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Die Periode des Herrn v. Schweitzer in der proletarischen Arbeiterbewegung

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Jean Baptist v. Schweitzer

Unter den Persönlichkeiten, die nach dem Tode Lassalles nacheinander die Führung des von ihm gegründeten Vereins übernahmen, steht J.B. v. Schweitzer allen weit voran. In Schweitzer erhielt der Verein einen Führer, der in hohem Grade eine Reihe Eigenschaften besaß, die für seine Stellung von großem Werte waren. Er besaß die nötige theoretische Vorbildung, einen weiten politischen Blick und eine kühle Ueberlegung. Als Journalist und Agitator hatte er die Fähigkeit, die schwierigsten Fragen und Themen dem einfachsten Arbeiter klar zu machen; er verstand es wie wenige, die Massen zu fanatisieren, ja zu faszinieren. Er veröffentlichte im Laufe seiner journalistischen Tätigkeit in seinem Blatte, dem »Sozialdemokrat«, eine Reihe populärwissenschaftlicher Abhandlungen, die mit zu dem Besten gehören, was die sozialistische Literatur besitzt. So beispielsweise seine Kritik des Marxschen »Kapital« und die später als Broschüre veröffentlichte Abhandlung »Der tote Schulze gegen den lebenden Lassalle«, Arbeiten, die noch heute ihren vollen Wert haben. Auch als Parlamentarier erwies er sich als sehr geschickt und gewandt. Er erfaßte rasch eine gegebene Situation und verstand sie auszunutzen. Endlich war er auch ein guter Redner von großer Berechnung, der Eindruck auf die Massen und die Gegner machte. Aber neben diesen guten, zum Teil glänzenden Eigenschaften besaß Schweitzer eine Reihe Untugenden, die ihn als Führer einer Arbeiterpartei, die in den ersten Anfängen ihrer Entwicklung begriffen war, dieser gefährlich machten. Für ihn war die Bewegung, der er sich nach mancherlei Irrfahrten anschloß, nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Er trat in die Bewegung ein, sobald er sah, daß ihm innerhalb des Bürgertums keine Zukunft blühte, daß für ihn, den durch seine Lebensweise früh Deklassierten, nur die Hoffnung bestand, in der Arbeiterbewegung die Rolle zu spielen, zu der sein Ehrgeiz wie seine Fähigkeiten ihn sozusagen prädestinierten. Er wollte auch nicht bloß der Führer der Bewegung, sondern ihr Beherrscher sein, und trachtete sie für seine egoistischen Zwecke auszunutzen. Während einer Reihe von Jahren in einem von Jesuiten geleiteten Institut in Aschaffenburg erzogen, später sich dem Studium der Jurisprudenz widmend, gewann er in der jesuitischen Kasuistik und juristischen Rabulistik das geistige Rüstzeug, das ihn, der von Natur schon listig und verschlagen war, zu einem Politiker machte, der skrupellos seinen Zweck zu erreichen suchte, Befriedigung seines Ehrgeizes um jeden Preis und Befriedigung seiner großen, lebemännischen Bedürfnisse, was ohne auskömmliche materielle Mittel, die er nicht besaß, nicht möglich war. Es ist aber eine alte geschichtliche Erfahrung, die in allen Volksbewegungen sich bestätigt hat, daß führende Persönlichkeiten, die sybaritische Gewohnheiten haben, aber wegen Mangel an Mitteln sie nicht zu befriedigen vermögen, leicht an sie herantretenden Versuchungen unterliegen, namentlich wenn sie dabei auch glauben, außer der Befriedigung ihres Ehrgeizes Scheinerfolge erringen zu können.

Die diktatorische Stellung, welche die Organisation des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins dem Leiter des Vereins einräumte, begünstigte die Schweitzerschen Bestrebungen ungemein. Es war aber auch ebenso natürlich, daß gegen die Gelüste des Diktators ein ständiger Kampf der selbständiger denkenden Mitglieder im Verein entstand. Die Opposition, zeitweilig durch seine brutale Rücksichtslosigkeit scheinbar niedergeworfen und aus dem Verein hinausgedrängt, erhob sich in Kürze in anderen Personen und an anderen Orten wieder, und es begann der Kampf von neuem gegen ihn. Seine Herrschaftsbestrebungen wurden noch dadurch ungemein begünstigt, daß das einzige Blatt, das der Verein besaß – und ein zweites neben diesem duldete er nicht – , »Der Sozialdemokrat«, in seinen Händen war und von ihm geleitet wurde. Damit hatte er das Mittel in der Hand und wandte es ohne Skrupel an, die geistige Beherrschung der Mitglieder zu einer absoluten zu machen, wobei er jeden Widerspruch und jede ihm unbequeme Meinungsäußerung gewaltsam niederhielt. Die Art, wie dabei wieder Schweitzer den Massen zu schmeicheln verstand, obgleich er innerlich sie verachtete, ist mir nie mehr in ähnlichem Maße begegnet. Sich selbst stellte er als ihr Werkzeug hin, das nur dem Willen des »souveränen Volkes« gehorche, dieses souveränen Volkes, das nur seine Zeitung las und dem er seinen Willen suggerierte. Wer aber wieder ihn zu lecken wagte, der wurde der niedersten Motive geziehen, als eine Viertels- oder Achtelsintelligenz gebrandmarkt, die sich über die braven, ehrlichen Arbeiter erheben wolle, um sie im Interesse ihrer Gegner zu mißbrauchen.

Eine Rolle, wie Schweitzer sie allmählich spielte, war allerdings nur in den Jugendjahren der Bewegung möglich, und darin liegt die Entschuldigung für seine fanatisierten Anhänger. Wer heute die Rolle eines Schweitzer in der Bewegung spielen wollte, wäre in kurzer Zeit unmöglich, sei er wer er wolle.

Schweitzer war ein Demagog großen Stils, der an der Spitze eines Staates sich als ein würdiger Schüler Machiavellis – für dessen grundsatzlose Theorien er schwärmte – erwiesen haben würde. Die absolute Herrschaft, die er durch die erwähnten Mittel sich auf Jahre in seinem Verein zu sichern wußte, läßt sich nur vergleichen mit gewissen Erscheinungen in der katholischen Kirche. Er hatte eben nicht umsonst bei den Jesuiten Unterricht genommen.

Wessen wir – Liebknecht und ich – Schweitzer beschuldigten, war, daß er den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein – natürlich wider Wissen und Wollen des weitaus größten Teiles seiner Mitglieder – im Interesse der Bismarckschen Politik leite, die wir nicht als eine deutsche, sondern als eine großpreußische Politik betrachteten, eine Politik, betrieben im Interesse der Hohenzollernschen Hausmacht, die bestrebt war, die Herrschaft über ganz Deutschland zu gewinnen und Deutschland mit preußischem Geist und preußischen Regierungsgrundsätzen – die der Todfeind aller Demokratie sind – zu erfüllen.

Wie damals die Dinge im allgemeinen lagen und bei dem schweren Kampfe, in dem sich Bismarck mit der liberalen Bourgeoisie befand, benutzte er jedes Mittel, auch das unscheinbarste, das seinen Zwecken dienen konnte. Ich habe bereits im ersten Teil dieser Arbeit dargelegt, wie Bismarck noch vor dem Auftreten Lassalles in dem Lackierer Eichler einen gewandten Agenten besaß, der für seine Politik in den Arbeiterkreisen Propaganda machte. Lassalle, der nicht als Dienender, sondern als Gleichberechtigter, als Macht zu Macht mit Bismarck in Unterhandlungen sich einließ, unterstützte mehr als er wohl selbst wollte diese Bismarckschen Bestrebungen. Seine Verhandlungen mit Bismarck wurden zwar offenbar mit dem Februar 1864 abgebrochen und bis zu seinem (Lassalles) Tode nicht wieder aufgenommen, aber das Streben, die Arbeiterbewegung der Bismarckschen Politik dienstbar zu machen, blieb bestehen und hatte einen gewissen Erfolg, woran die scharfe Absage, die Karl Marx dem alter ego Bismarcks, Lothar Bucher, gab, als dieser ihn zur Mitarbeit am preußischen »Staatsanzeiger« einlud, nichts änderte.

Helene v. Rakowicza (Helene v. Dönniges), die ehemalige Geliebte Lassalles, wegen der er in das Duell, das ihn das Leben kostete, verwickelt wurde, erzählt in ihrem Buche: »Von anderen und mir«, Berlin 1909, daß sie in einer Nachtunterhaltung Lassalle die Frage vorgelegt: Ist's nun wahr? Hast du mit Bismarck allerlei Geheimes zu tun? Worauf dieser geantwortet habe: »Was Bismarck anbelangt und was er von mir gewollt hat und ich von ihm? – laß dir's genügen, daß es nicht zustande kam, nicht zustande kommen konnte. Wir waren beide zu schlau – wir sahen unsere beiderseitige Schlauheit und hätten nur damit enden können, uns (immer politisch gesprochen) ins Gesicht zu lachen. Dazu sind wir zu gut erzogen – also blieb es bei den Besuchen und geistreichen Gesprächen.«

Diese Darstellung klingt wahrscheinlich. Es hieße Lassalles Scharfsinn und seine Einsicht beleidigen, sollte er anders gedacht haben, als hier seine ehemalige Geliebte erzählt. Ueberhaupt konnte kein scharfsinniger und einsichtiger Mensch, und das war auch Schweitzer, sich täuschen über das, was ein Sozialdemokrat von Bismarck erlangen konnte, was nicht, und daß, wenn Bismarck auf irgendwelche Beziehungen mit Sozialdemokraten sich einließ, es nur geschah, um sie in seinem Interesse zu verwenden und nachher wie ausgepreßte Zitronen beiseite zu werfen. Oder ein anderes, daß sie sich an ihn verkauften und ihm Dienste leisteten, was bei Lassalle nicht in Frage kommen konnte.

Für meine Auffassung spricht zunächst die Tatsache, daß, als an des Präsidenten Bernhardt Beckers Stelle F.W. Fritzsche Vizepräsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins wurde, Dr. Dammer, der frühere Vizepräsident des Vereins, Fritzsche empfahl, er solle bei seinen Agitationen im Königreich Sachsen neben den sozialistischen Forderungen für die preußische Spitze eintreten und die über diese Versammlungen veröffentlichten Zeitungsberichte direkt an Bismarck senden, auch diesem über die abgehaltenen Versammlungen direkt berichten. Fritzsche selbst hat mir diese Mitteilungen gemacht, als es sich im Herbst 1878 um die Bekämpfung des Entwurfs des Sozialistengesetzes handelte. Diese Mitteilungen habe ich damals im Reichstag in einer Rede gegen Bismarck auch verwendet.

Die Versuche, den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein für die Bismarcksche großpreußische Politik nutzbar zu machen, waren also sehr frühzeitig vorhanden und dauernde. Es wird Sache meiner Auseinandersetzungen sein, zu beweisen, daß Schweitzer diesen Bestrebungen Bismarcks bewußt diente.

Wäre Schweitzer ein Mann gewesen, der der Sache, die er äußerlich verfocht, innerlich ehrlich zugetan war, wäre er ein Mann gewesen, von dem jeder Parteigenosse überzeugt sein mußte, daß nur die Begeisterung und das reinste Streben, der Arbeiterklasse zu dienen, bei ihm vorhanden war, hätte er die sehr bedenklichen Zweideutigkeiten, die in seinem politischen Leben auftauchten, zu vermeiden gewußt, wäre mit einem Worte sein ganzes Tun Vertrauen fordernd gewesen, er wäre bis an sein Lebensende unbestritten der Führer der Partei geblieben. Jeder Versuch, ihn zu diskreditieren, wäre an ihm abgeprallt, mochten solche Angriffe ausgehen von welcher Seite immer. Statt dessen mußte er sein stetig sinkendes Ansehen verteidigen und erlebte schließlich, daß nach der Niederlegung seiner Präsidentschaft, als jeder wagen durfte, frei zu sprechen, ohne Gefahr, von einem Bannstrahl getroffen zu werden, gerade diejenigen die ehrenrührigsten Anklagen gegen ihn erhoben, die ihn einstmals gegen die Angriffe von unserer Seite fanatisch verteidigt hatten. So kam es, daß die Nachricht von seinem Tode jene kalt und gleichgültig ließ, die im anderen Falle ihn bis zur letzten Stunde als ihren Führer anerkannt und seinem Andenken alle Ehren erwiesen haben würden.

Jean Baptist v. Schweitzer wurde am 12. Juli 1834 zu Frankfurt am Main geboren. Das Blut, das in seinen Adern floß, war, nach seinen Vorfahren zu urteilen, eine Mischung von italienisch-französischem mit deutschem Blute. Seine Familie, die im Jahre 1814 vom damaligen König von Bayern geadelt wurde, gehörte zu den sogenannten Patrizierfamilien Altfrankfurts.

Was der junge Schweitzer in seiner Familie sah und hörte, war nicht sehr erhebend und von zweifelhaft erzieherischem Einfluß. Der Vater, einst Kammerjunker bei dem berüchtigten Herzog Karl von Braunschweig, der 1830 eilig sein Land verlassen mußte, wollte er nicht der Volkswut zum Opfer fallen, war ein Lüdrian, der als Verschwender lebte. Die Mutter, die getrennt von ihrem Manne ein besonderes Haus führte, trieb es in der gleichen Weise. Kein Wunder, daß der junge Jean Baptist bei solcher Abstammung und bei solchem Vorbild in die elterlichen Fußtapfen trat, nur daß ihm die Mittel fehlten, welche die Eltern verjubelt hatten, worauf denn für ihn das Schuldenmachen die notwendige Konsequenz war.

Gegen die Mitte der fünfziger Jahre führte ihn sein Studium auch nach Berlin, wo er unter anderem im Hause Krummachers, dessen Frau eine Verwandte seiner Großmutter war, verkehrte, und die führenden Männer der preußischen Reaktion, so zum Beispiel Friedrich Julius Stahl, kennen lernte. Die später in seinen Schriften hervortretende scharfe und treffende Kritik der Natur des preußischen Staates dürfte er bei seinem Aufenthalt in Berlin und im Verkehr mit den maßgebenden Gesellschaftskreisen gewonnen haben. Sein großdeutsch-österreichischer Standpunkt, der nicht nur der herrschende in seiner Familie, sondern auch in den Bürgerkreisen Altfrankfurts war, mochte seine Beobachtungsgabe besonders schärfen. Er lernte jetzt den Staat in seinem innersten Wesen kennen, der der Todfeind Oesterreichs war. Dieser sein großdeutsch-österreichischer Standpunkt kam auch in den politischen Schriften zum Ausdruck, deren erste Schweitzer 1859 veröffentlichte, und zwar in Frankfurt, wo er sich 1857 als Rechtsanwalt niedergelassen hatte, dem aber die Praxis fehlte. Diese Schrift, die während des österreichisch-italienisch-französischen Krieges veröffentlicht wurde, führte den bezeichnenden Titel »Oesterreichs Sache ist Deutschlands Sache« und forderte das Eintreten von Gesamtdeutschland für Oesterreich. Die zweite Schrift mit gleicher Tendenz führte den Titel: »Widerlegung von Karl Vogts Studien zur gegenwärtigen Lage Europas«. Dieselbe schließt: Oesterreichs Sache ist die Sache des europäischen Rechtes und der europäischen Ordnung, die Sache der Kultur und Humanität und vor allem die nationale Sache deutscher Ehre und deutscher Unabhängigkeit.

In einer dritten Schrift, die 1860 erschien, betitelt »Der einzige Weg zur nationalen Einheit«, rückt er erheblich nach links. Er bekennt sich als Republikaner und sieht nur in einer demokratischen Einheit Deutschlands, die durch eine Revolution von unten herbeizuführen sei, das Heil Deutschlands. Indes verfiel er später wieder in seine großdeutsch-österreichischen Sympathien, bis er endlich nach seiner persönlichen Bekanntschaft mit Lassalle ins kleindeutsche Lager abschwenkte und in der Politik eines Bismarck die einzige Möglichkeit zur Lösung der deutschen Frage sah.

Der Beginn der Volksbewegung und die Gründung des Nationalvereins im Jahre 1859 mit seinen kleindeutschen Bestrebungen konnten Schweitzer nicht gleichgültig lassen. Er trat, entsprechend seinem damaligen Standpunkt, gegen den Nationalverein auf. Er meinte (Januar 1861), nur wenn der Nationalverein sich für die Republik, das hieß also für die Revolution erkläre, könne er auf die Hilfe der Arbeiter rechnen. Preußen sei nicht besser als Oesterreich; beide müßten zertrümmert werden, sollte die deutsche Einheit möglich sein.

Als dann im November 1861 in Frankfurt a.M. mit seiner Hilfe ein Arbeiterbildungsverein gegründet wurde, wählte man Schweitzer zu dessen Vorsitzenden. Hier vertrat er die gleichen radikalen Ideen. Anfang 1862 erschien wiederum eine Schrift von ihm, »Zur deutschen Frage«, in der er sich abermals als unerbittlichen Gegner der hohenzollernschen Hauspolitik und der preußischen Führerschaft in Deutschland bekannte und die Jämmerlichkeit der Mittelparteien brandmarkte. Er trat jetzt als Vielgeschäftiger in der Politik hervor. So wurde er auch Vorsitzender des Frankfurter Turnvereins; Vereine, die damals samt und sonders eine eifrige politische Tätigkeit entfalteten, obgleich sie angeblich unpolitische Vereine sein sollten. Das gleiche war mit der Schützenvereinsbewegung der Fall. Auch in dieser trat Schweitzer aktiv hervor und wurde, als der deutsche Schützenbund gegründet wurde, Mitglied des engeren Ausschusses desselben. Als dann Juli 1862 das erste deutsche Schützenfest in Frankfurt abgehalten wurde, war Schweitzer Schriftführer des Zentralausschusses und Redakteur der Festzeitung. Der intime Umgang, den er damals mit dem Herzog von Koburg, dem »Schützenherzog«, pflog, an dessen Seite er sich häufig auf dem Festplatze zeigte, stand freilich in Widerspruch zu seinem bisherigen radikalen Verhalten und auch zu der radikalen Rede, die er am 22. Mai 1862 auf dem Arbeitertag des Maingaus in durchaus sozialistischem Sinne gehalten hatte, wie ich das bereits im ersten Teil dieser meiner Arbeit erwähnte. Schweitzer hatte um diese Zeit gleichzeitig mehrere Eisen im Feuer. Aber da brach das Verhängnis über ihn herein. Er wurde kurz nach dem Frankfurter Schützenfest zweier Verfehlungen öffentlich beschuldigt, die einen schwarzen Schatten auf sein späteres Leben warfen und als Merkmale seines Charakters von Bedeutung sind.

Zunächst wurde er beschuldigt, 2600 Gulden für die Kasse des Frankfurter Schützenfestes unterschlagen zu haben. Klage wurde von seiten des Ausschusses nicht erhoben, und das gab wohl Veranlassung, daß die Tat überhaupt bestritten wurde. Demgegenüber möchte ich feststellen, daß der Justizrat Sterzing in Gotha, der im Zentralausschuß des Schützenfestes saß, mit seiner Namensunterschrift eine Erklärung in der »Allgemeinen Deutschen Arbeiterzeitung« in Koburg erließ, worin er die Unterschlagung als Tatsache bestätigte. Als dann einige Jahre später im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein die Opposition gegen Schweitzer losbrach, schickte die Gothaer Mitgliedschaft einen ihrer Angehörigen zu Justizrat Sterzing, um ihn zu fragen, ob die gegen Schweitzer erhobene Beschuldigung der Unterschlagung wahr sei. Sterzing betätigte das. Darauf wandte sich die Gothaer Mitgliedschaft an Schweitzer, teilte ihm die Aeußerung Sterzings mit und ersuchte ihn, Sterzing zu verklagen. Schweitzer lehnte ab. Er erklärte: das falle ihm nicht ein, da habe er viel zu tun.

Ein anderer noch unliebsamerer Vorgang trug sich im August 1862 im Schloßgarten zu Mannheim zu. Schweitzer wurde beschuldigt, am Vormittag des betreffenden Tages ein Sittenvergehen an einem Knaben begangen zu haben. Er wurde mit vierzehn Tagen Gefängnis bestraft. Die Handlung wäre viel schwerer bestraft worden, hätte man den betreffenden Knaben feststellen können. Dieses gelang nicht. Wohl aber wurden andere Knaben gefunden, denen Schweitzer das gleiche Ansinnen gemacht hatte. Daraufhin fand seine Verurteilung statt. Im Eifer, Schweitzer reinzuwaschen, hat man die Unschuld Schweitzers, die er natürlich selbst behauptete, zu beweisen versucht. Im Interesse der historischen Wahrheit sollten solche Versuche unterbleiben. Man mag über die gleichgeschlechtliche Liebe noch so frei denken, so war es unter allen Umständen eine Ehrlosigkeit, die Befriedigung derselben am hellen Tage in einem öffentlichen Park und an einem schulpflichtigen Knaben zu versuchen. Bemerkt sei auch, daß Schweitzer sich hütete, gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung einzulegen, was sicher geschehen wäre, wenn er sich unschuldig gefühlt hätte.

Diese beiden Vorkommnisse zwangen Schweitzer, auf einige Zeit Frankfurt zu verlassen. In den Arbeiterkreisen erweckten sie natürlich eine starke Animosität gegen ihn. Als daher im nächsten Jahre, nach Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, Schweitzer die persönliche Bekanntschaft Lassalles gemacht hatte und Mitglied des Vereins geworden war, stellten die Frankfurter Mitglieder an Lassalle das Ersuchen, er solle Schweitzer angehen, den Versammlungen des Vereins nicht mehr beizuwohnen. Lassalle lehnte dieses Ersuchen als philiströs ab, das Schweitzer zugeschriebene Vergehen habe mit seinem politischen Charakter nichts zu tun. Die Knabenliebe sei in Griechenland allgemein herrschender Brauch gewesen, dem der Staatsmann und der Dichter gehuldigt habe. Im übrigen zollte er den Fähigkeiten Schweitzers hohes Lob. An Schweitzer selbst schrieb er, daß die gerügten Neigungen nicht nach seinem Geschmack seien. Einen Zweifel, daß Schweitzer diese nicht besitze, drückte er nicht aus; er wußte wohl warum.

