Читать книгу Die Frau Professorin. Eine Schwarzwälder Dorfgeschichte - Auerbach Berthold - Страница 5

Das war ein Sonntagsleben.

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Am andern Morgen stand der Collaborator ganz früh vor dem Bette Reinhards und sang mit wohlgebildeter, kräftiger Stimme, die man ihm nicht zugemuthet hätte, das Lied aus Preciosa: ,,Die Sonn’ erwacht“ mit Webers thaufrischer Melodie. Reinhard schlug murrend um sich.

„Ein Mann wie du,“ sang der Collaborator recitando, ,,der das herrliche Bild Sonntagsfrühe abconterfeit, darf einen Morgen nicht verschlafen, wie der heut, bum, bum.“

Reinhard war still und der Collaborator fuhr sprechend fort: „Was fangen wir heut’ an? Es ist Sonntagmorgen, es hat heut’ Nacht geregnet, als ob wir’s bestellt hätten; Alles glitzert und flimmert draussen. Was treiben wir nun? Giebt’s keine Kirchweihe in der Nähe? Kein Volksfest?“

„Vrat’ dir ein Volksfest,“ entgegnete Reinhard, ,,trommle dir die Massen zusammen, die du brauchst, und sattle dein Gesicht mit einem Operngucker; wirf Geld unter die Kinder, dass sie sich raufen und übereinander purzeln, dann hast du ein Volksfest mit ipse fecit.“

„Du warst gestern Abend so lustig und bist heute so mürrisch.“

„Ich war nicht lustig und bin nicht mürrisch; ich bin nur ein Kerl, der eigentlich allein sein sollte und verdammterweise doch keinen Tag allein sein kann. Pass auf, wie ich’s meine. Es ist mir lieb, wenn du bei mir bist; ein Freund wie du, der’s so treu meint, ist wie wenn man Geld im Schrank hat; braucht man’s auch nicht, es unterstützt doch, weil man weiss, man kann’s holen, wenn Noth an Mann geht. Also bleib’ die noch übrigen Tage deiner Ferien da, aber lass mich auch ein bischen mir.“

„Ich begreife dich wohl. Hier empfängst du den Kuss der Muse und da darf kein fremdes, betrachtendes Auge dabei sein. Ich will dich gewiss ganz dir überlassen, stets zurücktreten, wo sich dir irgend ein Motiv zu einem Bilde bieten könnte; da darf man nicht mit Fingern hindeuten, nicht einmal profanen Auges hinschauen. Die Wurzel, die schaffende Triebkraft alles Lebens, ruht im Dunkel, wo kein Sonnenblick, wo kein Auge hindringt.“

,,Das, auch,“ sagte Reinhard, „und für dich selber merke dir: will nicht von jedem Augenblicke etwas, ein Resultat, einen Gedanken und dergleichen; lebe und du hast Alles. Wir stecken in der Gedankenhetzjagd, die uns gar nicht mehr in Ruhe das Leben geniessen lässt, du vor Allen, aber ich kann auch sagen wie jener Pfarrer in seiner Strafpredigt: Meine lieben Zuhörer, ich predige nicht nur für euch, ich predige auch für mich. — Lass und leben! leben! Der Hollunder blüht, er blüht und nicht blos damit ihr Euch einen Thee daraus abbrüht, wenn ihr euch erkältet habt.“

,,Entschuldige, wenn ich dir sage,“ bemerkte der Collaborator in zaghaft rücksichtsvollem Tone, ,,es steckt mehr Romantik in dir als du glaubst, das war ja auch die blaue Blume der Romantiker: ohne alle Reflexion zu sein, im Volgenuss des Nichtwissens.“

„Bin nicht ganz einverstanden, aber meinetwegen heiss’ es Romantik, wenn das Kind einen Namen haben muss.“

Reinhard stand halb angekleidet am Fenster und sog die Morgenluft in vollen Zügen ein; plötzlich prallte er zurück, der Collaborator sprang schnell an das leere Fenster und sah hinaus. Das Wirthstöchterlein ging über den Hof, luftig gekleidet, ohne Jacke und barfuss. Eine Schaar junger Enten umdrängte sie schnatternd.

„Ihr Fresserle,“ schalt sie und verzog Damit trotzig den Mund, ,,könnet’s nicht verwarten, bis eure Kröpfle vollgestopft sind? Euch solltʼ man alle Viertelstund’ anrichten, nicht wahr? Nur stet, ich hol’s ja, nur Geduld, ihr müsset halt auch Geduld lernen; aus dem Weg! ich tret’ euch ja.“

Die jungen Entchen hielten an, als ob sie die Worte verständen, das Mädchen ging nach der Scheune und kam mit Gerste in der Schürze wieder. „Da,“ sagte sie, eine Handvoll ausstreuend, „g’segn’ euch’s Gott! Gunnet’s euch doch, ihr Neidteufel und purzelt nicht über einander weg, scht!“ scheuchte sie und warf eine Handvoll Gerste weiter abseits, „ihr Hühner, bleibt da drüben.“ Der Hahn stand auf der Leiter an der Scheune und krähte in die Welt hinein. „Kannst’s, noch, accurat wie gestern,“ sagte das Mädchen sich verbeugend, „komm’ jetzt nur ’runter; bist halt grad wie die Mannsleut’, die lassen immer auf sich warten, wenn das Essen auf dem Tisch steht.“

Der Hahn kam auch herabgeflogen und liess sich’s wohl schmecken, plauderte aber viel dabei; wahrscheinlich hatte er eben etwas Geistreiches oder Possiges gesagt, denn eine gelbe Henne, die gerade ein Korn aufgepickt hatte, schüttelte den Kopf und verlor das Korn. Der Galante sprang behende herzu, holte das Verlorene und brachte es mit einem Kratzfusse, einige verbindliche Worte murmelnd.

„Guten Morgen, Jungferle,“ rief jetzt der Collaborator in den Hof hinab; das Mädchen antwortete nicht, sondern sprang wie ein Wiesel davon und ins Haus; die jungen Enten und die Hühner schauten bedeutsam nach dem Fenster hinauf, sie mochten wol ahnen, dass von dorther die Störung gekommen war, die ihnen die fernere Nahrung entzog.

