Читать книгу Erinnerungen & Begegnungen - Autorengruppe Zeitzeugen Cottbus - Страница 5
Déjà-vu am Ende der Welt.
ОглавлениеWarum sagt man, die Frau sei guter Hoffnung, wenn ihr Kind in eine miserable Zeit hinein geboren wird? Meine Zeit hieß Krieg, hieß Hunger, hieß kindliche Sehnsucht nach Unbekanntem, hieß stetes Hoffen. Damals wusste ich nichts vom Hader zwischen Wohlstand und Hoffnung. Ich hüpfte barfuß durch die Pfützen im Sommerregen und knabberte an den Kernen gelber Sonnenblumen. Was wusste ein Kind von der Sorge um das Leder der Schuhe, wenn man keine Schuhe hatte? Was wusste ein Kind von der Zeit, die aus Korn Brot macht, wenn das Brot nie reichte? Was für mich zählte, war die liebende Hand der Mutter, die der Krieg uns gelassen hatte. Doch was zählten für uns Mutters Sorgen, ohne Vater fünf hungrige Mäuler satt zu bekommen? Was wussten wir von ihrer leisen Hoffnung, alles könne noch gut werden?
Zu Weihnachten hoffte jeder. Die Großen auf bessere Zeiten und die Kleinen auf große Wunder.
Ich schlich um den Weihnachtsbaum und zählte die bunten Kringel, die Mama auf Zuckermarken erstanden hatte. Fünfzehn. Für jedes Kind drei. Gott – was drei Kringel zählten! Mama sagte, es wird wieder ein Weihnachtsfest geben. Ein besseres. Vielleicht.
Das Hoffen begann von vorn, und das Gefühl verließ mich nie, alles schon einmal erlebt zu haben.
Dann kam Weihnachten 1987 in Angola. Der kleine Tross aus staubigen Autos schob sich Kilometer für Kilometer durch das steinige Land den fernen Hügeln entgegen. Soweit das Auge reichte, nichts als durstgequälte Wildnis, ohne Schatten, ohne das winzige Glitzern eines letzten Tümpels. Wir fuhren den weiten Weg vom Hochland zum Atlantik, um unsere Sehnsucht nach der festlich geschmückten Tanne, nach Gänsebraten mit Rotkohl und nach den Lieben daheim zu ertränken. Die stille Öde vertrieb jeden Gedanken daran. Das Land schien sich in Flimmern aufzulösen und schon der geringste Lufthauch trieb Staubwolken in die Höhe, die das Blau des Himmels trübten - jenes Blau, das wir zu Hause so freudig genossen hätten, das uns hier das letzte heitere Gemüt tötete. Vereinzelt ragten bizarre Säulenkakteen zwischen sprödem Gestein empor. Ihre stille Größe, ihre stolze Anmut glichen dem heiligen Baum, dem unsere Gedanken flohen.
Die Luft flimmerte über dem heißen Boden. Kein Land mehr, nur noch Zustand. Wer hier seinen Fuß setzt ist verloren in einer widersinnigen Welt zwischen dem heißen Himmel bei Tage und der kalten Hölle bei Nacht.
Der Wind wehte Ströme von Staub gegen die schroffen Felsen. Hier begann das Land, das kein friedlicher Ort war, nicht einmal ein Ort der Schöpfung sein konnte – die Namib. Nach steinigen Hügeln, wo die Straße in einer Biegung rapide abfiel, endlich ein hoffnungsvoll grüner Fleck. Wie ein Trugbild lag sie da, die Oase am Giraul-Fluss, in der wir ein letztes Mal hielten. Kameldorn- und Eukalyptusbäume gaben Schatten für unsere Rast. Menschen waren nicht zu sehen, nur ein paar Ziegen zupften am struppigen Gras. Der Fluss führte hier unten kein Wasser mehr, und wie es schien, schon lange nicht. Im flachen Flussbett hatten Menschen ihren Kohl angepflanzt. Zu sehen war niemand. Die Sonne saugte erbarmungslos den Lebenssaft aus dem Grün, so wie den letzten Tropfen weihnachtlicher Sehnsucht aus unseren Köpfen.
