das Geschäft gut läuft, wird er bei ihr bleiben.«

Die Worte verließen ohne mein Zutun meinen Mund. Ich fragte mich zum wiederholten Male, was Silvia an der Ehe dieser Leute interessierte.

»Die Firma!« Silvia lachte auf. »Du solltest endlich anfangen, Zeitung zu lesen.«

Irritiert holte ich meine Augen aus der Ferne zurück und stellte auf Silvia scharf, die so unerwartet aus unserem üblichen Gesprächsverlauf ausgebrochen war.

»Novacrem steht vor dem Aus.«

Vergnügt nahm Silvia einen Schluck aus ihrer Tasse. Dann verzog sie den Mund und fügte hinzu: »Das behauptet zumindest Britta. Sie überlegt, das Werksgelände zu verkaufen und die Firma an einen anderen Ort zu verlegen, wo Arbeitskräfte billiger zu haben sind. Allerdings frage ich mich, warum sie öffentlich darüber räsoniert, statt es zu tun.«

»Novacrem verlässt Süderlenau!«

Silvia hörte das Entsetzen in meiner Stimme.

»Dich schockiert das. Das hätte ich mir denken können! Mach dir keine Sorgen, Katharina. Vermutlich handelt es sich um einen der Schachzüge von Britta, mit denen sie die Stadt unter Druck setzt.

Übrigens findet am Samstag eine große Kundgebung statt. ›Novacrem muss bleiben!‹ Die ganze Stadt ist aus dem Häuschen. Du solltest hingehen.«

Missbilligend sah sie mich an.

Silvia litt geradezu verzweifelt an dem Unrecht auf der Erde und an den Grausamkeiten der Menschen. Wenn Silvias Welt ein Puzzle war, so war »Gewalt« das Teilchen, das sich beim besten Willen nirgends einfügen ließ. Sie hatte früh vor der furchtbaren Frage gestanden, ob das Bild einer wahrhaft menschlichen, einer gewaltfreien Gesellschaft, wie sie es sich zum Trost erschaffen hatte, tatsächlich unmenschlich war, da es die Möglichkeiten der Menschen überstieg. Allerorten stellten Verbrechen gegen die Menschlichkeit Silvias Hoffnung in Frage, summierten sich zu der Behauptung, das Gewalttätige, die Verachtung und Erniedrigung von Menschen müsse als Bestandteil des Menschseins angenommen werden.

Um diesen Konflikt zu lösen, das hatte Silvia mir vor langer Zeit anvertraut, hatte sie Geschichte studiert. Irgendwo dort, zwischen den Ruinen untergegangener Städte, unter den Werkzeugen und Waffen aus Bronze und Stein, unter Moorleichen und den Skeletten von Wollnashörnern und Mammuts hoffte sie Klarheit zu finden über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten unserer Gattung. Inbegriff des Unmenschlichen war ihr die Fabrik in Süderlenau geworden.

Eben zu der Zeit, als Silvia vierundzwanzigjährig nach Süderlenau kam, um an der hiesigen Gesamtschule ihr Referendariat anzutreten, war Novacrem in die Schlagzeilen geraten. Das Mittel, um das es anno dazumal ging, hieß Fairytale, ein Hautaufheller, den Novacrem auf dem afrikanischen Markt vertrieb. In einer massiven Werbekampagne hatte Novacrem die Möglichkeit, zu Wohlstand und Erfolg zu gelangen, mit der Aufhellung der afrikanischen Haut verknüpft und war mit dieser Strategie vor allem in den größeren Städten Afrikas erfolgreich gewesen.

Der Wirkstoff von Fairytale war Hydrochinon, das die Bildung von Melanin und damit ebenso das Dunkeln der Haut wie den Schutz vor der UV-Strahlung der Sonne unterdrückte. In der Presse waren bald kritische Berichte erschienen und Fotos veröffentlicht worden: Nach der Anwendung des Mittels waren bei vielen Menschen schwere Hautverbrennungen aufgetreten. Schon nach einem knappen Jahr stellten Statistiken einen Zusammenhang zwischen der Verwendung von Fairytale und dem Auftreten von Hautkrebs fest.

»Es war nicht der Arzneimittelskandal an sich, der mich empörte«, sagte Silvia stets an dieser Stelle ihres Vortrags. »Aber sie haben jeden Zusammenhang zwischen den Erkrankungen und ihrem Mittel abgestritten, haben ihre Kampagne fortgeführt, haben weiter verkauft und weiter verdient.«

Ich hatte mich damals mit den Grausamkeiten der Welt noch nicht beschäftigt und sagte nichts weiter als ›Hmh‹.

Silvia war eine Zugezogene. Sie konnte nicht begreifen, was Novacrem für die meisten von uns in Süderlenau bedeutete. Ich liebte diese Fabrik! Wenn es eine Verbindung von Süderlenau in die Welt gab, dann war es Novacrem. Sogar der Bahnhof war nur gebaut worden, weil Novacrem darauf bestanden hatte. Von Süderlenau fuhr die Bahn nach Klaschnitz, von dort zur Landeshauptstadt und von dort ging es weiter in die Welt, nach Hamburg, Köln, München und Berlin.

Vom Balkon der zahnärztlichen Familienwohnung, in der ich aufwuchs, sah ich direkt zur Fabrik hinüber. Gelegentlich stiegen Schwaden von Wasserdampf auf, und zuweilen wehte ein süßer Duft zu mir herüber. Ich war sicher, dass in jenem eckigen Backsteinbau mit dem Flachdach ungewöhnliche, geradezu zauberhafte Dinge vor sich gingen. Es gab kein anderes Flachdach in Süderlenau. Die Fabrik war eine Geheimschachtel. Es lockte mich, sie aufzureißen und ihr Geheimnis zu enthüllen.

Gewaltige Fenster, von geschmiedeten Verstrebungen in eine Vielzahl von Rechtecken zergliedert, verführten zum Spionieren. Vier dieser Fenster reichten bis nah an den Boden. Darüber durchbrach eine weitere Fensterreihe die rote Hausmauer. Zwischen den inneren und den seitlichen Fenstern des beinahe quadratischen Gebäudes waren lange Backsteine eingefügt worden, die hervortraten und sich als Schmuckband bis zur Oberkante der zweiten Fensterreihe hinaufzogen. Diese Steine nutzte ich als Leiter. Ich weiß noch, wie ich mich festkrallte, den Körper stets dicht an der Mauer. Meine Füße tasteten nach Halt. Ich stemmte mich hoch, bis ich den Stein, an dem ich klammerte, loslassen musste, um nach dem nächsten Vorsprung zu greifen.

Am gefährlichsten war es, wenn ich oben angekommen war. Dann musste ich mich seitlich hinüberlehnen und hielt mich nur noch mit einer Hand an einem herausragenden Ziegel fest. Mein Herz pochte in wilder Erregung. Angst hatte ich nicht, denn in jenen Zeiten war ich unsterblich. Wenn schließlich der Blick durch das Fenster gelang, lag tief unter mir die gewaltige Maschinerie: große eiserne Räder, Stangen und Kolben, lange Transportbänder, die durch die Halle liefen. Dazwischen standen mehrere silbern glänzende riesenhafte Behälter. Mittendrin schoben Menschen Lastkarren über den Betonfußboden der Halle oder hantierten an den Bändern. Wie unbedeutend sie schienen gegenüber der Macht der Gerätschaft!

Die Sahne auf der ganzen Szenerie war die Musik. Das Quieken, Brummen und Summen der Maschinen, ungeordnet, ein wildes Gerede, dann wieder im gemeinsamen Rhythmus, aus dem sich die Stimme mal der einen, mal der anderen Maschine hervorhob.

Natürlich konnte ich das Ganze ebenso gut auf festem Boden stehend durch die unteren Fenster betrachten. Dann hatte ich sogar die Hände frei, um die Spiegelung der Sonne abzuschirmen. Der wahre Genuss blieb jedoch der Blick von oben, in fünf Metern Höhe an der Hauswand hängend, erkauft mit Anstrengung und Gefahr.

Es war eine große Enttäuschung, als ich erfuhr, dass Britta, jenes große Mädchen, das ich auf dem Spielplatz traf und später auf dem Schulhof, die Tochter des Besitzers von Novacrem war. Ich hatte mir nie vorgestellt, dass es eine Tochter des Besitzers geben könnte, aber wenn es sie gab, hätte sie eine Prinzessin sein müssen, zart und im rosa Kleid, umgeben von einem süßlichen Duft.

Britta war nichts davon, sie war grob und gemein und das insbesondere zu mir. Als ich in die Schule kam, sah ich sie gleich in meiner ersten Hofpause an einem Baum lehnen, als hätte sie auf mich gewartet. Ich weiß noch, wie ich sie vorsichtig anlächelte. Sie lächelte nicht zurück, sondern gab mir im Vorbeigehen einen kräftigen Tritt.

Ich erinnere mich heute noch an die Angst, die ich verspürte, sobald ich die Klinke an der Tür zum Schulhof herunterdrückte. Obwohl ich Britta seit jenem ersten Schultag aus dem Weg ging, erwischte sie mich wieder und wieder. Nicht dass sie mir nachstellte, das war ich ihr nicht wert – sie malträtierte mich beiläufig, wenn sich zufällig eine Gelegenheit bot. Einmal zeigte ich meiner Lehrerin die blauen Flecken an meinem Schienbein. Britta bekam reichlich Ärger. Danach hatte sie es bei verächtlichen Blicken belassen.

Silvia und ich konnten unseren Konflikt um Novacrem nicht lösen, das hatten wir nie gekonnt, und es war nun auch wirklich an der Zeit aufzubrechen. Wir atmeten tief – es half ja alles nichts – und standen auf.

Um die Schule noch rechtzeitig vor dem Klingeln zu erreichen, liefen wir im Sturmschritt los.