„Das ist ein Mädchen! ach, das ist ein Mädchen!“ rief der Colaborator in die Stube gewendet und ballte beide Fäuste zum Himmel; er durchmass hierauf zweimal ohne zu reden die Stube, stellte sich dann vor Reinhard und begann wieder:

,,Da hast du’s, ich kann weiter nichts sagen als: das ist ein Mädchen. Kein Epitheton genügt mir, keines. Hier haben wir ein Gesetz der Volkspoesie, sie gibt den vollsten Ausdruck, macht die tiefste Wirkung oft blos durch das einfache Substantiv, ohne Epitheton; meiner Sprache steht jetzt in solcher Entzückung nicht mehr zu Gebote, als der eines Bauernburschen.“

„Was hältst du davon, wenn wir uns mit dem Epitheton „göttlich“ begnügten?“

„Spotte jetzt nicht, das Mädchen musst du malen, wie es dastand, eins mit der Natur, zu ihr redend und von ihr begriffen, die vollendete Harmonie.“

„Es wäre allerdings etwas nie Dagwesenes: ein Mädchen im Hühnerhofe.“

„Nun, wenn auch nicht so, das Mädchen musst du malen, hier ist dir ein süsses Naturgeheimniss nahegestellt, du“ —

„Ins Teufels Namen, so schweig doch still, wenn es ein Geheimniss ist. Du schwatzest schon am frühen Morgen, dass man nicht mehr weiss, wo Einem der Kopf steht.“

Die beiden Freunde sassen eine Weile lautlos bei einander; endlich sagte der Collaborator aufstehend:

,,Du hast Recht, der Morgen ist wie die stille Jugendzeit, da muss man den Menschen allein lassen, für sich, bis er nach und nach aus sich erwacht; man soll ihn nicht aufrütteln. Ich gehe in den Wald, du gehst doch nicht mit?“

„Nein.“

Der Collaborator ging und Reinhard sass lange still, das viele Reden und Rütteln des Collaborators hinterliess ihm die Empfindung, als ob er von einer geräuschvollen Reise käme; die ruhige Spiegelglätte des Morgenlebens war ihm zu hastigen Wellen aufgehetzt. Reinhard war verstimmt und nervengereizt, er legte sich nochmals auf das Bett und verfiel in leisen Schlummer. Die Glocken des Kirchthurms weckten ihn, es läutete zum Erstenmal zur Kirche. Reinhard ging hinab in die Küche; die Bärbel, seine alte Gönnerin, die sonst so freundlich mit ihm geplaudert hatte, war unwirsch, sie sagte, er solle nur in die Stube gehen, sie hielte ihm schon seit drei Stunden den Kaffee bereit und man könne ja das Feuer nicht ausgehen lassen von seinetwegen. Reinhard war eben im Begriffe ihr eine barsche Antwort zu gehen, er hatte es genug, sich über den gestrigen Scherz hart behandeln zu lassen, da hörte er die Stimme Lorle’s von der Laube:

„Bärbel, komm ause, guck ob’s so recht ist.“

„Komm’ du ’rein, ist grad so weit; mach nur fort, es wird schon recht sein.“

Ohne eine Antwort gegeben zu haben, verliess Reinhard die Küche, er ging aber nicht in die Stube, sondern fast unhörbar nach der Laube. Ungesehen von dem Mädchen konnte er dasselbe eine Weile beobachten; er stand betroffen beim ersten Anblick. Das war ein Antlitz voll seligen, ungetrübten Friedens, eine süsse Ruhe war auf den runden Wangen ausgebreitet; diese Züge hatte noch nie eine Leidenschaft durchtobt oder ein wilder Schmerz, ein Reuegefühl verzerrt, dieser feine Mund konnte nichts Heftiges, nichts Niedriges aussprechen, eine fast gleichmässige zarte Röthe durchhauchte Wange, Stirn und Kinn, und wie das Mädchen jetzt mit niedergeschlagenen Augen das Bügeleisen still auf der Halskrause hielt, war’s wie der Anblick eines schlafenden Kindes; als es jetzt die Krause emporhob, die grossen blauen Augen aufschlug und den Mund spitzte, trat Reinhard unwillkürlich mit Geräusch einen Schritt vor.

„Guten Morgen, oder bald Mittag,“ nickte ihm Lorle zu.

„Schön Dank, seid Ihr wieder gut?“

„Ich bin nicht bös gewesen, ich wüsst’ nicht warum. Habt Ihr gut geschlafen?“

„Nicht so völlig.“

„Warum? Habt Ihr was träumt? Ihr wisset ja, was man in der ersten Nacht in einem fremden Bett träumt, das trifft ein.“

,,Aber mein Traum nicht.“

„Nun, was ist’s denn gewesen? Dürfet Ihr’s nicht sagen?“

,,Ganz wohl, und Euch besonders, ich hab’ von Euch träumt.“

„Ach, von mir, das kann nicht sein. Gucket, machet mir keine Flatusen; es hat mich verdrossen, wenn Ihr mich früher Grundel geheissen habt, aber es wär’ mir noch lieber, wenn Ihr so saget, als wenn Ihr mir so was Gaukliches vormachet.“

„Ich kann ja auch was träumt haben, das gar kein’ Flatuse ist. Machet aber nur kein Gesicht, es ist nichts Böses, es ist blos dumm. Mir hat’s träumt, ich sei mit Euch auf dem Bernerwägele gesessen und Euer Rapp war angespannt, und hat eine grossmächtige Schelle um den Hals gehabt, die hat geläutet wie die Kirchenglock’, und der Kapp ist nur so durch die Luft dahingeflogen, seine Mähne ist hoch aufgestanden und man hat kein Rad gehört und wir sind doch immer fort und fort. Ich hab’ den Rapp halten wollen, er hat mir aber schier die Arme aus dem Leib gerissen und Ihr seid immer ganz ohne Angst neben mir gesessen und so immer fort; plötzlich legt sich der Wagen ganz sanft um und wir sind auf dem Boden gelegen, da ist mein Kamerad kommen und hat mich geweckt.“

„Das ist ein wunderlicher Traum, aber in den nächsten vier Wochen fahr’ ich nicht mit Euch. Was ich hab’ sagen wollen, Euer Kamerad ist ein wunderlicher Heiliger, mein Vater sagt, er sei stolz und hochmüthig, ich mein’ eher, er sei zimpfer und ungeschickt.“

„Ihr habt ihm doch seine Störung verziehen?“

„Ja. Seid Ihr auch schon auf gewesen?“

„Nicht ganz. Mit meinem Kameraden habt Ihr Recht, er ist nicht stolz, im Gegentheil scheuch und furchtsam.“