Anfang 1863 veröffentlichte Schweitzer eine neue Schrift bei Otto Wigand in Leipzig, betitelt »Die österreichische Spitze«. Die Schrift widmete er seinem Freunde Herrn v. Hofstetten, einem ehemaligen bayerischen Offizier, »in Verehrung und Freundschaft«; die Vorrede ist von einer schwülen Ueberschwenglichkeit, als rede Alkibiades zu einem seiner Lieblinge. Der Inhalt der Schrift ist in mehr als einer Beziehung interessant. Er schildert darin den Charakter des preußischen Staates durchaus richtig und erklärt Preußen für eine Einigung Deutschlands durchaus ungeeignet. Im weiteren tritt er trotz aller demokratischen Vorbehalte wieder für die österreichische Spitze ein. Der preußische Staat stehe der Gesamtheit Deutschlands gegenüber, so führt er aus, auf Grund seiner historischen Entwicklung ..., die ihn zwinge, sich weiter in demselben Lande und durch dieselbe Bereicherungsart zu vergrößern, also auf Annexionen auszugehen. Diese Mission Preußens sei aber keine deutsche, sondern eine preußische. Preußen müsse nach seiner inneren Natur darauf sehen, daß der alles einzelne mehr oder weniger durchdringende Geist, der althistorische, spezifisch preußische, wesentlich hohenzollernsche Charakter des Staates nicht verloren gehe.

Gegen dieses Preußen macht er energisch Front, das mit einem wirklichen Gesamtdeutschland unverträglich sei. Er spricht sich dabei in folgender programmatischer Weise aus, eine Auffassung, der wir später in einer anderen Situation wieder begegnen werden. Er sagt: »Wenn dem künftigen Deutschen Reiche – sei es eine Republick oder ein Kaisertum – auch nur ein einziges Dorf des jetzigen deutschen Bundesgebiets fehlt, so ist dies ein nationaler Skandal. Die kleinste Hütte im fernsten Dorfe, wo deutsche Zunge klingt, hat das heilige Recht auf den Schutz der Gesamtheit.«

Diese feierliche Erklärung hielt ihn aber bald darauf nicht ab, die Politik zu unterstützen, die den nationalen Skandal herbeiführte und herbeiführen wollte, und nach seiner eigenen Auffassung herbeiführen mußte. Und es handelte sich dabei nicht bloß um ein einzelnes Dorf oder eine Hütte, sondern um Ländergebiete mit zehn Millionen Deutscher, die Jahrhundertelang früher zum Reiche gehörten als die Provinz Preußen, deren Namen die Hohenzollern ihrem Königreich gaben. Schließlich forderte er die österreichische Spitze und den Eintritt Gesamtösterreichs in den Bund, wenn nicht anders, so durch die Zertrümmerung Preußens. Demgemäß verlangte er, daß die großdeutsche Partei energisch für die österreichische Spitze eintrete und nicht der kleindeutschen Partei das Feld in der Agitation für die preußische Spitze überlasse.

So Schweitzer als schwarzgelber Großdeutscher noch Anfang 1863. In wenigen Monaten war er ein anderer. Mittlerweile hatte er die persönliche Bekanntschaft Lassalles gemacht. Er begriff rasch, daß sich hier eine Gelegenheit zu einer Stellung für seine Zukunft bot, die seinem Ehrgeiz entsprach, die ihm in der bürgerlichen Welt nach den oben geschilderten Vorgängen für alle Zeit abgeschnitten war. In diesen Kreisen galt er als ein Mensch, vor dem man die Tür schließen müsse. Als im Frühjahr 1863 Lassalle nach Frankfurt kam, verständigten sich beide offenbar sehr bald. Gelegenheit dazu bot auch ein gemeinsamer Ausflug in die Rheinpfalz, auf dem sich ein amüsanter Vorgang mit Lassalle zutrug. Außer Lassalle und Schweitzer nahmen an der Partie die Gräfin Hatzfeldt, Hans v. Bülow und unser verstorbener Parteigenosse, der damals jugendliche Wendelin Weißheimer teil. Die Reise ging nach Osthofen am Rhein, von wo aus der Ebernburg, bekanntlich einst der Sitz Sickingens, ein Besuch gemacht werden sollte. Auf Betreiben Weißheimers hatte sein Vater, der in Osthofen wohnte, die Gesellschaft zum Mittagstisch geladen. Lassalle saß an der Tafel neben Frau Weißheimer. Als diese im Laufe des Gesprächs, wißbegierig wie Frauen nun einmal sind, die Frage an Lassalle richtete: ob er glaube, daß seine Pläne durchführbar seien, umarmte Lassalle sie und drückte ihr mit den Worten: »Sie sind eine köstliche Frau« einen Kuß auf die Lippen. Er schloß ihr also buchstäblich den Mund. Ueber diese Verhöhnung aller gesellschaftlichen Etikette geriet der alte Weißheimer dermaßen in Aufregung, daß er einige Sekunden nach Atem schnappte, wohingegen die übrige Gesellschaft aus vollem Halse lachte.

Die Wandlung in der Gesinnung Schweitzers unter dem Einfluß Lassalles zeigte sich sofort deutlich in der Rede, die er am 13. Oktober 1863 in Leipzig unter dem Titel hielt: »Die Partei des Fortschritts als Trägerin des Stillstandes«. Diese Rede bezeichnet eine vollständige Umwandlung seiner bisherigen Stellung zu Preußen, zugleich war sie eine Rechtfertigung der Politik Lassalles und eine klare Stellungnahme gegen den Liberalismus, was zu jener Zeit hieß eine Parteinahme für Bismarck und die Feudalen. In jener Rede führt er unter anderem aus: »Allein, meine Herren, wenn Sie meinem Vortrag gefolgt sind, so werden Sie erkannt haben, daß zwar der moderne Absolutismus samt seinen Adels- und Priesterkoterien uns feindlich gegenübersteht, da er überhaupt von Neuerung nichts wissen will; allein, Sie werden zugleich erkannt haben, daß unser eigentlicher, hartnäckiger und erbitterter Feind wo ganz anders steckt – nämlich in der Bourgeoispartei und ihren Vertretern. Es muß durchaus einmal offen und bestimmt ausgesprochen werden, daß in der weitaus höchsten und wichtigsten Frage der Zeit der wahre Sitz des Stillstandes in der sogenannten liberalen Partei liegt, daß also unser, der sozialdemokratischen Partei Kampf in erster Linie gegen sie gerichtet sein muß. Wenn Sie dies aber festhalten, meine Herren, dann werden Sie sich selbst sagen: Warum hätte Lassalle sich nicht an Bismarck wenden sollen?«

Nach dieser Theorie waren also nicht die Feudalen, denen jeder politische und soziale Fortschritt ein Greuel war, die, um modern zu reden, die heftigsten Verteidiger der gottgewollten Abhängigkeiten sind, der Hauptfeind der Arbeiter, das waren vielmehr die Liberalen, von denen selbst der am weitesten rechtsstehende Anhänger doch immer noch ein Vertreter der modernen Entwicklung, ein Anhänger eines gewissen Kulturfortschrittes ist, ohne den die kapitalistische Ordnung nicht bestehen kann, die dem Proletarier erst die Möglichkeit schafft, sich zum freien Menschen emporzuarbeiten, die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen. Schweitzer wußte, daß die von ihm gepredigte Auffassung eine grundreaktionäre war, ein Verrat an den Interessen des Arbeiters, aber er propagandierte sie, weil er glaubte, sich dadurch nach oben zu empfehlen.

Es verstand sich von selbst, daß Bismarck und die Feudalen eine solche Hilfe von der äußersten Linken mit Vergnügen sich gefallen ließen und den Vertreter einer solchen Auffassung eventuell auch unterstützten. War doch dieses Spielen mit Sozialismus und Kommunismus – und kein vernünftiger Mensch konnte annehmen, daß es sich um mehr als um ein Spielen handle – ein vortreffliches Mittel, die liberale Bourgeoisie, die nie an einem Uebermaß von Mut und Einsicht litt, ins Bockshorn zu jagen und sie dem Bismarckschen Zäsarismus ins Garn zu treiben. Je radikaler dieser Sozialismus sich gegen die Bourgeoisie aufspielte, je mehr erfüllte er seinen Zweck. Daher auch die Aufforderung Buchers an Marx – man muß dieses immer wiederholen – , im »Staatsanzeiger« selbst kommunistisch zu schreiben.

Diese Politik war aber das gerade Gegenteil von Demokratie und Sozialismus, was ich nicht erst zu beweisen nötig habe.

»Der Sozialdemokrat.«

Schweitzer siedelte im Juli 1864 nach Berlin über und ließ sich dort naturalisieren. Sein Zweck war, die Herausgabe eines Parteiorgans »Der Sozialdemokrat« zu betreiben, wozu sein Freund v. Hofstetten, der mit einer Gräfin Strachwitz verheiratet war und einiges Vermögen besaß, die Mittel hergab. Auffallend ist, daß Lassalle in seinem Testament keinen Pfennig für das von ihm gebilligte Unternehmen anwies.

Schweitzer war es gelungen, trotz des Mißtrauens, das ein Teil der hier Genannten gegen ihn hegte, außer Liebknecht Karl Marx, Friedrich Engels, Oberst Rüstow, Georg Herwegh, Jean Philipp Becker, Fr. Reusche, Moritz Heß und Professor Wuttke als Mitarbeiter zu gewinnen, selbstverständlich auf ein radikales Programm, das Schweitzer entworfen hatte, das sich durch Klarheit, Bestimmtheit und Kürze auszeichnete. Dasselbe erschien an der Spitze der Probenummer des »Sozialdemokrat« vom 15. Dezember 1864 und lautete:

Unser Programm.

Drei große Gesichtspunkte sind es, welche das Streben und die Tätigkeit unserer Partei bestimmen:

Wir bekämpfen jene Gestaltungen des europäischen Staatensystems, welche, unnatürlich die Völker trennend und verbindend, aus dem feudalen Mittelalter in das neunzehnte Jahrhundert sich herübergeschleppt haben – wir wollen fördern die Solidarität der Völkerinteressen und der Volkssache durch die ganze Welt.

Wir wollen nicht ein ohnmächtiges und zerrissenes Vaterland, machtlos nach außen und voll Willkür im Innern – das ganze, gewaltige Deutschland wollen wir, den einen, freien Volksstaat.

Wir verwerfen die bisherige Beherrschung der Gesellschaft durch das Kapital – wir hoffen zu erkämpfen, daß die Arbeit den Staat regiere.

Diese drei großen auf gemeinsamer Grundlage beruhenden Gesichtspunkte weisen uns in jeder möglichen Frage mit zwingender Notwendigkeit auf die Bahnen, die wir zu wandeln haben.

Unsere Prinzipien sind einfach und klar – ihre Konsequenzen zu ziehen werden wir uns niemals scheuen.

Kein Zweifel, wäre dieses durchaus unanfechtbare, von allen maßgebenden Personen in der Partei gebilligte Programm fortan die Richtschnur des Blattes geblieben, eine Spaltung wäre unmöglich gewesen, eine Aera gesunder Fortentwicklung wäre eingetreten und hätte eine ungeahnte Ausbreitung der Partei schon in jungen Jahren höchst wahrscheinlich gemacht.

Aber Schweitzer wollte es anders. Von Herrn v. Hofstetten, seinem Associé und Miteigentümer des »Sozialdemokrat«, rede ich nicht. Hofstetten war ein schwacher Mann ohne tiefere Einsicht in das Wesen der Dinge, der sich von Schweitzer treiben und mißbrauchen ließ, und den dann Schweitzer wie eine ausgequetschte Zitrone nach einigen Jahren beiseite warf, nachdem Hofstetten sein Vermögen bis zum letzten Rest für den »Sozialdemokrat« und für Schweitzer, der über Jahr und Tag auch an seinem Tische saß, geopfert hatte.

Die korrekte Haltung des »Sozialdemokrat« währte nicht lange.

Bereits in Nr. 6 des »Sozialdemokrat« waren in dem Artikel »Das Ministerium Bismarck und die Regierungen der Mittel- und Kleinstaaten« Wendungen enthalten, in denen Schweitzers Sympathie mit der Politik Bismarcks, wenn auch noch sehr vorsichtig, zum Ausdruck kam. Mit der Nr. 14 des »Sozialdemokrat« vom 27. Januar 1865 beginnt dann jene Serie Artikel »Das Ministerium Bismarck«, in denen er die demokratische Maske fallen läßt, was die öffentliche Absage der meisten der eben erst gewonnenen Mitarbeiter zur Folge hatte. In dem ersten dieser Artikel wurde ausgeführt:

»Parlamentarismus heißt Regiment der Mittelmäßigkeit, heißt machtloses Gerede, während Zäsarismus doch wenigstens kühne Initiative, doch wenigstens bewältigende Tat heißt. 'Schmach den Renegaten, die jetzt der Reaktion dienen', rufe man. Sonderbar aber doch, daß diese radikalen Renegaten (deren rasche Abwirtschaftung wir erlebt haben. A.B.) nicht bei Pfordten und Beust (selbstverständlich nicht. A.B.), daß diese radikalen Renegaten gerade bei Bismarck sind.«

Die Renegaten, die er meinte, waren eben alles Leute, die keinen Beruf zu einem revolutionären Vorgehen in sich verspürten, die sich mit der kapitalistischen Ordnung der Dinge – vorausgesetzt, daß sie überhaupt je deren Gegner waren – abgefunden hatten und sich sagten, daß der Kapitalismus unter der Aegide des märkischen Junkers nicht zu kurz kommen werde, worin sie sich nicht täuschten.

Im zweiten Artikel Schweitzers hieß es in Betrachtung der Entwicklung Preußens:

»Von dieser Grundlage aus (dem Kurfürstentum) hat sich sodann der vergleichungsweise junge Staat, vorzugsweise durch das mächtige Genie eines großen Königs und gewaltigen Kriegshelden, eines in jeder Beziehung bewunderungswürdigen Mannes, zu einem ausgedehnten und mächtigen Königreich erweitert.«

Nach dieser Verherrlichung Friedrichs des Großen, die ein Sybel oder Treitschke tönender nicht betreiben konnte, spendet er auch der Volkserhebung von 1813 ein Lob, die eine glänzende Ausnahme von der Regel preußischer Geschichte sei. »Der Hauptsache nach und alles in allem genommen, ist Preußen das, was es ist, durch die an seiner Spitze stehende Dynastie geworden.«

Alsdann charakterisiert er das Wesen des preußischen Royalismus.

»Während ein solcher Geist in den einen deutschen Staaten zwar nicht ohne alle Begründung sein mag, jedenfalls aber alles höheren politischen Ernstes und der tieferen Würde entbehrt, in den anderen Staaten aber geradezu als Karikatur dessen erscheint, was man Royalismus nennt, ist der königliche Geist in Preußen eine wohlbegründete politische Anschauungsweise und Richtung. Denn die Dynastie und in ihr der jedesmalige Regent können mit innerer Berechtigung als der Kulminationspunkt der aufsteigenden Skala der herkömmlichen Elemente, als der Schwerpunkt der in hergebrachten Bahnen rotierenden Kräfte, als Herz und Gehirn des Organismus innerhalb eines Staatsganzen betrachtet werden, welches nur so und unter solcher Voraussetzung seine eigentümliche Wesenheit und seine dermalige Stellung erlangte und erlangen konnte.«

Des weiteren meinte er noch, daß der preußische Staat in seinem dermaligen Zustand das offenbare Gepräge des Unfertigen, einer noch nicht abgeschlossenen geschichtlichen Entwicklung auf sich trage. Ein Zustand also, der nach Annexionen schreie. Diese Mission, die Preußen in Deutschland habe, sei aber keine deutsche, wie man uns glauben machen wolle, sondern eine preußische.

Schweitzer kannte also die Natur des preußischen Staates, wie keiner sie besser kennen konnte, seine Schlüsse waren durchaus logisch. Aber um so mehr drängt sich die Frage auf, wie konnte er dann eine Politik unterstützen, die nach seinem eigenen Geständnis undeutsch, weil nur großpreußisch war, und wenn siegreich, die Niederlage der Demokratie bedeutete? Eine solche Politik durfte vom demokratischen Standpunkt aus nicht unterstützt, sie mußte vielmehr auf Leben und Tod bekämpft werden, denn es war der Todfeind der Demokratie, der diese Politik betrieb.

Schweitzer schließt seinen zweiten Artikel also:

»Ein wahrhaft preußisches Ministerium, ein solches, welches die aus der Geschichte des preußischen Staates hervorgegangene Wesenheit desselben zu befestigen und weiterzuentwickeln strebt, kann weder in Gemäßheit bloßen Schablonenkonser-vatismus lediglich die stupide Aufrechterhaltung des gerade Vorhandenen beabsichtigen, wie dies konservative Ministerien in Preußen lange getan, noch auch kann es die dem Staate von seiner Geschichte indizierte äußere Politik unter Aufhebung des inneren Charakters des Staates anstreben, wie dies die liberale Partei unter Verleugnung des Machtschwerpunktes von der Krone hinweg in das Abgeordnetenhaus beabsichtigte.«

Das heißt also in klares Deutsch übersetzt: Die Eigenart des preußischen Staates verbietet einer preußischen Regierung die Einführung eines parlamentarischen Regimes, und wenn ihr Liberalen dennoch danach strebt, so verlangt ihr etwas, was der Natur des preußischen Staates entgegen ist. Begnügt euch also, ein Ornament am Staatswagen zu sein. In der Situation, in der damals die Kammer sich der Regierung gegenüber befand, bedeuteten solche Auslassungen einfach ein In-den-Rücken-fallen der Volksvertretung und eine Unterstützung der Pläne Bismarcks.

In seinem dritten Artikel führt er zunächst aus: Die Schlußfolgerungen seines zweiten Artikels und die Untersuchungen, die zu denselben führten, seien mehrfach mißverstanden (!) worden. Er wird also jetzt noch deutlicher. Er sagt:

»Indem Preußen eine Politik verfolge, die zur Annexion der Herzogtümer (Schleswig-Holstein) führen müsse, setze es, die glorreichen Traditionen preußischer Geschichte aus langem Schlummer weckend, an den innersten Kern des preußischen Staatsgeistes seine Hebel an.

Es ist eine bedeutende Politik, die jetzt in Preußen gemacht wird! ... Wer Annexion anfängt, muß sie durchsetzen. Mehr noch.

Eine preußische Regierung, die in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts deutsches Land zu annektieren beginnt, eine preußische Regierung, die angesichts der offenkundigen, von Kaiser, Königen und Fürsten feierlich proklamierten Unhaltbarkeit der politischen Verfassung Deutschlands die 'friedericianische Politik' (wie ein großdeutsches Blatt sich ausdrückte) wieder aufnimmt, kann nicht stille stehen nach kleinem Sieg – weiter muß sie auf der betretenen Bahn – vorwärts, wenn nötig mit 'Blut und Eisen'.

Denn anknüpfen an die stolzesten Traditionen eines historisch erwachsenen Staates und dann feige zurückbeben vor entscheidender Tat, hieße den innersten Lebensnerv eines solchen Staates ertöten. Man kann solche Traditionen ruhen lassen – aber man kann sie nicht aufnehmen, um sie zu ruinieren!

Ein preußischer Minister, der solche Politik für Preußen machte – er verfiele unrettbar den zürnenden Manen des großen Friedrich und dem Gelächter seiner Zeitgenossen.«

Wie mußte bei dem Lesen solcher Artikel das Herz jedes guten Preußen schlagen; war doch danach Preußen quasi von der Vorsehung vorher bestimmt, der Beherrscher Deutschlands zu werden. Und wie mußten die Herzen der Feudalen einem Manne zugetan sein, der besser als sie alle die »historische Mission« des preußischen Staates darzulegen und zu verherrlichen verstand. Und das sollte unbeachtet und unbelohnt bleiben?

Was Schweitzer hier schrieb, war aber auch eine Verherrlichung der weiteren Bismarckschen Politik, es war eine förmliche Anpeitschung Bismarcks, auf dem betretenen Wege weiter zu gehen, wäre eine solche noch notwendig gewesen.

Im vierten Artikel kam Schweitzer auf den Bundestag und Oesterreich zu sprechen. Hier hatte er mit seiner Kritik leichtes Spiel, denn dümmer und dem Zeitbedürfnis widersprechender konnte nicht gehandelt werden, als diese beiden Faktoren in der deutschen Frage gehandelt hatten. Im übrigen war die Haltung, die in diesem Artikel Schweitzer Oesterreich gegenüber einnahm, wie in seiner ganzen späteren Politik, das direkte Gegenteil von dem, was er noch im Jahre 1863 – also anderthalb Jahre zuvor – in seiner Broschüre »Die österreichische Spitze« zur Verherrlichung Oesterreichs gesagt hatte, und was das Programm besagte, das angeblich der »Sozialdemokrat« vertreten sollte.

Der fünfte Artikel beschäftigte sich mit der Stellung der Nation und der deutschen Frage. Er kommt zu dem Resultat:

» Aktionsfähig in Deutschland sind nur noch zwei Faktoren: Preußen und die Nation, preußische Bajonette oder deutsche Proletarierfäuste – wir sehen kein drittes.

... Das Preußentum ist der Feind des Deutschtums, aber es ist auch der Feind der bestehenden Gewalten Deutschlands.

Die Nation steht fest auf ewigem Fundament – die Fürstenstühle Deutschlands aber müssen wanken, wenn Preußen sich erinnert, daß Friedrich der Große sein König war.«

Und wie stand's mit dem preußischen Thron?

Der Leser wird zugeben, daß raffinierter, demagogischer nicht zu schreiben war. Wie ein Aal windet er sich vor einer klaren Stellungnahme. Er läßt nur ahnen, spricht aber nicht aus, was er will. Klar ist, daß das Lesepublikum, an das Schweitzer sich wandte, von seinem Plädoyer für Preußen gefangen genommen wurde, und das war sein Zweck. Dazu kam, daß der ganze politische Inhalt des »Sozialdemokrat« von der Tendenz durchtränkt war, welche die fünf Artikel erfüllte. Bismarck hatte in der ganzen deutschen Presse keine Feder, die geschickter für seine Politik Propaganda machte.