Ich eilte die Treppe hinauf in den dritten Stock. Die Kinder erwarteten mich fröhlich. Ich musste trotz allem lächeln, als ich ihre gespannten Gesichter sah. Ein kleiner Pulk sammelte sich um mich und drängelte: »Was machen wir heute, Frau Manthey?«

Thema ›Rhythmus‹: In Gedanken noch bei Novacrem ließ ich sie eine lebende Maschine bauen. Ein Kind begann: eine Bewegung und ein Geräusch. Das nächste Kind schloss sich mit einer weiteren Bewegung, einem zweiten Geräusch an. Es gab gemeinsame Rhythmen, allerdings ermutigte ich das Schräge, das dazwischenfuhr und aufrüttelte. Die Kinder mussten aufmerksam bleiben und horchen. Am Ende war es ein recht ordentliches Gekrähe und Geschnauf – und es war schön, denn es hatte Struktur und Sinn.

Der Lärm begann mit dem Pausengong: Geschnatter, Gekicher, Gerenne und Geschrei, Unordnung – Widerwille in meinem Ohr, der die Nerven bis in meinen Kopf hinein zucken ließ. Einige der Kinder schrillten wie Sirenen.

Ich war fehl am Platz, das wurde mir jeden Tag deutlicher. Ich sah mich selbst, wie ich die Ohren mit den Händen abschirmte und mich unter dem Geräuschpegel krümmte.

Auf dem Flur begegnete mir unser Rektor. Ich kannte seinen Vornamen, Burkhardt, doch ich nannte ihn Herrn Marx. Wenn ich an Burkhardt dachte, fielen mir seine leuchtenden Augen ein. Mit diesen Augen stand er auf den Gesamtkonferenzen vor uns, seinem Team, wie er sagte, und ließ uns an seinen Visionen von einer gesunden, anregenden Lernatmosphäre teilhaben. Meine Augen blieben stets matt. Ich hatte genug zu tun mit dem täglichen Überleben.

Silvia behauptete, Burkhardt und ich wären Seelenverwandte. Ich hätte ein ebensolches Leuchten, sobald meine Finger auf Klaviertasten lägen. Burkhardt schien ebenfalls eine Seelenverwandtschaft wahrgenommen zu haben. Mir war das von Anbeginn lästig gewesen, und ich hatte einige Kraft aufgewendet, um deutlich zu machen, dass ich keinen näheren Kontakt wünschte. Nicht einmal das hatte er mir übelgenommen.

»Katharina!«, strahlte er mich an. »Will sagen, Frau Manthey! Unsere Gönnerin, die alte Dame Krause, soll wieder in der Stadt sein. Nun kann es doch noch etwas werden mit dem Musikpavillon.«

Ich nickte höflich und distanziert im Vorübergehen. Nur wenige Meter trennten mich von meinem kleinen Kabuff. Noch einige schnelle Schritte, Tür auf, Tür zu, den Schlüssel umgedreht, aufatmen, Pause und Ruhe. Hierher wagte sich niemand. Die Kolleginnen saßen unten zusammen, wo sie Schulisches und Privates besprachen. Ich war nie dabei und wurde nicht vermisst. Einen Moment rutschte die Erkenntnis dick und schwer durch meine Adern. Ich schloss mich ein und schloss mich aus. Die Gemeinschaft der Menschen fand ohne mich statt. Wie oft ging mir ein Lied durch den Kopf und gab mir Worte für meine Gefühle und Gedanken.

»Wir sind ganz einfach anders als die Andern …«

Es waren die Anfangszeilen des Lila Liedes. Die erste deutsche Homosexuellenhymne fügte sich in den Maschinenrhythmus der vergangenen Unterrichtsstunde, und in meinem Kopf formte sich eine Ode an die Arbeit und die Verbindungen unter Menschen.

»Ich hätte Musikerin werden sollen«, nörgelte es in mir, »das wär’s gewesen.«

Ich hörte den Zahnarzt spotten, der mein Vater hatte sein sollen. »Dann willst du Noten essen und im Violinschlüssel wohnen.«

Das hört sich schön an, hatte ich gedacht.

Natürlich war es nicht so gemeint gewesen.

»Du willst wohl deiner Mutter nacheifern, aus allem ausbrechen, aber so was ist schwer, mein Kind!«

Er war verärgert gewesen. Ich hatte verwirrt meine Mutter angestarrt. Sie war doch Zahnärztin wie er! Mutter hatte die Lippen aufeinandergepresst und war meinem Blick ausgewichen. Das war wieder so etwas gewesen, das ich nicht verstanden hatte.

Ich hatte früh die Vermutung gehabt, dass ich nicht wirklich ihr Kind sein konnte, es gab Hinweise, sie verplapperten sich. Aber zugegeben hatten sie es nie. Ich zuckte die Achseln. Jedenfalls war ich dann Musiklehrerin geworden.

Ich bin ein ruhiger, zurückgezogener Mensch, dachte ich in meiner kleinen dunklen Kammer, völlig ungeeignet für diese Arbeit. Ich war schon immer ruhig gewesen, geradezu autistisch, und meine große Leidenschaft, die Musik, hatte die Kinder nie wirklich interessiert. Sie wollten Spaß – die Tiefe der Empfindungen entging ihnen. Was sollte ich auch groß erwarten. Es waren Kinder.

Seufzend ließ ich mich auf dem Klavierhocker zwischen den Trommeln nieder und pellte meine Apfelsine. Mein Blick fiel auf meine Bluse, und ich stellte fest, dass sie schlecht gebügelt war. Missbilligend schüttelte ich den Kopf.

Warum war ich nicht wie die anderen, saß dort bei ihnen und sprach über das Wetter, den Garten, den Haushalt, neue Anschaffungen und die mangelnde Anerkennung des Lehrerberufs?

»Weil ich nicht weiß, was ich mit ihnen reden soll«, murrte ich, »weil ich andere Probleme habe.«

Geldprobleme, Ärger mit dem Partner, Raten für ein Haus, das ich abbezahlte, ein schlechter Friseur – so was kannte ich nicht. Ich hatte nur wenige Probleme. Als ich sie zählte, kam ich auf genau fünf: mein Arbeitsleben, mein Sozialleben, mein Familienleben, mein Liebesleben und dass ich eigentlich gar keine Lust mehr hatte auf mich und mein Leben. Aber ich hing an beidem, und aus diesem Widerspruch ergab sich mein eigentliches Dilemma.

Es klingelte, gerade als sich die Tragik meines Seins wie ein Schlund vor mir auftat.

Ich riss mich zusammen; die Apfelsinenschale legte ich ordentlich in ein Regal. Ich sah in den Spiegel, der zu diesem Zweck an der Innenseite der Tür klebte, übte den entschiedenen Blick, der sich nach fünfundzwanzig Jahren Berufsleben noch immer nicht in meinen Augen verankert hatte, bevor ich aufschloss und in den Flur trat.

»Was haben Sie denn da drinnen gemacht?«, fragte Lisa aus der Sechsten. Sie hatte sich in einer Fensternische versteckt, um die Pause im Schulgebäude verbringen zu können. Ich antwortete nicht. Eine Treppe tiefer kamen mir die Kinder der 2b entgegengelaufen.

»Machen wir die Musikmassage? Bitte!«

Einige zupften an meinem Ärmel.

Ich bin ein ruhiger, zurückgezogener Mensch, dachte ich.

Als ich nach Hause kam, fühlte ich mich ausgelaugt. Doch kaum trat ich in die ersehnte Stille meiner Wohnung, da schlug mir die Einsamkeit entgegen. Zum Glück hatte ich noch immer den Rhythmus im Ohr, das half. Ich dachte an Amalia, die nichts hatte als ihren eigenen Atem, ihr Herz und die Bewegung der Planeten, und begriff, dass es schwer war.

Ich hatte immer die Musik gehabt, meine Höhle, in der ich mich versteckte und die mich mit allem verband, sogar mit den Mücken, den Fröschen und dem tropfenden Wasserhahn.

Amalia war mit der übrigen Menschheit nur verbunden, weil sie auf ihre Kosten lebte.

»So denken die anderen«, behauptete sie.

»Oder du«, schlug ich vor – und um sie aufzumuntern, gab ich ihr einen Tipp, wie mit dem selbstgerechten Teil der arbeitenden Bevölkerung zu verfahren wäre: »Wenn dir jemand frech kommt, fragst du, warum er mit seinem lustlosen Hintern einen kostbaren Arbeitsplatz besetzt. Andere würden gern dort sitzen. Soll er doch das glückliche Leben im sozialen Netz an ihrer Statt genießen.«

Es war schön gewesen, Amalia lachen zu hören. Ich überlegte, welche Noten ich für ihr Lachen wählen könnte. Das tiefe Lachen im ruhigen Rhythmus des Herzens.

Den Herzschlag würde ich über mein Musikstück legen, das ohne mein Zutun in meinem Inneren weiter wuchs und sich formte. Am Herzschlag bewies sich der Arbeitsrhythmus. Der hektische Puls der Arbeit würde am menschlichen Herzen scheitern. Er weigerte sich, sich ins menschliche Maß zu fügen und schlug gegenan. Es war das Herz, das sich angleichen musste. Mir fiel es wie Wattestopfen aus den Ohren: »Daher die Herzrhythmusstörungen!«

Ich griff mir einige Blätter Notenpapier aus der Schreibtischschublade und legte los.

Es war das Telefon, das alles zerstörte. Ich hätte es längst abgeschafft, wäre da nicht die trügerische Hoffnung gewesen, die Liebe könnte mich anrufen wollen. Die Liebe hätte eine tiefe, ruhige Stimme und viel Stille. Ich sagte mir, dass Amalia geeignet wäre, die Rolle der Liebe zu spielen. Die real existierende Stimme am Telefon war eindeutig fehlbesetzt. Es war Heidrun. Heidrun hatte die große Liebe längst gefunden, sogar geheiratet. Sie liebte Hilmar, den Zahnarztsohn, meinen Bruder.