Plötzlich - wie aus dem Nichts - standen zwei Kinder vor uns. Sie streckten ihre flachen Hände aus, doch sie bettelten nicht. Jemand gab ihnen sein Brot. Sie nahmen es, doch sie aßen es nicht. Würdevoll mit beiden Händen trugen sie es wie ein Präsent vor der Brust. Ich legte ein paar Bonbon dazu und fragte, ob sie heute noch Weihnachtsgeschenke bekämen. Die Zähne der Kinder blitzten weiß hinter scheuen Lippen.
»Presente de Natal? Porque?«
Und dann schwenkte einer den Arm weit aus und ließ seine kugelrunden Augen blitzen: Das Leben an diesem Ort sei das beste Geschenk. Nur hier wachse Gras und es gäbe Milch von den Ziegen. Der Junge zeigte zum Fluss. Manchmal verschwinde der zwar für viele Monde, doch sein Avò meine, tief unten hätten die Götter der Ahnen das Geschenk vergraben, das den Kohl wachsen lasse.
Nachdenklich fuhren wir weiter, überquerten eine Brücke und nahmen die letzte kleine Anhöhe. Endlich das ersehnte Glitzern. Von den gelben Hügeln aus war es zu sehen. Das Meer. Hinter dem toten, staubigen Wüstenstrich spannte sich die silbrige Linie des Atlantiks und bald schon sollten uns wieder Menschen begegnen. Viele Menschen. Weihnachtlich war ihr Anblick bei Gott nicht. Tausende vom weiten Land hatten sich aus dem Staube gemacht vor dem mörderischen Krieg. Nun hockten sie vor staubigen Hütten auf staubigem Boden. Kein Baum, kein Strauch, kein Wasser - nichts, was dem Auge Trost, der Seele Hoffnung spenden könnte.
Am Straßenrand saßen verstaubte Gestalten und dösten in den Tag. Ihre Augen verfolgten den Stopp unserer Autos, doch ihre Seelen schienen uns zu ignorieren. Eine Frau in »guter Hoffnung« saß reglos im Dreck. Vier nackte Kinder mit stummen Mündern und fragenden Augen hockten daneben. Worauf sie warteten, das wussten wir nicht.
Nirgendwo ein heimliches Funkeln, kein Leuchten bunter Kugeln im Kerzenschein, nichts als sandige Hütten auf sandigem Boden unter sandgelber Sonne.
Wortlos reichte ich den Kindern die letzten vier Bonbons. Meine Hand strich zögernd über staubiges Haar. Mein Herz verkrampfte dabei. War es zynisch, was ich in diesem Moment dachte? Den Kindern in der Oase gehe es besser als diesen bedauernswerten Geschöpfen in den musseques, den »auf Sand gebauten«, wie die Elendsviertel heißen. Die da draußen am trockenen Fluss lebten in ihrer Welt und zufrieden mit ihrer Zeit? Der barbarische Krieg würde die barbarische Wüste meiden?
Dieser Gedanke blieb in meinem Kopf, bis er in einem rätselhaften Déjà-vu in den Palmenblüten der Prachtstraße von Namibe hängen blieb...
Warum sagt man, die Frau sei guter Hoffnung, wenn ihr Kind in eine miserable Zeit hinein geboren wird? Diese Zeit heißt Krieg, heißt Hunger, heißt kindliche Sehnsucht, heißt stetes Hoffen. Sie hoffen im Staub der Straße - was zählt der Staub, der Kleider bedeckt, wenn man keine Kleider hat. Gott - was zählt ein Bonbon, wenn das Korn nicht wächst, wenn das Brot nicht reicht.
Hansi Hilbrich