Kein Zweifel, diese Bismarckartikel standen mit dem Programm des »Sozialdemokrat« in seiner ersten Nummer im schneidendsten Widerspruch. Es ist auch ausgeschlossen, daß der äußerst scharfsinnige Schweitzer nicht vorausgesehen habe, daß er mit diesen Artikeln der großen Mehrzahl der eben erst gewonnenen Mitarbeiter in gröblichster Weise vor den Kopf schlug. Es war eine Brüskierung sondergleichen. Es war also selbstverständlich, daß darauf Karl Marx, Friedrich Engels, W. Liebknecht, Herwegh, Joh. Ph. Becker und Friedrich Reusche von dem Blatte sich lossagten.

Schweitzer quittierte in einem Artikel in der Nr. 31 seines Blattes über die Rücktritte mit den Worten: Einige bornierte Köpfe hatten sich an unseren Leitartikeln »Das Ministerium Bismarck« gestoßen. Mit Genugtuung konstatiere er, daß zwei Hauptorgane des österreichischen Liberalismus, die »Presse« und die »Ostdeutsche Post«, sich auf seine Seite gestellt hätten und brachte längere Auszüge aus denselben. Weiter zitierte er die »Neue Frankfurter Zeitung«, das Blatt Sonnemanns, die ausgeführt hatte, daß die von Schweitzer befolgte Politik nichts als die Fortsetzung der Lassalleschen Politik sei.

Das war richtig! Ohne Lassalles Verhalten wäre es Schweitzer sehr schwer geworden, die von ihm beliebte Politik im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zur Geltung zu bringen. Aber doch war zwischen Lassalle und ihm ein Unterschied. Lassalle, ökonomisch vollständig unabhängig, stand zu Bismarck wie Macht zu Macht, davon konnte bei Schweitzer, der tief in Schulden steckte und nach seiner sonstigen Qualität in alle Wege keine Rede sein. Er erschien in seinem Auftreten als ein Werkzeug der Bismarckschen Politik, als ein Mann, der den Vorteil des Lassalleschen Scheins für sich hatte und ihn geschickt ausnutzte. Im weiteren erklärte Schweitzer gegen Marx und Engels, daß sie sich vom »Sozialdemokrat« zurückgezogen, sobald sie eingesehen hätten, daß sie nicht die erste Rolle bei der Partei spielen konnten. Im Gegensatz zu ihnen sei Lassalle nicht der Mann der unfruchtbaren Abstraktion, sondern ein Politiker im strengen Sinne des Wortes, nicht ein schriftstellerischer Doktrinär, sondern ein Mann der praktischen Tat gewesen.

Wobei wieder nicht vergessen werden darf, daß später Schweitzer den Mann der »unfruchtbaren Abstraktion«, den »schriftstellerischen Doktrinär« Karl Marx, umschmeichelte und für sich zu gewinnen suchte.

Marx und Engels blieben die Antwort nicht schuldig. Unter dem 24. Februar 1865 veröffentlichten sie folgende Erklärung:

»Die Unterzeichneten versprachen ihre Mitarbeit am 'Sozialdemokrat' und gestatteten ihre Nennung als Mitarbeiter unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß das Blatt im Geiste des ihnen mitgeteilten kurzen Programms redigiert werde. Sie verkannten keinen Augenblick die schwierige Stellung des 'Sozialdemokrat' und machten daher keine für den Meridian Berlin unpassenden Ansprüche. Sie forderten aber wiederholt, daß dem Ministerium und der feudalabsolutistischen Partei gegenüber eine wenigstens ebenso kühne Sprache geführt werde wie gegenüber den Fortschrittlern. Die von dem 'Sozialdemokrat' befolgte Taktik schließt unsere weitere Beteiligung an demselben aus. Die Ansicht der Unterzeichneten vom königlich preußischen Regierungssozialismus und von der richtigen Stellung der Arbeiterpartei zu solchem Blendwerk findet sich bereits ausführlich entwickelt in Nr. 73 der 'Deutschen Brüsseler Zeitung' vom 12. September 1847, in Antwort auf Nr. 206 des damals in Köln erscheinenden 'Rheinischen Beobachters', worin die Allianz des Proletariats und der Regierung gegen die liberale Bourgeosie vorgeschlagen war. Jedes Wort unserer damaligen Erklärung unterschreiben wir noch heute.«

Die Erklärung in der »Deutschen Brüsseler Zeitung«, auf die hier Marx und Engels sich bezogen, lautete:

»Wenn eine gewisse Fraktion deutscher Sozialisten fortwährend gegen die liberale Bourgeoisie gepoltert hat, und zwar in einer Weise, die niemandem Vorteil brachte als den deutschen Regierungen, wenn jetzt Regierungsblätter wie der 'Rheinische Beobachter', auf die Phrasen dieser Leute gestützt, behaupten, nicht die liberale Bourgeoisie, sondern die Regierung repräsentiere die Interessen des Proletariats, so haben die Kommunisten weder mit der ersteren noch mit der letzteren etwas gemein....

Das Volk oder, um an die Stelle dieses weitsichtigen, schwankenden Ausdrucks den bestimmten zu setzen, das Proletariat räsoniert ganz anders, als man im geistlichen Ministerium sich träumen läßt. Das Proletariat fragt nicht, ob den Bourgeois das Volkswohl Nebensache oder Hauptsache sei, ob sie die Proletarier als Kanonenfutter gebrauchen werden oder nicht. Das Proletariat fragt nicht, was die Bourgeois bloß wollen, sondern was sie müssen. Es fragt, ob der jetzige politische Zustand, die Herrschaft der Bureaukratie, oder der von den Liberalen erstrebte, die Herrschaft der Bourgeoisie, ihm mehr Mittel bieten wird, seine eigenen Zwecke zu erreichen. Dazu hat es nur nötig, die politische Stellung des Proletariats in England, Frankreich und Amerika mit der in Deutschland zu vergleichen, um zu sehen, daß die Herrschaft der Bourgeoisie dem Proletariat nicht nur ganz neue Waffen zum Kampfe gegen die Bourgeoisie in die Hand gibt, sondern ihm auch eine ganz andere Stellung, eine Stellung als anerkannte Partei verschafft.«

Es heißt weiter: »Das Volk kann sich nicht für die ständischen Rechte interessieren. Aber ein Landtag, der Geschworenengerichte, Gleichheit vor dem Gesetz, Aufhebung der Frondienste, Preßfreiheit, Assoziationsfreiheit und eine wirkliche Repräsentation verlangt, ein Landtag, der ein für allemal mit der Vergangenheit gebrochen und seine Forderungen nach den Bedürfnissen der Zeit eingerichtet hat statt nach alten Gesetzen, solch ein Landtag kann auf die kräftigste Unterstützung des Proletariats rechnen.«

Am 4. März schlossen sich Georg Herwegh und Wilhelm Rüstow der Erklärung von Marx und Engels ausdrücklich an. Am 5. März erklärte Fr. Reusche in der »Rheinischen Zeitung« seinen Rücktritt von der Mitarbeiterschaft am »Sozialdemokrat«, wobei er unter anderem bemerkte, er habe wiederholt die Redaktion aufgefordert, das Junkertum rücksichtslos zu bekämpfen. Rüstow habe Anfang Februar eine eingehende Kritik der Militärfrage an die Redaktion gesandt; aber trotz der wiederholten Anfragen von Rüstow und ihm erschienen weder diese noch ein von ihm eingesandter Artikel gegen den königlich preußischen Regierungssozialismus. Bald habe es geheißen, es sei kein Raum vorhanden, bald, man wolle warten, bis die Zeit geeignet wäre. Am 11. März erklärte Jean Philipp Becker in Genf im Hamburger »Nordstern«, dem Vorgehen von Marx und Engels sich anzuschließen. Liebknecht hatte sich gleichzeitig mit den letzteren von Schweitzer und dem »Sozialdemokrat« losgesagt. Professor Wuttke in Leipzig gab zwar keine öffentliche Erklärung ab, stellte aber seine Mitarbeiterschaft am »Sozialdemokrat« ein. Der einzige, der von dem ganzen Mitarbeiterstab einstweilen noch dem »Sozialdemokrat« verblieb, war Moritz Heß in Paris. Er schied Ende 1866 aus. Eine zweite Erklärung von Marx und Engels, datiert London den 15. März und abgedruckt in der Berliner »Reform« vom 19. März 1865, richtete sich gegen einen Artikel, den Schweitzer aus der »Neuen Frankfurter Zeitung« im »Sozialdemokrat« abgedruckt hatte, in dem nachgewiesen werden sollte, »wie inkonsequent und innerlich haltlos das Verfahren der Herren Marx und Engels dem 'Sozialdemokrat' gegenüber ist«. Marx konstatiert: Schweitzer habe am 11. November 1864 ihm das Erscheinen des »Sozialdemokrat« angezeigt und habe bei dieser Gelegenheit geschrieben:

»Wir haben uns an etwa sechs bis acht bewährte Mitglieder der Partei oder derselben wenigstens nahestehende Männer gewandt, um sie für die Mitarbeiterschaft zu gewinnen.... Allein für ungleich wichtiger halten wir es, daß Sie, der Begründer der deutschen Arbeiterpartei und ihr erster Verfechter, uns Ihre Mitwirkung angedeihen lassen. Wir hegen die Hoffnung, daß Sie einem Verein, der, wenn auch nur indirekt, auf Ihre eigene Wirksamkeit zurückzuführen ist, nach dem großen Verlust, der ihn betroffen, in seinem schweren Kampfe zur Seite stehen werden.«

In dem Prospekt habe der Name Lassalle nirgends gestanden. Der Prospekt habe nur drei Punkte enthalten: »Solidarität der Völkerinteressen«, »Das ganze gewaltige Deutschland – ein freier Volksstaat«, »Abschaffung der Kapitalherrschaft«. Daraufhin hätten er und Engels ihre Mitarbeit zugesagt.... Am 28. November habe Schweitzer ihm geschrieben, daß seine und Engels' Zusage in der Partei, soweit sie überhaupt eingeweiht sei, die freudigste Sensation hervorgerufen.... Marx erzählt weiter, wie er im Laufe des Januar gegen die Taktik Schweitzers im »Sozialdemokrat« protestierte und daß, als trotz Schweitzers Beruhigungsschreiben die Taktik im Blatte dieselbe geblieben, er aufs neue protestiert habe, worauf Schweitzer ihm am 15. Februar folgendes geschrieben:

»Wenn Sie mir wie im letzten Schreiben über theoretische Fragen Aufklärung geben wollen, so würde ich solche Belehrung von Ihrer Seite dankbar entgegennehmen. Was aber die praktischen Fragen momentaner Taktik betrifft, so bitte ich Sie, zu bedenken, daß, um diese Dinge zu beurteilen, man im Mittelpunkt der Bewegung stehen muß. Sie tun uns daher unrecht, wenn Sie irgendwo und irgendwie Ihre Unzufriedenheit mit unserer Taktik aussprechen. Dies dürfen Sie nur dann tun, wenn Sie die Verhältnisse genau kennen. Auch vergessen Sie nicht, daß der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein ein konsolidierter Körper ist und bis zu einem gewissen Grade an seine Tradition gebunden bleibt. (Der Verein war damals kaum 22 Monate alt und hatte nur einige tausend Mitglieder. A.B.) Die Dinge in concreto schleppen eben immer irgend ein Fußgewicht mit sich herum.«

Es war also selbstverständlich, daß Marx, Engels und Genossen handeln mußten, wie sie gehandelt haben. Schweitzer scheint geglaubt zu haben, daß er seinen Mitarbeitern eine ähnliche Rolle zumuten dürfe, wie sie Lothar Bucher im Einverständnis mit Bismarck Marx im »Staatsanzeiger« zugemutet hatte. Sie sollten Mitarbeiter sein, aber kein Recht haben, über die Taktik mitzusprechen, die mit dem Programm, auf Grund dessen sie ihre Mitarbeiterschaft zugesagt hatten, im schneidendsten Widerspruch stand. Schreibt so radikal wie möglich für Sozialismus und Kommunismus, je radikaler, desto besser; ihr seid dann die Flagge, unter der ich meine Konterbande decke. So ungefähr mochte Schweitzer räsonnieren. Es war daher eine Unverschämtheit, wenn er auf die Beschwerde von Marx und Engels über die Haltung des Blattes erklärte: sie im Ausland könnten die Dinge in Deutschland nicht beurteilen. Diese konnten aber selbst Personen durchaus richtig beurteilen, die den Marx und Engels nicht das Wasser reichten. Eines konnte man damals Bismarck nicht vorwerfen, daß er seine Politik verschleierte und mit verdeckten Karten spielte.

Bucher hat später, im Herbst 1878, als anläßlich des bevorstehenden Sozialistengesetzes seine Einladung von Marx, für den »Staatsanzeiger« zu schreiben, Gegenstand der öffentlichen Erörterung wurde, die Marxsche Darlegung dieser Einladung bestritten. Darauf antwortete Marx in der »Daily News« unter anderem:

Der Brief, worin mich Herr Bucher für den »Staatsanzeiger« zu kirren suchte, datiert vom 8. Oktober 1865. Es heißt darin unter anderem: »In betreff des Inhaltes versteht es sich von selbst, daß Sie nur Ihrer wissenschaftlichen Ueberzeugung folgen; jedoch wird die Rücksicht auf den Leserkreis – haute finance – , nicht auf die Redaktion, es ratsam machen, daß Sie den innersten Kern nur eben für den Sachverständigen durchscheinen lassen.« Dagegen besagt die »Berichtigung« des Herrn Bucher, daß er bei »Herrn Marx anfrug, ob er die gewünschten Artikel liefern wolle, indem es auf eine objektive Behandlung ankäme. Von des Herrn Marx 'eigenem wissenschaftlichen Standpunkt' steht nichts in meinem Briefe.«

Ferner heißt's in dem Briefe Buchers:

»Der 'Staatsanzeiger' wünscht monatlich einen Bericht über die Bewegungen des Geldmarktes (und natürlich auch des Warenmarktes, soweit beide nicht zu trennen). Ich wurde gefragt, ob ich nicht jemanden empfehlen könnte, und erwiderte, niemand würde das besser machen als Sie. Ich bin infolgedessen ersucht worden, mich an Sie zu wenden.«

Klassisch ist der Schluß der Bucherschen Einladung, die Marx in jener Erklärung ebenfalls abdruckt:

»Der Fortschritt (er meinte die liberale oder Fortschrittsbourgeoisie) wird sich noch oft häuten, ehe er stirbt; wer also während seines Lebens noch innerhalb des Staates wirken will, der muß sich ralliieren um die Regierung.«

Das war also der Grund, der Bucher Bismarck in die Arme trieb und der ihn veranlaßte, bei anderen das gleiche zu versuchen.

Nach einer Erklärung, die Liebknecht am 24. März in der »Rheinischen Zeitung« veröffentlichte, habe Schweitzer nach dem Tode Lassalles Marx zum Präsidenten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins vorgeschlagen. Marx habe abgelehnt, sich mit einer Bewegung zu identifizieren, deren Taktik er für grundverkehrt hielt, auch habe er keine Neigung gehabt, unter den obwaltenden politischen Zuständen nach Deutschland überzusiedeln. Schweitzer habe sich verpflichtet, daß das neue Blatt die Lassallesche Taktik nicht befolgen, jedes Kokettieren mit der Reaktion vermeiden sollte, unter dieser Bedingung, und nur unter dieser, habe er sich zur Mitarbeiterschaft bereit erklärt, vorausgesetzt, daß auch Marx und Engels sich beteiligen würden. Beide hätten sich schließlich nur mit dem größten Widerstreben dazu verstanden, und nur auf seine wiederholte Versicherung, daß er an die Loyalität Schweitzers – von dem er sehr schlimme Dinge gehört – glaube.

Die Politik des »Sozialdemokrat« trug rasch die gewünschten Früchte. Bereits Anfang Februar 1865 hielt ein Mitglied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, Peter Rex, in Köln eine Rede, worin er sagte: ihm sei die jetzige Regierung lieber als ein Fortschrittsministerium. Der »Sozialdemokrat« druckte ohne ein Wort der Kritik diese Aeußerungen ab. Am 12. März erklärte der Rheinisch-Westfälische Arbeitertag zu Barmen sich mit der Haltung des »Sozialdemokrat« einverstanden, auch sei es durchaus zu billigen, die Vorschläge der preußischen Regierung, die bei verschiedenen Gelegenheiten die Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen durch die Gesetzgebung versprochen habe, abzuwarten, bevor man über dieselbe aburteile, indem es keineswegs unmöglich sei, daß dieselbe das Dreiklassenwahlgesetz aufhebe und statt desselben das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht, wie es das von Lassalle, dem Begründer der deutschen Arbeiterpartei, vorgezeichnete nächste Ziel der jetzigen deutschen Arbeiterbewegung sei, einführe. Form und Inhalt dieser Resolution sprachen dafür, daß Schweitzer sie verfaßt hatte, auch empfahl der »Sozialdemokrat«, überall dieselbe zur Abstimmung zu bringen, ein Akt, der einem Vertrauensvotum für die preußische Regierung gleichkam.

Bereits begann aber auch die Opposition im Verein sich bemerkbar zu machen. In seiner Nr. 38 polemisierte der »Sozialdemokrat« gegen die offenen Feinde und falschen Freunde, die Zwietracht in die Partei zu säen suchten. Und da die Opposition auch begann, gegen die diktatorischen Organisationsbestimmungen im Vereinsstatut zu polemisieren, so mußte die Organisation als das ureigenste Werk Lassalles mit einer Art Glorienschein umgeben werden. Der Lassallekultus wurde von jetzt ab systematisch gefördert und jeder als eine Art Schänder des Heiligsten gebrandmarkt, der andere Ansichten zu hegen wagte. Es waren namentlich die Worte im Lassalleschen Testament: »Dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein empfehle ich, den Frankfurter Bevollmächtigten, Bernhard Becker, zu meinem Nachfolger zu wählen. Er soll an der Organisation festhalten; sie wird den Arbeiterstand zum Siege führen«, die das Schibolet wurden, das den echten von dem falschen Lassalleaner unterschied. Und Schweitzer unterstützte diese allmählich ans Idiotenhafte grenzenden Anschauungen, die schließlich eine Art religiöser Glaubenssätze wurden. Kam es doch im Laufe der Jahre dahin, daß das Thema »Christus und Lassalle« das Thema für die Tagesordnung zahlreicher Volksversammlungen wurde. F.W. Fritzsche erhielt sogar 1868 in Berlin eine Anklage wegen eines Vortrags über dieses Thema, in dem der Staatsanwalt eine Gotteslästerung erblickte. Fritzsche wurde nur freigesprochen, weil ihm der Dolus nicht nachgewiesen werden konnte.

Wie Schweitzer innerlich über dieses von ihm geförderte Treiben dachte, bedarf keiner Auseinandersetzung.

In einem merkwürdigen Gegensatz zu den Bismarckartikeln veröffentlichte der »Sozialdemokrat« in seiner Nr. 43 vom 5. April 1865 eine Schlußbetrachtung über die österreichischen Staatsverhältnisse, worin es hieß:

»Die Deutsche Volkspartei ist, wie in allem, so auch in der deutschen Einheitssache radikal, das heißt sie will die ganze und ausnahmslose Verwirklichung der als gut und richtig erkannten Idee.

Die Deutsche Volkspartei also will das ganze Deutschland zum freien Volksstaat vereinen.

Das ganze Deutschland! sagen wir. Nicht ein Dorf, nicht ein Meierhof, nicht die kleinste Hütte im fernsten Winkel darf uns fehlen!

Der kleindeutsche Gedanke eines 'einigen Deutschland' ohne die deutsch-österreichischen Provinzen ist ein Hochverrat an der Nation und ihrer Zukunft. (Auch im Text gesperrt gedruckt.)

Ein einiges Deutschland – bedingungslos, ausnahmslos!

Das war eine der Doppelzüngigkeiten, womit Schweitzer bezweckte, die Opposition zum Schweigen zu bringen, die sich anläßlich der Bismarckartikel innerhalb und außerhalb des Vereins geltend machte. Er sah, daß er sich zu weit vorgewagt hatte. Ein solches Manöver wiederholte er regelmäßig, sobald er wegen seines Verhaltens öffentlich Angriffen ausgesetzt war. Alsdann warf er sich wieder auf die linke Seite und schrieb mit einem Radikalismus, der nichts zu wünschen übrig ließ. Er konnte so, aber auch anders.

Und er nicht allein, auch der eine und der andere seiner Anhänger. In derselben Nummer des »Sozialdemokrat«, in der der oben zitierte Artikel über Oesterreich stand, veröffentlichte Tölcke einen spaltenlangen Bericht über eine Königsgeburtstagsfeier, welche die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in Iserlohn veranstaltet hatten und in der Tölcke ein Hoch auf den König von Preußen ausgebracht hatte. In diesem Toast führte Tölcke aus, der Wille, den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein vernichten zu wollen – wie das der Iserlohner Bürgermeister durch maßlos brutale Unterdrückungsmaßregeln versucht hatte – sei vergeblich.

»Das gelingt nimmermehr, weil das preußische Ministerium den Bestrebungen des Vereins, mehr aus volkswirtschaftlichen als aus politischen Beweggründen, augenscheinlich die große Aufmerksamkeit schenkt – es gelingt endlich nimmermehr, weil Seine Majestät unser allverehrter König der Freund der Arbeiter ist.«

Auf Tölckes Betreiben hatte man sogar den König durch eine telegraphische Depesche zum Geburtstag beglückwünscht, worauf folgende Antwort eingegangen war:

»Dem Arbeiterverein Iserlohn. Seine Majestät dankt bestens für Ihre Glückwünsche. Im allerhöchsten Auftrag: Strubberg, Oberstleutnant und Flügeladjutant.«

Die Verlesung dieser Depesche wurde, wie Tölcke weiter berichtete, mit einem gewaltigen Hoch auf Seine Majestät aufgenommen. Im Festsaal war ein Transparent angebracht: der preußische Adler stehend auf verschlungenen Eichen- und Lorbeerzweigen, und darüber die Inschrift: Heil dem Könige, dem Beschützer der Bedrängten!... Weithin schallten patriotische Lieder. Ein Kriegerverein konnte nicht patriotischer handeln.