»Hallo, Heidrun«, sagte ich. Ich bereute meine Trägheit, die mich seit Jahren davon abhielt, mir zumindest ein moderneres Gerät anzuschaffen, mit Display, auf dem die Nummern der Anrufenden erschienen. Da hätte ich gar nicht erst abgenommen. Andererseits wäre es vermutlich vergebene Mühe gewesen. Ich hielt Heidrun für ausgefuchst genug, ihre Nummer zu unterdrücken.

»Hallo, Schwägerin! Wie geht es dir?«

»Och«, sagte ich.

»Da kommst du wohl gerade aus der Schule?«

Ich spürte, wie sie lächelte. Heidrun war schon eine Nette, erinnerte ich mich. Es war kein leichter Job für sie, die Beziehungsarbeit in unserer Familie zu erledigen. ›Nein‹, meinte Heidrun stets, ›leicht ist das nicht, aber es lohnt sich.‹

Jetzt tönte sie im Dienst dieser höheren Aufgabe: »Josefa freut sich schon sehr auf den Geburtstagsbesuch ihrer Lieblingstante.«

Mir weitete sich der Gehörgang. Daher kam der Sirenengesang. Josefas Geburtstag! Heidrun wollte sicherstellen, dass ich kam. Ich hatte die Einladung bereits vollständig vergessen gehabt und mich frei gefühlt.

»Ja«, antwortete ich gepresst, »wir sehen uns Samstag. Bis dann, Heidrun.«

Sie lachte.

»Wir freuen uns«, schallte es aus dem Hörer, während ich ihn zurück auf die Gabel legte.

Meine Zähne mahlten hinter verschlossenen Lippen. Freie Zeit zerbröselte unter meinen Gedanken. Es war Freitag, und ich sollte abends zum Elternsprechtag anwesend sein. Völlig überflüssig – wer wollte schon mit der Musiklehrerin reden, aber Burkhardt hatte mit strahlenden Augen den Plan gefasst, unseren Musikbereich aufzuwerten. Mir wäre meine Ruhe lieber gewesen. Hätten sie mir zur Aufwertung besser meinen Raum zurückgegeben. Die Schule platzte aus allen Nähten, und der Musikraum war vor einem Jahr ein Klassenraum geworden. Das Klavier stand noch dort – wo hätte es hinsollen – und erinnerte an bessere Zeiten.

Am Elternabend sollte ich nun zum Schein in diesem Raum residieren. Ich dachte mir, dass wohl keiner kommen würde und ich mich ans Klavier setzen könnte. Das wäre dann fast wie zu Hause, besser sogar. Das Schulklavier war ein Geschenk von Margot und hatte einen fantastischen Klang. Beinahe freute ich mich darauf.

Es kam dann anders: Meine Finger bewegten sich in einem flotten Tastenlauf. Ich probte die Melodien, die ich auf die Arbeitsrhythmen legen könnte, als Kathrin Kienzle mit »Guten Abend, Frau Manthey« den Raum betrat. Ich sah auf die Uhr an der Wand. Wie erwartet war bis dahin niemand gekommen. Vielleicht hatten die Eltern mich spielen hören und beschlossen, nicht zu stören. Nun stand Kathrin Kienzle da. Langsam sog ich die Luft durch die Nase, lächelte und reichte ihr die Hand. »Guten Abend.«

Noras Freund Patrick hatte öfter von Frau Kienzle erzählt. Nora kannte ich aus dem Chor. Patrick war arbeitslos, und Frau Kienzle war die Dame von der Agentur für Arbeit. Sie hatte ihm einen gemeinnützigen Job verschafft, mit dem er seine Stütze um einige Euro ergänzte.

»Der Job ist in Ordnung«, hatte Patrick erklärt, »die Frau nicht.«

›Exemplarisch‹, wie er sagte, hatte er uns von einer sonntäglichen Begegnung im Stadtpark berichtet. Kathrin Kienzle hatte auf einer Bank gesessen – ›griesgrämig, wie immer‹. Patrick, der in der Nähe mit dem Müllpicker unterwegs gewesen war, hatte ihr höflich einen guten Tag gewünscht. Sie hatte die Hand gehoben – nicht zum Gruß, sondern um ihm die leere Bäckertüte entgegenzuwerfen. ›Damit Sie Ihren Job behalten können.‹

»Ich wusste wirklich nicht, wie ich reagieren sollte«, erzählte Patrick mit bewegtem Gesicht.

»Verteilen Sie besser nicht zu viele Ein-Euro-Jobs, sonst werden Sie am Ende alle Arbeitslosen und mit ihnen Ihre Arbeit los«, hatte er endlich geantwortet. So wie seine Brauen sich zusammenzogen und sein Atem stoßweise ging, als er uns an seiner Erniedrigung teilhaben ließ, hatte es ihm nichts genützt.

»Sie hält sich für was Besseres, die dumme Kuh.«

Frau Kienzle nahm auf einem der Schülerstühle Platz, ich ihr gegenüber. Ich hatte mich kaum niedergelassen, da legte sie schon los.

»Sie wissen, ich bin berufstätig und habe wenig Zeit für meine Tochter. Da nutze ich den Elternabend, um zu erfahren, wie Maja sich so macht.«

Ich dachte nach – Maja Kienzle, 6b …

»Nun«, sagte ich, »aus meiner Sicht brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Sie ist mit Freude im Unterricht dabei, kann gut mit den anderen Kindern zusammenarbeiten, und auch was die Einhaltung der Unterrichtsregeln angeht, gibt es keine Probleme.«

Sie seufzte.

»Mir tut es oft leid um das Kind, weil ich doch so eingespannt bin, und nach der Arbeit fühle ich mich erschöpft. Täglich gescheiterte Existenzen um mich herum. Nur Forderungen stellen, das können sie. Wenn ich deren Zeit hätte …«

Ich hörte sie ausatmen.

»Was dann?« Das interessierte mich. »Was würden Sie tun, wenn Sie Zeit hätten?«

Ihre Stimme klang kraftlos.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht wäre ich dann glücklicher, hätte mehr Energie für alles. Ich bin so deprimiert, wissen Sie. Ich habe es mit dem neuen Produkt von Novacrem versucht – Johannisplus. Es hat nicht geholfen. Die ziehen den Leuten das Geld aus der Tasche. Man kann froh sein, wenn es nicht schadet. Na ja.«

»Novacrem soll schließen«, entfuhr es mir.

Sie hob abwehrend die Hände.

»Nur das nicht! Eine Katastrophe für unsere Stadt! Ich jedenfalls werde zur Kundgebung gehen.«

Ich dachte an Silvia und wandte ein: »Wenn Novacrem doch den Menschen schadet und ihnen das Geld aus der Tasche zieht …«

Sie lächelte. »Frau Manthey, wären Sie in meinem Beruf, würden Sie anders reden. Novacrem schafft Arbeitsplätze. Das ist das Entscheidende.«

Ich überlegte, ob ich damit bei Silvia durchkommen würde. Ich kannte ihre Erwiderung: ›In dieser Logik sollten wir Subventionen für Diebstahl und Vandalismus fordern, weil sie die Wirtschaft beleben. Menschen brauchen keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Menschen brauchen Betätigung.‹

Also sagte ich »hmh« zu Frau Kienzle und sah sie an.

»Sie verstehen das nicht«, erklärte sie mir. »Wenn man das jeden Tag sieht, diese Arbeitslosen, da kriegt man es mit der Angst zu tun. Sicherlich, meine Ausbildung ist gut, ich habe auch Umgangsformen. Bisher habe ich es immer geschafft, Maja und mich durchzubringen, aber was heißt das schon. Ich schlafe schlecht, wer weiß, wie lange ich so durchhalten kann, da kann man schnell abrutschen. Neulich sagte eine meiner Kundinnen: ›Ihr habt eure Berechtigung doch auch nur durch uns.‹ Na, der habe ich Saures gegeben. Dennoch …«

Sie tat mir leid.

»Machen Sie sich keine Sorgen um Maja«, wiederholte ich. »Vielleicht finden Sie etwas, das Ihnen und Ihrer Tochter gemeinsam Freude bereitet. – Maja singt sehr gern«, fiel mir ein. »Vielleicht kommen Sie mit Ihrer Tochter in unseren Schulchor. Donnerstags um achtzehn Uhr proben wir.«

Ein zweiter Blick auf die Uhr – na endlich! Ich reichte ihr die Hand.

»Es würde mich freuen, Frau Kienzle.«

»Wenn es sich einrichten lässt«, murmelte sie, »ich hatte einmal eine recht hübsche Stimme.«

Ich brachte sie zur Tür.

»Entschuldigung«, sagte sie, »dass ich Sie mit meinen privaten Nöten belastet habe. Manchmal muss ich das einfach loswerden.«

Ich nickte. Ihr Blick schweifte durch den Raum.

»Eine recht magere Ausstattung für eine musikbetonte Grundschule. So ist das – dem Staat fehlt das Geld an allen Ecken und Enden. Die Arbeitslosen kosten. Na ja. Wollte Novacrem nicht einen Musikpavillon finanzieren? Was ist daraus geworden?«

»Hat sich zerschlagen.« Ich sah auf meine Armbanduhr. »Es tut mir leid, ich bin verabredet.«

Als sie draußen war, klinkte ich die Tür zu. Sicherheitshalber drehte ich den Schlüssel um. Hoffentlich kam sie nicht tatsächlich in den Chor. Nun gut, abwarten.

Die Aufzeichnung meiner kleinen Komposition war auf dem Notenhalter des Klaviers verblieben. Ich würde zu Hause weiter daran arbeiten.