„Ja, das hab’ ich auch denkt, und grad weil er scheuch und furchtsam ist, da geht er so auf die Leut’ ’nein und thut wie wenn er sie zu Boden schwätzen wollt’. Wie ich vorlängst bei der Vroni auf der Hohlmühle gewesen bin, Ihr wisset ja, sie ist mit meinem Stephan versprochen, sie heirathen bis zum Herbst und er übernimmt die Mühle; Ihr seid doch auch noch da zur Hochzeit?“

„Kann sein, aber Ihr habt mir was erzählen wollen?“

„Ja, das ist Recht, dass Ihr Einen beim Wort behaltet, ich schwätz’ sonst in den Tag ’nein. Nun wie ich drunten in der Hohlmühle bin, da wird’s Nacht und da haben sie mir das Geleit geben wollen, ich hab’s aber nicht zugeben und es wär’ mir doch recht gewesen. Ich bin halt jetzt allein fort, im Wald da ist mir’s aber katzhimmelmäuslesangst worden, und weil ich mich so gefürcht’t hab’, da hab’ ich allfort pfiffen, wie wenn ich mir aus der ganzen Welt nichts machen thät. Ja, wie komm ich denn aber jetzt da drauf, dass ich Euch das erzähl’?“ schloss Lorle, die Lippen zusammenpressend und die Augen nachdenklich einziehend.

„Wir haben von meinem Kameraden gesprochen und“ —

„Ja, Ihr bringet mich wieder drauf; der pfeift auch so lustig, weil er Angst hat, nicht wahr?“

,,Vollkommen getroffen. Ihr müsst nun aber recht freundlich gegen ihn sein, er ist ein herzguter Mensch, der’s verdient, und es wird ihn ganz glücklich machen.“

,,Was ich thun kann, das soll geschehen. Ist er noch ledig?“

,,Er ist noch zu haben, wenn er Euch gefällt.“

„Wenn Ihr noch einmal so was saget,“ unterbrach Lorle, das Bügeleisen aufhebend, „so brenn’ ich Euch da den Bart ab. Ja, dass ich’s nicht vergess’, lasset Euch Euern Bart nicht abschwätzen, er steht Euch ganz gut.“

,,Wenn er Euch gefällt, wird er sich um die ganze Welt nichts scheeren.“

,,Was gefällt? Was ist da von gefallen die Red’?“ ertönte eine kräftige Weiberstimme, es war die der Bärbel.

,,Das Lorle ist in meinen Kameraden verschossen,“ sagte Reinhard.

,,Glaub’ ihm nichts, er ist ein Spottvogel,“ rief das Mädchen und Bärbel entgegnete:

,,Herr Reinhard, ganget ’nein und trinket Guern Kaffee; Ich g’wärm ihn Euch nimmer.“

,,Geht Euer Goller da in die Kirch’?“ wendete sich Reinhard an Lorle und erhielt die Antwort:

„Nein, das gehört der Bärbel, die geht, ich bleib’ daheim; Ihr geht doch auch?“

,,Ja,“ schloss Reinhard und trat in die Stube. Er hatte eigentlich nicht die Absicht gehabt, in die Kirche zu gehen, aber er musste und wollte jetzt; er musste, weil er’s versprochen, und wollte, weil Lorle allein zu Hause blieb. Und wie wir unsern Handlungen gern einen allgemeinen Charakter gehen, so redete er sich auch ein, er gewinne durch die Theilnahme an dem Kirchengange auf’s Neue die Grundlage zur Gemeinsamkeit des Dorflebens und ein Recht darauf.

Während Reinhard in der Stube dies überdachte, sagte Lorle draussen auf der Laube: ,,Denk nur, Bärbel, er hat heut Nacht von mir träumt.“

,,Wer denn?“

„Nu, der Herr Reinhard.“ Lorle verfehlte nie, auch wenn sie von dem Abwesenden sprach, das Wort ,,Herr“ zu seinem Namen zu setzen.

„Lass dir von dem Fuchsbart nichts aufbinden,“ entgegnete Bärbel.

„Und der Bart ist gar nicht fuchsig,“ sagte Lorle voll Zorn, „er ist ganz schön kästenbraun und der Herr Reinhard ist noch grad so herzig wie er gewesen ist, und du hast doch früher, wo er nicht dagewesen ist, immer so gut von ihm gered’t und du hast Unrecht, dass du jetzund so über ihn losziehst. Wenn er auch den Spass mit dem Ausschellen gemacht hat, er ist doch nicht stolz, er red’t so gemein und so getreu.“ —

„Ich kann nichts sagen als: nimm dich vor ihm in Acht, und du bist kein Kind mehr.“

,,Ja das mein’ ich auch, ich weiss doch auch wie Einer ist, ich . . .“

,,Gib mir mein Goller, du zerdrückst’s ja wieder,“ sagte Bärbel und ging davon.

Reinhard wandelte sonntäglich gekleidet mit Stephan und Martin nach der Kirche. Alles nickte ihm freundlich zu, Manche lachten noch über die seltsame Bartzier, aber der Träger derselben war ihnen doch heimisch; sie fühlten es dunkel, dass er zu ihnen gehörte, da er nach demselben Heiligthume, zu derselben Geistesnahrung mit ihnen wallfahrtete.

Auf dem Wege fragte Martin: „Nun was saget Ihr aber zu unserm Lorle? nicht wahr, das ist ein Mädle?“

,,Ja,“ entgegnete Reinhard, ,,das Lorle ist gerad wie ein feingoldiger Kanarienvogel unter grauen Spatzen.“

,,Es ist ein verfluchter Kerle, aber Recht hat er,“ sagte Martin zu Stephan.

Reinhard sass bei dem Schulmeister auf der Orgel, der brausende Orgelklang that ihm wundersam wohl, er durchzitterte sein ganzes Wesen wie ein frischer Strom. Die Bärbel, die ihn jetzt von unten sah, dachte in sich hinein: Er ist doch brav! Wie seine Augen so fromm leuchten! Reinhard hörte nur den Anfang der Predigt. An den Text: ,,Lasset euer Brod über das Meer fahren,“ wurde eine donnernde Strafrede angeknüpft, weil das ganze Dorf sich verbunden hatte, nichts für das zu errichtende Kloster der barmherzigen Schwestern beizusteuern. Reinhard verlor sich bei dem eintönigen und nur oft urplötzlich angeschwellten Vortrage in allerlei fremde Träumereien. Drunten aber lag die Bärbel auf den Knien, presste ihre starken Hände inbrünstig zusammen und betete für Lorle; sie konnte nun einmal den Gedanken nicht los werden, dass dem Kinde Gefahr drohe, und sie betete immer heftiger und heftiger; endlich stand sie auf, fuhr sich mit der Hand bekreuzend über das Gesicht und wischte alle Schmerzenszüge daraus weg.