Schweitzer druckte den spaltenlangen Bericht Tölckes im »Sozialdemokrat« ab, ohne ein Wort des Tadels oder der Unzufriedenheit hinzuzufügen. Tölcke handelte eben in den Intentionen Schweitzers. Das hinderte ihn aber nicht, im »Sozialdemokrat« vom 20. September 1865 bei Besprechung einer Depesche Lord Russells, worin dieser den Gasteiner Vertrag zwischen Preußen und Oesterreich aufs schärfste verurteilte, zu sagen: Was geht uns der Gasteiner Vertrag an?... Es ist nur eine Angelegenheit der preußischen Regierung, deren Politik im offensten und entschiedensten Widerspruch zum Willen des Volkes in Preußen steht. Und gegen die »Kreuzzeitung« gewendet, die dem Volke mit dem Ausland drohte, das sich in deutsche Angelegenheiten mischen werde, antwortete er: Nicht in Frankreich, in Deutschland sitzen die Erbfeinde deutscher Nation. Wen er darunter meinte, das überließ er dem Leser, sich zurechtzulegen. Wie konnte der Arbeiter von damals in dieser Zweideutigkeit und Doppelzüngigkeit sich zurechtfinden? Er hatte nur das eine Gefühl, daß der Mann, der alles das schrieb, geistig turmhoch über ihm stand und er darum ihm folgen müsse. Die Verbreitung, die damals der »Sozialdemokrat« besaß, war eine sehr geringe. Er hatte nur einige hundert Abonnenten. Das Blatt erforderte also sehr erhebliche Zuschüsse, und es konnte gar keine Rede davon sein, daß es seinen Redakteuren auch nur einen Pfennig Gehalt abwarf, obgleich beide darauf angewiesen waren. Um so mehr mußte auffallen, daß bei einem solch elenden finanziellen Stand dasselbe vom 1. Juli 1865 ab sogar täglich erschien, also sein Defizit fast verdoppelte, ohne jede Aussicht, in absehbarer Zeit einen Abonnentenzuwachs zu erlangen, der auch nur einen nennenswerten Teil der Kosten deckte. Die Frage war also sehr natürlich: wo kommt das Geld her? denn ohne daß erhebliche Zuschüsse von irgend einer Seite in Aussicht standen, war der Plan, das Blatt täglich erscheinen zu lassen, der Plan von Irrenhäuslern.

Der Verein hatte kein Bedürfnis nach einer solchen Vergrößerung des Blattes, wohl aber die konservative Presse, welche die scharfen Angriffe, die der »Sozialdemokrat« unausgesetzt gegen die Fortschrittspartei und ihre Politik führte, mit Behagen weiter verbreitete und die liberale Presse zwang, dem »Sozialdemokrat« ebenfalls größere Beachtung zu schenken. Auf diese Weise erlangte das Blatt eine Bedeutung, die ganz außer Verhältnis zu seiner Verbreitung stand. Die Frage: woher kommt das Geld? wurde auch für die liberale Presse aktuell, und so sahen sich Schweitzer und Hofstetten genötigt, in der Nr. 77 des »Sozialdemokrat« vom 28. Juni 1865 eine Erklärung gegen die »Rheinische Zeitung« zu veröffentlichen, die in ihrer Nr. 139 erklärt hatte: Der »Sozialdemokrat« stehe in nahen Beziehungen zu Bismarck, und in ihrer Nr. 139 weiter die Beschuldigung aussprach, dem »Sozialdemokrat« flössen aus hochkonservativen Kreisen die Mittel zu, um statt dreimal wöchentlich täglich zu erscheinen. Die Erklärung Schweitzers und Hofstettens gegen die »Rheinische Zeitung« lautete:

»In diesen beiden Stellen hat die Redaktion der 'Rheinischen Zeitung', obwohl mit einiger Vorsicht (? A.B.) und in etwas gewundenen Phrasen (? A.B.), so doch im ganzen ziemlich unzweideutig uns, die Redakteure des 'Sozialdemokrat', der schmählichsten und erbärmlichsten Haltung beschuldigt, die überhaupt in der Politik möglich ist: daß nämlich wir, die berufen sind, die sozialdemokratische Partei in der Presse zu vertreten, uns an eine entgegenstehende Partei oder politische Macht verkauft hätten.

Wenn die Redaktion der 'Rheinischen Zeitung' nicht sofort nach Kenntnisnahme dieser Erklärung ihre Verleumdung widerruft, werden wir gegen dieselbe, weiteres uns übrigens vorbehaltend, bei dem zuständigen Gericht Klage erheben.«

Darauf antwortete die Redaktion der »Rheinischen Zeitung« bereits am folgenden Tage, den 29. Juni:

»An die Redaktion des 'Sozialdemokrat', zu Händen des Herrn v. Schweitzer, Berlin.

Die Redaktion der 'Rheinischen Zeitung' sieht sich angesichts der ihr zugesandten Erklärung nicht veranlaßt, irgend etwas zu widerrufen, und überläßt es der Redaktion des 'Sozialdemokrat', die angedrohte Klage zu erheben.«

Darauf antwortete Schweitzer: »Demgemäß wird also die in Aussicht gestellte Klage stattfinden.«

Diese Klage fand aber nicht statt, Schweitzer ließ die schweren Beschuldigungen gleich anderen, die ihm schon gemacht worden waren, auf sich sitzen. Das besagt genug.

Um diese Zeit und noch Jahre nachher machte sich ein Individuum in den Berliner Arbeiterkreisen sehr bemerklich, das im Verdacht stand, im Dienste der Regierung zu stehen. Es war dies der angebliche Arbeiter Preuß. Tatsächlich war dieser für ein Gehalt von 50 Taler monatlich angestellt, und zwar stand er im direkten Dienst des Geheimen Regierungsrats Wagener. Nebenher lieferte Preuß für eine Anzahl Blätter die Polizeinachrichten, die ihm eine Extraeinnahme brachten. Preuß war es auch, der Liebknechts Anwesenheit in Berlin, Herbst 1866, wegen Bannbruchs der Polizei denunzierte, worauf dieser, wie ich schon im ersten Teil dieser Arbeit erzählte, zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Preuß besuchte mit Vorliebe die Versammlungen des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, in denen er auch öfter sprach. Liebknecht und andere unserer damaligen Berliner Parteifreunde behaupteten mit Bestimmtheit, daß er den Mittelsmann zwischen Schweitzer und Wagener abgebe, doch hatte Schweitzer wohl direktere Beziehungen zu Wagener.

Letzterer, der Geriebene, mit allen Wassern Gewaschene, war, wie allbekannt, die rechte Hand Bismarcks in allen sozialpolitischen Angelegenheiten, zugleich war er vortragender Rat und stand so in engster täglicher Beziehung zu Bismarck und dem König. Die Kette Schweitzer-Wagener-Bismarck war also ohne ein weiteres Verbindungsglied geschlossen, was für alle Teile sehr wichtig war. Daß Schweitzer je mit Bismarck persönlich verkehrte, betrachte ich als vollkommen ausgeschlossen. Schweitzer war kein Lassalle. Unvergeßlich bleibt mir, wie Bismarck eines Tages im Reichstag den Neugierigen spielte und mit der Lorgnette vor den Augen den auf die Tribüne zuschreitenden Schweitzer vom Scheitel bis zu den Zehen maß, als wollte er sagen: also du bist der, der mir an den Rockschößen hängt?

Am Molkenmarkt mußte man die Beziehungen Schweitzers zu Wagener und höher hinauf kennen. Daher kam es wohl, daß, wenn der »Doktor«, wie Schweitzer dort kurz und vertraulich genannt wurde, seine öfteren Besuche auf dem Präsidium machte, die Beamten und Offiziere ihn sehr entgegenkommend behandelten, wie das der undankbare Tölcke nach einer Reihe Jahre, als er mit Schweitzer gebrochen hatte, zugestand. Das Berliner Polizeipräsidium hatte offenbar ein lebhaftes Interesse, auf Grund seiner wenig sagenden Akten Schweitzer zu rehabilitieren und damit auch Wagener und Bismarck weiß zu waschen. Aus diesem Grunde geschah es wohl, daß, als Dr. Gustav Mayer sein Werk »Johann Baptist v. Schweitzer und die Sozialdemokratie« schrieb (bei Gustav Fischer in Jena erschienen), ihm das Berliner Polizeipräsidium bereitwilligst Einsicht in seine Geheimakten über Schweitzer nehmen ließ. Schon fünfzehn Jahre früher wurde Genosse Franz Mehring, als er seine Geschichte der deutschen Sozialdemokratie verfaßte, vom Polizeipräsidium dieselbe Offerte gemacht, die Mehring aber ablehnte.

Die Gräfin Hatzfeldt, der die Unterstützung der Bismarckschen Politik durch Schweitzer noch nicht weit genug ging, hatte eine Rechtfertigung dieser Politik schon gegen Ende 1864 in einem Briefe an die Frau Herweghs versucht, in dem sie schrieb: »Es liegt ein förmlicher Abîme (Abgrund) zwischen folgenden zwei Sachen: sich an einen Gegner zu verkaufen, für ihn arbeiten, verdeckt oder unverdeckt, oder wie ein großer Politiker den Augenblick zu erfassen, um von den Fehlern des Gegners zu profitieren, einen Feind durch den anderen aufreiben zu lassen, ihn auf eine abschüssige Bahn zu drängen und die dem Zwecke günstige Konjunktur, sie möge hervorgebracht werden von wem sie wolle, zu benutzen. Die bloßen ehrlichen Gesinnungen, diejenigen, die sich immer nur auf den idealen, in der Luft schwebenden Standpunkt der zukünftigen Dinge stellen und darauf nur das momentane Handeln bestimmen, mögen privatim als recht brave Menschen gelten, aber sie sind zu nichts zu brauchen, zu Handlungen, die auf die Ereignisse wirklich einwirken, ganz unfähig, kurz, sie können nur in der großen Masse dem Führer folgen, der besser weiß.«

Die Frau Gräfin hatte sich hier ein Programm zurechtgelegt, das selbst einen Lassalle zum Scheitern gebracht hätte, weil vor allen Dingen die Macht, die dazu gehörte, in der von ihr geschilderten Weise zu politisieren, fehlte. Lassalle wäre, das ist meine Ueberzeugung, wenn es zum Kirschenessen mit Bismarck gekommen wäre, gehörig hereingefallen; sein Spiel hätte mit einer gewaltigen Blamage geendet. Zu glauben, ein Bismarck konnte oder wollte der Sozialdemokratie, also dem Todfeind der bürgerlichen Gesellschaft, ernsthafte Konzessionen machen, er, dem doch allein daran liegen mußte, mit der modernen Macht des Kapitalismus sich zu verständigen und der zu diesem Zwecke die Sozialdemokratie allenfalls als Mittel benutzte, hätte von einer Verblendung gezeugt, die alles andere, nur nicht Realpolitik gewesen wäre. Auch ist die Sozialdemokratie keine Schafherde, die gedankenlos hinter dem Führer trottet und sich beliebig führen und nasführen läßt. Das mochte die Gräfin Hatzfeldt zu ihrer Zeit und in der Atmosphäre, in der sie lebte, noch glauben, aber eine sozialdemokratische Politik ist auf die Dauer nicht ohne die bewußte Mitwirkung der Massen und das Betreten ehrlicher, gerader Wege möglich. Die Massen lassen sich auf diplomatische Finessen nicht ein; der Führer, der anders rechnet, wird bald erkennen, daß er sich verrechnet hat.

Der Sommer 1865 bot Schweitzer Gelegenheit, sich wieder als Radikaler aufzuspielen, womit er die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen in den Hintergrund zu drängen hoffen durfte. Es war das ebenfalls schon von mir im ersten Bande erwähnte Abgeordnetenfest in Köln, dem gegenüber Bismarck den Gewaltmenschen spielte. Schweitzer mit seinem gewohnten großen Geschick wendete sich in einer Reihe Artikel im »Sozialdemokrat« gegen die Regierung. Und wenn er darin der Fortschrittspartei wegen ihres feigen Verhaltens in der Kölner Angelegenheit übel mitspielte, so forderte er auch mit Nachdruck ein völlig freies Vereins- und Versammlungsrecht für Preußen. Trotz seiner eminenten journalistischen Gewandtheit schrieb er jetzt mit einer Schärfe, daß der »Sozialdemokrat« eine längere Reihe von Tagen täglich konfisziert wurde. Diese oppositionelle Haltung übertrug er auch auf die Kritik an der auswärtigen Politik, als Bismarck im Oktober zu Napoleon nach Biarritz reiste, um dessen Zustimmung zu seiner »nationalen« Politik zu erlangen, Verhandlungen, bei denen, wie sich nach 1866 erwies, Napoleon der Geprellte war. Gegen Schweitzer erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen verschiedener Preßvergehen. Auch reizte die Opposition des »Sozialdemokrat« die Staatsanwaltschaft noch zu weiterer Verfolgung. So wurden durch Gerichtsbeschluß in Berlin und Magdeburg die Mitgliedschaften des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins unterdrückt, weil sie als selbständige politische Vereine anzusehen seien, die nach dem § 8 des preußischen Vereins- und Versammlungsgesetzes nicht miteinander in Verbindung stehen durften.

Diese Verfolgungen verhinderten aber nicht, daß im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein Schweitzer mit einer starken Opposition zu kämpfen hatte, wobei die Gräfin Hatzfeldt tapfer schürte, weil er dieser nicht den verlangten Einfluß auf den Verein und seine Politik einräumte. Es begann ein wahres Tohuwabohu im Verein, es war der Kampf um die Macht. Lassalle hatte kurz vor seinem Tode Schweitzer zum Vorstandsmitglied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins ernannt. Die Generalversammlung in Düsseldorf ließ ihn aber für diesen Posten durchfallen. Bernhard Becker war ebenfalls mit Schweitzer zerfallen und versuchte einen Haupttrumpf gegen ihn auszuspielen, indem er die Generalversammlung des Vereins nach Frankfurt a.M. einberief, den Ort, der Schweitzer nach seiner Vergangenheit der allerunangenehmste sein mußte. Indes war die Opposition auch gegen den unfähigen Becker so stark, daß dieser kurz vor der Frankfurter Generalversammlung sein Amt niederlegte, worauf Tölcke als sein Nachfolger gewählt wurde. Bis aber dessen Wahl durch die Urabstimmung in den Mitgliedschaften bestätigt war, sollte Hillmann-Elberfeld, der wieder Fritzsche als Vizepräsident ersetzt hatte, die Leitung des Vereins übernehmen. Hillmann, der zu den entschiedensten Gegnern Schweitzers gehörte, benutzte jetzt seine Stellung, um den zwischen Becker und Schweitzer abgeschlossenen Vertrag, wonach der »Sozialdemokrat« offizielles Vereinsorgan war, für null und nichtig zu erklären und ihm das Recht, sich Vereinsorgan zu nennen, zu entziehen. Schweitzer und Hofstetten bezeichneten von da ab das Blatt als »Organ der sozialdemokratischen Partei«.

Mittlerweile war Schweitzer ins Gefängnis gewandert. Er war am 24. November wegen verschiedener Preßvergehen, darunter Majestätsbeleidigung und Schmähung obrigkeitlicher Anordnungen, zu einem Jahre Gefängnis verurteilt worden. Später bekam er noch vier Monate dazu, auch wurden ihm jetzt die Ehrenrechte aberkannt. Seine Verhaftung erfolgte kurz nach seiner ersten Verurteilung. Schweitzers journalistische Tätigkeit wurde aber durch die Haft in keiner Weise unterbrochen, wie er denn im Gefängnis ein Maß von Freiheiten genoß, das weder bis dahin noch später einem in Berlin zu Gefängnis verurteilten politischen Gefangenen zuteil wurde. Er traf alle Anordnungen sowohl als Redakteur wie später als Präsident des Vereins aus dem Gefängnis. Seine Korrespondenz war unbeschränkt, Besuche empfing er häufig. Als er 1869 eine mehrmonatige Gefängnisstrafe in Rummelsburg verbüßte, konnte er sich sogar dem Vergnügen des Kahnfahrens auf dem Rummelsburger See widmen. Selbstbeköstigung war ihm ebenfalls gestattet, die in den Berliner Gefängnissen für politische Gefangene erst in sehr viel späterer Zeit, zu Ende des vorigen Jahrhunderts, erlangt wurde.

Man hat geltend gemacht, daß die verschiedenen Gefängnisstrafen ein Beweis gegen die Anklage seien, Schweitzer wäre Bismarckscher Agent gewesen. Diese Auffassung ist durchaus falsch. Die Beziehungen, die eine Regierung zu ihren politischen Agenten zu haben pflegt, bindet sie nicht den Staatsanwälten und Richtern auf die Nase. Eine zeitweilige Verurteilung eines politischen Agenten wegen oppositioneller Handlungen ist auch sehr geeignet, Mißtrauen gegen den Betreffenden zu beseitigen und das Vertrauen in ihn zu stärken. Bekanntlich haben auch die Berliner Gerichte zu derselben Zeit, in der Lassalle mit Bismarck seine stundenlangen politischen Unterhaltungen als »angenehmer Gutsnachbar« hatte, sich nicht gescheut, ihn zu einer Reihe harter Gefängnisstrafen zu verurteilen, obgleich man damals in weiten Kreisen wußte, wie Bismarck und Lassalle zueinander standen. Lastete doch der Gedanke schwer auf Lassalle, wie er bei seinem Gesundheitszustand die langen Haftstrafen überstehen werde.

In den Monaten, welche der Kriegsentscheidung im Juni 1866 vorausgingen, arbeitete der »Sozialdemokrat« weiter zugunsten der Bismarckschen Politik, und zwar wie auch früher mit raffiniertem Geschick. Es mußten schon geübte Augen und ein scharfer Verstand sein, um aus all den Verklausulierungen und Widersprüchen herauszuschälen, daß er eine unehrliche Politik betrieb.

Gegen Ende März 1866, also während er im Gefängnis sitzt, wird er im »Sozialdemokrat« deutlicher: »Die Zerstörung der Bundesleiche zu Frankfurt sollte die Auflösung der Nation bedeuten. Die Geburt der Nation würde von diesem Tage an datieren.« Einer seiner Hamburger Anhänger, Schallmeier, erklärte im »Sozialdemokrat«, die Arbeiter würden für den Krieg sein, gebe man denselben das allgemeine Wahlrecht. Gleichzeitig erhebt der »Sozialdemokrat« unausgesetzt heftige Angriffe gegen die Fortschrittspartei, den Nationalverein, den Sechsunddreißiger-Ausschuß. Daneben erschienen wieder einige Artikel, worin ein Buch Rüstows über das Milizsystem günstig besprochen und das Milizheer als eine Einrichtung gepriesen wird, die am billigten die meisten Streiter liefere.

Im März noch hatte der »Sozialdemokrat« den preußischen Bundesreformentwurf mit Geringschätzung behandelt, er werde »schätzbares Material« bleiben. In der zweiten Hälfte April tritt er entschieden für die preußische Bundesreform ein. Jetzt war keine Rede mehr von den früheren Versicherungen, dem neuen Deutschen Reiche dürfe kein Dorf, nicht der letzte Weiler fehlen. Er hatte auch vergessen, daß er noch in der zweiten Hälfte September 1865 geschrieben: Unser köstliches Kleinod ist, daß wir kein Oesterreich und kein Preußen, kein Bayern und kein Hessen-Homburg, daß wir nur ein Deutschland kennen, ein deutsches Volk und eine deutsche Sprache.

In einer Artikelserie: Habsburg, Hohenzollern und die deutsche Demokratie, die Ende April erschien, spricht er sich schließlich für die Vernichtung Oesterreichs aus; es müsse reduziert werden auf die 12900000 Einwohner, die zum Bunde gehörten. Dann sei Deutschland konstituiert, das heißt dann hat Preußen das Feld.

Auf ein wiederholtes Gesuch wurde Schweitzer am 9. Mai 1866 angeblich wegen gefährdeter Gesundheit aus dem Gefängnis beurlaubt. Dagegen wäre nichts einzuwenden gewesen, entsprach der Grund des Urlaubs der Wahrheit. Dieser Grund erwies sich aber als eine Lüge. Kaum aus dem Gefängnis beurlaubt, entwickelte Schweitzer eine umfassende politische Tätigkeit, die nicht nur bewies, daß die Ruhe des Gefängnisses ihm wieder eine gute Gesundheit verschafft hatte, sondern daß auch die maßgebenden Behörden gegen seine politische Tätigkeit nichts einzuwenden hatten, obgleich sonst die Behörden bei Beurlaubungen politischer Gefangener die selbstverständliche Forderung stellen, daß der Beurlaubte nicht eine Tätigkeit betreibe, wegen der er in Strafe genommen worden ist.

Am 21. Mai erscheint Schweitzer in Hamburg, um dort »Ordnung zu schaffen«, am 11. Juni in Erfurt und am 18. Juni in Leipzig, woselbst er in einer Rede für die Bismarcksche Bundesreform eintritt. Dieses Eintreten hatte aber nicht verhindert, daß am 18. Mai der »Sozialdemokrat« in einem Leitartikel sagte: Von einem liberalen Preußen sprechen die Gothaer, das an die Spitze Deutschlands zu treten habe, aber das hieße in Wahrheit sprechen: von einem Preußen, das nicht existiert und nicht existieren kann.

Und dieser positiven durchaus richtigen Auffassung über das Wesen Preußens gegenüber sagt Schweitzer am 16. Juni in Leipzig in einem Vortrag »Ueber die gegenwärtigen Aufgaben der sozialdemokratischen Partei Deutschlands« am Schlusse:

»Wenn es aber gelingt, die preußische Regierung weiterzutreiben auf dem Wege der Konzessionen an uns (sic! A.B.)..., dann werden wir soviel wir können das Unsere tun, daß der Sieg nicht bei den Fahnen Oesterreichs, sondern bei den Fahnen Preußens, nicht bei den Fahnen Benedeks, sondern bei den Fahnen Bismarcks und Garibaldis sei.«

Kann man widerspruchsvoller handeln?