Der Musikpavillon – die Idee hatte Burkhardt vor sechs Jahren eingebracht, aber die Stadt hatte ihn abblitzen lassen: »Kein Geld.«

Erst kurze Zeit zuvor hatten sich die Abgeordneten auf das Recht zur partiellen städtischen Autonomie berufen und Britta vorübergehend von Steuerverpflichtungen entlastet. Novacrem sollte die eingesparten Gelder in den Ausbau der Fabrik investieren und dadurch die Wirtschaft ankurbeln. »So ein Quatsch«, hatte Silvia gemurrt. »Was nützt es der Stadt, wenn Novacrem floriert, solange von dem Gewinn nichts in die öffentlichen Kassen fließt?«

Mir war das mit der Wirtschaft zu kompliziert, obwohl Silvia immer sagte: »Ach was, man darf sich von denen nicht verwirren lassen. Einfach denken hilft Wunder.«

Zumindest damit hatte sie recht: Trotz der Ankurbelei blieb auch in den folgenden Jahren nichts übrig für unseren Pavillon.

Eines Tages war dann der Bürgermeister mit Britta an seiner Seite strahlend in unsere Schulkonferenz hineingeplatzt. Novacrem sei bereit, den Bau eines Musikpavillons privat zu finanzieren. Das Kollegium und die Elternvertreter hatten fröhlich applaudiert, während Burkhardt vergeblich mit den Händen gefuchtelt hatte, um sich Gehör zu verschaffen. Schließlich war er auf einen Stuhl gestiegen, hatte die Hände zu einem Trichter geformt und laut gerufen: »Ich lehne ab!«

Verblüffte Gesichter, Empörung, in die er drei weitere Sätze sprach: Die Förderung der öffentlichen Bildung sei Angelegenheit der gewählten Stadtvertretung. Sofern Novacrem Geld zu vergeben habe, sollten sie zunächst die Steuern der vergangenen Jahre nachzahlen. Wenn es dazu käme, dass Novacrem bildungspolitische Entscheidungen treffe, sei dies das Aus für die Demokratie.

Dann Schweigen. Nur Silvia hatte kräftig applaudiert.

Ich grinste in Erinnerung an diese Szene: Britta im pastellgrünen Kostüm und hohen Hacken, auf denen sie die Kehrtwende vorgenommen hatte, und der Bürgermeister, der, beruhigende Worte murmelnd, hinter ihr her gestolpert war. Silvia hatte an diesem Abend auf einem gemeinsamen Glas Sekt mit Burkhardt und mir bestanden.

Während ich über diese Begebenheit nachsann, fiel mir die morgendliche Begegnung mit dem Rektor auf dem Flur wieder ein. Mit einem Mal irritierte mich seine Freude über Margots Besuch. Was war anders, wenn, wie Burkhardt zu hoffen schien, die alte Dame an Stelle von Britta den Pavillon finanzierte?

Ich packte meine Noten, entriegelte die Tür. In der kleinen Kaffeeküche gegenüber dem Lehrerzimmer fand ich nur noch Silvia, die treue Seele. Sie trocknete die Kaffeetassen und sagte: »Da bist du endlich.«

»Wo ist unser Rektor?«

»Zu Hause, denke ich. Warum?«

Ich teilte ihr meine Verwunderung mit, aber sie zuckte lediglich mit den Achseln.

»Margot ist Margot und Britta ist Britta. Aber frage ihn selbst. Er wird morgen in der Hafenklause sein. Wir haben uns dort verabredet.«

Ich schob die Unterlippe vor und zog die Brauen zusammen.

»Du kannst auch kommen«, ergänzte sie nach einem Blick auf mein Gesicht, »aber es wird dich nicht interessieren. Wir treffen uns, um die Kundgebung zur Rettung von Novacrem mitzuverfolgen. Wir werden wohl die Einzigen sein, die nicht teilnehmen.« Sie schnaubte.

Es wurmte mich den ganzen Weg nach Hause. Was sollte das nun wieder? Schlussendlich war ich die beste Freundin von Silvia. Selbstredend würde ich nicht auf der Kundgebung für eine Firma erscheinen, die Silvia verhasst war. Meine kindliche Anhänglichkeit an Novacrem war überwunden, und ich hatte längst ein reifes Urteil gefällt.

Womöglich würde ich am Samstagvormittag auf dem Weg zu Josefas Geburtstag zufällig in die Hafenklause stolpern. Das konnte gut sein. Der Tag war ohnehin angefressen, da spielte das keine Rolle mehr.

Zu Hause angekommen bemerkte ich, dass die Einsamkeit verschwunden war, vertrieben von den Vorhaben, die mir den freien Samstag stehlen würden. Ich setzte mich an mein Klavier. Meine Finger berührten sanft die Tasten, tonlos, der Nachbarn wegen. Ich hörte die Musik auch so.

Es war mein erster Freitagabend ohne Amalia. Vor einer Woche hatte ich sie kennengelernt und damit die Möglichkeit gewonnen, sie zu vermissen.

Amalia mochte tanzen gegangen sein.

In der Landeshauptstadt fand an jedem Wochenende ein queeres Tanzereignis statt oder jedenfalls ein Ball mit offener Atmosphäre. Amalia mochte gerade zu einer der Damen gehen, die allein saßen. Sie mochte ihr zunicken und freundlich um den Tanz bitten. Sollte sie. Sollten sie sich aneinanderlehnen und gemeinsam zur Musik bewegen. Das gehörte nun mal dazu. Nur ansehen durfte sie sie nicht, wie sie mich am vergangenen Wochenende angesehen hatte.

Ich spürte noch immer ihren Blick in mir nachklingen. Er hatte etwas von der Art gehabt, wie Margot mich ansah, nur dass Amalias Lider nicht über den Rand ihrer Augen hingen wie es bei Margots alten Augen der Fall war und mich rührte. Amalias Blick war unverschleiert und er war ebenfalls tief in mein Inneres gedrungen.

Ich schüttelte unwillig den Kopf. Es war Blödsinn, Amalia und Margot zu vergleichen, sexuelle Anziehung mit mütterlichem Interesse, Birnen mit Äpfeln. »Th!«, machte ich.

Eigentlich hatte ich nach dem Ball zurückfahren wollen nach Süderlenau. Dann war ich das ganze Wochenende bei Amalia geblieben. Am Samstagvormittag hatten wir Unterwäsche und eine Zahnbürste für mich gekauft. Danach waren wir wieder ins Bett gegangen.

Am Sonntag spätabends hatte ich ihr meine Telefonnummer und meine E-Mail-Adresse gegeben und war abgereist.

Ob etwas daraus werden würde? Sicherheitshalber bezweifelte ich das. Aus meinen Geschichten war nie etwas geworden. Mich zog es zu den falschen Frauen – solchen, die nie mehr wollten oder nicht mehr konnten als eine Affäre. In gewisser Weise kam mir das entgegen – wenn nur die Sehnsucht nicht gewesen wäre.

Geräuschvoll klappte ich den Klavierdeckel zu, stand auf, dass der Hocker kippte und erst nach einigem Gewackel wieder zur Ruhe kam, ging zum Computer. Ich hatte mein Postfach seit einer Woche nicht gecheckt, hatte Vorsicht walten lassen, nachdem ihr Anruf ausgeblieben war.

Recht hatte ich damit gehabt! – Ich fuhr die Maschine unverrichteter Dinge wieder herunter. Man sollte Aufregungen und Enttäuschungen vor dem Zu-Bett-Gehen vermeiden.

Das bunte Päckchen klapperte unter meinem Arm. Bei jedem Besuch ergänzte ich das Rohmaterial, aus dem Josefa und ich unsere Welten schufen. Zu ihrem Geburtstag hatte ich neben einfachen Stecksteinen solche besorgt, die Tiere und Blumen symbolisierten. Josefa würde lachen vor Freude. Ich nahm die Treppe zum Hafen als Tastatur und hüpfte auf den Halbtönen hinunter zum tiefen Cis. Die weißen Tasten übersprang ich – gewagt war das.

Der Blick auf unser Hafenbecken. Die Fischer waren bereits am frühen Morgen auf See gefahren. Nur ein Boot lag vor Anker. Die Netze waren zum Trocknen in der Sonne ausgelegt. Weiter den Kai entlang und dann hügelaufwärts befand sich das Gelände von Novacrem, davor eine Menschenmasse mit Transparenten und Plakaten.

»Huhuh, Katharina!«

Ich schlenderte hinüber zur Hafenklause, wo Silvia aufgesprungen war und winkte.

»So ein Zufall. Ich bin auf dem Weg zum Geburtstag meiner Nichte.«

Sie machten mir bereitwillig Platz, doch Silvia legte gleich darauf den Finger auf den Mund.

»Psst!«

Britta hielt eine Ansprache, und die Lautsprecher trugen ihre Worte bis hinüber zu uns Abweichlern. Es war von Verantwortung und der engen Bindung zwischen Süderlenau und Novacrem die Rede. Novacrem würde den Ort nicht verlassen, wenn es nicht nötig war. Es bedurfte gemeinsamer Anstrengungen und gegenseitigen Entgegenkommens. Man würde Opfer bringen müssen. Entlassungen ließen sich nicht vermeiden.

»Sieh dir diese Masse von Leuten an.«

Silvia schürzte kopfschüttelnd die Lippen, während drüben die Menschen klatschten und sanft mit Transparenten und Plakaten winkten.

»Novacrem muss in Süderlenau bleiben!« – »Arbeit schafft Heimat!« – »Heimat braucht Arbeit!« und all solche Sprüche.

»Jetzt seid ihr da«, grollte Silvia, »wo wart ihr ’71– das frage ich. Überall gab es Proteste, nur in Süderlenau blieb alles ruhig.«

Ich musste nun doch grinsen.