Der Orgelklang erweckte Reinhard wieder, er verliess mit der Gemeinde die Kirche. Nicht weit von der Kirchenthüre stand die Bärbel seiner harrend; indem sie ihr Gesangbuch hart an die Brust drückte, sagte sie zu Reinhard: „Grüss Gott!“ Er dankte verwundert, er wusste nicht, dass sie ihn erst jetzt willkommen hiess.

Als Reinhard nun noch einen Gang vor das Dorf unternahm, begegnete ihm der Collaborator mit einem gespiessten Schmetterling auf dem Mützenrande.

„Was hast du da?“, fragte Reinhard.

,,Das ist ein Prachtexemplar von einem papilio Machaon, auch Schwalbenschwanz genannt; er hat mir viel Mühe gemacht, aber ich musste ihn haben, mein Oberbibliothekar hat noch keinen in seiner Privatsammlung; es waren zwei, die immer in der Luft mit einander kosten, immer zu einander flatterten und wieder davon; sind glückselige Dinger, die Schmetterlinge! Ich hätte sie gern beide gehabt oder bei einander gelassen, habe aber nur einen bekommen, und schau wie ich aussehe; in dem Moment wie ich ihn haschte, bin ich in einen Sumpf gefallen.“

„Und Stecknadeln hast du immer bei dir?“

,,Immer; sieh hier mein Arsenal,“ er öffnete die innere Seite seines Rockes, dort war ein R aus Stecknadelköpfen gesetzt.

,,Aber dass ich’s nicht vergesse,“ fuhr er fort, „ich habe das Wort gefunden.“

,,Welches Wort?“

„Das Epitheton für das Mädchen: wonnesam! Es ist ein Vorzug unserer Sprache, dass dieses Wort transitiv und intransitiv ist, sie ist voll Wonne und strahlt Jedem Wonne in die Seele. Aber halt! Eben jetzt, indem ich rede, finde ich das Urwort, das ist’s: Marienhaft! Was die Menschheit je Anbetungswürdiges und Wonniges in der Erscheinung der Jungfrau erkannte, das drängte sie in dem Wort Maria, zusammen. Das kann keine andere Sprache, solch ein nomen proprium allgemein objektivisch bilden. Marienhaft! das ist’s.“

Reinhard ward still; nach einer Weile erst frug er:

,,Warst du die ganze Zeit im Walde?“

„Gewiss, o! es war himmlisch, ich habe einen tiefen Zug Waldeinsamkeit getrunken. Sonst wenn ich den Wald betrat, war mir’s immer, als ob er schnell sein Geheimniss vor mir zuschliesse, als ob ich nicht würdig sei, durch diese heiligen Säulenreihen zu schreiten und den stillen Chor der ewigen Natur zu vernehmen; mir war’s immer, als ob beim letzten Schritte, den ich aus dem Walde thue, jetzt erst hinter mir das süsse geheimnissvolle Rauschen beginne und unerfassbare Melodien erklingen. Heute aber habe ich den Wald bezwungen. Ich bin emporgedrungen durch Gestrüpp und über Felsen bis zum Quellsprung des Baches, wo er zwischen grossen Basaltblöcken hervorquillt und ein breites, rundes Becken ihn sogleich aufnimmt, als dürfte er da zu Hause bleiben. Du warst gewiss noch nicht dort, sonst müsstest du’s gemalt haben; das muss nun dein erstes Bild sein. Die Bäume hangen so sehnsüchtig nieder als wollten sie das Heiligthum zudecken, dass kein sterbliches Auge es sehe, in jedem Blatt ruht der Friede; der rothe und weisse Fingerhut lässt seine Blüthenkette zwischen jeder Spalte aufsteigen, es ist eine Giftpflanze, aber sie ist entzückend schön! Die sanfte Erika versteckt sich lauschend hinter dem Felsen und wagt sich nicht hervor an das rauschende Treiben. Dort lag ich eine Stunde und habe Unendlichkeiten gelebt. Das ist ein Plätzchen, um sich ins All zu versenken. Morgenglocken tönten von da und dort, mir war’s wie das Summen der Bienen, die sich heute bei der Sicherheit des schönen Wetters weit weg vom Hause wagten. Ich war emporgeklommen, hoch hinauf auf Bergeshöhen, die die Kirchthürme weit überragen, ich stand über Zion auf den Spitzen des unendlichen Geistes; da fühlte ich’s wie noch nie, dass ich nicht sterben kann, dass ich ewig lebe; ich fasste die Erde, die mich einst decken wird, und mein Geist schwebte hoch über allen Welten. Mag ich freudlos über die Erde ziehen, klanglos in die Grube fahren, ich habe ewig gelebt und lebe emig.“ …

Reinhard setzte sich auf den Wegrain unter einen Apfelbaum, er zog auch den Freund zu sich nieder. ,,Sprich weiter,“ sagte er dann; der Angeredete blickte schmerzlich auf ihn, dann schaute er vor sich nieder und fuhr fort:

,,Ich lag lange so in selig traurigem Entzücken, ich sah dem unaufhörlich sich ergiessenden Quell zu. Wie ätherklar springt er hervor aus nächtiger Verborgenheit; wie rein und hell schlängelt er sich in die Schlucht hinab, bald aber noch bevor er den ruhigen Thalweg erreicht, wird er eingefangen; was sicht’s ihn an? Er springt keck über das Mühlrad und eilt zu den Blumen am Ufer. In der Stadt aber dämmen sie ihn ein, da muss er färben, gerben und verderben; er kennt sich nicht mehr. Es kann auch einem reinen klaren Naturkinde so ergehen. Was thut’s? Du einzler Quell vom Felsensprung! ströme zu bis hin in das unergründliche, unbezwungene Meer, dort ist neue, dort ist ewige Klarheit und unendliches Leben, ein Ruhen und ein Bewegen in sich . . . . Bei dem Ersten was ich dachte war mir’s nicht eingefallen es festzuhalten, jetzt aber wollte ich Alles in melodische Worte fassen; ich quälte mich in allen Versarten, hin war meine Ruhe. Da fielst du mir wieder ein: Wozu ein Resultat? Ich hab’s gelebt, was braucht es mehr?“ . . . .