Diese Auslassungen sind als Programmsätze Schweitzers sehr bemerkenswert, und sie fanden wohl an hoher Stelle in Berlin ihr Echo. Was aber das Antreiben der preußischen Regierung zu Konzessionen an uns (also an den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein) betraf, so war, ganz abgesehen von dem Utopismus, auf Bismarcksche Konzessionen zu hoffen – woran Schweitzer auch selbstverständlich nicht glaubte – das ganze Gerede eine Aufschneiderei, denn Schweitzer selbst hatte zuletzt noch am 3. Juni, vierzehn Tage vor seiner Leipziger Rede, im »Sozialdemokrat« geschrieben: daß die Wirren im Verein bis auf weiteres denselben unfähig machten, in sozialpolitischen Dingen irgend etwas zu leisten.

Diesem Gedanken hatte er auch schon wiederholt vor dem 3. Juni im »Sozialdemokrat« Ausdruck gegeben, wie denn in der Tat die Wirren im Verein, an denen Schweitzer sein vollgerüttelt Maß der Schuld trug, bis in das Jahr 1867 hinein denselben in Zerrüttung hielten.

In seltsamem Widerspruch zu diesen wiederholten Erklärungen Schweitzers steht es, wenn noch in unseren Tagen die Behauptung aufgestellt wurde, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein habe zu jener Zeit einen merkbaren Einfluß auf die Neugestaltung der Dinge ausgeübt, zum Beispiel bei Erlangung des allgemeinen Wahlrechts. Bei dem Widerstand, den das Bismarcksche Reformprojekt in den weitesten Kreisen fand, mußte Bismarck allerdings jede Unterstützung, war sie auch noch so unbedeutend, für sein Projekt willkommen sein. Daß er das allgemeine Wahlrecht gewährte, geschah, weil er es gewähren mußte. Das war so selbstverständlich, daß es dazu keiner Einflüsterungen und Anfeuerungen bedurfte. Hatte er doch bereits Sommer 1863, also zu einer Zeit, in der der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein eben erst gegründet worden war, gegenüber dem österreichischen Reformentwurf, der das deutsche Parlament aus Delegationen der einzelstaatlichen Landtage zusammensetzen wollte, ein Parlament gefordert, das auf Grund des in der Paulskirche 1849 beschlossenen allgemeinen Wahlrechtes gewählt werden sollte. Bismarck hat die Gründe, weshalb er zu demselben griff und greifen mußte, nicht bloß später im norddeutschen Reichstag auseinandergesetzt; er schrieb auch in einer Zirkulardepesche am 24. März 1866, also drei Monate vor dem Krieg:

»Direkte Wahlen und allgemeines Stimmrecht halte ich für größere Bürgschaften einer konservativen Haltung als irgend ein künstliches, auf Erzielung gemachter Majoritäten berechnetes Wahlgesetz. Nach unseren Erfahrungen sind die Massen ehrlicher bei der Erhaltung staatlicher Ordnung interessiert als die Führer derjenigen Massen, die man durch die Einführung irgendeines Zensus in der aktiven Wahlberechtigung privilegieren möchte.«

Und an den Grafen Bernsdorf in London schrieb Bismarck unter dem 19. April 1866:

»Ich darf es wohl als eine auf langer Erfahrung begründete Ueberzeugung aussprechen, daß das künstliche System indirekter und Klassenwahlen ein viel gefährlicheres ist, indem es die Berührung der höchsten Gewalt mit den gesunden Elementen, die den Kern und die Masse des Volkes bilden, verhindert.... Die Träger der Revolution sind die Wahlmännerkollegien, die der Umsturzpartei ein über das Land verbreitetes und leicht zu handhabendes Netz gewähren, wie dies 1789 die Pariser Elekteurs gezeigt haben. Ich stehe nicht an, indirekte Wahlen für eines der wesentlichsten Hilfsmittel der Revolution zu erklären, und ich glaube, in diesen Dingen praktisch einige Erfahrungen gesammelt zu haben.«

Zu diesen Gründen, die deutlich das Unbehagen verraten, das die bisherigen Resultate der Wahlen nach dem Dreiklassenwahlsystem in Preußen bei ihm erzeugten, kommen noch als besonders entscheidende, daß in dem Staatenkonglomerat, das der später neugebackene Norddeutsche Bund bildete, es keine gemeinsame Grundlage gab, auf der ein anderes Wahlrecht als das allgemeine möglich war. Ferner gebot die Rücksicht auf die Traditionen des ersten deutschen Parlaments in Frankfurt 1848/49, daß er das allgemeine Wahlrecht einführte, das allein die starken Antipathien, die gegen die Gründung des Norddeutschen Bundes selbst in weiten Kreisen der norddeutschen Bevölkerung vorhanden waren, einigermaßen überwinden konnte. Es muß weiter hinzugefügt und wiederholt daran erinnert werden, daß in jenen Jahren der Gedanke, das allgemeine Wahlrecht einzuführen, selbst in konservativen Kreisen im Hinblick auf die Resultate des Dreiklassenwahlsystems sympathisch aufgenommen wurde und der Geheime Regierungsrat Wagener schon im Spätsommer 1862, also ehe noch Lassalle öffentlich diese Forderung erhoben hatte, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts befürwortete. Auch hatten schon zu Anfang 1862 die radikalen Leipziger Arbeiter diese Forderung gestellt, und seit 1865 war es eine Programmforderung der gesamten deutschen Arbeiterklasse ohne Unterschied der Partei. Im Winter 1865/66 wurde diese Forderung in unzähligen Volksversammlungen propagiert, noch ehe jemand an den Bismarckschen Reformentwurf denken konnte, weil er für die Oeffentlichkeit noch nicht existierte. Es war also nach Lage der Dinge unmöglich, daß der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein als solcher merkbaren Einfluß auf die Gewährung des allgemeinen Stimmrechts ausgeübt hat.

Bismarck hatte am 9. Mai den Landtag nach Hause geschickt, weil er fürchtete, daß er ihm, wie bei Gelegenheit der Schleswig-Holsteinschen Frage, die Mittel zum Kriegführen verweigern werde. Bismarck brauchte aber Geld, und so gab er auf dem Verordnungswege, also ohne alles gesetzliche Recht, 40 Millionen Taler Kassenscheine aus und ordnete die Errichtung von Darlehenskassen an. Die gesamte liberale und demokratische Presse spie mit Recht Feuer und Flamme über diese gesetzwidrige Handlung, aber Schweitzer brachte es fertig, unter sehr deplacierten Angriffen auf die Fortschrittspartei die Handlung Bismarcks zu verteidigen. Als dann Bismarck nach dem Kriege die Gründung eines Staatsschatzes, der mit 20 Millionen Taler dotiert werden sollte, verlangte, um ausgesprochenermaßen im Kriegsfall zunächst von einer Geldbewilligung der Kammer unabhängig zu sein, führte Schweitzer wieder eine Menge Gründe zugunsten desselben an, wagte aber nicht, sich rückhaltlos für den Plan auszusprechen.

Der »Sozialdemokrat« mußte mit dem 1. April 1866 sein sechsmaliges Erscheinen einstellen; er erschien wieder nur dreimal wöchentlich. Es mochte niemand mehr ein Bedürfnis haben, angesichts der kommenden kriegerischen Ereignisse weiter schwere Opfer für ein sechsmaliges Erscheinen zu tragen. Denn er besaß noch keine 500 Abonnenten. Am 17. Juni fand eine Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in Leipzig statt, die nur von 12 Delegierten besucht war, was zeigt, wie gering damals die Leistungsfähigkeit des Vereins war. Angeblich sollten diese 12 Delegierten, unter denen sich auch Schweitzer befand, 9400 Mitglieder vertreten. Bei der Präsidentenwahl unterlag Hillmann-Elberfeld gegenüber Perl-Hamburg, das war ein indirekter Sieg Schweitzers. Im »Sozialdemokrat« wiederholte sich jetzt das Spiel, das man nach seiner Leipziger Rede erwarten mußte. Als Oesterreich während der Waffenstillstandsverhandlungen Venetien an Napoleon übergab, um es nicht an das verhaßte Italien abtreten zu müssen, entdeckte Schweitzer hierin, gleich der liberalen Presse, einen Verrat Oesterreichs an Deutschland, und ging nun, diesen Vorwand benutzend, mit fliegenden Fahnen in das Lager Preußens, dessen »staunenswerte organisatorische Kraft« gezeigt, daß Deutschland zu ihm zu stehen habe. Von diesem seinem Standpunkt aus war es ihm außerordentlich peinlich, als Ende August Johann Jacoby anläßlich der Beratung einer Adresse an den König eine vorzügliche Rede im preußischen Landtag hielt, in der er sich entschieden gegen das neue Gebilde, den Norddeutschen Bund, aussprach, der die Ausschließung Deutsch-Oesterreichs und der süddeutschen Staaten zur Voraussetzung gehabt habe. Im weiteren erklärte sich Jacoby gegen die Indemnität, die jetzt die Regierung für ihre gesetzwidrigen Maßnahmen vor und während des Krieges von dem Landtag forderte. Schweitzer zollte zwar dem Mute und dem Idealismus Jacobys volles Lob, rechtfertigte aber durch gewundene Ausführungen den neuen Stand der Dinge. Als dann am 20. September die allgemeine Amnestie erschien, war niemand vorhanden, der dieselbe mehr verdient hätte als er für die Dienste, die er vom 9. Mai ab für die Regierung geleistet hatte; sie brachte ihm den Nachlaß von zehn Monaten seiner Haft.

Ende August 1866 machte der »Sozialdemokrat« in der Anwandlung einer melancholischen Stimmung das Geständnis: »So habe sich das deutsche Volk die deutsche Einheit nicht vorgestellt.« Was damals über den Entwurf zur künftigen Nordbundsverfassung verlautete, war allerdings zum Melancholischwerden. Bismarck, der wirkliche Realpolitiker, der jetzt im Zenith seiner Macht stand, schmiedete das Eisen, solange es warm war, und schuf einen Verfassungsentwurf, der noch ein gut Stück hinter der preußischen Verfassung an konstitutionellen Rechten zurückstand. Es hieße den Scharfsinn Schweitzers beleidigen, wollte man annehmen, daß er ernstlich darüber enttäuscht war. Wer wie er das Wesen des jetzt alles beherrschenden preußischen Staates und auch das Wesen und den Charakter Bismarcks kannte, konnte nichts anderes erwarten. Aber wie wollte er seine großpreußische Politik dem Verein gegenüber rechtfertigen und mundgerecht machen? Jetzt zeigte sich, was es mit seiner Behauptung, der Verein sei eine Macht, so »daß er ihm (Bismarck) Konzessionen abnötigen könne«, auf sich hatte.

Wir waren nicht enttäuscht, denn wir hatten uns keinen Illusionen hingegeben. Indes spann Schweitzer den alten Faden weiter. Vor allem setzte er auf der Generalversammlung in Erfurt, die für den 27. Dezember einberufen worden war, ein Wahlprogramm durch, dessen erster Punkt in Berlin an maßgebender Stelle notwendig freundlich aufgenommen werden mußte. Dieser Punkt lautete: »Gänzliche Beseitigung jeder Föderation, jedes Staatenbundes, unter welcher Form es auch sei. Vereinigung aller deutschen Stämme zu einer innerlich und organisch durchaus verschmolzenen Staatseinheit, durch welche allein das deutsche Volk einer glorreichen nationalen Zukunft fähig werden kann: durch Einheit zur Freiheit.« Also auf dem Wege der Bismarckschen Politik zur Freiheit. Das war die gleiche Parole, welche die nationalliberale Partei aufgestellt hatte, und bedeutete weitere Annexionen, die nicht ohne einen neuen Krieg ausführbar waren. Der zweite Punkt des Programms handelte von der Forderung des allgemeinen, gleichen Wahlrechtes mit Diätenzahlung für Reichstag und Landtage. Sicherung der Volksrechte. Die Forderung nach allgemeiner Volksbewaffnung, die in dem von der Gräfin Hatzfeldt herrührenden Programmentwurf stand, strich Schweitzer, denn nach dem »Sozialdemokrat« hatte Preußen bewiesen, »daß es allein durch seine staunenerregende organisatorische Kraft zur Führung der deutschen Wehrkraft berufen sei«, und dem durfte man doch jetzt nicht mit der allgemeinen Volksbewaffnung kommen. Der vierte Punkt verlangte Anbahnung der Lösung der Arbeiterfrage durch freie Assoziationen mit Staatshilfe nach den Prinzipien Ferdinand Lassalles. Also von Bismarcks Gnaden. Für Moritz Heß gab das Erfurter Programm endlich den Anstoß, um als letzter von den ersten Mitarbeitern dem »Sozialdemokrat« die Mitarbeiterschaft aufzusagen.

Man vergleiche dieses Verhalten Schweitzers mit seinem Verhalten im Frühjahr 1865, als er, durch die Opposition in seinem Verein bedrängt, im »Sozialdemokrat« vom 5. April 1865 erklärte:

»Die Deutsche Volkspartei also will das ganze Deutschland zum freien Volksstaat vereinen. Das ganze Deutschland sagen wir. Nicht ein Dorf, nicht ein Meierhof, nicht die kleinste Hütte im entferntesten Winkel darf uns fehlen. Der kleindeutsche Gedanke eines einigen Deutschland ohne die deutsch-österreichischen Provinzen ist ein Hochverrat an der Zukunft der Nation.«

So hatte der Schweitzer von 1865 dem Schweitzer von 1866 das Urteil gesprochen. Aber was er 1865 geschrieben und beteuert hatte, hatten seine Anhänger vergessen. Blieb nach einer anderen seiner früheren Ausführungen nur die Wahl zwischen deutschen Proletarierfäusten und Preußen für die Lösung der deutschen Frage, und waren damals die deutschen Proletarierfäuste zu schwach, die deutsche Frage im demokratischen Sinne zu lösen, so war dies für den Führer einer Arbeiterpartei kein Grund, sich zum Werkzeug der Lösung im cäsarischen Sinne herzugeben. Einmal die Ehrlichkeit Schweitzers für einen Augenblick vorausgesetzt, so wäre selbst dann seine Taktik ein Verrat an der Demokratie gewesen, weil er die Politik ihres gewalttätigsten und grimmigsten Feindes unterstützte.

Schweitzer und die Konservativen.

Mit der Agitation für die Wahlen zum konstituierenden norddeutschen Reichstag, die auf den 12. Februar 1867 angesetzt waren, beginnt die zweite Periode der Tätigkeit Schweitzers. Die Haltung des »Sozialdemokrat« ließ keinen Zweifel, daß Schweitzer es mit den Konservativen nicht verderben wollte. Er rechnete offenbar auf Schachergeschäfte mit diesen gegen die Liberalen, was auch im Wunsche Bismarcks liegen mußte. Schweitzer ging also wieder gegen die Fortschrittspartei aufs schärfste ins Feuer, eine Taktik, die ihm der alte Moritz Heß als Verrat anrechnete. Dieser meinte, es handle sich vor allen Dingen doch darum, die linke Seite des Parlamentes nach Kräften zu stärken, um eine leidliche Verfassung zustande zu bringen, was ein durchaus richtiger Standpunkt, aber nicht der Schweitzers war.

Schweitzer hatte unter den verschiedenen Kandidaturen, die ihm von seinen Anhängern angeboten worden waren, sich für Barmen-Elberfeld entschieden, ein Wahlkreis, der ihm die meiste Aussicht auf Sieg bot. Die Leipziger Lassalleaner wollten in Leipzig Liebknecht aufstellen, den wir im neunzehnten sächsischen Wahlkreis aufgestellt hatten, wo wir hofften, ihn durchzubringen, was leider nicht gelang. Wir hatten in Leipzig, nachdem Professor Roßmäßler abgelehnt hatte, Professor Wuttke als Kandidat proklamiert. Schweitzer eiferte gegen Liebknechts Kandidatur. Dieselbe gehe von einer Seite aus, der das Werk Lassalles stets ein Dorn im Auge gewesen sei. Die Leute, die im Hintergrund von Liebknechts Kandidatur stünden, seien im Zusammenhang mit österreichischen reaktionären Kreisen. Liebknecht habe noch vor zwei Jahren Lassalle in öffentlichen Blättern geschmäht. Wer Liebknecht wähle, sage sich offen von Lassalle und seinem Werke los. So spekulierte er auf die blinde Voreingenommenheit seiner Anhänger für Lassalles Werk. Liebknecht zu wählen, war also ein Verbrechen an Lassalle. Wie Schweitzer überhaupt die Dinge ansah, zeigt ein Ausruf »An meine Freunde und Parteigenossen in Schlesien und im Rheinland«, in dem es pathetisch hieß: » Eine mildere Zeit, eine weisere Regierung ist gekommen!« In Barmen-Elberfeld, woselbst Schweitzer Ende Januar wieder eine seiner geschickten Reden hielt, sprach er mit keinem Worte über seine Stellung in der Politik und gegebenenfalls im Parlament. Im »Sozialdemokrat« wurden ungeschickterweise maßlose Hoffnungen über den Ausfall der Wahlen genährt. So wurde zum Beispiel in der Nr. 15 vom 3. Februar angekündigt, die gewählten Vertreter würden in Berlin einen gemeinsamen Haushalt führen. Man sprach von Diätenkommunismus usw. Schweitzer wurde sogar im »Sozialdemokrat« als Sieger angesungen, noch ehe er gewählt war. Er hatte als Gegenkandidaten in Barmen-Elberfeld von konservativer Seite Bismarck, von liberaler Herrn v. Forckenbeck. Der Wahltag brachte eine schwere Enttäuschung. Bismarck erhielt 6523, Forckenbeck 6123, Schweitzer nur 4688 Stimmen. Er war nicht einmal in die engere Wahl gekommen. Auch im übrigen Deutschland war der Wahlausfall für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein eine Enttäuschung. In der engeren Wahl in Barmen-Elberfeld hatten also die Sozialdemokraten den Ausschlag zu geben. In einer großen Wählerversammlung am 26. Februar nimmt Schweitzer zunächst das Wort, erklärt aber, keine Parole für die engere Wahl auszugeben, bevor er nicht die Meinung der Versammlung gehört. Schließlich ergreift er wieder das Wort, wobei er äußerte:

»Das vielfache Rufen des Namens Bismarck aus der Versammlung hätte ihn erkennen lassen, nach welcher Seite sich die Stimmung im allgemeinen gelenkt habe. Er könne dem einzelnen keine Vorschriften machen, für wessen Wahl sich derselbe entscheiden solle, ein jeder solle dem Zuge seines Herzens folgen.«

Damit wußte jeder, woran er war. Um aber das Komödienspiel zu vollenden, ließ er im Widerspruch mit seiner eigenen Rede eine Resolution annehmen, in der sich die Versammlung für Stimmenthaltung aussprach. In der Tat erhielt Bismarck bei der engeren Wahl fast die gesamten Schweitzerschen Stimmen. Er wurde mit 10196 gegen 6944, die Forckenbeck erhielt, gewählt.

Schweitzer suchte in einer Erklärung diese Abstimmung damit zu rechtfertigen, daß er ausführte:

Man habe der liberalen Bourgeoisie eine Lehre geben wollen für die gemeine Kampfweise, die sie im Wahlkampf geübt habe. » Vielleicht auch, Arbeiter,« fuhr er fort, » war eure Abstimmung eine Huldigung nicht zwar für den Kandidaten der konservativen Partei, wohl aber für den Minister, der aus eigenem Antrieb ein Volksrecht euch zurückgegeben, welch es die liberale Opposition für euch zu fordern so hartnäckig vergessen hatte.«

Der gute, volksfreundliche Bismarck!

Wenige Tage nach jener Elberfelder Bismarckwahl stand ich in engerer Wahl im 17. sächsischen Wahlkreis (Glauchau, Meerane usw.) gegen einen nationalliberalen Kandidaten. Hier erklärte der Führer der Lassalleaner – den Bericht veröffentlichte der »Sozialdemokrat« – , ein reiner Lassalleaner dürfe Bebel nicht wählen, der nach dem Standpunkte, den sie, die Lassalleaner, einnähmen, ein Verräter an der Sache sei.

Bismarck der Wohltäter der Arbeiter, Liebknecht und Bebel ihre Verräter. Das war das Resultat der Schweitzerschen Erziehungsmethode. Wie schon früher gemeldet, wurde ich trotzdem gewählt, die wenigen hundert Stimmen der Lassalleaner gaben nicht den Ausschlag.

In Barmen-Elberfeld mußte kurz darauf eine Neuwahl stattfinden, da Bismarck, der doppelt gewählt worden war, das Mandat für Barmen-Elberfeld niederlegte. Bei der darauf folgenden Neuwahl erhielt Schweitzer 4919, der liberale Professor Gneist 4291, der konservative von der Heidt 2594, Oberbürgermeister Bredt 1497 Stimmen. Es mußte also wieder engere Wahl stattfinden, und zwar diesmal zwischen Schweitzer und Gneist. Der »Sozialdemokrat« buhlte jetzt offen um die Stimmen der konservativen – Arbeiter. Noch charakterloser und würdeloser trieb Schweitzer die Buhlerei in einer Versammlung am 17. März, in der er die Konservativen aufforderte, von zwei Uebeln das kleinere oder entferntere zu wählen, und das sei er. Auf dem sozialen Boden könnte sich die Arbeiterpartei mit den Konservativen über manches die Hände reichen. Er bezieht sich dafür auf Reden des Geheimen Oberregierungsrats Wagener, auf Bischof Kettelers Buch, auf Aeußerungen Bismarcks.

»Die Konservativen möchten mitwirken, damit die Arbeiter durch ihn im Parlament zum Wort kämen. Als die Konservativen die Arbeiter riefen – einerlei aus welchem Grunde – , kamen diese mit ihrer ganzen Armee. Jetzt rufen die Arbeiter, und die Konservativen würden eine moralische Verpflichtung nicht lösen, wenn nicht auch sie nun dem Rufe folgten. Sie müßten kommen, wenn sie nicht die gerechtere Entrüstung über sich heraufbeschwören wollten.«

Dann stößt er Drohungen gegen die Fortschrittspartei aus.