»’71 ist lange her.«

Silvia schnaubte nur: »Als hätte sich was geändert – ha! Ach was.«

»Wie hat Margot es durch euer moralisches Raster geschafft?«, kam ich auf mein Anliegen zu sprechen. »Sie hat ihre Millionen im Sexgeschäft gemacht.«

Silvia bedachte mich mit einem finsteren Blick.

»Margot hat sich aus ärmlichen Verhältnissen hochgearbeitet! Du willst sie nicht ernsthaft mit einem verwöhnten, eingebildeten Geschöpf der selbsternannten gehobenen Klasse wie Britta in eine Schublade stecken!«

»Hmh!«

Ich wandte mich an Burkhardt, der außer ›Guten Morgen‹ noch nichts gesagt hatte und unser Wortgefecht aufmerksam verfolgte.

»Wenn eine sich hochgearbeitet hat, ist es in Ordnung, wenn sie durch Sponsoring die Bildungspolitik unserer Stadt bestimmt?«

Burkhardt errötete. »Na ja, Margot hat als Geschäftsfrau gewisse Grenzen des Anstandes nie überschritten. Die Bordelle, die sie geführt hat, waren für ihre fairen Arbeitsbedingungen bekannt. Mittlerweile beschränkt sie sich auf die Massenproduktion von Sexspielzeugen, und ihr Unternehmen gilt hinsichtlich der Entlohnung und Gestaltung der Arbeitsplätze als vorbildlich.«

»Aha? Faire Unternehmer dürfen die Demokratie aushebeln«, stellte ich fest.

Sein Ringfinger trommelte auf dem Tisch. »Das hat mit Demokratie nichts zu tun, sondern mit Pragmatismus.«

Silvia lachte. »Opportunismus ist das treffendere Wort, Burkhardt! Obwohl ich deine Haltung verstehe.«

»Gut«, lenkte er ein. »Mein Opportunismus reicht bis zu Margot, aber nicht bis zu Britta. Ich habe im Internet recherchiert, Zeitungsartikel gelesen …«

Sein Gesicht wurde zunehmend röter.

»Im Grunde ist es so: Ich habe gewissermaßen eine persönliche Geschichte mit Margot Krause – und ein persönliches Gefühl von Vertrauen.«

Ich bemerkte, wie ein Wurm durch meine Eingeweide kroch. Es fühlte sich an wie in meiner Kindheit, wenn die Mutter Hilmar mit diesem liebevollen Blick in die Augen nahm und ›mein Junge‹ sagte, während ich mit Hunger in der Seele danebengestanden hatte.

»Wieso haben Sie eine persönliche Geschichte mit Margot?«, platzten die Worte zwischen meinen Lippen hervor.

Burkhardt hob seine Hand, als wollte er sie beruhigend auf die meinige legen. Vorsorglich zog ich meinen Arm vom Tisch, ließ die Hand gut geschützt neben meinem Stuhl baumeln. Burkhardt schwieg einen Moment, bevor er ansetzte:

»Ich war ebenfalls nicht begeistert, als Margot Jahre später besuchsweise nach Süderlenau zurückkehrte und mich dann stets linksliegen ließ. Stattdessen hatte sie einen Narren an dem musikalischen Wunderkind unserer Stadt gefressen.«

»Tss!«, machte ich.

Silvia beobachtete uns amüsiert.

Er beugte sich vor: »Ich erzähle Ihnen gern, welche Rolle Margot in meinem Leben gespielt hat, aber wenn wir nun so privat werden, bestehe ich darauf, endlich zum Du überzugehen. – Burkhardt …« Er streckte mir seine Rechte entgegen. Die Kauflächen meiner Zähne mahlten gegeneinander.

»Nach all den Jahren«, ermunterte er mich.

»Katharina«, brachte ich widerstrebend hervor, während ich seine Hand ergriff. Schmale Finger umfassten mich warm, fest und trocken. Ich ließ los.

»Dass du dich erpressen lässt.« Silvia schüttelte den Kopf, bevor sie sich von mir abwandte und Burkhardt aufforderte: »Nun aber raus mit deiner Geschichte.«

»Mein Vater hatte eine Affäre mit Margot«, eröffnete er.

»Da war er kaum der Einzige. Mit so einer mageren Story erschleichst du dir das Du von Katharina?!«

»Mein Vater hat wenig Zeit mit mir verbracht; meistens hatte er mit seinen Aufgaben als Direktor der Bank von Süderlenau zu tun, selbst an den Wochenenden. Wenn er einmal zu Hause war, war er müde und zu nichts zu gebrauchen, wie meine Mutter sagte. Womöglich hatte ihn die Affäre mit Margot zusätzlich erschöpft. Dennoch: Er liebte meine Mutter und hing an ihr. Ich denke, es war, weil sie ihn kannte. Mit Margot muss es etwas völlig anderes gewesen sein. Er hat sie gewissermaßen bezahlt für die Beziehung. Es war etwas Sexuelles natürlich, und er wird sich jung mit ihr gefühlt haben, unbeschwert. Keinesfalls hätte er für sie seine Ehe riskiert.«

»Du kennst dich gut aus mit den Affären deines Vaters«, mokierte sich Silvia.

»In Grenzen«, erwiderte er, »aber tatsächlich, nach dem Tod meiner Mutter hatte er das Bedürfnis, mir zu beichten.«

»Und was hattest du mit Margot zu tun?«

Ich schob den Unterkiefer vor. Silvia legte mir ihre Hand auf den Unterarm, der inzwischen auf den Tisch zurückgekehrt war.

»Mein Vater hatte häufig den Wunsch, mit seiner jungen Geliebten zu verreisen. Meine Mutter nahm ihm die vielen Geschäftsreisen irgendwann nicht mehr ab, und so ist er auf die Idee mit mir gekommen. Angeblich um das Vater-Sohn-Verhältnis zu festigen, hat er mich regelmäßig zu einem langen Wochenende entführt. Die intensivsten Erinnerungen an meinen Vater habe ich von diesen Ausflügen. Wir sind schwimmen gegangen, haben Fußball gespielt und Baumhütten gebaut – alles, was ein Sohn sich von seinem Vater wünschen kann.

Margot war noch blutjung damals, zwanzig vielleicht, und spielte die junge Mutter. Sie hat uns Getränke hingestellt, für anständiges Essen gesorgt und mir am Abend vorgelesen. Ich vermute, diese Aufgaben waren ihr angenehmer als die anderen, die sie übernahm, wenn ich in meinem Kinderbett eingeschlafen war. Im Nachhinein erscheint mir das Ganze wie ein großangelegtes Rollenspiel, in dem wir alle unsere Sehnsüchte unterbrachten.«

Silvia hob die Augenbrauen. »Nun, in Margots Fall handelte es sich wohl mehr um handfeste Interessen.«

Burkhardt biss sich auf die Lippe. »Sie spielte gern«, beharrte er und fuhr fort: »Meiner Mutter durfte ich nichts von Margot erzählen. ›Dann ist es mit den Ausflügen vorbei‹, hatte Papa mir eingeschärft.

Irgendwann ist es dann wirklich vorbeigewesen. Das war, als Margot ihr rundes Bäuchlein bekam. Ich hatte mich gewundert, wie viel sie nur gegessen haben mochte. Da hat sie mir zugeblinzelt. ›Das ist nicht vom Essen. Wahrscheinlich wohnt ein Geschwisterchen von dir in meinem Bauch.‹

Papa hat das gehört – ich nehme an, das wollte sie so. ›Nein‹, hat er gesagt. Das war’s. Ich habe Margot danach Jahre nicht mehr gesehen.«

Ich hatte keinen Seelenraum frei für Burkhardts Verletzung. Stattdessen warf ich die Information dem bohrenden Wurm in meinem Innern als Futter vor: Nun hatte Margot obendrein ein Baby gehabt!

»Was ist aus ihrem Kind geworden?«

Burkhardt zuckte die Achseln. »Darüber habe ich nichts herausgefunden – immerhin, es könnte mein Bruder gewesen sein. Ich hätte gern einen Bruder gehabt …«

Die Versammlung vor Novacrem begann sich aufzulösen. Passanten kamen vorüber und nickten uns Dissidenten zu. Silvia sah auf ihre Uhr, ihr Kehlkopf begann auf und nieder zu hüpfen.

»Ich muss nach Hause.«

Burkhardt war irritiert: »Wartet ein Kind auf dich?«

»Gewissermaßen.«

Ihr Lachen war kurz und brach ab.

»Auf Wiedersehen, Burkhardt.«

Mich umarmte sie und drückte mich liebevoll. »Eine schöne Geburtstagsfeier, Katharina. Gruß an Heidrun und Hilmar.«

Ich trug ihr keine Grüße an Michael auf, weil ich wusste, dass Michael das gleichgültig war. Michael war ausschließlich an Silvia interessiert.

Alleingelassen mit meinem Rektor fand ich nicht mehr in eine selbstverständliche Haltung zurück und rutschte auf dem Stuhl hin und her.

»Na dann.« Ich stand auf.

Seine Augen leuchteten mich an.

»Ich wünsche dir ein schönes Wochenende.«

Hinter einer engen Mündung zur See hin befindet sich die kleine Bucht, an deren Nordufer Süderlenau liegt. Ein Wanderweg führt am Wasser entlang und endet, nachdem er die Bucht umrundet hat, auf deren Südseite an einem langen Sandstrand am offenen Meer. Zehn Kilometer sind es von Süderlenau bis zu diesem Strand, und ungefähr auf halber Strecke liegt Heringsort, wo Heidrun, Hilmar und Josefa wohnen. Heidrun war dort aufgewachsen und hatte vor Jahren, nach dem Tod ihrer Großmutter, ein Häuschen in dem Ort geerbt.