,,Ich kenne dein Waldheiligthum schon lange,“ sagte Reinhard auf dem Heimwege, „ich habe auch genug dort geträumt, aber mit dem Pinsel konnte ich ihm nicht beikommen; liessen sich deine Gedanken malen, ja dann wär’s anders. Ich habe mich von der Landschaft entfernt, und doch so oft ich hieher komme, ist mir’s als ob hier eine tiefere Offenbarung noch meiner harre, besonders jetzt; vielleicht ist’s dein Waldheiligthum, vielleicht auch nicht.“

,,Wo warst denn du während meines Waldganges?“

,,Ich war in der Kirche; du hättest eigentlich auch dort sein sollen; das einigt mit dem Bauernleben.“

,,Ja, ja, du hast Recht, ei, das thut mir leid; nun, ich gehe heut Mittag.“ —

,,In Wirthshause war eine grosse Veränderung.

Als der Collaborator neu beschuht herunterkam, rief ihm Lorle freundlich zu: „Das ist schön, Herr Kohlebrater, dass Ihr nicht auf Euch warten lasset. Wo seid Ihr denn gewesen?“

,,Im Walde droben. Saget aber nicht Kohlebrater, ich heisse mit meinem ehrlichen Namen Adalbert Reihenmaier.“

,,Ist auch viel schöner. Nun erzählet mir auch ’was, Herr Reihenmaier.“

,,Ich kann nicht viel erzählen.“

,,Ja, wir wollen warten bis Mittag, Ihr gehet doch auch mit auf die Hohlmühle? und Ihr könnet ja so schön singen.“

,,Ich bin bei Allem, absonderlich wo Ihr seid; ich hab’ im Walde an Euch gedacht.“

,,Müsset mich nicht so zum Possen haben, ich bin zu gut dazu und Ihr auch; es schickt sich nicht für so einen Herrn wie Ihr seid. Hübsch ordelich sein, das ist recht. Ihr müsset aber auch Euren Sonntagsrock anziehen. Habt Ihr denn keinen?“

,,Mehr als einen, aber nicht hier.“

,,Ja, Ihr habt’s doch gewusst, dass Ihr am Sonntag bei uns seid? Nun — schad’t jetzt nichts. Ich will Euch den Martin schicken, er soll Euch ein bisle aufputzen.“

,Jubelnd sprang der Collaborator die Treppe hinauf und holte eine Sammlung Volkslieder — (die er zu etwaigen Ergänzungen und Varianten mitgenommen hatte) — aus seinem Ränzchen; er warf das Buch an die Zimmerdecke in die Höhe und fing es wieder auf. „Hier,“ rief er, das Buch hätschelnd, als wäre es etwas Lebendiges, „hier seid ihr zu Hause, nicht in der Bibliothek eingepfercht; heut’ sollt ihr wieder lebendig werden.“

Beim Essen herrschte die alte Gewohnheit nicht mehr, für Reinhard und seinen Freund war in dem Verschlag besonders gedeckt. Reinhard sagte dem Wirth, dass er wie ehedem am Familientisch essen wolle. Der Alte aber schüttelte den Kopf ohne ein Wort zu erwidern, nahm die weisse Zipfelmütze ab und hielt sie zwischen den gefalteten Händen auf der Brust, damit das Gebet beginne.

,,Bärbel, traget nur die zwei Gedecke heraus, wir essen nicht allein,“ rief Reinhard. Der Wadeleswirth setzte schnell die Mütze wieder auf, schaute, ohne eine Miene zu verziehen, rechts und links und sagte:

,,Nur stet.“ 5 Er machte dann eine ziemliche Pause, wie jedesmal, wenn er dieses Wort sagte, das als Mahnung galt, dass Keiner mucksen dürfe bis er weiter redete; endlich und endlich setzte er hinzu:

,,Drin bleibt’s: Es ist kein Platz da für zwei.“ Er hob die Arme bedachtsam auf, strich die Hände wagrecht über die Luft, wie den Streichbengel über ein Kornmass, was so viel hiess als: abgemacht.

Die Freunde setzten sich in den Verschlag, Lorle trug ihnen auf.

„Kann denn das die Bärbel nicht?“ fragte Reinhard, und der Collaborator ergänzte: „Ihr solltet uns nicht bedienen.“

,,O du liebs Herrgöttle,“ beschwichtigte Lorle, „was machen die für ein Gescheuch von dem Auftragen. Ich thu’s ja gern, und wenn Ihr einmal eine liebe Frau habt, Herr Reihenmaier, und ich komm’ zu Euch und Ihr gunnet mir ein warm Süpple, da soll mich Euer Weible auch bedienen.“

,,Woher wisset Ihr denn, dass ich heirathen möcht’?“

,,Da kann man mit der Pelzkappe darnach werfen, so gross steht’s Euch auf der Stirn geschrieben: ich glaub’, dass eine Frau mit Euch rechtschaffen glücklich wird.“

,,Woher wisset Ihr denn das?“

,,Ihr seid so ordelich mit der Handzwehle 6 umgangen.“

Alles lachte, und draussen am Tische sagte der Vater: ,,Es ist ein Blitzmädle, und es hat sonst in einem Jahr nicht so viel geschwätzt, wie jetzt seit gestern.“

,,Ja,“ sagte die Mutter, nachdem sie mit besonderer Zufriedenheit einen Löffel Suppe verschluckt, jetzt mit dem Löffel auf den ihres Mannes klopfend, „du wirst’s noch einsehen, was das für ein Mädle ist; das ist so gescheit wie der Tag.“

„Das hat es von dir und von unserm Vorross, von der Bärbel da,“ schloss der Wadeleswirth, den Schlag zurückgebend.