Aber für diese Charakterlosigkeit und Würdelosigkeit sondergleichen blieb dennoch der Lohn aus. Schweitzer unterlag abermals, und zwar mit 7923 gegen 8019 Stimmen, die auf Gneist fielen.

Schweitzer im norddeutschen Reichstag.

Nachdem der konstituierende norddeutsche Reichstag die Verfassung des Norddeutschen Bundes beraten hatte und diese verkündet worden war, wurden die Wahlen für die erste Legislaturperiode auf Ende August 1867 angesetzt. Schweitzer kandidierte wieder in Barmen-Elberfeld, diesmal mit Erfolg. Schweitzer erhielt im ersten Wahlgang 6110, Dr. Löwe-Calbe (Fortschritt) 3588, Professor v. Sybel-Düsseldorf 3478 Stimmen, es war also engere Wahl zwischen Schweitzer und Löwe-Calbe nötig, in der Schweitzer mit 8915 Stimmen gegen 6690 Stimmen, die auf Löwe-Calbe fielen, siegte. Diesmal hatte wieder der größte Teil der Konservativen für Schweitzer gestimmt. Wie er in seiner Danksagung glaubte hervorheben zu müssen, waren es die konservativen Arbeiter, die in richtiger Erkenntnis der Sachlage dem Arbeiterkandidaten ihre Stimme gegeben hätten. Inwieweit das richtig war, zeigt die später bekannt gewordene Tatsache, daß der Führer der Konservativen, Herr v. Kusserow, Schweitzer für seine Wahl 400 Taler eingehändigt hatte. Auf der Berliner Generalversammlung stellte man, als diese Tatsache bekannt wurde, das grausame Verlangen, Schweitzer solle das Geld zurückgeben. Wie konnte man nur so naiv sein.

Aber Schweitzer glaubte noch ein übriges tun zu müssen und den Konservativen Zusicherungen für sein Wohlverhalten im Reichstag geben zu sollen, und so äußerte er in seiner Erklärung vom 11. September weiter:

»Mein sozialer Standpunkt wird von niemand in Zweifel gezogen; ich brauche daher in dieser Beziehung nichts zu sagen. In politischer Beziehung bemerke ich, daß ich gemäß den Grundsätzen der Partei, der ich angehöre und die mich zu ihrem Führer erkoren, in Fragen der Freiheit und des Volkswohls unwandelbar mit der äußersten Linken (der Fortschrittspartei) stimmen werde. Sollten ernstliche Gefahren vom Ausland her das deutsche Vaterland bedrohen, so werde ich den König von Preußen, in dem jetzt die nationale Machtstellung Deutschlands gipfelt, und seine Regierung mit aller Kraft, die einem einzelnen zu Gebote stehen kann, in dem Parlament wie außerhalb desselben zu unterstützen bestrebt sein.«

Schweitzers Wahl hatte begreiflicherweise unter seinen Anhängern große Begeisterung hervorgerufen, und er nutzte diese nun aus, indem er in einem mit vier Schimmeln bespannten Wagen einen Triumphzug durch die beiden Städte Barmen-Elberfeld unternahm. Solche Triumphzüge, die, wollte sie heute ein Arbeiterführer arrangieren, ihn zum toten Manne machten, liebte er. Solche Triumphzüge, wobei stets die Schimmel eine Rolle spielten, kamen wiederholt auch später vor, so zum Beispiel in Hamburg-Altona, nochmals in Barmen-Elberfeld und in Kassel. Damit aber auch das nötige Volk auf der Straße war, unterbrach zum Beispiel Schweitzer seine Reise von Berlin nach Kassel in Minden und fuhr von dort mit einem Zug, der erst abends nach 7 Uhr in Kassel eintraf. Hier benutzte er die mit Schimmeln bespannte Equipage auch während der mehrtägigen Dauer der Generalversammlung des Arbeiterverbandes, verlangte aber, daß seine Anhänger die hohen Kosten dafür tragen sollten. Dessen weigerten sie sich. Die Kosten des Triumphzugs vom Bahnhof nach der Stadt wollten sie bezahlen, das andere müsse Schweitzer tragen. Dabei blieb es.

Mit Schweitzers Eintritt in den norddeutschen Reichstag, dem außer mir nunmehr auch Liebknecht angehörte, kam es zeitweilig zwischen uns und Schweitzer zu Auseinandersetzungen. Eine solche von besonderem Interesse spielte sich in der Sitzung vom 17. Oktober 1867 ab, in der der Gesetzentwurf betreffend die Verpflichtung zum Kriegsdienst auf der Tagesordnung stand. Liebknecht sprach zunächst, und zwar in außerordentlich scharfer Form unter häufigen heftigen Unterbrechungen der Mehrheit und des Präsidenten. Namentlich griff er die Politik Bismarcks schonungslos an und schloß seine Rede mit den Worten: »Die Weltgeschichte wird hinwegschreiten über diesen norddeutschen Reichstag, der nichts ist als das Feigenblatt des Absolutismus.« Nachher kam ich zum Wort. Ich begründete in aller Ruhe unseren Standpunkt als Vertreter des Milizsystems. Mittlerweile hatte sich auch Schweitzer gemeldet, um seinen entgegengesetzten Standpunkt zu markieren. Bei Einbringung eines Schlußantrags verlas der Präsident, wie es damals Vorschrift war, die Namen der eingeschriebenen Redner für und wider den Gesetzentwurf, darunter Schweitzer als Gegner. Dieser erklärte darauf zur Geschäftsordnung, er habe sich nicht wider, sondern für den Gesetzentwurf einschreiben lassen.

Schweitzer ergriff alsdann bei der Spezialdebatte das Wort und führte aus: Nach dem Standpunkt, den Herr Liebknecht einnehme, müßte auch die allgemeine Wehrpflicht verworfen werden. Dabei hatten wir beide eine Resolution einzubringen versucht, für die wir aber nicht die nötigen Unterschriften erhielten, in der die Einführung des Milizsystems, also die Verwirklichung der allgemeinen Wehrpflicht nach dem Muster Scharnhorsts und Gneisenaus gefordert wurde. Liebknecht wünsche, daß der Norddeutsche Bund überhaupt nicht existiere. Er und seine Freunde wollten den Norddeutschen Bund freiheitlich gestalten, darin ständen sie mit der Fortschrittspartei auf einem Boden. Er berief sich also wieder auf dieselbe Partei, die er seit 1863 als Trägerin des Rückschritts bekämpft und fortgesetzt angegriffen hatte. Er, Schweitzer, wolle nicht mit Herrn Liebknecht und seinen Freunden, den depossedierten Fürsten und dem Ausland, dahin trachten, Preußen und den Norddeutschen Bund zu ruinieren und zu zerstören:

»Wir haben erkannt, daß der preußische Machtkern unser deutsches Vaterland, das so lange mißachtet war, dem Ausland gegenüber endlich zur Geltung und zu Ehren gebracht hat und dies auch künftig tun wird, und es liegt uns fern, mit jenen selbst diejenigen Eigenschaften an Preußen leugnen und bemäkeln zu wollen, die im vorigen Jahre eine feindliche Welt bewundernd anerkennen mußte.« Sie stünden innerhalb, wir außerhalb des neu sich bildenden Vaterlandes, wollten außerhalb desselben stehen.

Liebknecht antwortete in einer persönlichen Bemerkung:

»Der Abgeordnete v. Schweitzer hat mir einen großen Gefallen getan, denn er hat mir die Gelegenheit gegeben, die ich bis jetzt vergebens gesucht habe, zu erklären, daß ich allerdings mit dem Doppelgänger des Herrn Wagener nichts zu tun habe.«

Schweitzer schwieg und Wagener schwieg. Vor der Abstimmung über den entscheidenden § 1 verließ Schweitzer den Saal. Er wagte nicht dafür zu stimmen und wollte nicht dagegen stimmen.

Diese Vorgänge im Reichstag beschäftigten kurz darauf zwei Versammlungen der Berliner Mitgliedschaft des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. Schweitzer beantragte hier folgende Resolution:

»Die Versammlung erkennt an, daß die von Preußen geschaffene Macht die Möglichkeit der Herstellung der deutschen Einheit in sich trägt; zweitens ist sie mit der Fortschrittspartei damit einverstanden (weiter nach links wagte Schweitzer nicht mehr zu gehen. A.B.), daß mit äußerstem Nachdruck und ohne daß man sich um Drohungen der preußischen Regierung kümmere, auf eine freiheitliche Gestaltung Preußens und des Norddeutschen Bundes gedrungen werden muß, da nur hierdurch eine ersprießliche endgültige Lösung der deutschen Sache möglich ist; drittens erklärt sie es für verfehlt, in Gemeinschaft mit der Auffassung des mißgünstigen Auslandes das Vorgehen Preußens im vorigen Jahre zu beurteilen und demgemäß eine Zertrümmerung Preußens und des Norddeutschen Bundes zu erstreben und zu erhoffen.«

Rückhaltloser konnte man für die Bismarcksche Schöpfung nicht eintreten. Dieser Resolution gegenüber beantragten nun Theodor Metzner und Reimann, zwei Opponenten von Schweitzer:

»Die Versammlung beschließt, daß Herr v. Schweitzer sowohl im Reichstag als durch seine Verdächtigung der radikalen Partei in der heutigen Versammlung das wenige Vertrauen, das derselbe bisher bei den Berliner Arbeitern genossen, vollständig verloren hat.«

Eine dritte Resolution brachte der fortschrittliche Maschinenbauer Andreack ein, die forderte:

»Die Versammlung möge beschließen, daß sie in der deutschen Frage sich nur mit dem Standpunkt der Deutschen Fortschrittspartei einverstanden erklären kann.«

Und was geschah jetzt? Als Schweitzer merkte, daß die scharfe Opposition, die er fand, seine Resolution zu Fall bringen könnte, zog er, feig wie er immer war, wenn ihm eine Niederlage drohte, dieselbe zurück und erklärte sich für die fortschrittliche Resolution, die dasselbe besage wie die seine. Hofstetten, der den Vorsitz hatte, tat Schweitzer den Gefallen, über die Andreacksche Resolution zuerst abzustimmen und sie für angenommen zu erklären, was seitens der Opposition einen Sturm der Entrüstung hervorrief.

Schweitzers Diktatur.

Schweitzer hatte das dringendste Interesse, den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein ganz in die Hand zu bekommen, also dessen Präsident zu werden. Dieses Sehnen verwirklichte sich, als Perl-Hamburg, der Präsidentschaft müde, erklärte, dieselbe niederlegen zu wollen. Es wurde eine außerordentliche Generalversammlung auf den 19. und 20. Mai 1867 nach Braunschweig einberufen, die von 18 Delegierten, die 2500 Stimmen hinter sich hatten, besucht war. Schweitzer vertrat Apolda mit 22 und Limbach in Sachsen mit 30 Stimmen. Der Verein war sehr heruntergekommen. Die beständigen Zerwürfnisse, das Mißtrauen gegen Schweitzer wegen seiner Politik, der ungünstige Ausfall der Wahlen zum norddeutschen Reichstag, trotz aller großsprecherischen Worte Schweitzers, die Krise waren die Hauptursachen dieser Erscheinung. Die Eröffnungsrede Perls war der Ausdruck der vorhandenen Mutlosigkeit. Die Hoffnung, die man noch in Leipzig gehegt, Ordnung in den Verein zu bringen, hätte sich nicht erfüllt; die finanziellen Verhältnisse des Vereins seien sehr ungünstig, nur wenige Orte zahlten Beiträge usw. Im weiteren Verlauf der Verhandlungen bat Perl, von seiner Wiederwahl als Präsident abzustehen; er könne die Opfer nicht mehr tragen, die ihm diese Stellung auferlege. Schweitzer kritisierte Perls Geschäftsführung, doch wolle er, wie er sagte, ihm nicht persönlich zu nahe treten. Er erklärte, die Generalversammlung sei entscheidend für den Verein, nach Tölcke sollte er sogar die Präsidentschaft gefordert und gedroht haben, falls er nicht gewählt werde, ließe er mit der nächsten Nummer den »Sozialdemokrat« eingehen. Er versprach Garantien zu geben, daß die Verwaltungsgeschäfte korrekt erledigt würden, da er wisse, daß man ihm mißtraue. Die Versammlung war unschlüssig, was sie tun sollte; so ließ man auf Vorschlag Brackes eine Pause eintreten, um sich zu verständigen. Nach dieser schlug Tölcke Schweitzer als Präsidenten vor. Es wurde darauf mehrseitig wieder geltend gemacht, daß gegen Schweitzer Mißtrauen vorhanden sei; auch sei es ein Unding, daß der Präsident des Vereins und der Redakteur des Vereinsorgans ein und dieselbe Person sei. Tölcke suchte die Bedenken zu beschwichtigen. Schweitzer erklärte, er wisse, daß man Mißtrauen gegen ihn habe; er werde das Amt nur annehmen, wenn man ihm Vertrauen entgegenbringe. Er beantragte eine zweite Pause zur Verständigung. Nach dieser erklärten mehrere Delegierte, ihr Mißtrauen gegen Schweitzer fallen zu lassen. Er wurde alsdann, nachdem er auf einen Vorhalt Tölckes noch mitgeteilt, er werde sich selber wählen, mit 2385 gegen 97 Stimmen und 41 Enthaltungen Präsident des Vereins. Er hatte, um sich Vertrauen zu erwerben, auf dieser Generalversammlung ein radikales Programm vorgelegt und annehmen lassen. Jetzt gab er auch die sogenannten Garantien für sein ferneres Wohlverhalten, indem er durch Handschlag sämtlichen Delegierten gegenüber sich feierlich verpflichtete, alles zu tun, was in seinen Kräften stehe, den Verein vorwärtszubringen. Umgekehrt verpflichteten sich die Delegierten ebenfalls durch Handschlag Schweitzer gegenüber, treu zur Organisation und zum Präsidenten zu stehen. Also eine Art Ballhausschwur, wie ihn die französische Nationalversammlung 1789 leistete, nur mit dem Unterschied, daß der Regisseur der Schwurszene in Braunschweig, Schweitzer, wußte, daß es sich um eine Posse handelte. –

Auf der Generalversammlung des Vereins in Berlin – 23. bis 25. September 1867 – wiederholte Schweitzer: daß in politischen Fragen der Verein mit der Fortschrittspartei gehen könne. Das verhinderte allerdings nicht, daß, als um dieselbe Zeit in Düsseldorf eine Nachwahl für den Reichstag stattzufinden hatte, bei der in der engeren Wahl der fortschrittliche Kandidat, Redakteur der »Rheinischen Zeitung«, Bürgers, und ein konservativ-nationalliberaler Kandidat sich gegenüberstanden, Schweitzer im »Sozialdemokrat« die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins aufforderte, für den letzteren zu stimmen, worauf Bürgers durchfiel. Neben dem, daß er damit Bismarck einen Gefallen erwies, kühlte er seine Rache wegen der Anklage der »Rheinischen Zeitung«, er habe aus hochkonservativen Kreisen Geld für den »Sozialdemokrat« genommen.

Ein anderer für Schweitzer wenig ehrenvoller und seinen Charakter beleuchtender Vorgang war die Auseinandersetzung mit seinem bisherigen Freunde Hofstetten. Hofstetten hatte seine Mittel für die Gründung des »Sozialdemokrat« hergegeben. Diese Mittel waren Mitte 1867 verbraucht und Hofstetten ein armer Mann. Anfang 1868 versuchte Schweitzer Hofstetten nach Wien zu schieben, woselbst er ein sozialdemokratisches Blatt gründen sollte. Hofstetten kam aber in Wien übel an und eilte nach Berlin zurück. Jetzt verschloß Schweitzer ihm den Wiedereintritt in die Redaktion des Blattes, er bestritt auch, daß Hofstetten noch irgendwelche Ansprüche habe, und setzte ihn vor die Tür, wobei er sich auf einen Vertrag stützte, den er dem gutmütigen und nicht gerade scharfsinnigen Hofstetten abgedrungen hatte. Als Hofstetten im Frühjahr 1869 auf der Generalversammlung des Vereins in Barmen-Elberfeld eine lange Anklagerede gegen Schweitzers Verhalten ihm gegenüber hielt, entrüsteten die mitgeteilten Tatsachen den Delegierten Heinrich Vogel – der gegenwärtig noch in Charlottenburg lebt – so, daß er erklärte, Schweitzer habe Hofstetten gegenüber wie ein ordinärer Bourgeois gehandelt, eine Charakterisierung, die bei Schweitzers Anhängern einen Sturm der Entrüstung hervorrief und nachher Vogels Ausschluß aus dem Verein zur Folge hatte. Hofstetten klagte auch Schweitzer an, daß er das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinausgeworfen habe; woher er es erhielt, wisse er nicht. Als er Schweitzer wegen seiner verschwenderischen Lebensweise Vorhalt gemacht, habe dieser geantwortet: Darüber sei er ihm keine Rechenschaft schuldig, er habe seine Schulden nicht zu bezahlen. Darin hatte Schweitzer sicher recht, aber die Tatsache an sich ist sehr beachtlich. Ende 1867 hatte das Blatt erst 1200 Abonnenten, deckte also bei weitem noch immer nicht seine Kosten; es war also die Frage sehr wohl gerechtfertigt: Woher kommt das Geld für das Blatt und die verschwenderische Lebensweise Schweitzers? Das ewige Schuldenmachen hatte doch seine Grenze. Auch wollten die Gläubiger ab und zu Geld sehen. Eine Erbschaft, die er nach dem Tode seines Vaters Ende 1868 machte, war so geringfügig, daß sie einen Tropfen auf einen heißen Stein bedeutete. Dabei hielt Schweitzer sich während des Reichstags eine Equipage mit galonierten Dienern.

Gustav Mayer, dessen Buch über Schweitzer ich oben erwähnte, hielt es für zweckdienlich, sich bei Paul Lindau, der nach Schweitzers Rücktritt häufigen Verkehr mit ihm hatte, zu befragen, ob er Extravaganzen Schweitzers wahrgenommen habe. Lindau habe das verneint. Mir ist Paul Lindaus Urteil nicht maßgebend. Die lebemännischen Gewohnheiten des alten, heute noch lebenden Herrn waren immer große und da legt er wohl einen anderen Maßstab an »Extravaganzen« als andere Menschenkinder. Auch war Schweitzer, als er zu Lindau in Beziehungen trat, bereits krank und hatte geheiratet, zwei Umstände, die Extravaganzen erschwerten. Die Informationen, die wir seinerzeit in Berlin über Schweitzers Lebensweise einzogen, lauteten anders. Danach war er ein Lebemann ersten Ranges, der namentlich auch häufig bei Kroll und in den Berliner Nachtlokalen mit der Demimonde verkehrte, womit er wahrscheinlich die »Treue« gegen seine langjährige Braut betätigte, die man ihm als Tugend nachrühmte. Auch veranstaltete er zeitweilig Champagnergelage mit seinen intimsten Anhängern. Schweitzer gehörte zu den Naturen, die stets mindestens doppelt so viel Geld verbrauchen als sie einnehmen, deren Parole ist: Die Bedürfnisse haben sich nicht nach den Einnahmen, sondern die Einnahmen haben sich nach den Bedürfnissen zu richten, was bedingt, daß sie dann skrupellos das Geld nehmen, wo sie es finden. Hatte Schweitzer 1862 2600 Gulden aus der Schützenfestkasse entnommen, so unterschlug er später, als er Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins war und als solcher über die Kassengelder verfügte, von schlecht gelohnten Arbeitern gesammelte Groschen, um seine Gelüste zu befriedigen. Es handelte sich hier nicht um große Summen, aber das lag nicht an Schweitzer, sondern an dem mageren Inhalt der Kasse. Diese Mißwirtschaft ist ihm auf verschiedenen Generalversammlungen des Vereins vorgeworfen und nachgewiesen worden, und Bracke, der jahrelang Kassierer des Vereins war und auf Schweitzers Anweisung die Gelder auszahlen mußte, hat ihn öffentlich dieser Schandtat bezichtigt, ohne daß Schweitzer ein Wort der Verteidigung wagte. Wer aber dergleichen fähig ist, von dem soll man nicht behaupten, daß er unfähig gewesen sei, sich politisch zu verkaufen, was doch das einzige halbwegs lukrative Geschäft für ihn sein konnte. Den Nachweis, wieviel gezahlt wurde, kann niemand erbringen, denn dergleichen Geschäfte werden nicht auf offenem Markte abgeschlossen. Es kann sich hier nur um den Nachweis durch Indizien und zahlreiche Tatsachen handeln, die sich anders nicht erklären lassen. Hervorheben möchte ich hier, daß Bismarck nach 1866 die Zinsen aus dem 48 Millionen Mark betragenden Privatvermögen des Königs von Hannover zur Verfügung standen, die er skrupellos für ihm gutdünkende politische Zwecke benutzte. Diesen Fonds, der unter dem Namen »Reptilienfonds« berüchtigt geworden ist, konnte Bismarck verwenden, ohne jemand darüber Rechenschaft abzulegen. Da ist's nun charakteristisch, daß, während die ganze Oppositionspresse gegen diesen Korruptionsfonds ankämpfte, der »Sozialdemokrat« den Fonds niemals erwähnte.

Charakteristisch für den Mann ist ferner, daß, als wir Anfang 1868 das »Demokratische Wochenblatt« herausgaben, er systematisch den Namen desselben totschwieg und, wenn er nicht umhin konnte, gegen dasselbe zu polemisieren, er immer nur von dem Blatte des Herrn Liebknecht sprach. Er wollte mit dieser Taktik verhindern, daß einer seiner Anhänger durch Nennung des Namens des Blattes auf den Gedanken kommen könnte, das »Demokratische Wochenblatt« zu abonnieren, wodurch der Leser vieles erfahren konnte, was ihm, Schweitzer, unangenehm war. Das war eine kleinliche und lächerliche Kampfesweise, aber er übte sie.