Am schönsten ist es dort zur Zeit der Rapsblüte, wenn die gelben Felder zwischen dem Grün von Kuhweiden und jungem Getreide hervorleuchten. Als ich mit dem klackernden Päckchen die hügelige Landschaft durchwanderte, war der Raps längst verblüht, die Früchte geerntet. Die Erde lag offen und braun gefurcht. Einige Schwäne watschelten über die Äcker, um von der neuen Saat zu kosten, die vereinzelt grün aus dem Boden brach.

Heringsort und Süderlenau sind verfeindet, daran hat die Eingemeindung des Dorfes vor nun mehr als vierzig Jahren nicht rütteln können. Die Feindschaft gründet vor allem in dem Zank um die Heringe, die auf ihrem Laichzug im Frühjahr zunächst an unserer Stadt vorüberschwärmen, sofern sie nicht in die Reusen geraten, die die Süderlenauer Fischer seit Jahrhunderten bei uns auslegen. Erst wenn sie diesen entronnen sind, führt ihre Reise sie tiefer in die Bucht hinein nach Heringsort. Heutzutage wird den Fischen nicht nur von Berufs wegen aufgelauert. Die Heringszeit ist Anlass für ein großes Fest mit Zuckerwatte und Karussells, währenddessen Süderlenau geschlossen am Kai steht und die Angeln auswirft, ein weiterer Dorn in den Augen der missgünstigen Nachbarn, die von jeher klagen, wir würden zu viele Heringe wegfischen. Der Bestand sei durch uns gefährdet, behaupten sie.

Natürlich ist das Unsinn. Riesige Schwärme ziehen an Süderlenau vorbei, ohne auch nur in die Nähe einer Angel zu kommen. Die Heringsorter sind schlicht Neidhammel und gönnen uns keinen Fitzel Fisch an der Gräte.

Ich hatte Heidrun im Konfirmationsunterricht kennengelernt und war zunächst voreingenommen gewesen, weil sie aus Heringsort kam. Doch Heidrun mochte keinen Fisch. Ihr missfiel die Heringsgier ihrer Mitbürger ebenso wie uns Süderlenauern. So hatten wir über die Feindseligkeiten hinweg Freundschaft schließen können.

Heidrun und ich waren häufig den Weg am Meer entlangspaziert, hatten auf dem Findling gesessen, den ein romantisch beseelter Heimatdichter aus Heringsort als »gewaltigen Felsen« besungen hatte. Sie war meine beste Freundin gewesen, bis sie sich – viel später dann – in Hilmar verliebte und keine Zeit mehr für mich hatte.

Ich hatte mich selbst nicht verstanden, so zickig hatte ich reagiert. Erst vor guten zwei Jahren hatte ich den Schmerz überwunden und Heidrun als meine Bruderfrau anerkannt. Da war sie siebenundvierzig Jahre alt und hatte mir zur Überraschung aller meine Nichte geschenkt: die kleine Josefa mit dem starken Willen.

Die Luft war kühl und klar. Ich schritt kräftig aus und horchte auf das Schreien der Möwen. Kühe standen mit überquellenden Augen am Zaun, unbewegte Zeuginnen meines Vorüberschreitens. Ich schlenderte an dem langen Holzschuppen vorbei und horchte auf die Stille. In den Tagen meiner Freundschaft mit Heidrun hatte von dort Gegacker geklungen. Wir waren neugierig gewesen und einmal, als die Tür offen gestanden hatte, waren wir hineingeschlichen. Dicht an dicht hatten die Hühner in engen Käfigen gesessen.

Ich hatte weinen müssen. Heidrun nicht. Sie hatte Gefühlsduselei nie gemocht.

Mich hatten die Hühner lange beschäftigt. Eingesperrt sein ist furchtbar, allein sein ist entsetzlich. Das Schicksal der Hühner, beides ertragen zu müssen, schmerzte mich.

Es drängte mich, mich tiefer mit ihrer Situation zu beschäftigen, um die Ursachen für ihr Leiden zu ergründen. Heidrun half mir bei einem Referat über Tierhaltung in Deutschland, mit dem alles noch schlimmer wurde, so dass ich mich in der Folge geweigert hatte, Milch zu trinken, Fleisch, Eier, Butter oder Quark zu essen, bis eines Tages der Zahnarzt in mein Zimmer eindrang. Er hatte auf meinem Schreibtischstuhl Platz genommen, während ich auf dem Kinderbett hockte, und ich hatte gewusst, er würde nicht weichen, bis ich gesprochen hatte. Ich weiß noch, wie er mir nach meiner trotzigen Erklärung über den Kopf gestrichen hatte. Mir ist das in Erinnerung geblieben, denn die Gelegenheiten, zu denen meine Eltern mich zärtlich berührten, kann ich an einer Hand abzählen.

Damals führte der Vater mich in die Tatsachen des Lebens ein, die Ohnmacht der Menschen sich selbst gegenüber: Alles musste sein und bleiben, wie es war, des Geldes wegen, das die Menschen zur Erleichterung ihres Tauschverkehrs erfunden und dessen Eigendynamik sie sich mitsamt ihrer Landwirtschaft unterworfen hatten. Wollten die Bauernhöfe auf dem Markt bestehen, konnten sie Hühnern, Kühen und Schweinen keine Tierwürde gestatten. Das ließ sich nicht ändern, selbst dann nicht, wenn wir Berge aus Butter herstellten, die niemand aß, und nicht einmal wenn den Bauern Prämien gezahlt wurden, um überzählige Rinder zu schlachten. Das System war größer und stärker als wir.

Ich wollte nicht, dass mir die Zähne im Mund verfaulten, wie der Zahnarzt es mir vorausgesagt hatte für den Fall, dass ich bei meiner veganen Lebensweise bleiben sollte. Dennoch vergaß ich die Hühner nie. Sie gaben den Ausschlag, mich an Silvia anzuschließen, als sie nach Süderlenau kam und über die Auswüchse des Kapitalismus wetterte.

Heidrun hatte versprochen, den Kinderbesuch erst für den späten Nachmittag einzuladen. Einen Moment verweilte ich lauschend an der Gartenpforte. Stille. Sie schien Wort gehalten zu haben, und ich wagte mich näher.

Josefa schoss aus dem Hinterhalt auf mich zu und umklammerte mein Bein.

»Herzlichen Glückwunsch, Geburtstagskind!« Ich hob sie hoch. Während sie sich an mich drückte und die Arme um meinen Hals legte, schloss ich die Augen.

»Ich habe sie doch ganz schön lieb«, erklärte ich Heidrun, die aus der Haustür trat.

»Das hast du«, bestätigte Heidrun amüsiert, »und es wundert dich jedes Mal. Du solltest öfter kommen, dann vergisst du nicht so schnell, wer dir etwas bedeutet. Übrigens, dein Vater ist schon da.«

Ich riss die Augen auf und trat einen Schritt rückwärts auf die Gartenpforte zu, suchte Halt, indem ich die kalte Klinke umklammerte.

»Nichts da!« Heidrun schärfte ihren Tonfall. »Ich habe Opa eingeladen, aber schlussendlich ist er euer Vater.«

»Vielleicht«, meuterte ich leise.

»In welcher Bedeutung des Wortes auch immer«, ergänzte Heidrun. »Ich finde nicht gut, was sie mit dir abgezogen haben. Trotzdem: Er hat für dich gesorgt.«

So war das, wenn man eine kleine Nichte hatte. Vor Josefas Geburt hatte ich Ruhe und Abstand gehabt. Ich hatte Hilmar an seinem Geburtstag gesehen, wenn es hochkam. Vater hatte ich eine Karte geschickt. Mutter war seit Jahren tot. Nun krauchte alles um das Kind zusammen, und Heidrun zurrte die Familienbande enger. Ich hätte damit rechnen sollen, dem Zahnarzt zu begegnen. Kurz nach Josefas Geburt hatte er unsere alte Wohnung verkauft und war Heidruns Wunsch folgend nach Heringsort gezogen. Die Luft wurde mir knapp, als ich, den kleinen Moppel im Arm, das Haus betrat.

Mein Vater kam mir im Rollstuhl entgegen. Einen Moment erschrak ich, obwohl seine Entscheidung, sich nicht ständig mit dem Rollator voranzuquälen, Jahre zurücklag.

»Mein Kind«, sagte er mit weitgeöffneten Armen. Ich biss die Zähne zusammen, wich zurück und reichte ihm unserer Familiensitte gemäß höflich die Hand.

»Hej, Katharina.« Hilmar klopfte mir auf die Schulter. »Mich umarmt er neuerdings auch«, wisperte er mir ins Ohr. »Sei mal nicht so.«

»Du bist sein Sohn«, flüsterte ich zurück.

»Und du seine Tochter.«

»Haha!«

Josefa regte sich »Will runter!«

Sie nahm mich bei der Hand und zog mich zu dem Tisch, auf dem ihre Geschenke lagen.

»Wow!« Ein ganzer Eimer mit Duplo-Steinen!

»Von Opa!«

Da war er wieder in seinem Rollstuhl.

»Unsere Kleine hat mir erzählt, dass ihr plant, die Welt neu zu erschaffen. Ich fand das unterstützenswert.«

»Danke.« Ich sah nicht einmal auf.

»Wir legen die Steine auf den Esstisch und bauen gemeinsam«, schlug er vor.

»Ja, Opa!« Josefa wackelte zum Tisch, in jeder Hand einen Duplo-Stein.

Er sah mich an: »Ich weiß schon, dass es zu spät ist, dein Vater werden zu wollen.« Und weiter mit über den Augen zusammengezogenen Brauen: »Du brauchst gar nicht die Lippen zusammenzukneifen. Ich sehe es an deinem Musculus masseter, dass du schon wieder mit den Zähnen knirschst.« Und lauter werdend: »Ich hoffe, du trägst jedenfalls deine Schiene in der Nacht.«

»Doch, Vater«, sagte ich.

Hilmar stellte sich neben mich.