Die beiden Freunde unterhielten sich vortrefflich mit Lorle, das immer ein Auge auf jegliches Erforderniss hatte, seltsamerweise aber Alles mit der linken Hand anfasste; der Collaborator sah sie mehrmals scharf darob an und Lorle sagte:

,,Nicht wahr, es ist nicht in der Ordnung, dass ich so links bin? Ich hab’ mir’s schon abgewöhnen wollen, aber ich vergess’ es immer.“

Schnell nahm Reinhard das Wort: „Das schadet nichts!“ Leiser, dass man es in der Stube draussen nicht hören konnte, setzte er hinzu: ,,Ihr machet Alles prächtig. Wer kann’s beweisen, dass die rechte Hand die geschicktere ist? Eure Linke ist flinker als manche Rechte, und mir gefällt’s so ganz wohl.“

Bei diesen Worten richtete sich Lorle grad auf, eine eigenthümliche Majestät lag in ihrem Blicke.

,,Sind keine Musikanten im Dorf?“ fragte der Collaborator.

„Freilich, sie sind alle bei einander.“

,,Die sollten uns heut’ Abend einige Tänze spielen, ich bezahle gern ein Billiges.“

,,Ja, das geht nicht, der Soultheiss ist heut verreist und es ist vom Amt streng verboten, ohne polizeiliche Erlaubniss Musik zu halten; in Eurer Stub’ droben hängt die Verordnung.“

,,O Romantik! Wo bist du?“ sagte der Collaborator und Lorle erwiderte: „Das haben wir hier nicht, aber ein Clavier steht droben, das darf man —“

Die beiden Freunde brachen in schallendes Gelächter aus, so dass sie sich kaum auf ihren Sitzen halten konnten. Reinhard fasste sich zuerst wieder, denn er sah, wie es plötzlich durch das so friedliche Antlitz des Mädchens zuckte und zitterte, Pulse klopften sichtbar in den Augenlidern und ein tiefschmerzlich fragendes Lächeln lag auf den Lippen. Lorle stand da mit zitterndem Athem; sie wand das festangezogene Schürzenband um einen Finger, dass es tief einschnitt; dieser körperliche Schmerz that ihr wohl, er verdrängte einen Augenblick den seelischen. Reinhard gebot in barschem Tone seinem Freunde, mit dem „einfältigen Lachen“ endlich aufzuhören. So sehr sich nun auch der Collaborator entschuldigte und sich Mühe gab, Lorle zu erklären was er gemeint habe, das Mädchen räumte schnell ab und blieb verstimmt, so verstimmt wie das Clavier, das der Collaborator alsdann in seiner Stube probirte.

Das war eine grausam zerstörte Harmonie, fast keine Saite hatte mehr den entsprechenden Klang, da mussten viele Menschen darauf losgetrommelt haben. „Ja,“ dachte der Collaborator, „wenn ein Wesen einmal zur Misstimmung gebracht ist, dann arbeitet Jedes zum Scherze oder muthwillig darauf los, es noch mehr und vollends zu verstimmen, und haben sie’s vollbracht, dann lassen sie es vergessen im Winkel stehen.“ Der Collaborator sah darin nur ein Bild seines Lebens, er dachte nur an sich. — Von den vielen Wanderungen und Empfindungen ermüdet, verschlief er dann richtig die Mittagskirche, zu seinem und vielleicht auch zu unserm Frommen. Wer weiss, ob das Waldheiligthum vom Morgen ungestört geblieben wäre.

Als Lorle aus der Mittagskirche kam, ging sie mit ihrem Bruder rasch nach der Hohlmühle. Der Vater, das wusste sie, war nicht so bald loszueisen, er versprach mit der Mutter nachzukommen. Freilich hatte sich’s Lorle heute Morgen schön ausgedacht, wenn auch die Fremden mitgingen. Es lief auch ein Bischen Stolz mit unter. Das war aber nun Alles vorbei. Nach vielem Drängen folgte das alte Ehepaar mit den Freunden zwei Stunden später. Der Collaborator war wieder ganz aufgeräumt.

,,Ihre Uhren hier gehen falsch,“ bemerkte er dem Wirthe, ,,ich habe die meinige nach dem Meridian auf der Bibliothek gestellt. Sie könnten sich hier auch eine Sonnenuhr einrichten, etwa an der neuen Kirche, die jetzt gebaut wird; à propos, warum bauen Sie die neue Kirche nicht mehr drüben auf dem Hügel, das war ja so schön, dass man sich erhebt, wenn man zur Kirche geht?“

,,Ja, wir wollen jetzt die Kirch’ bei der Hand haben, zu allen Gelegenheiten wo man’s braucht.“

„Da habt Ihr auch Recht, die Religion und die Kirche sollen nicht mehr oberhalb, fern von dem Leben stehen, sondern mitten unter demselben. Ach, da blüht schon vorzeitig die Genziana cruciata,“ unterbrach sich der Collaborator und sprang über den Weggraben nach der Blume.

Der Wadeleswirth schaute ihm lächelnd nach und sagte zu Reinhard: „Das ist ein sonderbarer Mensch! Hat man nicht gemeint, er will mit aller Gewalt die Kirch’ wieder auf den Berg setzen, und wenn man’s ihm anders auslegt, gleich ist es ihm auch Recht; bei dem ist’s, wie bei dem Verwalter auf der Saline drunten, der hat einen Schlafrock, den man auf all beiden Seiten anziehen kann. Grausam gelehrt muss er aber sein; was hat er denn eigentlich g’studirt?“

„Zuerst geistlich und dann viele Sprachen; jetzt ist er auf dem Bücherkasten angestellt und da hat er von Allem was wegkriegt. Er hat im Ganzen wohl feste Meinungen und grundbrav ist er, das könnet Ihr mir glauben.“

„Ja, ja, glaub’s schon.“

Der Collaborator war wieder herbeigekommen. Er konnte sich nicht enthalten, auf jedem Schritte Reinhard auf die Schönheiten des Weges aufmerksam zu machen; da war eine Baumgruppe, eine Durchsicht, ein knorriger Ast, Alles rief er an „und sieh,“ sagte er wieder, „wie das Sonnenlicht so herrlich in Tropfen durch die Zweige und von den Blättern rinnt!“

,,Lass doch dein ewiges Erklären!“ fuhr Reinhard auf; der Collaborator ging still, um sich wieder eine Blume zu holen und zerschnitt sie mit dem Federmesser.