Eine merkwürdige Wandlung stellte sich bei Schweitzer wieder im Frühjahr 1868 ein. Gleich dem »Demokratischen Wochenblatt« druckte jetzt der »Sozialdemokrat«, wenn er vom norddeutschen Reichstag sprach, diese Worte in Gänsefüßchen ab. Auch hielt er im Reichstag – Mitte Juni 1868 – eine Rede, in der er in einer Polemik gegen v. Kirchmann eine ganz andere Auffassung als bisher vom Wert des allgemeinen Wahlrechts entwickelte. Bisher hatte er damit eine Art Kultus getrieben und die Wahl Bismarcks durch seine Anhänger in Barmen-Elberfeld bekanntlich damit zu rechtfertigen gesucht, daß sie dem Geber des allgemeinen Stimmrechts ihre Dankbarkeit beweisen wollten, als sie ihn wählten. Jetzt erklärte er:

»Ich muß im Interesse derjenigen, die mich gewählt haben, und im Interesse der demokratischen Sache konstatieren, daß dieses Haus nur scheinbar und nicht in Wirklichkeit aus allgemeinen Wahlen hervorgegangen ist.«

Er motivierte dieses damit, daß Preßfreiheit und volle Vereins-und Versammlungsfreiheit fehlten. Diese fehlten aber von Anfang an, und doch klang damals sein Urteil anders. Das Urteil, das er jetzt über das geltende Wahlrecht fällte, deckte sich mit dem, das das »Demokratische Wochenblatt« längst und wiederholt abgegeben hatte. Diese plötzliche auffällige Meinungsänderung wurde offenbar wieder durch die zunehmende Opposition in seinem Verein verursacht.

In Nr. 80 des »Sozialdemokrat« vom 19. Juli kündigt Schweitzer an, daß er eine dreiwöchige Haft in der Stadtvogtei antrete, die ihm wegen eines Flugblattes vom Landgericht Elberfeld zuerkannt worden war. Er ernannte W. Real in Düsseldorf zum Vizepräsidenten und Hasselmann zum Leiter des Vereinsorgans, mit dessen Eintritt die Rüpelhaftigkeit im Ton des Blattes einkehrte. Der pathetische Schluß der Ansprache lautete:

»Indem ich meine Haft antrete, richte ich an alle Parteigenossen meinen herzlichsten Abschiedsgruß. Ich hoffe, den Verein in derselben Blüte, in der ich ihn verlasse, oder in noch gesteigertem Maße (nach ganzen drei Wochen) wiederzufinden.«

Im Sommer 1868 hatte Johann Jacoby eine Rede über »Die soziale Frage« gehalten, in der er stark nach links und weit ab von der Fortschrittspartei rückte. Auf einem großen Volksfest, das auf der Asse bei Braunschweig abgehalten wurde, hatte sich Bracke über dieses Auftreten Jacobys sehr günstig ausgesprochen und es begrüßt. Bracke stellte hier über die Rede folgende Thesen auf: Erstens, das demokratische Programm von Johann Jacoby verdient im höchsten Maße die Beachtung des deutschen Volkes; zweitens, nach demselben gibt es in den Zielen keinen prinzipiellen Unterschied zwischen der entschiedenen demokratischen Partei und der eigentlichen Arbeiterpartei; drittens, beide Parteien müssen in dem von Jacoby aufgestellten Ziel: Umgestaltung der bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Zustände im Sinne der Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles dessen was Menschengesicht trägt, übereinstimmen. Darauf antwortete der »Sozialdemokrat« in einem »Verwirrung« überschriebenen Artikel:

»Der von Jacoby aufgestellte Satz einer gerechten Verteilung des Arbeitslohnes zwischen Kapital und Arbeit, die zu erstreben wäre, ist eine über alle Maßen verfehlte, alberne und hohle Phrase; es ist traurig, daß es Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins gibt, die an diesen elenden Brocken herumkauen. ... Wenn einer behauptet, es seien beachtenswerte Gedanken in Jacobys Rede, wird es hoffentlich von allen Seiten tönen: Nein! es ist albernes, hohles Geschwätz eines wichtigtuenden Bourgeois.«

Diese erregte, grobe Sprache zeigte, welche Aufregung es Schweitzer verursachte, sobald Mitglieder des Vereins den Anschein erweckten, als wollten sie mit Vertretern nahestehender Parteien Fühlung nehmen. Der Verein mußte nach außen mit einer Art chinesischer Mauer umgeben sein, damit er ihn absolut beherrschen und nach seinem Willen lenken konnte.

Die nächste Generalversammlung des Vereins war auf den 22. bis 26. August nach Hamburg einberufen. Waren auf der Braunschweiger Generalversammlung nur 2508 Mitglieder vertreten, auf der Berliner 3102, so jetzt 8192 durch 36 Delegierte. Der Verein war also wesentlich stärker geworden. Man hat diese Entwicklung ausschließlich der Tätigkeit und der Leitung Schweitzers zugeschrieben. Mit Unrecht. Der Druck der Krise, die sich als Folge des sechsundsechziger Krieges eingestellt hatte, war gewichen, an deren Stelle brachte das Jahr 1868 eine Prosperitätsperiode. Damit hatte die Hoffnungsfreudigkeit und das politische Leben in den Arbeiterkreisen von neuem eingesetzt, wovon nicht nur der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, sondern auch der Verband der Arbeitervereine profitierte, an dessen Spitze ich stand und der damals über 13 000 Mitglieder zählte, die freilich keine programmatische Geschlossenheit wie der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein besaßen. Schweitzer suchte jetzt Karl Marx für sich zu gewinnen. Er hatte Marx den Dank des Vorstandes für sein Werk »Das Kapital« votieren lassen, auch hatte er ihn zur Generalversammlung nach Hamburg eingeladen, eine Einladung, die Marx wegen Ueberbürdung mit Arbeit ablehnte. Auch erlaubte er, daß Geib folgenden Antrag stellte:

»Die Generalversammlung erklärt, da der Druck des Kapitals und der Reaktion in allen Kulturländern aus im wesentlichen gleichen Ursachen auf der Arbeiterklasse lastet und da die Bestrebungen der Arbeiter nur dann erfolgreich sein können, wenn sie einheitlich zusammenhängend in allen Kulturländern auftreten, ist es die Pflicht der deutschen Arbeiterpartei und der Arbeiterparteien aller Kulturländer, die von denselben Prinzipien geleitet werden, gemeinsam vorzugehen.«

Dieser Antrag wurde einstimmig angenommen. Aber wie radikal sich Schweitzer auch gebärdete, die Unzufriedenheit mit seiner Diktatur nahm zu. So beantragten die Erfurter Mitglieder: Schweitzer solle spezifizierte Rechnung ablegen über die Gelder, die er seit dem 1. Januar 1868 der Kasse entnommen habe. Der Vorstand solle die Abrechnung prüfen. Düsseldorf verlangte, daß Präsidium und Redaktion des Vereinsorgans getrennt würden, die Einrichtung könne leicht zu Despotismus führen; sie hätte bereits dazu geführt. Weiter waren lebhafte Klagen auf den vermiedenen Generalversammlungen laut geworden, daß die Redaktion des »Sozialdemokrat« ihr mißfallende Korrespondenzen unterdrücke, andere willkürlich ändere, ja fälsche. Ein Antrag, das Organ von seiten des Vereins zu übernehmen, wurde auf der Generalversammlung für untunlich, die Trennung der Redaktion vom Präsidium als unzweckmäßig erklärt. Dagegen wurde beschlossen, daß der vierundzwanzigköpfige Vorstand des Vereins, der in vielen Orten verteilt wohnte, konzentriert werden solle. Er wurde nach Hamburg verlegt. Das war der erste harte Schlag, der die Diktatur Schweitzers traf. Bei den Erörterungen hierüber machte er eine Mitteilung, durch die er sich wider Willen denunzierte. Er äußerte: »Dies wird unsere letzte Generalversammlung sein. Die Feindseligkeit der preußischen Regierung wird immer mehr hervortreten. Der Verein wird aufgelöst werden.« Und siehe da, kaum drei Wochen später löste die Leipziger Polizeibehörde, da der Verein in Leipzig seinen Sitz hatte, den Verein wegen der örtlichen Kassenverwaltungen auf, einer Einrichtung, die von Anfang an im Verein bestanden hatte.

Es ist ganz zweifellos, daß Schweitzer vorher von dieser Auflösung wußte, ja daß sie zwischen ihm und dem Berliner Polizeipräsidium verabredet war und die Leipziger Polizei auf Wunsch von Berlin den Verein auflöste. Natürlich unterließ unter so bewandten Umständen Schweitzer jede Beschwerde gegen das Vorgehen der Leipziger Polizei bei Kreishauptmannschaft und Ministerium. Schweitzer schloß seinen bezüglichen Artikel, worin er die Auflösung besprach, mit den Worten:

»Wir fügen uns einfach darum, weil es nach Lage der Dinge das Vernünftigste ist, was wir tun können. Daher erkläre auch ich andurch: 'Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein hat sich aufzulösen...' Arbeiter in ganz Deutschland! Wir stehen heute am Grabe des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins.

Aber der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein lebt unter uns fort.

So stehen wir auch am Grabe Lassalles; er selbst aber weilt noch unter uns.

Daß unser Verein aufgelöst wurde, gereicht ihm, gereicht uns zur Ehre. Der Verein hat seine Schuldigkeit getan für die Arbeitersache – darum wurde er aufgelöst.

Die alte Form ist gefallen – wir werden neue Formen für die Betätigung unseres Strebens zu finden wissen.«

Dann dankt er für das ihm geschenkte Vertrauen.

»Wir haben gemeinsam gekämpft und gelitten – wir werden auch in Zukunft gemeinsam kämpfen und leiden.«

So auf die Rührseligkeit spekulierend, rührte er die Mitglieder zu Tränen, und sie vertrauten ihm weiter.

Wäre es die Feindseligkeit der preußischen Regierung gegen den Verein gewesen, wie Schweitzer wider besseres Wissen schrieb, dann war es jetzt seine Pflicht und Schuldigkeit, den Verein dem Einfluß der preußischen Regierung nach Möglichkeit zu entziehen, zum Beispiel dessen Sitz nach Hamburg zu verlegen, dessen Vereins- und Versammlungsgesetz kein Verbindungsverbot kannte. Außerdem hatte der Verein in Hamburg-Altona seine stärkste Mitgliedschaft, die für die Finanzen des Vereins wie für das Blatt das eigentliche Rückgrat bildete. Auch fehlte es in Hamburg nicht an geistigen Kräften. Statt dessen gründete Schweitzer den neuen Verein unter den Augen der Berliner Polizei, und Berlin wurde dessen Sitz. In Preußen bestand aber das Verbindungsverbot so gut wie in Sachsen, und außerdem verlangte das damalige preußische Vereins- und Versammlungsgesetz, daß die Mitgliederlisten des Vereins aus ganz Deutschland bei dem Polizeipräsidium eingereicht werden mußten. Und wiederum verriet er seine Beziehungen zum Berliner Polizeipräsidium und sein Einverständnis mit der Auflösung, indem er in Nr. 119 des »Sozialdemokrat« sagte:

»Man habe Berlin als Sitz der Partei gewählt, damit die Polizei fortwährend Gelegenheit habe, sich davon zu überzeugen, daß die Partei ihre Agitation auf Grund und in Gemäßheit der bestehenden Gesetze betreibe.«

Wie rührend folgsam gegen die liebe Polizei von der Leitung einer demokratischen Partei!

Wenn je die innige Verbindung zwischen Schweitzer und dem Berliner Polizeipräsidium nachgewiesen werden konnte, so jetzt. Aber nicht allein, daß der Verein nunmehr unter die Kontrolle des Berliner Polizeipräsidiums kam, Schweitzer benutzte auch die Neugründung, um die ihm unbequemen Beschlüsse der Hamburger Generalversammlung aus der Welt zu schaffen und durch die neue Organisation seine Diktatur unumschränkter denn je zuvor zu befestigen. Er verkündete den neuen Plan mit den Worten:

»Jedenfalls wird dafür gesorgt werden, daß die Einheitlichkeit der Partei durch ganz Deutschland gewahrt werde. Denn diese Einheitlichkeit ist unser bestes Kleinod – sie ist der Grundgedanke der Lassalleschen Organisation, und von dieser werden wir niemals abgehen.« So mußte also die beständige Berufung auf Lassalle dazu dienen, seine Autorität aufrecht zu erhalten und den Mitgliedern Sand in die Augen zu streuen.

Die neue Vereinsgründung fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt in einem kleinen Kreise Auserwählter, die mit ihm durch dick und dünn gingen. Das neue Statut enthielt geradezu ungeheuerliche Bestimmungen. So sollte der Präsident sechs Wochen vor der ordentlichen Generalversammlung in Urabstimmung durch die Mitglieder des Vereins gewählt werden, also ehe noch die Generalversammlung gesprochen und dessen Geschäftsführung geprüft hatte. Ein Mißtrauensvotum auf der Generalversammlung war dann wirkungslos, ebenso eine unliebsame Kritik seiner Tätigkeit. Ferner besagte §5 der Statuten:

»Wenn der Präsident es für dringlich hält, so kann er, vorbehaltlich der in drei Monaten einzuholenden Genehmigung des Vorstandes, alle Anordnungen treffen.«

Der Vorstand selbst sollte, im Gegensatz zu den Beschlüssen der Hamburger Generalversammlung, wieder über ganz Deutschland verteilt wohnen. Die Generalversammlung sollte eine Statutenänderung nur dann vornehmen können (§7), wenn ein solcher Antrag von 60 Mitgliedern unterzeichnet und drei Monate vor der Generalversammlung beim Vorstand eingereicht worden war. Wo und wie der Verein aufs neue gegründet wurde, darüber hat man nie Sicheres erfahren. Aber die Polizei mußte davon unterrichtet sein, sonst hätte sie den Verein nicht anerkannt. Der organisierte Arbeiter unserer Zeit wird sich bei dem Lesen solcher Vorgänge fragen, wie denn dergleichen möglich gewesen sei und ob denn nicht die ungeheure Mehrheit der Mitglieder des Vereins sich wie ein Mann erhob und gegen solche Ungeheuerlichkeiten protestierte, den Urheber derselben aber sofort von seinem Posten entfernte? Von alledem keine Spur. Mit seinem Blatte beherrschte Schweitzer absolut den Verein; jeder, der wagte aufzumucken, dessen Beschwerde flog in den Papierkorb, und wer in einer Versammlung austrat, der wurde als Verräter an dem Kleinod der Lassalleschen Organisation gebrandmarkt und mit dem Bann belegt. Im Verein war er tot. Ließ aber jemand sich merken, daß er mit Liebknecht und mir sympathisiere, so galt dieses selbst in den Augen der meisten Mitglieder als ein Verbrechen, womöglich größer als Blutschande oder Mord. Das war die Folge der systematisch von ihm betriebenen Verhetzung.

Doch die Umwandlung in den Anschauungen vollzog sich bei einem Teil der Vereinsmitglieder rascher, als wir damals selbst für wahrscheinlich hielten.

Unter dem 26. November 1868 veröffentlichte Schweitzer einen langen Aufruf in dem mittlerweile seit dem 10. Oktober vergrößerten »Sozialdemokrat«, der damals 3400 Abonnenten hatte, in welchem er seine Ansicht über die Finanzlage des Vereins darlegte, die durch das Wachstum desselben eine wesentlich günstigere geworden war. Zum Schluß kündigte er an, daß er auf drei Monate »in die Einsamkeit des Gefängnisses wandere«, die er wegen Veröffentlichung einer Broschüre, »Der Arbeitslohn und der Kapitalgewinn«, anzutreten hatte. Er schließt den Artikel mit den Worten:

»Lassalle sagt in betreff der Organisation, daß alle Einzelkräfte zusammengeschmiedet werden müßten zu einem einzigen Hammer. Die Partei war, als sie mich zu ihrem Führer erkor, der Meinung, daß mein Arm kräftig genug sei, diesen Hammer zu schwingen. Ich will hoffen, daß mir diese Kraft niemals erlahmt.«

An Selbstgefühl ließen diese Ausführungen nichts zu wünschen übrig.

Anfang Dezember trat er seine Haft an, er wurde aber bereits gegen Ende Dezember wieder aus dieser entlassen, weil sein Vater schwer erkrankte, der noch vor Ende des Jahres starb. Schweitzer erhielt darauf eine Woche Urlaub zur Ordnung von Familienangelegenheiten. Jetzt spielte sich aber dasselbe ab, was sich 1866 abgespielt hatte, als er auf Urlaub entlassen wurde. Aus der einen Woche wurden viele Wochen Urlaub, und nun begann Schweitzer abermals eine umfassende politische Tätigkeit, als sei der Urlaub ihm nur zu diesem Zweck gewährt worden.

Am 1. Januar 1869 kündigte der »Sozialdemokrat« an, der Präsident sei noch auf Tage den Geschäften der Parteileitung entzogen. Am 14. Januar veröffentlichte Schweitzer unter den Augen der Polizei im »Sozialdemokrat« eine lange Ansprache an die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und berief die Generalversammlung des Vereins auf den 27. bis 30. März nach Barmen-Elberfeld.

Nach normalem Gang hätte Schweitzer dieser Generalversammlung gar nicht beiwohnen können, da um diese Zeit seine Haft noch nicht zu Ende war. Aber er wußte bereits, daß er die Freiheit dazu haben würde. Weiter ordnete er an, daß die Präsidentenwahl sechs Wochen vor der Generalversammlung, zwischen dem 24. Januar und dem 7. Februar stattzufinden habe, wie es die neue, von ihm oktroyierte Organisation vorschrieb.

Ferner kündigte er die Einberufung einer Konferenz des Vorstandes in einer Stadt Mitteldeutschlands an, in der über die Agitation in Süddeutschland und Sachsen beschlossen werden sollte. Gegen uns nahm der »Sozialdemokrat« jetzt eine noch schärfere Stellung ein, da wir bewußt oder unbewußt im Schlepptau der österreichischen Politik uns befänden. Bemerkt sei hier, daß um diese Zeit Liebknecht wiederholt im »Demokratischen Wochenblatt« Oesterreich gegenüber eine Taktik eingeschlagen hatte, die ich für durchaus verfehlt hielt, was wiederholt zwischen uns zu Meinungsverschiedenheiten führte. Liebknecht war eben ein Mann des Extrems. Wie sein Haß gegen Bismarck und den Nordbund oft die Grenze überschritt, so auch wieder seine Zuneigung zu Oesterreich, dessen liberalem Bürgerministerium er übermäßige Leistungen zutraute. Es war nur natürlich, daß Schweitzer diese Schwäche Liebknechts ausnutzte, wobei ich bemerken will, daß es im Jahre 1867 auch für Schweitzer eine Periode gab, in der er dem Bürgerministerium seine Unterstützung in Aussicht stellte. Er wollte offenbar Hofstetten die Wege in Wien ebnen.

Im Januar 1869 setzten wir unseren schon früher gegen Schweitzer im »Demokratischen Wochenblatt« und in Volksversammlungen aufgenommenen Kampf mit aller Vehemenz und mit schwerstem Geschütz fort, dessen vorläufiger Abschluß war, daß wir zur Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins nach Elberfeld-Barmen eingeladen wurden, um unsere Anklagen gegen Schweitzer zu erheben. Ich habe das Vorspiel zu diesem Ereignis bereits im ersten Teil dieser Arbeit ausführlicher geschildert. Sozusagen zwischenaktlich sei hier erwähnt, daß Hasenclever infolge einer Stichwahl in Duisburg Anfang 1869 ebenfalls in den Reichstag gewählt worden war. Da ich glaubte annehmen zu dürfen, daß Hasenclever das Treiben Schweitzers mißbillige und ehrlich eine Vereinigung wolle, hatte ich 12 Taler gesammelt, die ich ihm zur Unterstützung seiner Wahl schickte. Damals rechneten wir hüben und drüben bei Wahlen noch nicht mit Tausenden und Zehntausenden Mark wie heute. Jeder Taler galt als namhafter Beitrag. Ich machte darauf unter dem 13. Februar 1869 im »Demokratischen Wochenblatt« bekannt, daß Hasenclever seine große Freude und Genugtuung über die Sympathie und Unterstützung, die ihm zuteil geworden, ausspreche. Er bedauere die Spaltung, die unter den verschiedenen Fraktionen der Arbeiterpartei ausgebrochen sei, und hoffe, daß die Differenzen, die wir mit anderen Führern seiner eigenen Partei hätten oder gehabt hätten, und die doch nur persönlichen Ursprunges seien, bald verschwinden würden. Er lebe der vollsten Ueberzeugung, daß die Zeit nicht fern sei, wo sämtliche Sozialdemokraten Deutschlands in festgeschlossenen Reihen unter einem Banner kämpften.

An dieser Erklärung Hasenclevers ist bemerkenswert, daß er von uns als Sozialdemokraten spricht, ein Zugeständnis, das Schweitzer und der »Sozialdemokrat« bis ans Ende der Wirksamkeit Schweitzers uns versagten. Freilich hat es nachher, als Hasenclever Nachfolger Schweitzers im Präsidium wurde, auch noch Jahre gedauert, ehe die Einigung sich vollzog. Es scheint, daß auch sozialdemokratische Kronprinzen, wo solche vorhanden, liberaler sind, denn später als regierende Herren. Am 14. Februar verkündete Schweitzer das Wahlresultat; er war wieder mit rund 5000 Stimmen gegen 54 zum Präsidenten gewählt. Die Wahl war ein moralisches Mißtrauensvotum, wenn man bedenkt, daß einige Wochen später auf der Generalversammlung in Barmen-Elberfeld 12 000 Mitglieder vertreten waren; 40 Orte hatten gar keine Stimme abgegeben. Nachdem so der politische Urlaub Schweitzers seinen Zweck erreicht hatte, ging er am 18. Februar wieder ins Gefängnis, er wurde aber bereits am 4. März, dem Tage vor dem Zusammentritt des Reichstags, aus der Haft entlassen.

Diese Haftentlassung bewies aufs neue die intimen Beziehungen Schweitzers zur Regierung. Solange ein Reichstag besteht, also von 1867 bis heute, ist es nie vorgekommen, daß ein Reichstagsabgeordneter, auch kein bürgerlicher, während des Reichstags aus der Strafhaft entlassen wurde, um an den Verhandlungen desselben teilzunehmen. Sogar mitten in der Session von 1909 bis 1910 mußte ein elsässischer Abgeordneter seine zweimonatige Strafhaft antreten. Die Regierungen, die preußische voran, wie die Mehrheit des Reichstags, haben stets die Ansicht vertreten, daß der Artikel 31 der Verfassung, der von der Immunität der Abgeordneten handelt, die Strafhaft nicht umfaßt. Im Gegensatz zu dieser jahrzehntelangen Uebung, die Preußen auch schon früher handhabte, wurde jetzt Schweitzer aus der Strafhaft beurlaubt, was nicht ohne Einwilligung des zuständigen Ministers geschehen konnte, der dieses nicht ohne die Zustimmung Bismarcks gewagt hätte.

