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Die Flucht

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Gebannt starrte ich auf ihre Lippen, erpicht, mir kein Wort der erschütternden Schilderung ihrer Flucht aus Schlesien entgehen zu lassen, damals, im Winter fünfundvierzig, ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes. Soldaten auf dem Rückmarsch jagten Neißebrücken in die Luft und überholten den Treck auf seinem Weg gen Westen.

Über Nacht hatte sie alles aufgeben müssen, war geflohen, mit kaum mehr, als was sie am Leibe trug. Das Kind im Arm, den Rucksack mit Notwendigem auf ihren schmalen Schultern.

Hinter sich das Inferno.

Vor sich die Ungewissheit.

Schon die Wochen zuvor seien die reinste Hölle gewesen, erzählte sie unter Tränen. Die Angst vor Russen und Polen, vor Vergewaltigung, Brandschatzung und Plünderung. Sie war allein, ihr Mann wer-weiß-wo im Krieg. Doch sie hatte Haus und Hof nicht ohne Not aufgeben wollen.

Erst im letzten Moment war sie aufgebrochen.

Nach endlos dauernder Qual durch schneeverwehte Einöde; Erfrorene am Wegesrand und aufgeknüpfte Deserteure als Warnung für Fahnenflüchtige; als sie schon von mehreren Karren mit Pferden, auch einem Lastwagen, überholt worden war; sie das vor Hunger und Kälte schreiende Kind unter Tränen an ihre Brust gedrückt hatte und sich, an einen Baum gekauert, bereits aufzugeben bereit war – da hatte ein Karren gehalten. Ein schäbiger Leiterwagen, von einem müden Klepper gezogen und voll mit Hausrat. Ein älteres Paar auf dem Bock, in Decken gehüllt.

„Mühsam stieg die Frau ab“, erzählte sie, „und kam auf mich zu. Nahm mir das Kind aus dem Arm und reichte es ihrem Mann. Der hüllte es in eine warme Decke. Die Frau zog mich hoch und musste dabei all ihre Kraft aufwenden, denn ich war schon steif vor Kälte und nicht mehr in der Lage, mitzuwirken. Sie half mir auf den Wagen, machte inmitten des Gerümpels ein schützendes Lager zurecht und gab mir ein Stück trockenes Brot und lauwarmen Tee. Derart gestärkt, konnte ich dem Kind die Brust reichen. Endlich satt und zufrieden, schlief es ein.“

Sie machte eine kleine Pause und sah mich mit verschleierten Augen liebevoll an. Ich legte meine Hand auf ihren Arm, und an ihrem Zittern erkannte ich, wie sehr sie die Erinnerung erschütterte und wie schwer es ihr fiel, mir von damals zu berichten.

„Dann kam die Frau nach hinten“, erzählte sie weiter. „Sie nahm mich in den Arm, drückte mich an sich und streichelte mir beruhigend den Kopf. ‚Wir, ich und mein Mann‘, sagte sie nach einer Weile, ‚würden uns gerne um Sie kümmern. Wissen Sie, wir haben keine Kinder mehr. Sie fielen beide in Russland. Zwei Söhne. Prächtige Kerle ...‘ Sie wischte sich über die Augen und ergänzte: ‚Wir wären daher glücklich, wenn wir Ihnen und Ihrem Kind helfen könnten. Wir kommen uns sonst so nutzlos vor.‘

Ich war dermaßen überwältigt“, fuhr sie fort, „dass ich die Frau nur wortlos anstarren konnte, so unwahrscheinlich schien es mir, dass in dieser furchtbaren Zeit ein Mensch so gütig zu einem anderen sein konnte.

Dann brach ich in Tränen aus“, beendete sie schließlich ihren Bericht. „In Freudentränen. Und nur dem Umstand, dass dieses liebe Paar uns aufgenommen und bei sich behalten hat, haben wir es zu verdanken, du mein Sohn und ich, dass wir heute noch leben.“

Erinnerungen eines Lausbuben

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