,,Ihr müsset, ihn nicht so anfahren,“ sagte der Wadeleswirth, „das ist ja ein glücklicher Mensch; wo ein Anderes gar nichts mehr hat, hat der noch überall Freude genug, an der Sonn’, an einer Blum’, an einem Käfer, an Allem.“ —

Man war endlich am Mühlgrunde angekommen: dort wandelten zwei Mädchen durch die Thalwiese Hand in Hand und sangen. „Lorle!“ rief die Mutter, das Echo hallte es wieder, Vroni blieb stehen und Lorle sprang den Kommenden entgegen. Der Wadeleswirth stand da, weitspurig und die Hände in die Seiten gestemmt, er nickte nur einmal scharf mit dem Kopfe und hier sprach sich sein ganzer Vaterstolz aus: zeiget mir noch so ein Mädle landaus und landein, sagten seine Mienen.

Reinhard ward auf der Mühle herzlich bewillkommt, auch sein Freund wurde traulich begrüsst, denn hier, wo Alles in der Sippschaft lebt, werden die Freunde wie Familiengenossen angesehen. Um den Tisch unter dem Nussbaum sass die Gesellschaft, der alte Müller zeigte Reinhard, wie sein Name, den er vor Jahren in die Rinde geschnitten, gross geworden war.

Der Collaborator wendete keinen Blick von dem alten Manne, für dessen Antlitz er später die eigene Bezeichnung erfand, indem er es ein „geschmerztes Gesicht“ nannte; es war eines jener edlen, länglichen Gesichter, hohlwangig, mit breiten Backen- und Stirnknochen und grossen blauen Augen, voll Demuth und langen Harmes, darauf die Leidensgeschichte des deutschen Volkes geschrieben ist.

,,Ja,“ sagte der Alte, Reinhard mit dem Finger drohend, „der Schelm soll mich ja, wie sie sagen, in einem besondern Bild gemalt haben. Ist das auch ehrlich und recht?“

,,Das macht der Katz’ keinen Buckel,“ lachte der Wadeleswirth, „mich dürft’ er meinetwegen malen wie er wollt’, ich behielt’ mich doch.“

,,Eingeschlagen, bleibt dabei,“ rief Reinhard, die Hand hinstreckend; als er aber keine Hand erhielt, setzte er lachend hinzu: „Es war nur Spass, es giebt gar keine so dicken Farben wie Ihr seid.“

Unter dem allgemeinen Gelächter sagte dann der Müller: „Jetzt saget’s frei, was habt Ihr denn aus mir gemacht?“

„Nichts Unrechtes. Wie ich damals die Mühle abgezeichnet hab’, da geh’ ich einmal Abends weg, die Sonne ist grad’ im Hinabsinken, da geht Euer Fenster auf, Ihr gucket ’raus, ziehet die Kapp’ vom Kopf, haltet sie zwischen den Händen und betet laut in die untergehende Sonne hinein. Da hat mich’s heilig angerührt und ich hab’ Euch so gemalt, nur mit der Aenderung, dass Ihr unter der Halbthür statt am Fenster stehet.“

„Das ist nichts Unrechtes, das kann man sich schon gefallen lassen,“ sagte die Wirthin.

Man sass ruhig und wohlgemuth beisammen und Reinhard vertraute unter dem Gelöbniss der Verschwiegenheit, dass er in die neue Kirche ein Altarbild stiften wolle. Der Wadeleswirth bot ihm freie Zehrung in seinem Hause an, so lang er hieran arbeite, und der Müller wollte auch etwas thun, er wusste nur noch nicht was.

Eine Weile herrschte Stille in dem ganzen Kreise, Niemand fand, nachdem man so gute und fromme Dinge besprochen, etwas Anderes. Der Collaborator verhalf zu einer andern Stimmung. Die Mädchen waren ab- und zugegangen und hatten Essen aufgetragen, die Gläser waren eingeschenkt, aber Niemand griff zu, weil die Gedanken Aller in der Kirche waren. Lorle hatte den Collaborator offenbar vermieden. Dieser fragte nun Vroni:

,,Hat man keine Sagen von dem Mühlbache? Baden sich keine Nixen droben im Quell?“

„Ja, nix badet sich drin,“ erwiderte Vroni; Alles kicherte in sich hinein.

Der Collaborator liess aber nicht ab und wendete sich an den Alten: ,,Erzählt man sich denn gar nichts von dem Bache?“

„Ach was! Das sind Sachen für Kinder, das ist nichts für Euch.“

,,Ich bitte, erzählet doch, Ihr thut mir einen Gefallen damit.“

,,Nun, man berichtet allerlei, so von dem Wasserweible, und so.“

„Ja, davon erzählet, ich bitte.“

,,So hat im Schwedenkrieg ein Schwed hier der Tochter vom Haus Gewalt anthun wollen und da ist sie auf den Fruchtboden entlaufen und hat die Leiter nachzogen und da hat der Schwed’ die Mühle gestellt und ist am Rad’ ’naufgestiegen und wie er halb droben ist, da ist das Wasserweible kommen, hat die Mühle in Gang bracht, und patsch! ist mein Schmed’ unten gelegen und ist versoffen.“

„Das ist eine Herrliche Sage.“

,,Ja, Aberglaube ist’s,“ eiferte der Müller, „der Schwed’ hat die Mühl nicht recht stellen können und da ist sie halt wieder von selber in Gang kommen.“

Der Nachmittag ging unter mancherlei Gesprächen vorüber, man wusste nicht wie. Die beiden Mädchen machten sich über den Collaborator auf alle Weise lustig, sie hielten ihn für abergläubisch und erzählten ihm Spuk- und Geistergeschichten; besonders Lorle war froh, ihm seinen gelehrten Hochmuth heimzahlen zu können und machte ihn so „gruseln“, dass er gewiss in der Nacht nicht schlafen könne; sie stellte sich, als ob sie an Alles glaube, um ihm rechte Furcht einzujagen. Der Collaborator war ganz glückselig über diese reiche Fundgrube und merkte nichts von der versteckten Schelmerei.

Auf dem Heimwege sagte der Wadeleswirth ein gar weises Wort zu Reinhard: „Euer Kamerad ist doch grad wie ein Kind und er ist doch so gelehrt.“

Stephan war auf der Mühle geblieben, Lorle ging neben der Mutter, der Collaborator begleitete sie und sagte einmal: ,,Da kann man nun Vergangenheit und Zukunft sehen; so wie das Lorle müsset Ihr einmal ausgesehen haben, Frau Wirthin, und das Lorle wird auch einmal so eine nette alte Frau, wie Ihr.“

Die Wirthin schmunzelte, es war ihr aber doch unbehaglich, so von sich sprechen zu hören; denn wenn die Bauern auch noch so gern ein Langes und Breites selber von sich reden, ist es ihnen doch unlieb, wenn ein Anderer sie in ihrem Beisein schildert oder gar kritisirt.