Wie letzterer im übrigen in diesen Dingen dachte, zeigte plastisch die Verhandlung, die der Reichstag am 28. April – also wenige Wochen nach Schweitzers Beurlaubung aus der Strafhaft – hatte. Mende hatte in München-Gladbach eine Versammlung abgehalten, nach der es zu tumultuarischen Auftritten gekommen war, wobei er verhaftet wurde, weil er angeblich diese Auftritte verursacht habe, was nicht der Fall war. Schweitzer stellte einen Antrag auf Haftentlassung Mendes. In der Debatte nahm auch Bismarck das Wort und erklärte sich in seiner peremptorischen Art gegen die Haftentlassung. Der Reichstag mußte aber auf Grund der vorliegenden Tatsachen gegen Bismarck entscheiden. Darauf rächte sich dieser dadurch, daß er den Beamten, die die Verhaftung Mendes angeordnet und vorgenommen hatten, Ordensauszeichnungen zustellte. Und im Falle Mende handelte es sich um keine rechtskräftig gewordene Strafhaft wie im Falle Schweitzer, sondern um eine Untersuchungshaft.

Kurze Zeit vor jenem Vorgang war ich unfreiwilliger Zeuge einer Begegnung zwischen Schweitzer und dem Prinzen Albrecht, Bruder des Königs, der Mitglied des Reichstags war. Ich kam einen Korridor entlang und sah am Ende desselben den Prinzen Albrecht in Gesellschaft einiger konservativer Abgeordneter stehen. Aus einem Seitenkorridor trat Schweitzer. Sobald der Prinz seiner ansichtig wurde, winkte er Schweitzer heran, reichte ihm die Hand, die er kräftig schüttelte und fragte sehr leutselig: Mein lieber Schweitzer, wie geht es Ihnen? Schweitzer: Danke, Königliche Hoheit! Der Prinz: Warum waren Sie gestern nicht in der Sitzung? Schweitzer: Doch, Königliche Hoheit, ich war zugegen! Der Prinz: Warum haben Sie denn nicht das Wort ergriffen? Man hatte dieses erwartet.... Ich trat rasch in den Sitzungssaal, um nicht als Horcher zu erscheinen. Die Unterhaltung zeigte, daß Schweitzer mit dem Prinzen schon öfter verkehrt hatte, und sie zeigte weiter, daß »man« auf der rechten Seite des Reichstags genau wußte, was selbst die radikalsten Reden Schweitzers bedeuteten.

Die Generalversammlung in Barmen-Elberfeld.

Als wir am 27. März gegen Abend in Barmen-Elberfeld ankamen, empfingen uns eine Anzahl Gesinnungsgenossen, die sämtlich der Internationale angehörten. Ueber unsere Verhandlungen an jenem Abend schrieb ich noch in der Nacht an Marx:

»Liebknecht und ich sitzen eben hier in Elberfeld in einem kleinen Kreise von Gesinnungsgenossen, um den Feldzugsplan für die morgige Schlacht vorzubereiten. Wir haben hier eine solche Fülle von Schuftereien Schweitzers zu hören bekommen, daß uns die Haare zu Berge stehen. Ebenso stellt sich zur Evidenz heraus, daß Schweitzer das Programm der Internationale nur zu dem Zwecke vorschlägt, um einen Hauptcoup gegen uns zu führen und ein gut Teil oppositioneller Elemente niederzuschlagen respektive zu sich herüberzuziehen. Ich bitte Sie deshalb, zugleich im Namen Liebknechts und sämtlicher hiesiger Freunde, eine etwaige Ratifikation des betreffenden Beschlusses der Generalversammlung durch Schweitzer vorläufig unberücksichtigt zu lassen oder wenigstens nur sehr vorsichtig zu beantworten.

Nähere Mitteilungen folgen bald nach.

Ueber den Ausgang der morgigen Disputation läßt sich noch gar nichts sagen, nur das eine kann ich mitteilen, daß Schweitzer mit allen Mitteln der Perfidie und Intrige gegen uns wühlt, auf einen durchschlagenden Erfolg hoffen wir auf keinen Fall. Die Organisation, um jede Opposition aus der Mitte seines eigenen Vereins totzuschlagen, ist hier schon seit Wochen mit großem Geschick getroffen worden. Gestern abend beispielsweise hat Schweitzer bei seiner Ankunft einen wahren Triumphzug durch Elberfeld-Barmen gehabt. (In einer mit Schimmeln bespannten Equipage.) Damit schließe ich für heute.«

Schweitzer hatte im »Sozialdemokrat« angekündigt, daß die Feinde schon bis in die Nähe des Präsidenten (also der allerhöchsten Person) gedrungen seien und die Generalversammlung wohl strenger und entschiedener als bisher alle Angriffe auf die Organisation, das heißt auf die von ihm oktroyierte, zurückweisen müsse.

In der Vorversammlung war gegen die Ansicht Schweitzers – der die Begegnung mit uns hinausschieben, wenn nicht ganz verhindern wollte – mit 30 gegen 27 Stimmen unsere sofortige Zulassung beschlossen worden. Am nächsten Nachmittag traten wir in den überfüllten Saal, von wütenden Blicken der fanatisierten Anhänger Schweitzers empfangen. Liebknecht sprach zuerst, etwa anderthalb Stunden, ich folgte und sprach wesentlich kürzer. Unsere Anklagen enthielten zusammengedrängt, was ich bisher hier gegen Schweitzer vorgebracht habe. Mehrere Male erfolgten heftige Unterbrechungen, namentlich als ich Schweitzer als Regierungsagent bezeichnete. Ich solle das Wort zurücknehmen. Dessen weigerte ich mich. Ich glaubte, das Recht zu haben, meine Meinung frei aussprechen zu dürfen, sie, die Zuhörer, brauchten mir ja nicht zu glauben. Der »Sozialdemokrat« brachte einen sehr verstümmelten, zum Teil gefälschten Bericht unserer Reden, der irreführend wirkte. Liebknecht übertrieb die Loyalität. Er unterließ jede Berichterstattung und begnügte sich, im »Demokratischen Wochenblatt« mitzuteilen, daß wir auf der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins gewesen und unsere Anklagen gegen Schweitzer vorgebracht hätten. Schweitzer habe mit 6500 Stimmen gegen 4500, deren Vertreter sich der Abstimmung enthalten hätten, ein Vertrauensvotum erhalten. Doch da wir begründete Aussicht auf Verständigung, wenn auch nicht auf Vereinigung der vermiedenen sozialdemokratischen Fraktionen hätten, werde das »Demokratische Wochenblatt« keine Angriffe auf Schweitzer mehr veröffentlichen, wobei wir voraussetzten, daß von der Gegenseite dieselbe Taktik innegehalten werde. Das geschah aber nicht, vielmehr setzte der »Sozialdemokrat« seine Angriffe auf uns fort.

Schweitzer, der während unserer Reden auf dem Podium hinter uns saß, erwiderte kein Wort. So verließen wir den Saal, wobei einige Delegierte vor und hinter uns gingen, um uns vor Tätlichkeiten der fanatisierten Anhänger Schweitzers zu schützen. Aber Schmeichelworte wie Schufte, Verräter, Lumpe, euch sollte man die Knochen im Leibe zerschlagen usw., bekamen wir bei dem Gange durch das lebende Spalier in Menge zu hören. Auch machte einer der Anwesenden den Versuch, mich beim Heruntersteigen vom Podium durch einen Stoß in die Kniekehle zu Fall zu bringen. Vor der Tür nahmen uns unsere Freunde in Empfang, um uns als Schutzgarde nach unserem Hotel zu geleiten.

Schweitzer verlangte von den Delegierten ein Vertrauensvotum. Nach erregter Debatte wurde ihm dasselbe mit der oben mitgeteilten Stimmenzahl erteilt. Die Delegierten, die sich der Abstimmung enthielten, waren: Bracke, Bräuer, Rudolph-Hannover, v. Daake, Geib, Hirsch, Perl, Raspe-Essen, Schrader, Louis Schumann-Berlin, Spier, Heinrich Vogel, Wilke und York.

Die Genannten mußten schwer büßen, daß sie das Vertrauensvotum verweigert hatten; im »Sozialdemokrat« fielen die Angriffe hageldicht auf sie nieder. Das beschlossene Vertrauensvotum lautete:

»In Erwägung, daß in den Ausführungen der Herren Bebel und Liebknecht nichts Neues und Erhebliches enthalten ist, erklärt die Generalversammlung, daß der Vereinspräsident nach wie vor das volle Vertrauen der deutschen Arbeiterpartei besitzt.«

Die Elberfelder Generalversammlung bedeutete für Schweitzer eine Reihe schwarzer Tage. Was er im Herbste nach der Auflösung des Vereins durch die Leipziger Polizei an diktatorischen Bestimmungen in die neue Organisation gebracht hatte, fiel jetzt den Beschlüssen der Generalversammlung zum Opfer. Zunächst wurde beschlossen, daß die Leitung des Vereins aus einem Vorstand von 15 Personen statt wie bisher von 25 bestehen solle. Außer dem Präsidenten, Kassierer und Sekretär mußten die übrigen 12 Mitglieder an einem Orte wohnen, damit sie in beständiger Fühlung miteinander waren und jeden Augenblick eine Sitzung einberufen konnten. Die Sitzungen des Vorstandes sollte dessen Vorsitzender berufen, nicht wie bisher der Präsident. Der letztere sollte auch nicht sechs Wochen vor der Generalversammlung, sondern erst nach derselben durch direkte Wahl seitens der Vereinsmitglieder gewählt werden, nachdem das Protokoll veröffentlicht worden sei, damit die Mitglieder wußten, was auf der Generalversammlung geschehen sei. Die Befugnis des Präsidenten, für von ihm getroffene Anordnungen erst binnen drei Monaten die Genehmigung des Vorstandes einzuholen, wurde auf acht Tage beschränkt, machte also die Befugnis gegenstandslos. Außerdem sollte der Vorstand mit einfacher Mehrheit über die innere Organisation, den Geschäftsgang, die Förderungsmittel des Vereins, das Schreib- und Kassenwesen beschließen. Ferner sollte der Vorstand auch das Recht haben, in Fällen einer politischen Unredlichkeit oder grober Kassenvergehen ihn vom Amte zu suspendieren und die endgültige Entscheidung durch eine sofort zu berufende Generalversammlung oder durch Urabstimmung herbeiführen. Durch diese und noch eine Reihe anderer Bestimmungen wurden die Machtbefugnisse Schweitzers sehr bedeutend eingeschränkt. Die Beschlüsse legten Zeugnis ab von einem sehr intensiven Mißtrauen, das gegen ihn herrschte, und bemerkenswert ist, daß die wichtigsten Bestimmungen angenommen wurden, obgleich er opponierte. Weiter wurde eine Ueberwachungs- und Beschwerdekommission von drei Berliner Mitgliedern eingesetzt, die alle Beschwerden gegen die Redaktion entgegennehmen und darüber entscheiden sollte. Durch diese Beschlüsse war der Verein auf eine durchaus demokratische Basis gestellt. Schweitzer war durch die Einschränkung seiner Allmacht so deprimiert, daß er, nach Berlin zurückgekehrt, Annäherungsversuche an uns machte. Unter dem 8. April sandte ich meiner Frau einen Brief, in dem es hieß:

»Schweitzer hatte, obgleich ich ihn anfangs ignorierte, sich an mich herangeschlängelt, als ich mit einem anderen Kollegen eine Unterhaltung hatte. Beim Schluß der Sitzung hat er mich eingeladen, mit ihm, Fritzsche und Hasenclever zu speisen. Diese Einladung auszuschlagen war unmöglich, ohne grob zu erscheinen. Schweitzer ließ darauf seine elegante Equipage mit Livreebedienten vorfahren und fuhr mit uns nach dem Lokal, in dem wir speisten. (Wir aßen bei Olbrich, damals ein bayerisches Bierlokal, auf der Leipzigerstraße in der Nähe der Linden.) Nach dem Essen ließ er es sich nicht nehmen, mich mit der Equipage nach dem Anhalter Bahnhof zu fahren, woselbst ich Liebknecht abholen wollte.« Nebenbei bemerkt, sein Essen zahlte jeder selbst.

Während des Essens wurde über Waffenstillstandsbedingungen verhandelt. Ich erklärte mich zu solchen bereit, könnte mich aber auf nichts Bestimmtes einlassen, bevor nicht Liebknecht mit dabei sei. Mit dreien gegen mich allein zu verhandeln, war mir bedenklich. Die folgenden Tage setzten wir die Verhandlungen im Reichstag fort. Schweitzer verlangte, daß nicht nur die gegenseitigen Angriffe in den Blättern und Versammlungen eingestellt würden, sondern daß auch die Mitglieder der beiden Parteien nicht miteinander politisch verkehren oder gemeinsame Aktionen unternehmen dürften. Das letztere lehnten wir ab, wie wir denn überhaupt wiederholt sehr heftig aneinander gerieten und Schweitzer nichts schenkten. Es sei eine Beleidigung für uns und auch eine solche für die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, sich gegenseitig wie Feinde anzusehen. Daß weder die Personen noch die Organisationen gegenseitig angegriffen werden dürften, sei selbstverständlich. Auch kamen wir überein, künftig im Reichstag die von der einen oder anderen Partei gestellten Anträge gegenseitig zu unterstützen. Darauf veröffentlichte der »Sozialdemokrat« in der Nummer 45 vom 16. April die Ankündigung, wonach er von jetzt ab weder Angriffe gegen Liebknecht und mich, noch gegen unsere Partei bringen würde, und forderte die Vereinsmitglieder auf, im gleichen Sinne zu handeln. Umgekehrt veröffentlichten wir im »Demokratischen Wochenblatt« eine ähnlich lautende Erklärung.

So schien alles in schönster Harmonie zu sein. Aber Schweitzer konnte sich der neuen Ordnung nicht fügen; eine demokratische Organisation, wie sie die Barmen-Elberfelder Generalversammlung geschaffen hatte, war für ihn der politische Tod. Dieselbe legte ihm in einer Weise Fesseln an, daß die bisher geübte politische Zweideutigkeit für künftig unmöglich wurde. Außerordentlich bezeichnend für sein damaliges Verhalten ist auch, daß er das ausführliche Protokoll, das über die Elberfelder Verhandlungen erschienen war, unterschlug und verschwinden ließ, wie er das gleichfalls mit dem Protokoll der Hamburger Generalversammlung aus dem vorhergehenden Sommer getan hatte. Es sollte nichts, was ihn kompromittierte, den Vereinsmitgliedern bekannt werden und in die Oeffentlichkeit dringen.

Da erschien wie ein Blitz aus heiterem Himmel eine Proklamation in Nummer 70 des »Sozialdemokrat« vom 18. Juni, überschrieben: Wiederherstellung der Einheit der Lassalleschen Partei, und unterzeichnet von Schweitzer und Mende. Wiederholt sei hier, daß seit Anfang 1867 sich ein Teil der Mitglieder vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein unter dem Einfluß der Gräfin Hatzfeldt losgelöst und unter dem Namen »Lassallescher Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein« organisiert hatte, dessen Präsident Mende war. Das Organ des letzteren Vereins war die »Freie Zeitung«. Die beiden Vereine lagen sich seitdem gegenseitig in den Haaren. Jetzt hatten sich die feindlichen Brüder, soweit ihre Präsidenten und die Gräfin Hatzfeldt in Frage kamen, auf einmal gefunden und traten Hand in Hand vor ihre Anhänger.

Der veröffentlichte Aufruf war ein ungemein phrasenreiches Schriftstück, das mit einer Verherrlichung Lassalles begann. Wieder wurde das Wort Lassalles: »Ihr sollt die Organisation aufrechterhalten, sie wird euch zum Siege führen«, zitiert. Weiter hieß es in hochtrabenden Worten:

»Die erwählten Führer der beiden Vereine sind von dieser Erkenntnis durchdrungen; mit gehobenem Gefühl treten sie heute vor die Mitglieder der beiden Vereine und fordern sie auf, ein stolzes Werk ihnen bauen zu helfen, ... einen wahrhaft Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, mächtig über ganz Deutschland.... Unseren Vorschlag unterbreiten wir den gesamten Mitgliedschaften beider Vereine, das heißt dem souveränen Volk selbst unmittelbar zur sofortigen Entscheidung. (Auch im Original gesperrt.)

Das alte Lassallesche Statut ist es, unter dem wir dereinst einig waren und zu dem wir zurückkehren müssen, um diesmal in einheitlicher Entwicklung, von diesem Boden aus gemeinsam voranzuschreiten....«

Dann wurde gefordert, daß bis zum 22. ds. Mts. – der Ausruf, vom 16. datiert, erschien am 18. Juni im »Sozialdemokrat« und gelangte erst am 19. oder 20. in die Hände der meisten Mitglieder – über ihren Vorschlag abgestimmt werden solle und am 23. das Abstimmungsresultat in Berlin angelangt sein müsse.

Des weiteren wurde erklärt, daß, wenn die Abstimmung zugunsten des Mende-Schweitzerschen Vorschlags ausfalle – in berechnender Bescheidenheit trat Schweitzer hinter den stupiden Mende zurück – , sollten am 24. Juni beide Vereine aufgelöst werden, worauf noch an demselben Tage einige Parteifreunde zusammentreten und die Wiederherstellung des ursprünglichen Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins unter dem alten Lassalleschen Statut beschließen sollten. Die Präsidentenwahl sollte am 30. Juni stattfinden und am 3. Juli das Resultat verkündet werden. Bis zur Wahl des Präsidenten sollte Mende als Präsident, Tölcke als Sekretär, Bracke als Kassierer fungieren. Der Aufruf schloß:

»Macht es möglich, Parteigenossen, daß, wenn der Todestag Lassalles wiederkehrt, wir alle, alle über seinem Grabe uns die Hände reichen und uns sagen können: Wir haben uns des Meisters würdig gezeigt.«

Dieses Vorgehen der beiden Präsidenten war der Staatsstreich. Damit war die demokratische Organisation, welche die Elberfelder Generalversammlung dem Schweitzerschen Verein gegeben hatte, mit einem Schlage vernichtet. Schweitzer hatte die ihm angelegten Fesseln mit einem Ruck zerrissen und war wieder unumschränkter Herr und Diktator. Um den befürchteten Widerstand des in Hamburg domizilierten Vorstandes zu brechen, schickte Schweitzer seinen Vertrauensmann Tölcke nach dort, dem die Ueberredung des Vorstandes gelang. Geib telegraphierte: »Vorstand befürwortet einstimmig nach Erwägung der ihm von Tölcke vorgetragenen Gründe Wiedervereinigung. Mitgliederversammlung stimmte zu.«

Aber nun galt es auch die zwischen Schweitzer, Fritzsche, Hasenclever und uns getroffenen Vereinbarungen aufzuheben. Zu diesem Zwecke erklärte Schweitzer in der Nummer 72 des »Sozialdemokrat« vom 22. Juni: Wir hätten diese Abmachungen gebrochen, indem wir erneut wissentlich und in böswilliger Weise einen Eingriff in die von uns gehaßte Organisation des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins versuchten. Damit hätten wir die getroffenen Vereinbarungen gelöst, und nun hielten auch sie sich nicht mehr daran gebunden.

Das begangene »Verbrechen« fiel zunächst auf mein Haupt. Ich hatte im Laufe des Juni in zwölf thüringischen Städten Versammlungen abgehalten, darunter auch in Apolda, Erfurt und Gotha. Hier hatten die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, indem sie mich dazu einluden, Versammlungen einberufen, und deren Bevollmächtigte führten darin den Vorsitz. Alle Versammlungen waren überfüllt und verliefen ausgezeichnet. In jenen Versammlungen war eine Resolution angenommen worden, dahin lautend, daß nur die sozialdemokratischen Prinzipien es seien, welche die Lage der arbeitenden Klassen verbessern könnten, und daß eine Einigung der sozialdemokratischen Arbeiterfraktionen herbeigeführt werden müsse.

Den Schluß meiner Agitationsreise bildete eine Konferenz in Eisenach, an der außer unseren Anhängern auch Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und Mitglieder der Demokratischen Partei teilnahmen. Es sei hier erläuternd bemerkt, daß zu jener Zeit eine Anzahl bürgerlicher Demokraten in Thüringen vorhanden waren, die sämtlich auf dem Standpunkt Jacobys standen, so Professor Abbe und sein Schwiegervater Professor Snell, weiter Dr. Sy in Jena, der später der Partei sich anschloß, Rechtsanwalt Creuznacher in Eisenach usw. Ferner zählte diese Partei Anhänger in Weimar, Gotha und Altenburg. In Eisenach war in einer Resolution erklärt worden:

»Zur gemeinsamen Arbeit für die Lösung der sozialen Frage ist es nicht nur erforderlich, daß die Spaltung unter den verschiedenen Fraktionen der Demokratischen Arbeiterpartei aufhört, sondern auch, daß die demokratischen Arbeitervereine mit der gesamten demokratischen Partei geeint seien, daß namentlich bei gemeinsamen politischen Angelegenheiten, insbesondere bei Wahlen, die demokratische Partei und die sozialdemokratischen Arbeitervereine zusammengehen.«

Das war also das Verbrechen, das Schweitzer zu seinem Vorgehen gegen uns veranlaßte.

Das Agitieren machte mir übrigens trotz aller Erfolge und Beifallsbezeigungen wenig Vergnügen. Am 7. Juni hatte ich meiner Frau von Ronneburg aus geschrieben: »Bei aller Liebe und Freundschaft, die einem die Leute erweisen, ist das Agitieren kein angenehmes Geschäft.« Und wie lange habe ich es nachher noch betrieben. Die Pflicht gebot es, das genügte.

Aus meinem Leben, 2. Teil

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