»Hack nicht immer auf Katharinas Zähnen herum, Papa. Sie kann nichts dafür. Sie hat jeden Abend geputzt – von rot zu rot – die kreisende Putzbewegung war noch nicht erfunden – viel sorgfältiger als ich. Es hat ihr nichts geholfen.«

Ich nickte: »Ich habe nicht eure Zahnsubstanz. Daran muss es liegen.«

Josefa warf mit lautem Lachen einen Duplo-Stein zu Boden.

»Zeig du mir mal deine Zähnchen«, bat der Opa.

Heidrun verschwand, um Essen vorzubereiten, während Hilmar sich am Computer zu schaffen machte.

»Ich bin dabei, den Film zu schneiden, den ich aufgenommen habe, als wir letztens mit Josefa am Strand waren.«

Heidrun deckte den Tisch.

»Das Salz fehlt«, stellte Hilmar fest, als alle um den Tisch versammelt waren.

»Was bist du nur für ein Arschloch!« Heidrun stieß heftig den Stuhl zurück, rannte in die Küche, kam zurückgewogt und knallte das Salzfässchen vor ihn hin.

»Danke.« Er nahm es und salzte sein Essen nach.

Nach dem Essen half ich Heidrun beim Abräumen und in der Küche.

»Ich hasse ihn.« Die Teller schepperten aus ihrer Hand in den Geschirrspüler. »Ich habe damals versucht, ihn loszuwerden, weißt du, aber er war so beharrlich.«

Ich erinnerte mich – Sommer ’93 – neunzehn Jahre war das her. Nie zuvor hatte ich Heidrun so verträumt erlebt. In allem, was wir in jenen Tagen erlebten, war ihr Hilmar, selbst in den Tieren auf der Koppel, die uns Apfelstücke von der Hand fraßen. ›So sind seine Lippen, weich wie eine Pferdeschnauze.‹ Mir war das gegen den Strich gegangen.

»Jetzt ist es zu spät, ihn zu verlassen«, behauptete sie.

»Warum?«

Sie druckste herum: »Würde ich denn mit Josefa am Rockzipfel Arbeit finden … und in meinem Alter …«

»Du hättest das Salz nicht holen müssen.«

Die Wut in ihrem Gesicht wich einem gequälten Ausdruck.

»Er arbeitet so viel in der Praxis – es käme mir unfair vor. Ihr denkt doch sowieso alle, dass ich ihn wegen der Praxis geheiratet habe.«

Ich grinste. Außer Heidrun selbst wäre wohl niemand auf diesen Gedanken gekommen.

›Vielleicht ist es sexuelle Abhängigkeit‹, hatte sie ’93 sinniert.

›Vielleicht bist du verliebt?‹, hatte ich dagegengehalten.

›Quatsch! Ich verliebe mich nicht! Ich denke gar nicht daran!‹

»Fertig.« Heidrun füllte das körnige Spülmittel in das Fach, verschloss es sorgsam und klappte die Tür der Maschine hoch. Wie routiniert sie ihre häuslichen Pflichten erledigte …

Als wir jung gewesen waren, hatte ich Heidrun bewundert: Gegen den Willen ihrer Eltern hatte sie sich nach der Realschulreife eine Ausbildungsstelle als Gas-Wasser-Installateurin gesucht. Das war in den siebziger Jahren alles andere als einfach gewesen. Nachdem sie die Lehre abgeschlossen hatte, hatte sie auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachgemacht und im Anschluss ein Studium zur Bauzeichnerin begonnen. Nebenher arbeitete sie, um sich ihr WG-Zimmer finanzieren zu können. Ich dagegen saß auf dem weichen finanziellen Polster der Zahnarztfamilie und mäanderte durch verschiedene Studiengänge. Dann kam es mit der Liebe zwischen meinem Bruder und ihr zum Bruch zwischen uns. Die beiden heirateten knapp zwei Jahre später. Als sie kurz darauf ihren Beruf aufgab und die Rolle der Helferin ihres Mannes einnahm, war es mir wie Verrat an unserer gemeinsamen Sache erschienen, obwohl ich nicht hätte sagen können, worin diese Sache bestand. Heidrun drehte den Schalter der Spülmaschine, und ich spürte eine wilde Lust, sie herauszufordern.

»Du könntest dir Arbeit suchen, jetzt wo Josefa in die Kita geht. Dann bist du unabhängig von Hilmar.«

Sie funkelte mich an: »Du meinst wohl, ich ruhe mich auf Kosten deines Bruders aus!«

»Nein! Gar nicht!«

»Diese ständige Abwertung der Hausfrauenrolle kotzt mich an! Hilmar ist der Einzige, der meine Arbeit zu schätzen weiß!«

»Das freut mich für euch!«

Sie warf ein Handtuch nach mir, stürmte hinaus, die Küchentür fiel lautstark ins Schloss. Wie ein Echo hörte ich nur wenige Sekunden danach weitere Türen knallen.

Mir schien, es wäre nun langsam Zeit für mich zu gehen.

»Tschüs, Kathinka.« Hilmar winkte.

»Tante bleibt!« Josefa stampfte mit dem Fuß.

»Warte einen Moment, Katharina, ich komme mit.« Vater rollte in den Flur, suchte nach seinem Mantel.

Musste das sein? Am liebsten wäre ich davongelaufen.

»Schon fertig!«

Ich griff nach seinem Rollstuhl, bugsierte ihn vorsichtig rückwärts die Schwelle hinunter in den Garten, zu meinem Erstaunen, ohne dass der Zahnarzt protestiert hätte. Auch als ich die Griffe weiter in der Hand behielt und ihn vom Grundstück hinaus auf den Gehweg rollte, blieb er friedlich sitzen. Wenig später kam er zur Sache.

»Heidrun hat mit mir gesprochen. Du wärst dir nie sicher gewesen, ob du wirklich unser Kind bist.«

»Hmh.«

Ich war froh, hinter dem Rollstuhl gehend, keine Möglichkeit zu haben, ihm ins Gesicht zu sehen und begriff, warum er sich so bereitwillig schieben ließ.

»Ich hoffe, dass du meine Tochter bist«, hörte ich ihn und sah seine Hände, die auf den Lehnen ruhten, sich verkrampfen.

»Anders als Hilmar hast du die Wahl.«

Ich schluckte.

»Wir hätten es dir gleich sagen sollen – spätestens als wir deine Zweifel bemerkten. Damals hatte ich Angst, es würde alles noch schlimmer machen …«

Er redete immer weiter, tonlos, wie einer, der einen auswendig gelernten Text herunterleiert.

»Deine Mutter hatte sich in die Idee verrannt, du wärst ein Kuckucksei. Sie war furchtbar eifersüchtig. Ich hatte ihr Anlass dazu gegeben – nur was dich anging, täuschte sie sich.«

Er stemmte sich ein wenig hoch, als wollte er sich zu einem imaginären Gesprächspartner vorbeugen.

»Mit dir hatte das nichts zu tun, Katharina«, schimpfte er, »und darum geht es dich gar nichts an.«

Ich nickte, obwohl er mich nicht sehen konnte. Er ließ sich in den Sitz zurücksinken, legte die Hände in den Schoß.

»Du hast ganz recht gehabt. Du bist nicht unser leibliches Kind. Wir haben dich adoptiert.«

Stille.

»Du hast es gewusst, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht.« Ich hörte mich krächzen. »Wohl eher vermutet.«

»Es tut mir leid«, behauptete er kühl und fuhr im gleichen Tonfall fort: »Du bist dennoch immer unser Kind gewesen. Wir haben dich beide geliebt, deine Mutter ebenso wie ich. Ich habe das selbst erst spät begriffen, aber so ist es gewesen.«

»Hmh.« Ich verkniff es mir »Na und?« zu sagen, doch es kostete mich Kraft. Ich dachte wieder an diesen Gorilla, dem ich als Fünfjährige im Zoo begegnet war. Der Gorilla lebte zum Zeitpunkt unseres Zusammentreffens in einem Gehege, das keinerlei Rückzugsmöglichkeiten bot, so dass er den zudringlichen Blicken der Besucher schutzlos ausgeliefert war. Sie zeigten auf ihn und lachten, während er sich gegen Mauern drückte und hinter dem einen schmalen Baum zu verbergen suchte. Als er die Zähne fletschte, lachten sie härter. Am Ende griff er nach seinem Kot, schleuderte ihn gegen die Peiniger, und so gelang es ihm endlich, die Gaffer auf Abstand zu treiben.

Ich wollte nicht mit Dreck werfen, aber ich würde es tun, wenn ich nicht auf andere Art entkommen konnte.

»Du schaffst den Rest deines Weges allein?«, fragte ich und entschied mich für einen Hauch Ehrlichkeit. »Das ist alles ein bisschen viel für mich.«

Er nickte, hielt mir die Hand hin. »Auf Wiedersehen, mein Kind.«

»Wiedersehen, Papa.« Plötzlich standen meine Augen unter Wasser. Ätzend fand ich das.

Es ging wieder los, das merkte ich noch auf dem Weg nach Hause. Ich vertraute meinem Gleichgewichtssinn nicht mehr und befürchtete hintenüberzukippen, mit dem Hinterkopf auf dem Erdboden aufzuschlagen. Die beschämende Vorstellung, ich könnte in dieser Situation, die meine grundlegende Unzulänglichkeit preisgab, gesehen werden.

»Ruhig!«, mahnte ich mich.

Meine Lungen erwiesen sich als unfähig, die Luft aufzunehmen. Ich spürte, wie mein Herz in unregelmäßigen Abständen einen Schlag ausließ und der Blutdruck abflaute. Ein Schwindelgefühl ergriff mich. Ich wischte mir über das Gesicht und betrachtete irritiert die fremde Hand, die an meinem Körper hing.

»Du kennst das«, sagte ich mir.