Unser gelehrter Freund aber begann wieder: „Saget doch, woher kommt’s, dass man so selten schöne ältere Leute auf dem Dorfe sieht, besonders wenig schöne ältere Frauen?“

„Ja gucket, die meisten Leut’ haben ein kleines Hauswesen und können keinen Dienstboten halten und da muss oft so eine Frau schon am vierten, fünften Tag, nachdem sie geboren hat, an den Waschzuber stehen oder auf’s Feld. Wenn man sich nicht pflegen und warten kann, wird man vor der Zeit alt.“

,,Ihr solltet einen Verein zur Wartung der Wöchnerinnen stiften.“

,,Ja wie benn?“

Der Collaborator erklärte nun die Einrichtung eines solchen Vereins, die Wirthin aber machte viele Einwendungen, besonders, dass manche Frauen sich ungern von Nichtverwandten in ihre unordentliche Haushaltung hineinsehen lassen; endlich aber stimmte sie doch bei und sagte: „Ihr seid ein recht liebreicher Mensch,“ und Lorle bemerkte: „Aber die Mädle können auch bei dem Verein sein?“

,,Gewiss, der Verein verpflichtet sich, jede Wöchnerin mindestens vierzehn Tage zu pflegen.“

Es war Dämmerung als man im Dorfe anlangte, Reinhard schloss sich einem Trupp Burschen an und zog mit ihnen singend durch das Dorf. Als es längst Nacht geworden war, kam er heim, sprang schnell die Treppe hinauf und wieder hinab. Der Collaborator sass auf seiner Stube und notirte sich einige der heute vernommenen Sagen; als er aber von der Strasse herauf Zitherklang hörte, ging er hinab.

Unter der Linde sass Reinhard, die Zither auf dem Schoosse, die ganze Männerschaft des Dorfes war um ihn versammelt. Er spielte nun zuerst eine sanfte Weisung, er wusste das liebliche Instrument so zart zu behandeln, dass es, bald schmelzend, bald jubelnd, alle Gemüthsregungen verkündete. Die Zuhörer standen still und lauschend, es gefiel ihnen gar wohl und doch, als er jetzt geendet, fürchteten sie, er möchte immer blos spielen. Martin sprach Daher das allgemeine Verlangen aus, indem er rief: „Ihr könnet doch auch singen, gebt was los.“

,,Ja, ja,“ stimmten Alle ein, „singet, singet.“

Reinhard gab nun viele kurze Lieder preis, die er auf seinen Wanderungen aufgehascht hatte; hell klang seine Stimme hinein in die stille Nacht und die Jodeltöne sprangen wie Leuchtkugeln hinauf zum Sternenhimmel und stürzten sich wieder herab.

Lorle, die sich eben hatte zu Bett legen wollen, schaute zum Fenster heraus und horchte hinab; die Worte mit den Lippen sprechend, aber nicht der Luft anvertrauend, sagte sie:

,,Es ist doch ein prächtiger Mensch, so gibt’s doch gewiss Reinen mehr auf der ganzen Welt.“

Nun sang Reinhard das Lied:

,,Und wann’s emol schön aber 7 wird,

Und auf der Alm schön grüen,

Die Böckle mit de Geisle führt,

Die Sendrin mit de Küehn;

Die Wälder werden grün von Laub,

Die Wiesen grün von Gras,

Und wann i an mein’ Sendrin denk,

No g’freut mi halt der G’spass.

Der Collaborator kannte das Lied und begleitete es im Grundbass, Lorle oben machte aber bei den nachfolgenden Versen das Fensterchen zu und legte sich still zu Bett. Gegen das Ende des äusserst naiven Stelldichein, welches im Liede besungen wurde, konnten schon fast alle Burschen mitsingen; der eilfte und letzte Vers wurde unter hellem Lachen noch einmal wiederholt:

,,Der Bue der sait, heut kann’s nit sein,

Heut hab i goar koan Freud,

Wann i das nächstmal wieder kumm,

Heut hab i goar koan Schneid.

Er thut en frischen Juchzer drauf,

Das hallt im ganzen Wald;

Die Sendrin hat ihm nachig’weint,

So lang sie hört den Schall.

„Und das Lied hat eine Sennerin gemacht!“ schrie der Collaborator in vollem Entzücken.

,,Ihrem Herzliebsten zur guten Nacht, gut Nacht,“ schloss Reinhard und ging in das Haus. Die Burschen sangen das neue Lied noch weit hinein durch das Dorf und lachten unbändig.

,,Das war ein genussvoller Tag,“ sagte der Collaborator auf der Stube zu seinem Freunde. „Wie schön ist Musik in der Nacht! Das Licht ist ein Nebenbuhler des Gesangs, es liebt ihn nicht, die dunkle Nacht aber wiegt ihn sanft auf ihren weichen Armen. Du verstehst’s mit dem Volke umzugehen, man sollte ihm die neuen Offenbarungen im Gesange mittheilen, da ist Alles wieder eins, die erste und letzte Bildungsstufe ist im Gesange wieder geeint.“

Da Reinhard nicht antwortete, fuhr der Redner fort: „Du hast mir diesen Abend ein Gesetz von der Völkerwanderung der Lieder, ich wollte sagen, von der Wanderung der Volkslieder concret erklärt. Man hat so oft Volkslieder von ganz localer Färbung an fremden Orten gefunden. Menschen wie du sind die Schmetterlinge, die den befruchtenden Blumenstaub von der einen Blume zur andern bringen. Wir hatten heute Alles: ein Müllerstöchterlein, ein Wirthstöchterlein, ein Maler und Musikant, es fehlte nur noch ein Jäger, dann hätten wir die vollständige Romantik.“

,,Lass die Romantik, du bist heut schon übel damit gefahren.“

„Du solltest unsere heutige Versammlung unter dem Nussbaum malen.“

,,Du hast mir versprochen, mich nicht aufmerksam zu machen.“

„Ja, verzeih’, gut Nacht.“

Reinhard richtete noch bis spät in der Nacht seine Werkstätte ein, er hatte etwas im Sinne und wollte am andern Morgen frisch an die Arbeit.

Die Frau Professorin. Eine Schwarzwälder Dorfgeschichte

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