Ich würde nun gemächlich nach Hause gehen. Wenn alles nicht half, würde ich den Wein entkorken, der zur Sicherheit in der Vorratskammer stand. Seit mehr als einem Jahrzehnt war ich ohne das ausgekommen – verdammte Scheiße!

In der Wohnung angekommen, riss ich die Fenster auf, legte mich dann auf das Sofa, um mir das Atmen zu erleichtern. Was war schon passiert? Ich hatte immer gewusst, dass ich nicht zu ihnen gehörte. Nun war es gewiss: Ich war adoptiert worden, und die Adoptivmutter hatte mich gehasst.

Ich sagte es laut, weil es wahr war. Mir wurde klar, dass ich mich immer auf mich hatte verlassen können. Ich hatte es geahnt und recht behalten.

Salziges Wasser verätzte mir die Augen. Damit, das wusste ich, war der Anfall überstanden. Kein Alkohol, auch diesmal nicht, ich hatte es geschafft.

»Besser Tränen aus den Augen als Angstschweiß aus den Poren«, überlegte ich und ging in die Küche, um meinen Tränendrüsen Nachschub zu liefern. Mir war noch sehr zittrig zumute.

»Hurra, ich lebe noch!«

Ich stand da, ein gefülltes Glas in der Rechten. Ich machte mir klar, dass Samstag war, siebzehn Uhr. Ich hatte Feierabend, und ich war frei.

Es schien wichtig, etwas zu tun, das mich auf andere Gedanken brachte, und so entschied ich, meine Mails zu checken: Wer dem Tod entronnen ist, kann eine Enttäuschung in der Liebe verkraften.

In meinem rückenfreundlichen grauen Schreibtischstuhl kniend fuhr ich den PC hoch. Ich loggte mich mit dem Kennwort »Monika« ein, das nun schon mehrere Monate alt war und längst nicht mehr wahr. Ich sollte es ändern.

Ich drückte auf ›Posteingang‹.

Sechs Mails von Amalia – eine Mail für jeden Tag, an dem wir uns nicht gesehen hatten. Ich öffnete die Jüngste der Nachrichten. Sie war kurz: »Du antwortest mir nicht, und ich weiß nicht warum. Heute ist Samstag, wir haben uns vor acht Tagen kennengelernt. Ich werde in die Bar gehen, in der ich dich zum ersten Mal gesehen habe, und an dich denken. Amalia.«

Eine ganze Weile verharrte ich, auf den Bildschirm starrend, bevor ich den Computer herunterfuhr. Ich steckte eine Zahnbürste und Unterwäsche ein, ging zum Bahnhof, setzte mich an den Bahnsteig und wartete auf den nächsten Zug.

Spät in der Sonntagnacht kehrte ich zurück.

Den ganzen Montag blieb ich erfüllt von der Zeit mit Amalia. Ihr ungläubiges Gesicht, als ich in der Bar aufgetaucht war. Sie hatte keine Zeit mit Vorwürfen verschwendet, war auf mich zugekommen und hatte mich in die Arme genommen. Danach hatten wir Stunden miteinander getanzt, und ich war in ihrer Nähe, der Musik und unseren gemeinsamen Bewegungen versunken. Viel später hatten wir geredet. Ich bin sonst nicht der mitteilsame Typ – nur bei Silvia quatsche ich mich manchmal aus, weil wir uns nun mal so ewig kennen –, aber da war wieder das Interesse in Amalias Augen gewesen, zumindest etwas, das dem ähnlich sah. Vielleicht geht das doch zusammen – Sex und Anteilnahme. Vielleicht fängt etwas Neues an, hatte ich gedacht.

Am Montag träumte ich noch vom Meer, dem Salz und den Wellen. Mit den Kindern arbeitete ich an Klangbildern. In der Pause setzte ich mich ins Lehrerzimmer und lächelte. »Hast du Monika getroffen?«, fragte Silvia. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, was sie meinte.

Ausgerechnet während der Chorprobe, auf meiner Insel im wöchentlichen Alltag, fiel ich aus den Wolken.

»Wahre den Abstand«, war in meinem gesamten Erwachsenenleben die Maxime für mein Verhalten in Süderlenau gewesen. Sieht man von Silvia ab, hatte ich mich weitgehend daran gehalten. Ich hätte dabei bleiben sollen, insbesondere als Chorleiterin!

Nora war mir sofort ins Auge, mehr noch ins Ohr gefallen, als sie kurz nach Neujahr zum ersten Mal an der Chorprobe teilnahm. Üblicherweise gehörten ausschließlich Schüler und Schülerinnen, deren Angehörige, Freundinnen und Freunde sowie Ehemalige zum Chor. Nora war nichts davon. Sie war Journalistin und in Süderlenau eine Persönlichkeit, weil sie die Mehrzahl der Artikel für unsere Lokalzeitung verfasste. Zunächst hatte ich den Verdacht gehegt, sie würde Undercover für einen Bericht über den Chor recherchieren, aber es war nicht so. Sie war gekommen, um zu singen, und das tat sie! Meist sang sie mit geschlossenen Augen. Ich musste an mich halten, den restlichen Chor nicht zum Schweigen aufzufordern, so sehr genoss ich das Schwingen ihrer vollen Altstimme.

Es erleichterte mich, als sie nach einigen Wochen Patrick im Schlepptau hatte: Monika hatte zu dieser Zeit bereits den Kontakt zu mir abgebrochen, und von Amalia war noch nichts zu sehen. Ich flottierte frei und hatte mich an einigen Abenden bereits ertappt, mir Nora in mein Bett zu fantasieren. Eine Liebe aus Süderlenau, das hätte ich weder für möglich gehalten noch erlaubt. Patrick brachte mich, schmerzhaft zwar, zurück auf das Kopfsteinpflaster meiner Stadt. Es war mehr als unfair, dass ich es ihm übelnahm.

Er hingegen nahm wie selbstverständlich teil an der innigen Beziehung, die sich zwischen Nora und mir entwickelt hatte. Da sie ihn nicht in die Schranken wies, stand ich dem hilflos gegenüber.

So war es dazu gekommen, dass sich inmitten meines Schulchores ein Stück Privatleben eingenistet hatte. Nora und Patrick fühlten sich dort sozusagen zu Hause, und ich genoss die Nähe zu Nora zu sehr, um dem Einhalt zu gebieten.

»Nora wünscht sich ein Kind, aber nicht von mir«, eröffnete Patrick an diesem Abend.

»Patrick will seine Tochter mit organisierten Lebensmitteln aus dem Container ernähren«, erläuterte Nora.

Patrick besuchte nach Einbruch der Dunkelheit mehrmals in der Woche die Höfe unserer drei Supermärkte. Dort standen große Müllcontainer, in denen obenauf die weggeworfenen Lebensmittel des Tages lagen. Vertraute ich seinen Berichten, und Patrick gab keinerlei Anlass, an seiner Glaubwürdigkeit zu zweifeln, so kam er meist mit guter Ausbeute zurück in seinen Bauwagen: Obst und Gemüse mit einigen angefaulten Stellen, die er wegschnitt, Käse, Milch und Butter, denen noch einige Tage Haltbarkeit aufgedruckt waren. Häufig hielten sie eine ganze Weile über das Verfallsdatum hinaus.

Nora hatte einen umfangreichen Hintergrundartikel über das Containern in Süderlenau veröffentlicht:

In den Lebensmittelmärkten unserer Stadt werden täglich Massen guter Nahrungsmittel vernichtet, während zahlreiche Menschen, gerade auch Familien mit Kindern, aus finanziellen Gründen gezwungen sind, am Essen zu sparen. Die Alternative, ältere Waren als Sonderangebot anzubieten, lehnen die Geschäftsführungen in trautem Einvernehmen ab: »Das verdirbt uns die Preise.«

So hat das ›Containern‹, das nächtliche Durchsuchen der großen Müllcontainer in den Höfen der Märkte, zur Rettung von Lebensmitteln in Süderlenau Einzug gefunden. Für die Leitungen der Supermarktketten ist die Entwendung weggeworfener Ware aus dem Müll allerdings nichts anderes als Diebstahl. Um die Diebe zu entmutigen, wurden die Angestellten der Märkte in Süderlenau beauftragt, die Verpackungen zu zerstören, mit dem Ziel, die Waren unbrauchbar zu machen. So unterwirft sich auch Süderlenau der absurden Logik der Profitmaximierung.

»Ich wurde dazu erzogen, Lebensmittel mit Achtung zu behandeln«, erklärt der junge Mann, dem ich während meiner nächtlichen Recherchen an einem Container begegne. »Es ist moralisch nicht vertretbar, gutes Essen im Müll verkommen zu lassen. Das Leid der Tiere, das bei der Produktion vieler Lebensmittel verursacht wird, ist nur ein Grund von vielen, warum ich mich entschieden habe, der Respektlosigkeit gegenüber dem Essen entgegenzuwirken.« Eine Aussage, die nachdenklich stimmt …

Mich hatte ein Glücksgefühl ergriffen, als ich den Artikel las, eine Tür öffnete sich mir, eine Möglichkeit der Zugehörigkeit: wir vom Rande der Gesellschaft. Ich begegnete in dem Geschriebenen einem Menschen, der aus dem Alltäglichen geworfen war so wie ich, wenn auch auf andere Weise, und der einen gangbaren Weg für sich suchte.

»Ein Kinderwunsch ändert die Sicht auf die Dinge grundlegend«, stellte Patrick fest.

Nora konterte: »Ein Vater ist etwas anderes als ein Liebhaber. Ein Vater sollte Verantwortung übernehmen können.«

»Du wirfst mir Mangel an Verantwortung vor! Du weißt sehr genau, dass ich den bequemen Job bei Novacrem aus Verantwortungsbewusstsein aufgegeben habe.«

Eine Milliarde für Süderlenau

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